Kluge Mädchen - Katharina Fietze - E-Book

Kluge Mädchen E-Book

Katharina Fietze

0,0

Beschreibung

Sechs Frauen erzählen, wie es ihnen ergangen war, bevor sie von ihrer Hochbegabung wussten. Ihre hohe Intelligenz blieb unbemerkt und konnte sich nicht entprechend entfalten. Im zweiten Teil des Buches stellt die Autorin verschiedene Definitionen von Hochbegabung vor. Sie zeigt die Struktur von Hochbegabung auf und charakterisiert die hochbegabte Persönlichkeit. Im dritten Teil offeriert sie einen Ratgeber für späterkannte hochbegabte Frauen und solche, die eine Hochbegabung bei sich vermuten. Des Weiteren gibt sie Tipps für Eltern, Großeltern und Bezugspersonen heutiger hochbegabter Mädchen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 357

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER UNBEACHTETEN HOCHBEGABTEN

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

MÄDCHEN VOM LANDE

Erziehung

Schule

Fazit

DAS SCHWARZE SCHAF DER FAMILIE

Familie

Erziehung

Kindergarten und Schule

Fazit

MEIN UNGELEBTES LEBEN

Schule

Fazit

REINES HERZ UND FALSCHE HAND

Familie

Schule und Ausbildung

Fazit

RABENKIND

Grundschule

Weiterführende Schule

Fazit

NIEDLICH, ABER HOCHBEGABT

Familie

Bildung

Schule

Fazit

BIOGRAPHISCHE PARALLELEN

Hochbegabung

Lebenslinien

Reaktionen des Umfeldes

Selbstwahrnehmung

Wünsche

Reaktionen der Mädchen

Gefühle

Bewältigungsstrategien

Kompetenzen

Fazit

HOCHBEGABUNG ALS ANDERSSEIN

Weit überdurchschnittliche Intelligenz

Hochleistung

Gesellschaftliche Nicht-Passung

HOCHBEGABUNG ALS SOSEIN

Intensität des Daseins

Hochbegabter Geist

Hochbegabte Seele

Hochbegabter Leib

Durchdringung der Domänen

HOCHBEGABTE PERSÖNLICHKEIT

Frühentwicklung – Spätentwicklung

Wachheit – Müdigkeit

Schnelligkeit – Langsamkeit

Konzentration – Ablenkung

Erinnern – Vergessen

Höflichkeit – Frechheit

Kritik – Kränkung

Langeweile – Hochgefühl

Oberflächlichkeit – Perfektionismus

Tatkraft – Weltferne

Extraversion – Introversion

Abschirmung – Hilfsbereitschaft

Überschwang – Traurigkeit

Aggressivität – Leidensfähigkeit

Hass – Liebe

Gutgläubigkeit – Argwohn

Unbeirrbarkeit – Skepsis

Struktur – Freiheit

SPÄTERKANNTE HOCHBEGABTE FRAUEN

Hochbegabungsvermutung

Testung

Wertschätzung

Comming out

Das Gleichnis vom verborgenen Selbst

Gang in die Tiefe

Neuorientierung

Vernetzung

Neubeginn

Freisetzung des Potentials

HOCHBEGABTE MÄDCHEN

Hochbegabungsvermutung

Intelligenztests und Geschlechterdifferenz

Situation intelligenter Mädchen

Mädchen stärken

Vorbilder

NACHWORT

AUTORINNEN

LITERATUR

ANMERKUNGEN

Ich verstand die Stille des AethersDer Menschen Worte verstand ich nie.

FRIEDRICH HÖLDERLIN

VORWORT

»Kluge Mädchen« erschien erstmals im März 2010. Anlass zu diesem Buch gab die Entdeckung meiner eigenen Hochbegabung (IQ ≥ 130), als ich schon über 40 Jahre alt war. Wieso blieb sie so lange unbemerkt? Lag es daran, dass ich eine Frau war? Jahrelang hatte ich mich auf wissenschaftlichem Gebiet der philosophiegeschichtlichen Frauenforschung gewidmet. In diesem Zusammenhang hatte ich Leben und Werk zahlreicher herausragender Frauen studiert und nicht bemerkt, dass ich selbst eine von ihnen war. Wie war das möglich? Es drängte mich, dies herauszufinden und ein Buch über und für spät erkannte hochbegabte Frauen zu schreiben.

