Kings & Thieves (Band 2) - Der Schrei der Schwarzkraniche - Sophie Kim - E-Book

Kings & Thieves (Band 2) - Der Schrei der Schwarzkraniche E-Book

Sophie Kim

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Beschreibung

Hörst du das Flüstern der Rache? Lina hat nur ein Ziel: Rache an den Schwarzkranichen – der Gang, die ihre Freunde getötet hat. Jetzt will die Assassine die Kraniche vernichten. Doch ihre Zeit in Gyeulcheon hat Spuren hinterlassen. In Lina schlummern Kräfte, denen sie nicht ganz traut. Genauso wenig wie der Stimme in ihrem Kopf, von der sie nicht einmal Rui erzählen kann. Rui, der ihr Herz schneller schlagen lässt. Und der ihr ebenfalls etwas verheimlicht … Die spannende Fortsetzung der prickelnden Romantasy-Trilogie Rache, Geheimnisse und dunkle Kräfte – der zweite Band von Sophie Kims fesselnder Fantasy-Reihe zieht einen sofort in den Bann! Koreanische Mythologie trifft auf die spannende Welt der Diebe und Verbrecher. Mit einer prickelnden Romance zwischen einer Assassine und einem König sowie Action, Liebe, Tragik, Romantik und Plottwists, die einen atemlos zurücklassen!

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Seitenzahl: 700

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INHALT

Anmerkung der Autorin

Vorspiel – Aus einem Tunnel …

Teil 1   Staub und Schatten

Kapitel 1 – Es ist keine …

Kapitel 2 – Eine Zeit lang …

Kapitel 3 – Ich setze mich …

Kapitel 4 – Ich versinke so …

Kapitel 5 – Die Knochengrube ist …

Kapitel 6 – Mach den Mund …

Zwischenspiel – Hass, findet der …

Kapitel 7 – Rui«, fauche ich, …

Kapitel 8 – Als Rui am …

Kapitel 9 – Nachdem Rui in …

Kapitel 10 – Im Yejin ist …

Kapitel 11 – Ich ziehe meine …

Kapitel 12 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 13 – Lina, wo warst …

Zwischenspiel – Durchdringendes Geschrei erschüttert …

Kapitel 14 – Eunbi schläft mit …

Kapitel 15 – Am nächsten Morgen, …

Kapitel 16 – Wie meine Stimmung …

Zwischenspiel – Der Herrscher der …

Kapitel 17 – Ich gebe mir …

Kapitel 18 – Die Nacht ist …

Kapitel 19 – Asina lacht höhnisch …

Kapitel 20 – Ich schreie unwillkürlich …

Teil 2   Macht und Vergeltung

Kapitel 21 – Tausende von Jahren …

Kapitel 22 – Ich kenne die …

Zwischenspiel – Nun«, sagt der …

Kapitel 23 – Sengende Hitze sickert …

Zwischenspiel – Der König hat …

Kapitel 24 – Konrarnd Kalmin weint …

Kapitel 25 – Seelenverwoben«, wiederhole ich …

Kapitel 26 – Anders als er …

Zwischenspiel – Der Herrscher der …

Kapitel 27 – Ich suche Zuflucht …

Kapitel 28 – In dieser Nacht …

Zwischenspiel – Nach einem langen, …

Kapitel 29 – Mein Zahnfleisch schmerzt …

Kapitel 30 – Iseul drückt genüsslich …

Kapitel 31 – Wir sind die …

Kapitel 32 – Es ist ein …

Zwischenspiel – Im Dämmerlicht der …

Kapitel 33 – Im Garten des …

Zwischenspiel – Allmählich gerate ich …

Kapitel 34 – Ich stehe vor …

Kapitel 35 – Konrarnd Kalmin hat …

Kapitel 36 – Im roten Mondschein …

Kapitel 37 – Einen Moment lang …

Kapitel 38 – Früher hatte Eunbi …

Zwischenspiel – Tief verborgen im …

Kapitel 39 – Ihr habt mich …

Nachspiel – Die Königin von …

Danksagung

Content Note

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Ende des Buchs eine Content Note.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte! Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

ANMERKUNG DER AUTORIN

Liebe Leser*innen,

ich freue mich ungemein, mit euch die dunkle, romantische Fortsetzung der Kings & Thieves-Trilogie zu teilen. Dieses Buch handelt von Angst, Rache und – natürlich – koreanischer Mythologie.

Wie bereits im ersten Buch erwähnt, werden Mythen am Leben erhalten, indem man sie nacherzählt. Diese Retellings verankern sie in der modernen Welt und wirken der permanenten Gefahr entgegen, dass sie in Vergessenheit geraten.

Da Kings & Thieves – Der Schrei der Schwarzkraniche als eine solche Nacherzählung gelten kann, möchte ich euch gern noch einmal daran erinnern, dass es sich nicht um einen Leitfaden zur traditionellen koreanischen Mythologie handelt. Dieser zweite Band konzentriert sich besonders auf das als Imugi bekannte Wesen, dessen Schilderung in Der Schrei der Schwarzkraniche von der herkömmlichen Beschreibung abweicht, um es in Linas und Ruis Geschichte passend einzufügen.

Falls ihr Lust habt, euch ausführlicher mit den vielfältigen und faszinierenden Volksmärchen aus Korea zu beschäftigen, empfehle ich den Besuch von folkency.nfm.go.kr, wo ihr euch über koreanische Mythologie und traditionelle Kultur informieren könnt.

Die Veröffentlichung von Kings & Thieves – Der Schrei der Schwarzkraniche sehe ich als großes persönliches Glück an, weil mir die Geschichte sehr am Herzen liegt. Ich betrachte das Buch als Liebesbrief an die Erzählungen meiner Vorfahren, an Leser*innen, die nach Repräsentation suchen, und selbstverständlich an wütende Mädchen, zu denen auch Shin Lina zählt.

Eine Welt voller verborgener Reiche, Attentäter*innen, Regent*innen, dunkler Wahrheiten, Lügen und Liebe wartet darauf, dass ihr erneut in sie eintaucht.

Viel Spaß beim Lesen

Sophie Kim

VORSPIEL

Aus einem Tunnel wabernder Dunkelheit treten eine Assassine und ein Dokkaebi auf die nächtliche Straße. Schatten tanzen um das Paar auf dem unebenen Kopfsteinpflaster, während sie auf das heruntergekommene Königreich zu ihren Füßen schauen. Die sommerliche Luft ist drückend heiß und riecht nach Schweiß, Schmutz und den elenden, verdorbenen Dingen, die die Amsalja nur zu gut kennt.

Der Dokkaebi rümpft angewidert die Nase.

»Also«, sagt er seidenglatt, wobei seine beschwingte Stimme sehr den harmonischen Klängen der Flöte ähnelt, die er in seinen schlanken, beringten Händen hält. »Hier lasse ich dich nun allein.«

Die Assassine schweigt und richtet den Blick auf einen Punkt in der Ferne. Ihr Kiefer ist verkrampft, ihr Mund verkniffen. Sie wirkt wie von einem Geist besessen, denn ihr Gesicht wird plötzlich bleich – nicht vor Angst, nicht vor Kummer.

Sondern vor Wut.

Vor schierer, glühender Wut.

Während der Dokkaebi sie aufmerksam beobachtet, werden seine scharfen Gesichtszüge weich. Bedächtig zieht er einen Ring vom Finger – einen schlichten Silberring, der zur Farbe seiner Augen passt. Innen, wo sich das Metall an die Haut schmiegt, ist etwas eingraviert.

Rufst du mich, steht dort in Alter Sprache, so komme ich.

»Hier«, sagt der Dokkaebi sanft und reicht den Ring seiner Gefährtin. »Vor unserer Abreise habe ich ihn in der Palastesse schmieden und von Kang verzaubern lassen. Wenn du ihn an deine Lippen drückst, komme ich zu dir – egal wann, egal, wie weit du entfernt bist, egal, worum es geht.«

Die Amsalja nimmt den Ring entgegen; er passt wie angegossen an ihren Finger und fühlt sich warm an ihrer Haut an. Dann richtet sie ihre dunklen Augen auf den Dokkaebi. »Rui«, flüstert sie leise, als würde sie seinen Namen auf der Zunge probieren. Beinahe lächelt sie.

Beinahe.

Der Dokkaebi erstarrt – so reglos, wie es nur die Unsterblichen vermögen –, als die Assassine sich auf die Zehenspitzen stellt und ihm einen Schmetterlingskuss gibt, süß und warm und flüchtig. Nachdem sie sich von ihm gelöst hat, ist ihre Miene jedoch wieder grimmig und fahl.

»Pass gut auf Eunbi auf«, flüstert sie. »Sorge dafür, dass sie glücklich ist. Halte sie von diesem Königreich fern.«

»Ich werde tun, was du verlangst, Shin Lina.« Er nimmt ihre Hand. »Es soll ihr an nichts fehlen.«

Die Amsalja nickt zufrieden. Wendet sich erneut der Stadt zu. Ballt die Fäuste.

Der Dokkaebi beobachtet, wie das Mondlicht die blaugrünen Schuppen, die ihr aus der Haut fahren, in weiße Flammen taucht, beobachtet, wie die messerscharfen Schuppen aus ihren Handrücken gleiten – tödliche Klingen in glitzerndem Türkis.

Sie dagegen bemerkt nicht, wie der Dokkaebi kurz verunsichert das Gesicht verzieht, auch nicht, wie sich sein Kiefer verhärtet – vor Sorge, Kummer und bösen Ahnungen.

Man könnte es fast Furcht nennen.