Deshalb gründete ich am 01. 07. 2007 eine Gruppe zur Erforschung von Hochbegabung im weiblichen Lebenszusammenhang. In den fünfeinhalb Jahren meiner Leitung habe ich mit ca. 250 hochbegabten Frauen darüber gesprochen, wie sich deren Hochbegabung manifestiert.

Zunächst tagte die Gruppe als »Stammtisch für Mütter hochbegabter Kinder und hochbegabte Frauen« im Regionalverein Hamburg der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V. (DGhK e. V.). Die Ergebnisse arbeitete ich in die 1. Ausgabe von »Kluge Mädchen« ein. Am 01. 06. 2010 wechselte die Gruppe zum Verein Mensa in Deutschland e. V. (MinD e. V.) und traf sich in Hamburg als »Arbeitskreis Hochbegabte Frauen«. Die Ergebnisse der Jahre 2010–2012 sind in die 2. Ausgabe von 2013 eingeflossen. Die Gruppe existiert immer noch und tagt als Veranstaltung von MinD e. V. in Hamburg unter dem Namen »Sophiencafé«.

Als ich »Kluge Mädchen« schrieb, lagen nur wenige deutschsprachige Bücher über hochbegabte Erwachsene vor, auf die ich mich stützen konnte. Die wichtigsten waren STREZNEWSKI (1990), SCHEIDT 2006) und BRACKMANN (2007). Speziell über hochintelligente Frauen gab es keine und über hochintelligente Mädchen nur sehr wenig Literatur.

Die Begabungs- und Intelligenzforschung war vor zehn Jahren auf Kinder und Jugendliche fokussiert. Natürlich trifft vieles, was für hochbegabte Kinder gilt, auch auf hochbegabte Erwachsene zu, denn kluge Frauen waren einmal kluge Mädchen. Für die Akzeptanz und Verarbeitung der eigenen Hochbegabung ist es jedoch ein großer Unterschied, ob sie bereits im Kindesalter oder erst im Erwachsenenalter erkannt wird.

Mittlerweile ist das Thema Hochbegabung enttabuisiert. Bücher und Webseiten über Hochbegabung sprießen wie Pilze aus dem Boden. Dies ist sehr erfreulich. Nun gibt es zahlreiche Titel, auf die Erwachsene, die eine Hochbegabung bei sich vermuten oder die gerade getestet wurden, zurückgreifen können. Es sind zu viele, um sie hier alle zu nennen, doch habe ich die mir zugänglichen neuen Publikationen ins Literaturverzeichnis der 3. Auflage aufgenommen.

Ein Großteil der Fachliteratur über Hochbegabung kommt aus dem pädagogischen und psychologischen Bereich.

Universitäre Hochbegabtenforschung gibt es u. a. an der Universität Trier unter Prof. Franzis Preckel und an der Universität Luxemburg unter Prof. Tanja Baudson. Hier wird auch über hochbegabte Erwachsene geforscht. Forschungsarbeiten finden sich auf deren Webseiten. An der Universität Leipzig gibt es mittlerweile einen Masterstudiengang für Begabungsforschung und Kompetenzentwicklung.

Außerdem schreiben Betroffene und Coachs, die mit Hochbegabten arbeiten, über ihre Erfahrungen und geben ihr Wissen weiter. Hier sind die Bücher von SCHEER (2010), GARCIA (2012), SCHWIEBERT (2015) und KEGEL (2017) zu nennen. Über hochbegabte Erwachsene gibt es einige neue Arbeiten. Dazu gehören die von SCHMIDBAUER (2013) und SIAUD-FACCHIN (2017).

Das Werk »Trop intelligent pour être heureux? L’adulte surdoué« (Paris 2008) der französischen Psychologin Jeanne SIAUD-FACCHIN lag schon vor, als ich »Kluge Mädchen« schrieb. Da ich des Französischen nicht mächtig bin, konnte ich es nicht einbeziehen. Seit 2017 liegt es in deutscher Übersetzung vor, mit dem Titel »Zu intelligent, um glücklich zu sein?«. Das Buch beschäftigt sich viel mit Kindern, geht aber auch auf hochbegabte Erwachsene sowie auf hochbegabte Frauen ein.

Ebenso wie STREZNEWSKI (1990) beschreibt SIAUD-FACCHIN die Facetten der Hochbegabung sehr umfassend. Wenngleich ihr Schreibstil der deutschsprachigen Leserin sprunghaft anmutet, ist alles Wissenswerte über Hochbegabung in ihrem Buch enthalten.

Allerdings gibt es eine These, der ich entschieden widersprechen muss. SIAUD-FACCHIN schreibt:

»Hochbegabt zu sein bedeutet nicht, intelligenter als andere zu sein, sondern nur eine andere Art von Intelligenz zu besitzen.« (Siaud-Facchin 2017, S. 50)

Fakt ist, dass es gewaltige Intelligenzunterschiede gibt, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Hochbegabte befinden sich am äußersten Rand des Intelligenzspektrums. Per definitionem sind sie intelligenter als knapp 98 Prozent der Bevölkerung. Alle Intelligenztests, welche die generelle Intelligenz messen, sind quantitativ aufgebaut. Mit ihnen können Intelligenzabstufungen festgestellt werden. Der Intelligenzquotient wird anhand einer Reihe von Untertests ermittelt und dann zu den Ergebnissen einer Vergleichsgruppe ins Verhältnis gesetzt. Wie intelligent der getestete Mensch im Vergleich zu anderen Getesteten derselben Altersgruppe ist, drückt der Prozentrang (PR) aus.

Ein Mensch mit IQ 135 und PR 99 ist beispielsweise intelligenter als 99 Prozent der Bevölkerung, d. h., nur ein Prozent ist ebenso intelligent oder intelligenter als er. Das ist einer von 100 Menschen. Genau aus dieser Differenz erwächst der Leidensdruck der weit überdurchschnittlich Intelligenten, weil es für sie so gut wie unmöglich ist, per Zufall auf ähnlich intelligente Menschen zu treffen, mit denen zusammen sie sich ganz normal fühlen können.

Beruht SIAUD-FACCHINS Formulierung vielleicht auf einer unsauberen Übersetzung? Nein, denn an anderer Stelle heißt es über Hochbegabte:

»Es handelt sich nicht darum, quantitativ intelligenter zu sein, sondern über eine qualitativ andere Form der Intelligenz zu verfügen.« (Siaud-Facchin 2017, S. 16)

Intelligenzunterschiede aus Furcht vor elitärem Denken oder einem falsch verstandenen Egalitarismus unter den Teppich zu kehren, hilft nicht, das Phänomen der Hochbegabung zu verstehen oder Hochbegabte sinnvoll zu fördern. Von den weit überdurchschnittlich intelligenten Menschen dürfte in demokratischen Gesellschaften keine Gefahr ausgehen. Mit nur zwei Prozent der Bevölkerung stellen sie eine so kleine Minderheit dar, dass sie dem politischen Mainstream nichts anhaben können. Sie können zwar Impulse setzen, getragen werden müssen Veränderungen und Bewegungen aber immer von Mehrheiten, und das sind die durchschnittlich Intelligenten, die 68,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Dass es große Intelligenzunterschiede gibt, daran gibt es nichts zu deuteln. SCHMIDBAUER formuliert es zutreffend:

»Der Begabungsunterschied ist ein Naturereignis, das wir in seinen Ursachen verstehen, in seinen Dimensionen erkennen, in seinen Folgen mildern können; aus der Welt schaffen werden wir diesen Unterschied nie. Ihn zu leugnen dient einer Bewältigung der mit ihm verknüpften Konflikte am wenigsten.« (Schmidbauer 2013, S. 220)

Es bringt auch nichts, die Grenze der Hochbegabung nach unten abzusenken und zu sagen, dass Menschen mit IQ ≥ 120 eigentlich auch schon ein bisschen hochbegabt seien. Sie sind überdurchschnittlich intelligent und somit sehr, sehr klug. Daran besteht gar kein Zweifel. Sie sind aber nicht weit überdurchschnittlich intelligent. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, weil mit der Hochbegabung – und hier stimme ich mit SIAUD-FACCHIN überein – ein qualitativer Sprung einhergehen kann.