Alles, was sie sieht, ist der Weg, der vor ihr liegt und mit Rache gepflastert ist. »Auf Wiedersehen, Rui«, sagt sie leise.

In seinen silbernen Augen funkelt eine jahrhundertealte finstere Belustigung. »Lebe wohl, kleine Diebin«, murmelt er. »Ich warte auf deinen Ruf, und zwar höchst begierig.«

Die Amsalja lächelt.

Eine Stunde später steht Shin Lina in einer Lache aus Unima Hisaos Blut.

Der Sturm hat begonnen.

TEIL 1

STAUB UND SCHATTEN

KAPITEL 1

Es ist keine große Herausforderung, in einer Kneipe eine besonders blutige Schlägerei anzuzetteln. So etwas anonym zu tun, ist dagegen etwas ganz und gar anderes. List und Geschicklichkeit sind gefragt – und vor allem eins: Geduld.

Während ich in einer Ecke des Mondscheinhasen sitze, Sunpos schäbigstem Jumak, läuft mir der Schweiß über den Rücken und sickert in den schweren Stoff meines Mantels. Meine Haut klebt an dem dunklen Gewebe und unter der Krempe meines schwarzen Gat glänzt meine Stirn sicher feucht. Das seidene Stirnband haftet unangenehm auf meiner Haut.

Obwohl die Sommerhitze über den Straßen Sunpos flimmert, an dem maroden Königreich nagt und frisst und durch das Strohdach in das Jumak dringt, ziehe ich den Mantel nicht aus, der meinen Tarnanzug verbirgt.

Er ähnelt dem, den ich als Sturmkralle getragen habe. Er ist glatt und schwarz, hauteng, aber robust und ich kann mich gut darin bewegen. Rui wollte ihn mit ein paar Besonderheiten ausstatten, die kein sterblicher Schneider hätte herstellen können – einem Stoff, der selbst die tödlichste Waffe abhält, einem verborgenen Mechanismus, der bei Bedarf Rauchschwaden erzeugt, und einer kühlenden Vorrichtung gegen den Sommer in Sunpo. Doch ich habe abgelehnt. All das brauche ich nicht, schließlich kann ich meine Schuppen heraufbeschwören. Eigentlich brauche ich nicht einmal das Jikdo, das ich in der Scheide umgegürtet trage. Aber sein Gewicht beruhigt mich. Entspannt mich. Dennoch bemühe ich mich um eine steife, männliche Haltung.

Ich gebe mich als ein Mann aus, der müßig in einer Nische sitzt und mit den Schatten verschmilzt, während er mit dem Finger über den Rand seines Tonbechers streicht. Außer den schmalen Lippen bleibt dieser Mann unter seinem Hut so gut wie unsichtbar, genau wie seine weiße Narbe in Form einer Träne.

Das Jumak ist klein, dreckig und voll. Der Holzboden, auf dem ich Platz genommen habe, ist halb verfault und uneben und das fadenscheinige Kissen polstert meinen Hintern nur geringfügig. Um mich herum sitzen Männer, die mit sonnenverbrannten Lippen Makgeolli trinken, um den kühlenden Nachgeschmack des süßen Alkohols zu genießen. Die Luft ist schwül, voller Gerede, was noch vor einem Monat die unterdrückten Seufzer aus den Wohnräumen rund um das Jumak übertönt hätte. Doch jetzt nehmen meine geschärften Ohren trotzdem wahr, wie Männer ekstatisch stöhnen, wie Frauen scharf einatmen und wie Betten knarren. Irgendwo huscht eine Kakerlake über ein Laken und weicht verschlungenen Gliedmaßen aus. Ich höre, wie die Beine des Insekts über den steifen Stoff scharren, und das Wispern seiner Fühler, die es behutsam aneinanderreibt.

Angewidert verziehe ich den Mund und gebe mir alle Mühe, sämtliche Geräusche außerhalb der Kneipe auszublenden. Es fällt mir unglaublich schwer, meinen Fokus dermaßen einzuschränken und meine neuen Imugisinne nur geringfügig zu benutzen.

Die Sinne, die sich nach Freiheit sehnen, zeitweise ausbrechen und mir einen Zustrom von lähmenden Empfindungen aufzwingen. Die Anstrengung, sie zu unterdrücken, kostet mich Kraft, doch immerhin höre ich die krabbelnde Kakerlake und das rhythmische Stoßen schweißüberströmter Körper nicht mehr. Den Göttern sei Dank.

Ein großer junger Mann mit einer kräftigen Stirn und zerzaustem schwarzem Haar schlängelt sich durch die Gäste. Er trägt Tabletts voller Miyeok-Guk zu denjenigen, die verrückt genug waren, bei dieser Hitze eine dampfende Seetangsuppe zu bestellen. Einige Männer werfen ihm böse Blicke zu, als er an ihnen vorbeigeht, doch er beachtet sie gar nicht und reckt das Kinn angesichts ihrer höhnischen Kommentare. Mit einem gemeinen Grinsen will einer von ihnen ihm ein Bein stellen. Ich kneife schon die Augen zusammen, doch der Kellner weicht geschickt aus und drängt sich zu einem schmächtigen, schlanken Mann in einem dünnen Baumwoll-Hanbok durch.

Der Mann ist vom Hunger ausgezehrt und sein Gesicht besteht nur noch aus spitzen Knochen. Als das Tablett klappernd vor ihn auf den niedrigen Tisch gestellt wird, an dem noch fünf weitere Gäste sitzen, fällt er regelrecht über das Essen her – wie ein streunender Hund, der seit Wochen nichts zu fressen bekommen hat. Mit einem hohlen Gefühl in meinem eigenen vollen Magen beobachte ich, wie ihm ein Teil der heißen Suppe den Hals hinabrinnt. Obwohl ich über sechs Meter entfernt hocke, kann ich mit meiner geschärften Sicht die hellgelbe Flüssigkeit auf seiner erschlafften Haut erkennen.

Er trinkt aus der Schale, kaut die Algen und schlürft den Rest.

Gwan Doyun.

Mein nächstes Opfer, ausgewählt für heute Nacht.

Die Suppe ist billig, darum hat er sie bestellt. Gwan Doyun, der einst ein geschätzter Kunsthandwerker war, hat es schwer, seit die Schwarzkraniche das Königreich übernommen haben.

Genau genommen, seit elf Monaten; seit die Schwarzkraniche ihre Schnitterin zur Tür seines Giwajip geschickt haben.

Doyun, ein alter Verbündeter der Sturmkrallen, weigerte sich damals, das haarsträubend teure monatliche Schutzgeld an Sunpos neuen Verbrecherkönig Konrarnd Kalmin zu zahlen. Der Preis, den Kalmin als Vergeltung forderte, war das Leben seiner Frau.

Und die Schnitterin hatte keine andere Wahl, als es einzukassieren.

Sie schlitzte Doyuns Frau die Kehle durch und verschwand in der Nacht, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie ein Geist in der Dunkelheit. In der darauffolgenden Woche bezahlte Doyun seinen Beitrag. Und seitdem tut er es regelmäßig. Nur aus Angst spielt er den Ergebenen. Aus Schwäche.

Angst und Schwäche, die ich ihm aufgeladen habe. Ich kaue so fest auf meiner Unterlippe, dass ein Tropfen Blut hervorquillt und meine Zunge befeuchtet. Schnell verdränge ich die Erinnerung an jene Nacht. Vorbei ist vorbei. Ich kann es nicht ungeschehen machen, dass ich meinen Dolch über den Hals seiner Frau gezogen habe, dass ihre Haut aufriss und ihr rotes Blut herausströmte. Ich kann Gwan Doyun seine Frau nicht zurückgeben. Allerdings kann ich ihm einen anderen Gefallen tun.

Doch zunächst … zunächst muss ich ihm etwas nehmen.

Er trägt immer noch seinen Ehering und reibt ihn hin und wieder mit einer kummervollen Miene. Dieser Ring ist alles, was ihm noch geblieben ist. Ich möchte ihn nicht dieses Erinnerungsstücks berauben, aber mir bleibt keine andere Wahl.

Irgendwann, rede ich mir gut zu, wird er mir dafür dankbar sein. Ich klammere mich an diesen Gedanken, als die Tür des Jumak aufgeht und die schwüle, vor Hitze geradezu klebrige Nachtluft hereindringt.

Langsam erhebe ich mich von meinem Platz in der Ecke und verschmelze mit den Schatten, unsichtbar bis auf ein Aufblitzen meiner weißen Zähne, da ich mir ein erbittertes Lächeln gestatte.

Gerade rechtzeitig.

Die Patrouille der Schwarzkraniche, die ich in den letzten Tagen beobachtet habe, betritt das Jumak wie gewohnt eine halbe Stunde nach Mitternacht. Der Mondscheinhase ist ihr Stammlokal, ein Etablissement, das früher von den Sturmkrallen betrieben wurde, nun aber ihrer Gang gehört. Sie sind zu dritt, allesamt Fänge in schlichten grauen Hanboks, die ihren Rang ausweisen.

So breitbeinig, wie sie hereinkommen, könnte man sie jedoch auch für Schwingen oder Schnäbel halten, die weiter oben in der Hierarchie der Schwarzkraniche stehen. Diese beginnt bei den Fängen und reicht bis zur Kehle. Die Kranichkrone trägt natürlich Konrarnd Kalmin und die Kehle ist die Frau an seiner Seite, Asina. Früher habe ich zu den Schnäbeln gezählt, den ausgebildeten Mördern, die sich für die götterverdammte Krone mit dem Blut Sunpos besudeln. Allerdings hat das Kalmin keineswegs daran gehindert, mich als Schwinge – als Diebin – zu benutzen und mich zu beauftragen, den Wandteppich aus dem Tempel des Verderbens zu stehlen. Stelzen werben neue Mitglieder an und kümmern sich um Straßengeschäfte, außerdem befehligen sie die geifernden Fänge.

Fänge. Das sind die Entbehrlichen, die Widerlinge auf der alleruntersten Ebene. Kalmin findet sie an den finstersten, schmutzigsten Orten und wählt sie wegen ihrer Unterwürfigkeit und Ergebenheit gegenüber demjenigen aus, der ihnen zu essen gibt. Sie fressen ihm aus der Hand. Sie beten den Boden an, auf dem er wandelt. Sie würden ihm auch die Stiefel lecken, wenn sich die Gelegenheit böte. Und in diesem Augenblick stehen drei von ihnen in dieser Kneipe.

Einen kenne ich.

Nicht den kleinen Gedrungenen mit der beginnenden Glatze und den Hängebacken. Auch nicht den schmalen Dünnen mit den Rattenzähnen. Nein, ich kenne den Grobian mit den Prellungen im Gesicht.

Hin und wieder, wenn sich ein Fang als Drogenkurier oder Waffenhändler besonders hervorgetan hat, bekommt er von Kalmin eine Belohnung.

Manchmal erlaubt Kalmin ihm, Aufrührer zu foltern.

Man Jisu hat mich auf Befehl von Konrarnd Kalmin regelmäßig verprügelt. Jedes Mal tat er es mit fiebrigem, inbrünstigem Blick. Er hat es genossen. Schließlich war es sein Preis.

Bald wird ihn der Tod ereilen.

Nachdem ich einmal hart geschluckt habe, hole ich durch die Nase Luft und versuche, meinen Puls zu beruhigen. Ich rieche den Atem des Gedrungenen. Er stinkt nach billigem Halji und noch billigerem Wein. Früher hätte der Geruch von Halji in mir die Begierde nach dem aschigen Rauch geweckt. Mittlerweile spüre ich nur noch eine milde Lust darauf, die ich bestimmt verdränge, um mir den sehnsuchtsvollen Schmerz eines weiteren Entzugs zu ersparen. Es ist leichter geworden, dem Verlangen keine Beachtung mehr zu schenken. Vielleicht werde ich es eines Tages gar nicht mehr spüren.

Versprich mir, dass du damit aufhörst, bevor es dich das Leben kostet, hat Sang mich angefleht, als wir in Jeoseung beieinanderstanden. Jetzt schließe ich die Augen und atme gegen den Kummer an, der mein Herz bei der Erinnerung an ihn ergreift – daran, wie er mich gebeten hat zu leben. Richtig zu leben, frei von der Halji-Sucht.

Es fällt mir schwer, aber ich gebe mir Mühe. Nun reiße ich die Augen wieder auf und konzentriere mich.

Der junge Angestellte platziert die Schwarzkraniche neben Doyuns Tisch, wo sie sich auf den klumpigen Kissen niederlassen und den Kellner mit ihren Knopfaugen mustern, sodass ich interessiert den Kopf schief lege. Ein Hauch von Gewalt liegt in der Luft, subtil und nicht wirklich akut, aber deutlich genug, um sie am Gaumen zu schmecken. Vielleicht ist der junge Mann den Schwarzkranichen etwas schuldig geblieben oder hat sie irgendwie verärgert.

Die Abneigung der Fänge ist jedenfalls spürbar, während der Junge ihre barschen Bestellungen gelassen entgegennimmt und dann weitergeht. Zwar sind seine Schultern angespannt und er hat die Lippen zusammengepresst, aber ansonsten lässt er sich nichts anmerken – selbst als ihn die höhnischen Kommentare durch das Jumak verfolgen und derselbe Mann erneut versucht, ihm ein Bein zu stellen. Demnach ist das hier sein täglich Brot. Was besorgniserregend ist, im Moment jedoch kein Grund, mich einzumischen.

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu, wo die Männer ungeduldig auf das Holz trommeln.

Das Zeichen der Schwarzkraniche – ein schwarzer Kranich im Landeanflug – ist auf ihren Handrücken für alle sichtbar.

Doyun hat sie ebenfalls entdeckt. Er starrt sie an, das Blut ist ihm aus dem Gesicht gewichen und seine Hand mit dem langen Suppenlöffel bebt. Schweiß rinnt ihm über die schiefe Nase, während seine Hand zu dem schmalen Dolch an seiner Hüfte wandert. Doyuns Pupillen sind geweitet und sein Mund ist eine dünne weiße Linie.

Mein schlechtes Gewissen, meine dunkle Bitterkeit versetzt mir einen Stich. Er hat Angst, aber für meine Zwecke muss er wütend werden. Angst reicht nicht aus, um Stellung zu beziehen und sich auf meine Seite zu schlagen. Wut dagegen schon. Und obwohl ich mich selbst dafür hasse, kann ich Doyun zu diesem letzten Schritt zwingen.

Ich schleiche an der Wand entlang, darauf bedacht, in den Schatten unsichtbar zu bleiben. Das ist einer von den vielen neuen Tricks, die ich mir angeeignet habe: mich unbemerkt durch die Nacht zu schlängeln, listig und leise wie eine Schlange. Anstrengend ist es dennoch. In den letzten Wochen war meine Beweglichkeit höchst unbeständig, mal schnell und tödlich, dann wieder, als würde ein Rehkitz laufen lernen. In meinem neuen Körper muss ich mich erst noch zurechtfinden, in meiner Gestalt, die Imugi und Mensch zugleich ist.

Rattenzahn spricht gerade, mit verzerrter und gurgelnder Stimme, die wie das braune Wasser in der Kanalisation klingt. »… den Taubenschlag in der Knochengrube beobachtet«, sagte er, als ich von einem Teil der Kneipe in den anderen schleiche, bis ich unsichtbar auf der linken Seite ihres Tisches verharre. Nicht einmal Doyun, der sich hektisch im Mondscheinhasen umschaut, entdeckt mich. »Song Iseul ist schon wieder mit der Zahlung im Verzug. Die Krone will, dass wir morgen früh hingehen. Nichts lieber als das, wenn wir an die Mädchen rankommen. Geht doch nichts über ein Täubchen.«

»Sie sind aber verdammt teuer«, seufzt der Untersetzte, während er einen schartigen Dolch säubert. Die scharfe Klinge ist mit geronnenem Blut befleckt. »So viel Geld für ein Vögelchen.«

»Songs Mädchen sind die besten, Hada.« Die Ratte schnieft. »Wenn du Geschmack hättest, wüsstest du das. Song dagegen ist eine Hexe, wie sie im Buche steht. Wenn sie nicht bald zahlt, wird Kalmin sie umbringen, dann ist Schluss mit diesen Mätzchen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Er ist der König von Sunpo. Er hat Gyeulcheon überlebt. Die Schlampe sollte ihm gefälligst mehr Respekt entgegenbringen.«

Ich verkneife mir ein verächtliches Schnauben.

Konrarnd Kalmin, der Anführer der Schwarzkraniche, hat seinen Aufenthalt im Reich der Dokkaebi überlebt, weil jemand – buchstäblich – durch Jeoseung und zurückgegangen ist, um für seine sichere Rückkehr zu sorgen. Jetzt feiert und schlemmt er jede Nacht und hält sich für einen König, einen Sieger. Und wiegt sich in dem Glauben, jene, die ihn zurückgebracht hat, sei tot. Doch das bin ich keineswegs.

Da wartet eine schaurige Überraschung auf den Scheißkerl.

Dieses Königreich gehört mir.

Und seine Herrschaft wird nicht mehr lange andauern.

»Das kann ich erledigen«, bietet Man Jisu mit einer erstaunlich ruhigen Stimme an, deren süßlicher Unterton mir einen Schauer über den Rücken jagt. »Mache ich doch gern.«

»Das glaube ich dir aufs Wort, Jisu«, murmelt Rattenzahn, spuckt auf seinen Dolch und poliert ihn. »Gern ist gar kein Ausdruck.«

Von meinem Standort im Schatten an der Wand zähle ich, wie viele Waffen das Trio der Schwarzkraniche mitführt. Die Chancen für eine sehr blutige Schlägerei sind astronomisch angesichts Hadas schartigem Dolch, den beiden Pistolen mit jeweils drei Schuss in Jisus Gürtel, dem Jikdo, dessen Heft die Ratte bequem in der Hand hält, und Doyuns Dolch.

Wenn ich schnell und geschickt bin, wird das Ganze ein Fest.

Falls mein Körper jedoch versagt – wozu er in letzter Zeit neigt –, wird es ausgesprochen unangenehm für mich.

Rattenzahn steht mit dem Rücken zu Doyun, der so heftig schwitzt, dass mir sein Gestank bitter und stechend in die Nase dringt. Hada und Jisu sitzen Rattenzahn gegenüber, sind aber gerade von dem jungen Kellner abgelenkt, der mit drei Bechern Makgeolli zurückkehrt. Er hält den Blick stur gesenkt und presst die Lippen zusammen.

Doyun rafft sich von seinem Platz auf. Die Angst vor den Männern lässt seine Beine zittern.

Ich strecke einen Arm aus den Falten meines Umhangs und schiebe den Ärmel meines Tarnanzugs hoch, um das Tattoo eines schwarzen Kranichs im Landeflug zu enthüllen. Es fühlt sich scheußlich an. Das Bild klebt wie ein Blutegel auf meiner Haut, schleimig und kühl. Aber sobald ich es nicht mehr brauche, werde ich die billige Farbe einfach abwaschen.