Diesen qualitativen Unterschied bezeichne ich als Intensität des Daseins. Sie entsteht – bildlich gesprochen – aus einer Verquickung von erhöhter geistiger Aktivität, tiefer seelischer Empfindung, verstärkter körperlicher Wahrnehmung und spiritueller Empfänglichkeit. Diese Intensität des Daseins kann Zustände hervorrufen, die in der Literatur als Hochsensibilität bezeichnet werden. Weit überdurchschnittliche Intelligenz, gepaart mit Hochsensibilität, führt dazu, dass diese Hochbegabten sich unter den Nicht-Hochbegabten fremd fühlen. Es entsteht das sogenannte Alien-Gefühl, das ist der Eindruck, von einem anderen Stern zu stammen und trotz allergrößter Bemühungen nicht in diese Welt zu passen.

Die überdurchschnittlich Intelligenten aus dem Intelligenzspektrum IQ 115–129 stellen 13,6 Prozent der Bevölkerung dar. Ihnen bieten sich mehr Gelegenheiten, auf ihresgleichen zu treffen. Möglicherweise fühlen sie sich deshalb nicht so sehr als Aliens, wie viele Hochbegabte es tun, und sind deshalb vielleicht die glücklicheren und erfolgreicheren Menschen.

Zum Thema Hochsensibilität sind ebenfalls etliche neue Bücher erschienen. Hochsensibilität scheint aber nicht an eine intellektuelle Hochbegabung gekoppelt zu sein. Nach Auffassung einiger Autoren sind bis zu 20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel. Da Hochbegabte aber oft hochsensibel sind, können sie sich in den Büchern über Hochsensibilität durchaus wiederfinden und dadurch auch das Phänomen der Hochbegabung besser verstehen.

»Kluge Mädchen« stützt sich zum einen auf Literatur über Hochbegabung, zum anderen auf Kindheitsgeschichten aus den 60er bis 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommen Gespräche mit hochbegabten Frauen, die zehn Jahre und länger zurückliegen. Ist »Kluge Mädchen« noch aktuell? Verändern sich die Merkmale von Hochbegabung im Wandel der Zeit?

Alle Menschen sind Kinder ihrer Zeit und von den Strömungen ihrer Epoche geprägt. Dementsprechend hängt die Entfaltung der Intelligenz von den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen einer Epoche und einer Kultur ab. Auch die Strategien zur Bewältigung von Problemen und Konflikten sind abhängig von der Zeit, in der Menschen leben. Jedoch gilt Intelligenz als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Hochbegabung geht nicht weg. Sie bleibt, und so auch ihre Merkmale. Bei meiner Beschäftigung mit hochbegabten Persönlichkeiten von der Antike bis zur Gegenwart bestätigte sich dies. In autobiographischen Texten von historischen Personen, bei denen von einer Hochbegabung ausgegangen werden kann, finden sich Merkmale wieder, die auch Hochbegabte der heutigen Zeit aufweisen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die von mir beschriebene Struktur der Hochbegabung und die Merkmale der hochbegabten Persönlichkeit in Teil II dieses Buches zeitübergreifend Gültigkeit haben. Diese Merkmale zu beschreiben und zu verstehen, darum geht es in diesem Buch.

Allen, die am Entstehen meines Buches mitgewirkt haben – sei es in Diskussionen und Rückmeldungen oder mit Rat und Tat –, spreche ich an dieser Stelle meinen Dank aus.

Katharina Fietze, Hamburg, Januar 2019

EINLEITUNG

»Most gifted women are unaware of their giftedness; they are only aware of their pain – the pain of being different from the way women are supposed to be.«1

LINDA SILVERMAN

Weltweit gelten 2,3% aller Menschen als intellektuell hochbegabt. Das entspricht einem Intelligenzquotienten (IQ) von mindestens 130. Hochbegabung ist nicht mit Hochleistung gleichzusetzen. Rost bezeichnet Hochbegabung als ein intellektuelles Potential (Kompetenz), aus dem unter günstigen Umständen Hochleistungen (Performance) hervorgehen können.2 Zwar ist weit überdurchschnittliche Intelligenz nur eine von vielen besonderen Begabungen, sie ist aber die einzige Begabung, die sich gegenwärtig als Potential in einem standardisierten Test messen lässt. Musikalische, künstlerische, psychomotorische, psychosensorische, soziale, heilerische und spirituelle Kompetenzen zeigen sich in besonderen Leistungen – also in Worten, Werken und Taten. Sie lassen sich bislang noch nicht als Potential in einem Test nachweisen.