So ausgeklügelt meine Pläne hinsichtlich der Schwarzkraniche auch sind, muss ich gestehen, dass dieser relativ schlicht ist. Funktionieren wird er dennoch.

Eins, zwei, drei …

Ich warte, bis die drei echten Schwarzkraniche damit beschäftigt sind, ihre Getränke von dem Tablett zu nehmen, das der Kellner vor ihnen abgestellt hat.

Jetzt. Jetzt muss ich zuschlagen.

In der inständigen Hoffnung, dass ich weder stolpere noch mich anderweitig zum Narren mache, löse ich mich aus den Schatten. Ich werte es als kleinen Triumph, dass ich mit einem abscheulichen Lächeln und dem Rücken zu Rattenzahn flink und anmutig unmittelbar vor Doyun wieder auftauche. In der Tat fühlt es sich wie ein Sieg an, dass mein Körper mir in diesem Moment gehorcht.

Doyun zuckt zusammen, reißt die Augen auf und wirft einen flüchtigen Blick auf das Zeichen an meinem Handgelenk. Schwarzkranich, denkt er, das sehe ich ihm an. Was will der von mir was wird er mir wegnehmen ich habe nichts mehr übrig nichts mehr zu verlieren sie haben mir alles genommen alles alles alles alles …

Ich grinse noch breiter.

Und dann greife ich an.

Es ist schnell vorbei, ich gehe es nüchtern an, da ich keinen Anlass habe, ihm noch mehr wehzutun als ohnehin schon. Ich trete ihm leicht auf den Fuß, versetze ihm einen oberflächlichen Schlag in den Magen und nutze die Ablenkung, um ihm den Ehering vom Finger zu ziehen. Nicht umsonst habe ich als Taschendiebin gearbeitet, bevor ich zur Amsalja wurde. Die nötige Fingerfertigkeit besitze ich und in diesem Augenblick fühlt es sich an, als käme ich nach Hause. Die vertraute Handlung tröstet mich wie eine freundliche Umarmung.

Doyun schnappt wie ein Fisch auf dem Trockenen und schreit entsetzt auf, als ich seinen Ehering in die Luft schnippe. Das goldene Schmuckstück dreht sich, trudelt wie eine winzige Sonne und schwebt eine perfekte Sekunde lang reglos in der Luft. Dann plumpst der Ring in Rattenzahns kleinen Tonbecher voller Makgeolli.

Ich bin längst weg, als er mit einem leisen Plopp in dem milchig goldenen Getränk landet und auf den Boden des Bechers sinkt wie ein Stein, der in den See geworfen wurde.

Ich bin längst weg, als im Jumak das Chaos ausbricht.

Sie werden ihn schon nicht umbringen, rede ich mir gut zu, während ich auf meiner Lippe kaue. Jedenfalls nicht heute Abend. Nicht, solange er noch Schutzgeld zahlen kann.

Vielleicht wird er ein blaues Auge und schlimme Prellungen einstecken müssen, die eine Berührung so sehr scheuen wie überreifes Sommerobst, möglicherweise auch mit ein paar gebrochenen Knochen – aber sie werden ihn am Leben lassen.

Seinen Ehering werden sie jedoch behalten.

Und es gibt nichts Gefährlicheres als einen wütenden Mann, der nichts mehr zu verlieren hat – und sehr viel zu gewinnen. Wenn er mich lässt, werde ich ihm helfen, sein altes Leben wiederaufzubauen. Wenn er mich lässt, helfe ich ihm zurück auf die Beine. Ich hoffe sehr, dass er mich lässt.

Befriedigung, vermischt mit schlechtem Gewissen und Reue, erfüllt mich, als ich mich durch die Mausefalle schlängele, dankbar für Sunpos allgegenwärtigen Verfall. Denn da es auf den Straßen keine Laternen gibt, weil die Einwohner der Stadt sich kein Kerzenwachs leisten können, ist das Gebiet in tiefe Dunkelheit gehüllt. Für mich ist Dunkelheit aber kein Problem – meine Füße kennen sich hier bestens aus und meine Augen sehen schärfer als je zuvor. Ich freue mich, dass ich zumindest im Moment geschmeidig und nicht mehr so unbeholfen bin. Es ist mindestens einen Tag her, seit ich zuletzt gestürzt und über meine eigenen Füße gestolpert bin, während die Welt um mich herum aufkreischte. Ich werde stärker und fühle mich wohler in meiner Haut.

Auf eine verdrehte Art und Weise bin ich beinahe dankbar für den Hinterhalt im Wald. Dankbar, dass Wang Jiwoon, der Anführer der Rebellen in Gyeulcheon, meinen Verrat am Strand – meinen intimen Moment mit dem Herrscher, den ich eigentlich umbringen sollte – beobachtet hat. Die tödliche Wunde, die er mir zur Strafe beigebracht hat, führte dazu, dass ich das Wongun-Elixier verabreicht bekommen habe. Und es hat mir das hier geschenkt.

Macht, die ich mir niemals hätte träumen lassen.

Kraft, auf die ich niemals hätte hoffen dürfen.

Sieg.

Es war nicht nur das Elixier, das uns diese Gaben beschert hat, flüstert eine brüchige uralte Stimme, kalt wie die Sterne am Himmel, in meinem Hinterkopf. Ihr Echo schallt durch die Kammern meines Verstands und mein warmer Schweiß gefriert. Die Sommernacht ist plötzlich deutlich abgekühlt. Ich schlucke trocken und beschleunige meine Schritte, als könnte ich vor den Worten davonlaufen, die sich durch die Ritzen meines Bewusstseins schlängeln. Das Schwert, das Schwert in deiner Brust. Es war mit Imugigift bestrichen. Wir wurden aus Gift geboren. Aus der Schuppe einer Schlange. Vergiss das nicht, Shin Lina. Die Stimme klingt triumphierend und scheltend zugleich. Vergiss das nicht.

Mein Mund ist auf einmal voller Speichel, Galle kommt mir hoch. Wie sollte ich jemals vergessen, dass ich vom Feind der Dokkaebi und der Götter abstamme? Der Götter, die ich verehre. Mittlerweile ist mir zur Gewohnheit geworden, inständig zu hoffen, dass die Gottheiten mich trotz meiner Schuppen akzeptieren, wie ich bin. In meinem tiefsten Inneren bin ich jedoch gleichzeitig davon überzeugt, dass sie es niemals tun werden. Ich zweifle sogar hin und wieder daran, ob ich würdig bin, zu ihnen zu beten.

Lass mich in Ruhe, fauche ich innerlich und blinzele mehrmals. Ich will heute Abend nicht auf dich hören.

Die Stimme lacht leise. Deine Manieren lassen zu wünschen übrig.

Schon in den letzten zwei Wochen seit meiner Wiedergeburt hat die Stimme … zu mir gesprochen.

Manchmal schlummert sie oder schweigt, doch häufig ist sie sehr lebendig. Zunächst habe ich sie mit der Mahnung verwechselt – meiner alten Feindin, die mich an meine grauenhafte Schuld erinnerte, wenn sie ihre quälenden Botschaften wisperte. Sang, Chara, Yoonho, Chryse …

Doch ich habe bald begriffen, dass die Stimme etwas ganz anderes war.

Die Mahnung kam nie in diesem Tonfall daher und auch nicht mit diesem … stählernen uralten Singsang. Sie sprach aus den tiefsten Tiefen meiner Schuldgefühle, meines eigenen Traumas zu mir. Die Mahnung richtete sich an die Scham eines versehrten Mädchens, das alles und jeden verloren hatte.

Ich höre die Mahnung nicht mehr. Ich höre nur noch die Stimme.

Und ich frage mich, ob die Stimme die Mahnung zerfetzt hat wie ein tollwütiges Tier, das einen Eindringling in seinem Revier entdeckt. Denn, wie ich schnell begriffen habe: Die Stimme ist anders. Beinahe … lebendig. Lebendiger als die Mahnung – die mir Erinnerungen, Reue und wiederaufflackernde Ängste vorspielte – jemals war.

Und als ich sie zum ersten Mal gehört habe …

Öffne die Augen und finde es heraus, hat sie gemurmelt, während ein grellweißer Blitz – das Leben – in meinen Körper fuhr. Damals fragte ich mich, was um Himmels willen dieser kalte, grausame Ausbruch von Macht, der sich zwischen meinen Knochen und meinem Blut einnistete, sein könnte. Und im Garten ist sie erneut zum Vorschein gekommen, als Jiwoon mit der funkelnden Axt in den Händen auf mich zustolzierte. Welche Wunder werden wir gemeinsam vollbringen?

Das, habe ich geantwortet.

Damals sind die Schuppen zum ersten Mal hervorgetreten. Scharf, glitzernd und wunderschön. Klingen aus meinem eigenen Körper. Mittlerweile bezeichne ich sie als Schuppenklingen.

Und mit ihnen habe ich Jiwoon das Herz herausgeschnitten.

Die Macht in meinem Inneren schien das gutzuheißen.

Macht sollte jedoch nicht sprechen können. Das würden Rui und Kang erwidern, wenn ich ihnen von der Stimme erzählen würde, die ebenso plötzlich aufgetaucht war wie die Kraft und die Veränderungen.

»Das kann nicht sein«, würde Kang mit seiner misstrauischen Miene sagen, mit der er mich neuerdings so häufig bedenkt. Er würde mich mit angespanntem Kiefer forschend mustern, als könne man mir noch immer nicht trauen, trotz allem, was seit den Ereignissen im Wald geschehen ist. »Macht ist kein empfindsames Wesen. Macht unterhält sich nicht.«

Doch, mit mir schon.

Nur sollte es nicht so sein.

Und genau deshalb verschweige ich es ihnen. Ich verrate es niemandem. Obwohl ich schon mehrmals Mut gesammelt habe, um es wenigstens Rui zu sagen, hat stets irgendetwas meine Zunge zurückgehalten.

Haneul Rui, meinem Freund … meinem … er ist mehr als das. Ich hätte diesen Dokkaebi töten sollen, stattdessen habe ich ihn geküsst. Er ist mir auf eine Weise ans Herz gewachsen, die ich nicht mehr für möglich gehalten hatte, seit … seit Sang gestorben war.

Das Gefühl ist tief. Ernst. Leidenschaftlich.

Und dennoch hat irgendetwas die Worte in meinem Mund erstickt, bis ich ihren Geschmack verloren habe und schweigend zurückgeblieben bin. Außer mir selbst weiß niemand etwas von dem Zwist in meinem Kopf.

Nun gehe ich langsamer durch die Straßen. Mein linkes Bein schmerzt, die Muskeln sind verkrampft und tun weh. Es ist nicht leicht, kämpfend über das Humpeln hinwegzusehen, das ich trotz meiner neuen Stärke behalten habe. Ich könnte mir mit Salben und Tinkturen helfen, aber es fühlt sich beinahe falsch an, Linderung zu suchen. Denn der Schmerz erinnert mich an mein Versagen. An meine Geschichte.

Allerdings kann ich mich damit trösten, dass ich Asina sehr bald ausfindig machen und sie dafür bezahlen lassen werde, dass sie ihren Dolch so tief in meinen linken Oberschenkel gebohrt hat.

Alle werden sie bezahlen. Angefangen mit den Fängen. Dann die Stelzen, die Schwingen, die Schnäbel, die Kehle und schließlich – ganz am Schluss – die widerliche, widerliche Krone.

Für Sang. Für Chara. Für Yoonho. Für Chryse …

Ich halte inne und spitze die Ohren.

Die Straße liegt zwar verlassen da, doch in dem Königreich ist es alles andere als still. Ich höre das Klirren von Gläsern, das Rattern von Wagen, das erschöpfte Wiehern von Pferden, das Rascheln von Bettwäsche, das Zirpen von Zikaden und das Donnern eines Sommersturms in weiter Ferne. Die Geräusche verschwimmen zu einer Sinfonie, die im Rhythmus des Lebens an- und abschwillt. Ich lerne noch, diese Melodie einigermaßen auszublenden und mich darauf zu konzentrieren, was akut und wichtig zu hören ist.

Selbstverständlich dringt das Lied des Lebens zeitweise dennoch zu mir durch, so laut, dass ich auf die Knie sinke und mir die Ohren zuhalte, mich vor- und zurückwiege. In Gyeulcheon hat Rui mir dann immer die Hände auf die Schultern gelegt und kaum vernehmbar beruhigend auf mich eingeredet … Inzwischen sind diese Vorfälle dank der akustischen Übungen, durch die mich der Herrscher geleitet hat, seltener geworden.

Jetzt erlaube ich mir jedoch, meine Sinne zu schärfen und den Klang zu suchen, den ich meine, gehört zu haben. Es war eine Art Rascheln. Ein Säuseln.

Ein Schlängeln.

KAPITEL 2

Eine Zeit lang bleibe ich reglos stehen und gehe innerlich Klang für Klang durch, während ich allmählich Kopfschmerzen bekomme. Meine Muskeln verkrampfen, als mein Herz einen Satz macht … und eine Art Sehnsucht spürt.

Ungewollt erinnere ich mich an dunkel wabernden Nebel und ein Gewitter. Eine blaugrüne Schuppe blitzt auf. Eine rasch schmelzende Kerze, von der warmes Wachs auf meine Finger tropft. Unwillkürlich fallen mir die Träume wieder ein, die mich heimsuchen, seit ich Yeomras Reich verlassen habe.

Stockend atme ich ein, verstärke meine Sinne im Hier und Jetzt und konzentriere mich auf meine Aufgabe. Es würde mir schlecht bekommen, wenn ich die ganze Nacht hier stünde und einem nicht vorhandenen Geräusch nachhinge. Dummkopf, schelte ich mich selbst und löse meine Finger vom Heft meines Jikdo. Sie kommen nicht hierher nach Iseung.

Die Stimme mag rau und wissend lachen, während ich selbst mich unsicher fühle.

Kurz darauf gelange ich zu dem kleinen Hanok, in dem ich seit drei Tagen hause, und schließe mit einem Seufzer der Erleichterung die Tür auf. Morgen statte ich Gwan Doyun einen Besuch ab. Nach den Ereignissen dieses Abends sollte es ein Kinderspiel sein, ihn dazu zu bringen, sich mir zu verpflichten. Und obwohl er noch leidet wie ein Hund, habe ich ihm einiges zu bieten. Annehmlichkeiten. Geld. Macht, wenn er zu mir hält.

Ich kann nicht wiedergutmachen, was ich ihm angetan habe, aber ihm immerhin ein Trostpflaster schenken. Er wird nie mehr hungern müssen, solange ich über dieses Königreich herrsche. Er wird gesund sein, glücklich und mit der Zeit vielleicht sogar eine neue Frau finden. Und wieder heiraten, eine freundliche und sanfte Person, die quicklebendig ist.

Auf diese Weise kann ich Abbitte leisten.

Ich schleiche mich in das Hanok und ziehe die Tür hinter mir zu.

Die Vorstellung eines glücklichen Doyun sollte meine Schuldgefühle besänftigen, doch das ist nicht der Fall. Gemächlich laufe ich zu dem lauwarmen, schmutzigen Wassereimer im Waschhaus des Hanok. Mein Mund ist so trocken, dass ich kaum schlucken kann. Ich nehme den Gat und das Stirnband ab und löse mein Haar aus dem Knoten, bevor ich mir Wasser ins Gesicht spritze und die Augen fest zukneife.

Ich mache mir seinen Schmerz zunutze. Es mag ihm zwar zugutekommen, mir aber auch.

Still, faucht die Stimme eisig wie der Winterwind. Wir haben getan, was nötig war. Der Mann wird uns nun helfen. Was sind schon seine verletzten Gefühle gegen das Blut, das im Palast der Sturmkrallen vergossen wurde? Wie viel gilt sein Kummer im Vergleich mit unserem? Er hat nur einen Menschen verloren, wir hingegen viele. An die Namen muss ich dich wohl kaum erinnern.

Ich sehe die Grausamkeiten jener schicksalhaften Nacht vor mir. Chara und Chryse, ihr blondes Haar stumpf vor Blut, während rot verschmierte Klingen der einen im Rücken, der anderen in der Brust steckten. Yoonho mit einem dunklen Loch mitten auf der Stirn. Blut lief aus seinem Mund.

Sangs Gesicht verweilt länger vor mir, totenblass, die einst hellbraunen Augen leer, seine Leiche mit Kugeln gespickt.

Ich schlage die Augen wieder auf und verdränge die Bilder. Ich war dort, wo er jetzt ist. Mir wurde alles genommen. Starr blicke ich in den abgestoßenen Spiegel. Wer bin ich, dass ich dieses Leid jemand anderem zumute? Ich habe seine Frau umgebracht. Ich habe ihm den Ring gestohlen. Seine Qualen verdankt er mir. Ich habe seine Frau umgebracht.

An jene Nacht kann ich mich auch gut erinnern. Daran, wie ich in Doyuns Chogajip eingedrungen und seine Liebste ermordet habe. Damals habe ich mir vorgestellt, wie Yeomra, der Todesgott, hinter mir stand und meine zitternde Hand führte.

Seine Frau war klein und jung. Hübsch im Schlaf, mit rosigen Lippen und langen dunklen Wimpern.

Ich wollte sie nicht töten und tat es dennoch.

Du hattest keine andere Wahl, flüstert die Stimme beruhigend. Zu jener Zeit konntest du nicht selbst entscheiden. Kalmin hat deine Schwester bedroht.

Man hat immer die Wahl. Ich schrubbe den Kranich, den ich mit Tinte auf meinen Unterarm gemalt habe, mit Seife ab, weil mir der Anblick auf meiner Haut zuwider ist. Das Wasser im Eimer wird schwarz, meine Haut dagegen rot und wund. Und ich habe so lange falsche Entscheidungen getroffen. Forderungen … müssen nicht unbedingt die Oberhand über das Richtige behalten.

Das sind nicht deine eigenen Worte. Der Dokkaebi hat sie dir eingeflüstert. Große Abscheu schwingt in der Stimme mit.

Das Mädchen im Spiegel schnaubt. Einen Augenblick erscheint sie mir fremd. Im Königreich soll man sie nicht erkennen und kurz gelingt es mir selbst nicht. Doch allen Veränderungen zum Trotz ist mein Gesicht – das Gesicht einer Mörderin – noch mein eigenes. Ich wende mich ab und schließe die Augen, als mich erneut die Scham überkommt. Nur hat sich mir mein Spiegelbild bereits in den Kopf gebrannt.

Schwarze Haare, die über meine Wangenknochen streichen. Ein dichter Pony, der mir ohne das Stirnband in die Augen fällt. Eine helle Narbe, die sich seitlich von meinem rechten Auge bis zum Mundwinkel zieht, wo die Klinge tiefer zugestochen und die Form einer Träne gebildet hat, die mich verhöhnt. Meine lange, spitze Nase. Mein Mund, eine dünne weiße Linie, höhnisch verzogen. Ich bin nicht auf die Weise hübsch, wie ich es gern wäre. Mein bisschen Schönheit ist verblasst und durch etwas … Unirdisches ersetzt worden. Ich bin nicht vollkommen menschlich.