Damit aus Hochbegabung Hochleistung wird, müssen Menschen kreativ werden. Ich bin der Auffassung, dass Kreativität keine gesonderte Begabung darstellt – etwa im Sinne einer künstlerischen Befähigung, sondern diejenige Kraft ist, welche bei unterschiedlichsten Begabungen bewirkt, dass aus Kompetenz Performance wird.3 Mit anderen Worten: Um Potentiale zur Entfaltung zu bringen, müssen Menschen in Geist, Seele und Leib kreativ, also schöpferisch werden. Damit das gelingt, braucht es Ermutigung, Förderung und eine gute Portion Glück.

Nicht allen Hochbegabten ist es vergönnt, ihrem Potential entsprechende Leistungen zu erbringen. Sie entwickeln sich zu sogenannten Minderleistenden, d.h. zu Menschen, deren Leistung weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Die Anzahl der minderleistenden hochbegabten Schülerinnen und Schülern wird auf bis zu 15% geschätzt.4 Die Anzahl der minderleistenden hochbegabten Erwachsenen wird auf bis zu 30% geschätzt.5 Zu Minderleistenden können hochbegabte Kinder werden, wenn sie in der Schule unterfordert sind oder wenn auf ihre Hochbegabung mit Unverständnis, Ignoranz oder Ablehnung reagiert wird.6 Diese Mädchen und Jungen lernen, dass sie von ihrem sozialen Umfeld nur dann akzeptiert werden, wenn sie ihre Art zu sein verleugnen. Zu Minderleistungen kann es aber auch kommen, wenn hochbegabte Kinder gar nicht erfahren, dass sie hochbegabt sind und nicht wissen, welches Potential in ihnen schlummert. Hochbegabung, die nichts von sich weiß und sich nicht entfaltet, erzeugt einen enormen Leidensdruck. SCHEIDT schreibt dazu: »Hochbegabte, die ihr Potential nicht realisieren, leiden darunter – schon allein aus diesem Grunde muss ihnen Hilfe angeboten werden.«7 Zu den Hochbegabten, die ihr Potential nicht optimal entfalten, gehören häufig Frauen und Mädchen.8

Bei Intelligenztests ist unter vier hochbegabten Kindern ein Mädchen.9 Neueste Zahlen besagen, dass unter drei hochbegabten Kindern ein Mädchen ist.10 Wie kommt es zu dieser Ungleichverteilung? Hochbegabten Mädchen gelingt es vielfach besser als Jungen, sich der Norm anzupassen. Dadurch fallen sie weniger auf und werden seltener getestet. Hochbegabte Mädchen sind oft »Zufallstreffer«, zum Beispiel wenn Eltern eines auffälligen Sohnes die Geschwisterkinder mittesten lassen und unvermutet auf eine hochbegabte Tochter stoßen.11 Hochbegabte Mädchen lernen früh, ihre Intelligenz zu verbergen.12 Werden Mädchen aber nicht als hochbegabt erkannt, haben sie weniger Chancen, ihr Potential durch eine angemessene Förderung zu entfalten. Wenn ihnen ihre Hochbegabung nicht bewusst ist, können sie ihre Intelligenz auch nicht ausreichend in ihr Selbstkonzept einbeziehen. Ungünstige Entwicklungen und Störungen sind vorprogrammiert.

Gleichwohl haben heutige Mädchen weitaus bessere Chancen, als hochbegabt identifiziert zu werden, als ihre Mütter sie einst hatten. Die jetzige Müttergeneration hatte vergleichsweise geringe Chancen, während ihrer Kindheit als hochbegabt identifiziert zu werden. Zum einen war Hochbegabung vor 25-40 Jahren noch kein Thema von öffentlichem Interesse. Zum anderen passten Intelligenz und Weiblichkeit in der damaligen Zeit nicht zusammen. Man kann davon ausgehen, dass es zahlreiche Frauen mittleren Alters gibt, die nicht wissen, dass sie hochbegabt sind. Wie können diese Frauen ihre Hochbegabung erkennen? Ein Weg dorthin ist aufzuzeigen, wie eine Kindheit mit nicht erkannter Hochbegabung vor 25 – 40 Jahren ausgesehen hat.