Vergiss, was der Dokkaebi gesagt hat, fährt die Stimme fort. Hab kein schlechtes Gewissen wegen ihres Todes.

Ich habe mir die Worte zu Herzen genommen. Ich hatte die Wahl. Ich habe die falsche Entscheidung getroffen. Damals habe ich immer die falschen Entscheidungen getroffen. Ich öffne die Augen und ziehe den schweißgetränkten Umhang und den Tarnanzug aus. Dann laufe ich nackt durch die Dunkelheit und wünschte, die Stimme würde verschwinden. Das passiert jedoch nicht.

Nun, sagt die Stimme, während die Bodendielen unter meinen nackten Füßen knarren. Sie ist weg, sie ist tot und du musst eine Aufgabe erledigen. Was hat sie dir bedeutet? Nichts.

Aber ihm hat sie etwas bedeutet. Und ich habe sie ihm genommen. So wie Kalmin mir meine Familie genommen hat. Mit zitternden Fingern streiche ich mir durchs Haar. Eine solche Person will ich nicht sein. Nicht mehr. Keine Unschuldigen mehr. Niemand, der den Tod nicht verdient hat. Ich bin jetzt mächtig. Richtig mächtig. Ich muss handeln – so wie die Götter. Fair. Gerecht.

Gut.

Haben die Guten denn solche Schuldgefühle?, spottet die Stimme.

Ich muss schlucken. Schuldgefühle. Neben der Stimme sind sie meine ständigen Begleiter. Selbst nach meiner Wiedervereinigung mit Sang im Reich der Unterwelt Jeoseung, selbst nachdem sein Gwisin mich auf die sanfteste Art beruhigt hat, schlingen sie weiterhin ihre dürren Finger um meine Kehle und drücken derart fest zu, dass ich schwarze Punkte sehe.

Wie der Schmerz in meinem Bein und die tränenförmige Narbe, die nicht verschwunden sind, obwohl ich mich … verändert habe, so bleibt auch die Schuld ein Teil von mir. Sie ist mir so vertraut wie das helle Lachen meiner kleinen Schwester, wie meine eigenen Handrücken.

Doch ich bin zurückgekehrt. Nach Sunpo. Und hier bietet sich die Chance, meine Fehlentscheidungen wiedergutzumachen.

Der Spielmann hat Wort gehalten. Meinen Wünschen entsprechend hat der Herrscher von Gyeulcheon Konrarnd Kalmin aus dem Zauber des Gehorsams entlassen, den die Flöte Manpasikjeok ihm auferlegt hatte. Die rothaarige Ratte ist ebenfalls in das verbrecherische Sunpo zurückgekehrt und hält sich nun für den König.

Formell betrachtet, ist Haneul Rui der wahre Herrscher über Sunpo. Aber der Spielmann lässt die Stadt links liegen, bis auf die Male, wenn der König der Dokkaebi seinen Mund an die schöne Flöte legt und mit ihrer Melodie Menschen in sein Nischenreich Gyeulcheon lockt. Dort müssen sie mit leerem Blick verzaubert mit der Dienerschaft zusammenarbeiten.

Doch auf meine Forderung hin hat Rui versprochen, von nun an niemanden mehr zu entführen. Das war der Preis für meine Hilfe in jenen Tagen vor dem Kampf gegen Jiwoon. Allerdings ist der Herrscher nicht bereit, die Menschen zurückzuschicken, die ihm bereits gefolgt sind – was mich immer noch nicht loslässt.

»Ich kann nicht …«, hat Rui gesagt, als ich ihn bedrängt hatte. Und damit meinen Argwohn nur noch gesteigert, dass hinter diesen Entführungen mehr steckt, als man in Sunpo jemals erfahren hat. Dieses Rätsel habe ich noch nicht gelöst, aber obwohl er nicht gern darüber spricht, werde ich auf die ein oder andere Art die Wahrheit ans Licht bringen.

Im Augenblick gibt es jedoch Dringenderes zu tun.

Während Kalmin die Freude seiner Rückkehr und das Regieren in diesem Königreich, das er für sich beansprucht, voll ausschöpft, trommele ich Verbündete zusammen.

Denn wenn ich ihn töte – wenn ich sie alle töte –, brauche ich Leute, auf die ich zählen kann und die meine neue Herrschaft annehmen und unterstützen. Sie müssen bei der Heilung dieses kranken Königreichs mithelfen und jeden Aufruhr im Keim ersticken, sobald ich den Thron besteige.

In den drei Tagen – jetzt sogar vier – seit meiner Rückkehr habe ich dem Giwajip der Schwarzkraniche, der im wohlhabenden Bezirk Münzhof liegt, keinen Besuch abgestattet. Ich habe Konrarnd Kalmin noch nicht einmal mit eigenen Augen gesehen.

Nicht etwa, weil ich Angst hätte. Wenn mein Körper spurt, bin ich stark – stärker als je zuvor. Stärker als das schwache Mädchen, das er früher als Waffe benutzte, stärker als das von Kummer niedergedrückte Mädchen, das er als sein Erbstück bezeichnete. Nein, ich habe keine Angst.

Ich bin außer mir.

Wenn ich jetzt doch einen Blick auf die rote Ratte erhaschen sollte, würde ich ihn zweifellos auf der Stelle töten und meine Hände in sein Blut tauchen. Aber das reicht noch lange nicht.

Erst die Fänge. Dann die Stelzen.

Danach die Schwingen. Die Schnäbel.

Die Kehle. Und schließlich …

Die Krone.

Der gesamte Kranich muss untergehen. Muss einen langsamen, röchelnden Tod sterben. Muss keuchen und betteln und flehen und letztendlich doch vollkommen und unwiderruflich erlöschen.

Kalmin hat mir alles genommen. Hat mir alle genommen. Es ist nur fair, es ist nur gerecht, dass ich diesen Gefallen erwidere. Und dann – wenn Kalmin alles verloren hat –, bringe ich ihn um und reiße das Königreich an mich.

Und dafür muss ich erst einmal Zeit schinden und mich um meine Verbündeten kümmern, die mir durch ihre Ergebenheit weitere Macht verleihen. Fänge in den Gassen töten, indem ich ihnen mit meinen Schuppenklingen die Kehle durchschneide und sie mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fallen lasse.

In den vergangenen Tagen habe ich gemordet.

Mit Unima Hisao, dessen Verrat zu dem Massaker an den Sturmkrallen geführt hat, habe ich angefangen. Er hat uns damals die Treue gebrochen und beim Versuch eines Gegenschlags bin ich in eine Falle geraten. Dadurch konnte ich meinen Freunden nicht helfen, als sie dahingeschlachtet wurden. Der Feigling Unima dagegen war in sein Anwesen im Königreich Oktari des Südlichen Kontinents geflohen und erst zurückgekommen, nachdem sich der Staub gelegt hatte. Immerhin konnte ich jetzt endlich zu Ende bringen, was ich schon so lange erledigen wollte.

Als er starb, verfluchte er sich für seine Dummheit.

Dann folgten vierundzwanzig Fänge, nicht einmal viele für ein Königreich wie Sunpo, wo Mord so normal ist wie Musik. Ich bin allerdings noch lange nicht fertig. Die drei Fänge aus der Kneipe und eine weitere Handvoll stehen noch auf meiner Liste. Danach schnappe ich mir die Stelzen von der Straße wie ein Geier, der einem schon längst verstorbenen Tier die Glieder ausreißt. Die vergangenen Tage könnte man auch als Ruhe vor dem Sturm bezeichnen.

Siehst du?, flüstert die Stimme. Geben die Guten sich wirklich Mordfantasien hin? Selbst wenn die Opfer es verdient haben?

Schnauze, fauche ich so heftig, dass ich Kopfschmerzen bekomme.

Murrend verfällt die Stimme in Schweigen, während ich mich in die beengte Schlafkammer des Giwajip begebe und ein seidenes Nachthemd anziehe, das nach ihm riecht.

Nach Pflaumenblüten und Lakritz.

Ich mache es mir im Bett gemütlich und nehme den silbernen Ring von meiner rechten Hand. Warm liegt er auf meiner Haut. Ich drehe ihn zwischen den Fingern und betrachte die verschnörkelten Buchstaben in Alter Schrift. Lesen kann ich sie nicht, aber die Worte sind nicht schwer zu erraten. Wenn du ihn an deine Lippen drückst, komme ich zu dir, egal wann, egal, wie weit du entfernt bist, egal, worum es geht.

Ich führe den Ring an meine Lippen, halte aber trotz der überwältigenden Sehnsucht einen halben Zentimeter von meinem Mund entfernt inne.

Ablenkung ist heute Nacht keine gute Idee. Ich muss schlafen und morgen Gwan Doyun und Song Iseul besuchen. Schließlich habe ich das Geflüster der Schwarzkraniche über die Taubenmutter gehört, die Konrarnd Kalmin das Schutzgeld verweigert.

Und eine Frau, die das tut, ist automatisch eher eine Freundin als eine Feindin. Sie steht nun auf meiner Liste potenzieller Verbündeter – Menschen mit Macht, die ich an meiner Seite brauche, um die Herrschaft über Sunpo in Anspruch zu nehmen.

Wehmütig stecke ich den Ring wieder an den Finger. Als wäre er enttäuscht, kühlt er sich einen Moment lang ab.

Ich schlafe ein.

Ich träume und wünschte, ich würde es nicht tun.

Diese Welt riecht nach lieblichen Kirschblüten und scharfen, beißenden Blitzen. Am fliederfarbenen Himmel ziehen graue Gewitterwolken über einen lavendelblauen Mond. Dunkler Nebel rankt sich um meine Knöchel, schlingt sich weich wie Vogelfedern um meine nackte Haut.

Ich bin nur mit einem dünnen weißen Nachthemd bekleidet und halte eine schnell schmelzende Kerze in der rechten Hand. Wachs tropft heiß und klebrig auf meine Finger. Ich trage keinen Ring, bin unbewaffnet.

Mein Haar ist wieder lang; locker fällt es über meinen Rücken. Schwarze Strähnen wehen in einem Wind, der die kalte Gischt des Flusses mit sich trägt. Er rauscht direkt unter dem grasbewachsenen Felsvorsprung, auf dem ich stehe – eine funkelnde, glitzernde Rose im blassblauen Licht der Welt. Obwohl der undurchdringliche, wabernde Nebel den Fluss verhüllt, weiß ich, dass er da ist, so sicher, wie man weiß, dass die eigenen Glieder mit dem Körper verbunden sind.

Es ist der Seocheongang-Fluss, der das Totenreich vom Reich der Lebenden trennt. Neben meinen nackten Füßen liegt die Hwangcheon-Brücke aus Jade, über die ich in Yeomras Hallen gelange, wenn ich hinübergehe. Der Gott ist nicht da – nur die Toten. Wie die anderen Götter hat auch Yeomra uns vor langer Zeit verlassen. Vielleicht könnte ich gegen die Regeln verstoßen, die Brücke überqueren, die Sturmkrallen besuchen und wieder zurückkehren. Sang hat es einmal getan.

Aber ich rühre mich nicht vom Fleck, nicht mal, als ich eine Gänsehaut bekomme und erschauere.

Denn in meinem Rücken spüre ich sie. Alt, uralt und weise. Ich spüre ihren forschenden Blick, der durch den Nebel auf mir ruht. Wenn ich mich umdrehe, begegne ich einer Kreatur aus tödlich glitzerndem Blaugrün und schlangenhafter Anmut. Ich möchte mich umwenden. Will sie sehen und mit ihr sprechen. Die Sehnsucht sprengt meine Brust, tut mir im Herzen weh. Und doch kann ich mich nicht rühren, da meine Füße offenbar Wurzeln geschlagen haben und meine Glieder schwer und langsam sind. Als wäre ich an die Erde gekettet, auf der ich gerade stehe, gefangen an dieser Stelle im Nebel, der sich um meine rasch frierenden Glieder schlingt.

»Lina«, wispert eine raschelnde Stimme – als würde der Wind übers Heufeld wehen. »Tochter des Gifts.«

Ich versteife mich, aber Angst habe ich nicht. Ich möchte nur wirklich dringend mit dem Wesen sprechen, das hinter mir verweilt, und es zum ersten Mal in Augenschein nehmen. Als ich den Mund aufmache, ist meine Zunge jedoch trocken und bleischwer. Es bilden sich keine Wörter, stattdessen kommt ein heiseres Krächzen über meine Lippen – schwach, erbärmlich wie das Fiepen eines frisch geschlüpften Kükens.

Nebelschwaden wirbeln in Spiralen aufwärts, während eine Bewegung den obsidianschwarzen Dunst durchdringt. Die Kreatur zieht Kreise um mich herum. Meine Kerzenflamme flackert. Wachs rinnt mir über die Haut, brennt, versengt mich. Mir ist bewusst, dass ich Jeoseung verlassen muss, bevor die Flamme endgültig erlischt. Aber ich will nicht gehen, bevor ich nicht wenigstens einen einzigen Blick auf das Ungeheuer im Nebel erhascht habe.

»Weine nicht, Tochter«, murmelt die Kreatur und ich fühle, wie sich ihre Musterung verstärkt. Zu spät fällt mir auf, dass mir warme, salzige Tränen über die Wangen in den Mund laufen. »Wass willssst du? Wass suchssst du?«

Dich sehen, denke ich. Die Sehnsucht ist so stark, dass es mir das Herz zerreißt. Bitte – oh, ich möchte dich sehen. Ich möchte mit dir sprechen, mehr als alles andere, mehr als alles andere. Es ist, als wäre sie ein Magnet, der mich verlockend zu sich zieht, ohne dass ich mich wehren könnte.

Ich bekomme keine Antwort – nur eine zufrieden wirkende Stille, als könnte die Kreatur meine Gedanken hören.

Und dann wache ich auf.

KAPITEL 3

Ich setze mich abrupt im Bett auf, mein Atem eine Mischung aus Japsen und Würgen, noch dazu bin ich schweißgebadet. Die glühende Morgensonne scheint bereits durch die Hanji-Blende am Fenster meiner kleinen Kammer und betont die Staubkörner, die in der Luft tanzen. Es ist so heiß, dass meine Haut sich anfühlt, als würde sie brutzeln, doch trotz der sommerlichen Hitze gefriert mir das Blut in den Adern. Auch diese Nacht hat mir wieder einen Albtraum beschert.

Imugi.

Schlangenartige Ungeheuer, die einst das Gebiet der Sterblichen – Iseung – in Schrecken versetzten. Kreaturen mit finsteren Absichten, die sich sogar gegen die Götter stellten. In einer Schlacht kamen dabei die Dokkaebi in die Welt, erschaffen, als sich auf den Waffen der Götter das eigene Blut mit dem der Imugi vermischte und auf den verseuchten Erdboden tropfte. Nach dieser Schlacht wurden die Imugi in Yeomras Totenreich Jeoseung verbannt, blieben dort aber nicht lange. Auch nachdem die Götter verschwunden waren, kämpften die Dokkaebi unablässig gegen die Imugi … bis sich die Schlangen freiwillig in die Unterwelt zurückzogen. Dort hausen sie seitdem aus Gründen, die so undurchschaubar sind wie die Schatten der Nacht.

Während ich durch Jeoseung gewandelt bin, bin ich einer dieser Kreaturen, einer Imugi, begegnet. Wie in meinem Traum verhüllte der Nebel die Schlange und ich konnte nur kurz eine leuchtend blaugrüne Schuppe sehen. Und dabei spürte ich das Gleiche wie heute Nacht: Neugier und forschende Blicke von Seiten der Imugi. Doch ich verließ sie und kehrte in meinen Körper in Gyeulcheon zurück, bevor wir diese Begegnung vertiefen konnten.

Die Albträume haben kurz nach meiner Rückkehr begonnen. Sie sind immer gleich. Der Geruch nach Kirschblüten und Blitzen, meine Unbeweglichkeit, das Flüstern der Imugi. Tränen auf meinen Wangen, überwältigende Sehnsucht.

Angst.

Aber ich fürchte mich nicht etwa vor der Schlange in meinem Traum.

Ich fürchte mich vor meiner Reaktion.

Früher hatte ich fürchterliche Angst vor Schlangen. Meine Hände wurden schweißnass und ich bekam weiche Knie, wenn ich ihre geschmeidigen Körper sah. Dann erinnerte ich mich zwangsläufig an meine Kindheit in dem alten Chogajip meiner Familie, in dem ich mitten in der Nacht wach wurde, weil sich eine Schlange in die baufällige Hütte geschlichen und um meine Beine gewickelt hatte.

Und jetzt ist diese Angst … einfach weg. Bei meiner Wiedergeburt ist sie verschwunden und durch etwas noch viel Schlimmeres ersetzt worden.

Verlangen.

Ich habe es genau einmal davor bereits verspürt – diese makabre Neugier, die mich trotz der schnell schmelzenden Kerze bei der Imugi verweilen ließ. Nur das Echo von Sangs Worten – »Versprich mir, dass du dir erlaubst zu leben. Richtig zu leben.« – riss mich aus meiner Trance und sorgte dafür, dass ich Jeoseung verließ. Danach erfolgte die Wiedergeburt … und ich vernahm zum ersten Mal die Stimme.

In den Träumen kommt Sang jedoch nicht vor. Deshalb bleibe ich bei der Imugi, vollkommen übermannt von etwas, das sehr viel mehr ist als schlichte makabre Neugier.

Es ist nur ein Traum, rede ich mir gut zu, nur ein Traum.

Mit wackeligen Knien stehe ich von der Pritsche auf, schrubbe im Waschhaus mein aufgequollenes Gesicht mit Wasser und Seife und streiche mir den schweißnassen Pony aus den Augen. Die Frisur ist Teil meiner Taktik, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass Kalmin oder einer seiner Schergen mich in Sunpo entdeckt. Da sie glauben, meine Leiche läge in Gyeulcheon begraben, halten sie nicht nach mir Ausschau. Aber ich lasse mir meinen Plan sicher nicht dadurch ruinieren, dass doch jemand zufällig die Schnitterin von Sunpo erkennt. Deshalb bin ich mit einem Dolch auf meine Haare losgegangen und habe sie fest entschlossen abgehackt und gesäbelt, bis Rui dazwischengegangen ist. Seine silbernen Augen funkelten in einer Mischung aus Verwirrung und Belustigung, als er mir eine Schere reichte. Damit ließ sich mein Vorhaben deutlich leichter bewerkstelligen.

Gwan Doyun lebt in Grätenfang, wo nun die wohnen, die ihr Vermögen verloren haben. Dort gibt es keine Giwajips mit Ziegeldächern. Die Gebäude haben Strohdächer wie der Mondscheinhase. Das von Doyuns Chogajip ist zur Hälfte eingefallen und die Tür wurde offenbar schon öfter mit einem Holzknüppel malträtiert. Früher hat der ehemalige Kunsthandwerker im wohlhabenden Münzhof gelebt, in einem prächtigen Herrenhaus, ähnlich dem der Schwarzkraniche, die im selben Bezirk hausen. Ich erinnere mich an die glänzenden Dachschindeln und die blanken Holzböden. Es hat leise geknarrt, als ich darauf trat, um seiner Frau die Kehle …

Atme. Ich habe mich verändert und gehorche niemandem mehr. Ich folge nur noch meinem eigenen freien Willen.

Jetzt wohnt Doyun jedenfalls im östlichen Grätenfang.

Unser alter Palast – der Palast der Sturmkrallen – liegt ebenfalls in Grätenfang, in den letzten Ausläufern des Königreichs am Rande des Yongwangguk-Meeres, das diesen Kontinent einrahmt. Dort gehe ich nicht hin, zumindest heute nicht. Der Schmerz ist zu frisch, eine klaffende Wunde. Es ist noch nicht so weit. Heute besuche ich nur Doyun und Iseul und meide den Palast. Was ein Leichtes sein sollte, da er, weit von den anderen Häusern entfernt, auf dem Land liegt.

Meinen Besuch hier habe ich sorgfältig geplant. Doyun lässt sich schnell einschüchtern, aber nach der vergangenen Nacht braucht er jetzt vor allem Trost.

Freundlichkeit, nette Worte und sanfte Beruhigung sollten mir angesichts des blutigen Vorfalls im Mondscheinhasen die Tür öffnen.

Darum trete ich in einem bescheidenen Hanbok statt in meinem Tarnanzug in die Morgensonne hinaus. Die Jeogori-Jacke ist blütenrosa mit einer lavendelfarbenen Seidenschleife und das Chima darunter in einem sauberen und makellosen Weiß gehalten, das auf meine Schuhe abgestimmt ist. Der Hanbok stammt aus Gyeulcheon – wo ich ihn Park Hana aus ihrem Kleiderschrank gestohlen habe.

Natürlich hätte ich ein paar Hanboks aus meinem eigenen Gemach mitnehmen können, doch da Hana mich sogar noch böse ansah, nachdem ich ihrem Herrscher und ihrem Liebhaber das Leben gerettet hatte, hat sie es nicht anders verdient.

Morgendliches Treiben erfüllt die Straße in der Mausefalle, wo bald schon der Wochenmarkt des Königreichs aufgebaut wird. Bereits jetzt verstopfen Händler in schlichten, schweißgetränkten Gewändern die umliegenden Kopfsteinpflastergassen und befördern Körbe voller Waren auf den Platz. Unter den Krempen ihrer Satgats, kegelförmigen Strohhüten, sind ihre Gesichter rot angelaufen. Schnaubende Pferde traben über die Straße und ziehen Karren, die schwer unter der Last der Reissäcke ächzen.

Während ich dem Pferdegetrappel und den plappernden Händlern ausweiche, achte ich sorgsam darauf, meine Röcke aus den schmutzigen Pfützen auf der nassen Straße herauszuhalten. Mein Gedächtnis gräbt Erinnerungen an meinen letzten Besuch dieses Marktes aus, die wie süßer, gesponnener Zucker durch meine Gedanken kreiseln.

»Ist es für Euer Volk normal, aus dem Nichts auf einem Dach aufzutauchen?«

»Ist es für dein Volk normal, absolut genießbares Essen vom Dach zu werfen?«

Ich verziehe den Mund zu einem verhaltenen Lächeln und betrachte den Ring an meinem Finger. Er erwärmt sich leicht auf meiner Haut.

Die Bäckerin befindet sich an ihrem Stand neben dem Wilderer aus Wyusan und schaut bewundernd – wie immer – auf seinen prallen Bizeps, während er die letzten Felle anordnet, die er in der weiten Wildnis seines Königreichs erbeutet hat. Er lässt gewiss die Muskeln spielen. Und die Bäckerin merkt nicht, dass ich mir zwei Zuckerbrötchen aus dem Korb nehme und fröhlich kauend meinen Weg fortsetze.

Manche Dinge ändern sich eben nie.

Unterwegs stecke ich ein Zuckerbrötchen in die Rocktasche. Jetzt sind beide Taschen schwer – eine mit Gebäck, die andere mit Bestechungsgütern. Mit Freundlichkeit und Charme werde ich bei Doyun weit kommen, da bin ich mir ziemlich sicher. Wenn ich bei den Sturmkrallen allerdings eins gelernt habe, dann dass ein Handel immer abgeschlossen wird, sobald Edelsteine im Spiel sind. Und Ruis Schatzkammer in Gyeulcheon quillt vor Juwelen und Schmuckstücken über, die für meine besonderen Bedürfnisse sehr geeignet sind.

Ich brauche nicht lange bis Grätenfang. Sunpo ist doch eher klein – ja, geradezu winzig im Vergleich zu unseren nördlichen Nachbarn Wyusan und Bonseyo. Mein Weg von der Mausefalle nach Grätenfang ist durch deutlich mehr Gestank und den rapiden Verfall der Gebäude am Straßenrand geprägt. Dreckige Fischer, die mit ihren wenig seetüchtigen Booten das Yongwangguk-Meer befahren, hieven Säcke mit ihrer fischmäuligen Ware den Weg hinauf. In der brütenden Hitze wirken die Schuppen schleimig.

Ich rümpfe die Nase. Im Sommer gibt es kein Eis für die Fische, und dem Geruch nach zu urteilen, sind viele bereits in der Zeit verdorben, die die Fischer brauchen, um an die Küste zurückzukehren und den langen Weg in die Stadt auf sich zu nehmen. Unter Aufwendung äußerster Anstrengung ziehe ich meinen Geruchssinn zurück und nähere mich Doyuns Tür. Die abgestoßene Steinmauer, die sein kleines Chogajip umgibt, bröckelt und der Kiesweg zu seiner Tür ist mit getrocknetem Blut befleckt. Mit schmalen Lippen begutachte ich die rote Spur. Er ist letzte Nacht verletzt nach Hause gekommen. Und das ist meine Schuld.

Ehe mich der Mut verlässt, klopfe ich leise an Doyuns Tür. Kurze Zeit herrscht weiter Stille. Dann höre ich ein ängstliches Schlurfen. »Wer da?«, fragt eine bebende Stimme.

»Eine Freundin«, sage ich liebenswürdig und schließe die Finger um das Schmuckstück in meiner Tasche.

Die misstrauische Pause, die darauf folgt, lasse ich geduldig vorübergehen.

Schließlich öffnet sich die Tür, nur ein wenig. Durch den dunklen Spalt sieht Doyun mich aus zugeschwollenen Augen an. Sein Blick gleitet zu meiner Narbe.

Das Blut gefriert mir in den Adern. Letzte Nacht hatte ich gehofft, dass der Gat die verheilte Schnittwunde auf meiner rechten Gesichtshälfte größtenteils verbergen würde. Und dass Doyun zu sehr mit der gefälschten Tätowierung beschäftigt wäre, um zu merken, dass der Mann vor ihm in Wahrheit eine Achtzehnjährige war, die man an ihrer Narbe gut identifizieren konnte. Ich verfluche meine Dummheit. Es wäre besser gewesen, wenn ich sie mit Puder abgedeckt hätte.

Doch Doyuns Blick wird ein wenig sanfter. Vielleicht liegt es an meinem zögerlichen Lächeln. Oder daran, dass ich mir große Mühe gegeben habe, seiner verstorbenen Frau ähnlich zu sehen. Ich habe meine Wimpern schwarz getuscht, mit rosa Schminke meine Lippen zu kleinen Rosenknospen geformt und Rouge auf den unteren Rand meiner Wangenknochen aufgetragen, um mein Gesicht voller, runder und sanfter wirken zu lassen.

Eine Täuschung, ja. Allerdings eine notwendige, denn von Nahem sehe ich … furchterregend aus, glaube ich. Wer genau hinsieht, merkt vielleicht, dass ich nicht normal bin. Dass ich anders bin.

Ich nutze seine augenblickliche Freundlichkeit aus. »Nur einige Minuten deiner Zeit, bitte, mein Herr.« Schwer zu sagen, wie die Stimme seiner Frau klang. Ich habe sie nur kurz schreien hören. Aber ich entscheide mich für ein federleichtes Wispern, das sich von meinem üblichen heiseren Tonfall deutlich unterscheidet. »Ich bin gekommen, ohne dass mir jene, die du fürchtest, gefolgt sind. Wirklich, ich bin eine Freundin. Bitte lass mich eintreten.«

Doyun zögert. »Wer bist du?«

»Eine Feindin deiner Feinde. Mir wurde die Geschichte einer toten Ehefrau und eines gestohlenen Ringes zugetragen. Ich bin hier, um mit dir zu reden.« Es entgeht mir nicht, dass sein Blick auflodert, als ich das gestohlene Schmuckstück erwähne. Den sauren Geschmack auf der Zunge schlucke ich herunter. »Ich … ich könnte dir vielleicht eine … angemessene Entschädigung zukommen lassen.«

»Nichts«, zischt Doyun, »kann meinen Verlust ersetzen. Nichts. Sie haben mir alles genommen. Nichts, was du mir geben könntest, wäre eine angemessene Entschädigung.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich glaube doch, dass eine ganz besondere Sache es wäre.« Man könnte meine Worte leicht als eine andere Art von Anspielung missverstehen, aber dafür ist Doyun zu klug. Er sieht meine Narbe, er hört das stumme Versprechen in meiner Stimme.