Im ersten Teil dieses Buches erzählen Frauen, deren Hochbegabung erst im Erwachsenenalter erkannt wurde, wie ihre Kindheit in den 60er, 70er bzw. 80er Jahren ausgesehen hat. Insgesamt lag mir das biographische Material von neun Frauen vor, auf das ich mich in meiner Auswertung beziehe. Sechs dieser biographischen Erzählungen sind in diesem Buch abgedruckt. Drei Kindheitsgeschichten konnten aus Platzmangel nicht abgedruckt werden. Diese Frauen, im Alter von 33-49 Jahren, beschreiben, wie es war, ohne das Wissen um die eigene Hochbegabung aufzuwachsen. Die Autorinnen der Kindheitsgeschichten haben in sich hineingehorcht, wie sie sich als Mädchen gefühlt haben, wie ihr Zugang zur Welt war, wie sich ihr Intellekt entfaltet hat, wie ihre familiäre Einbindung und ihr schulischer Werdegang war. Alle wurden erst spät auf ihre Hochbegabung aufmerksam. Bei einigen geschah das, indem sie Mütter hochbegabter Kinder wurden und ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Hochbegabung unliebsame Erinnerungen an die eigene Kindheit wachrief.

Ausgangspunkt für die Erinnerungsarbeit war die These von BRACKMANN, dass weit überdurchschnittliche Intelligenz nur ein Aspekt von Hochbegabung ist. Hochbegabung beschreibt vielmehr ein Lebensgefühl, das sich als »geistige Überaktivität, emotionale Hypersensibilität und sensorische Überempfindlichkeit« manifestiert.13 Hochbegabung sitzt demnach nicht nur im Kopf, sondern überall im Menschen. Sie bedeutet »mehr denken, mehr fühlen, mehr wahrnehmen«.14 Meine Leitfrage an die hochbegabten Frauen lautete: »Wie hat sich Ihre Hochbegabung während Ihrer Kindheit manifestiert?« Da ihnen die eigene Hochbegabung während ihrer Kindheit und Jugend noch nicht bewusst war, haben sie die Anzeichen ihrer Hochbegabung als Mädchen nicht verstehen und als solche deuten können. Die Schwierigkeit dabei war, dass keine fertigen Erinnerungen an die eigene Hochbegabung vorlagen. Deshalb mussten sie sich auf Spurensuche begeben. Dazu bekamen sie von mir einen Leitfaden, der sie bei ihrer Erinnerungsarbeit unterstützte. Sie mussten sich in einen Dialog mit sich selber begeben, in dem sie verschüttete Erinnerungen ausgruben und unter dem Aspekt der Hochbegabung neu interpretierten. Der Erinnerungsprozess hat zum Teil mehrere Monate in Anspruch genommen. Auf welche Weise die Erinnerung aufquoll, war individuell verschieden. Dementsprechend unterschiedlich fallen die biographischen Erzählungen aus.

Die Erzählungen bestehen aus jeweils zwei Teilen: aus der Erinnerung an die Mädchenzeit aus Sicht des Kindes und einem rückblickendem Fazit aus Sicht der Frau. Die Geschichten sind zum Schutz der beteiligten Personen anonymisiert. Eigennamen sind Pseudonyme. Die biographischen Erinnerungen sind keine im Bewusstsein bereits vorhandenen Geschichten, welche die Erzählerinnen nur niederzuschreiben brauchten. Die Erinnerung an die eigene Kindheit im Kontext von nicht erkannter Hochbegabung musste hart erarbeitet werden. Dabei ist so manche Träne geflossen. Die hier beschriebene Seite der Vergangenheit ist erst durch das Schreiben bewusst geworden. Sie ist gewissermaßen durch Sprache ins Sein gekommen. Die Frauen mussten sich »die eigene Vergangenheit durch erzählerisches Erinnern aneignen«.15 Dabei war das Schreiben ein Prozess, der es ermöglichte die eigene Geschichte zu bewältigen und Lücken im Verstehen zu schließen.16

Was ist an den Kindheitserinnerungen der heutigen Müttergeneration interessant? Erstens können sich hochbegabte Frauen in diesen Geschichten besser wiedererkennen als in Beschreibungen heutiger hochbegabter Kinder. Zweitens gehören die Autorinnen der Geschichten einer Generation an, die heute Kinder erzieht und ihre Erfahrungen an die Jugend weitergibt. Drittens wird an den Geschichten deutlich, dass ein Leben mit nicht erkannter Hochbegabung kein individuelles Schicksal ist, sondern einer bestimmten Struktur folgt. Viertens sind die Geschichten ein Appell an Eltern, dafür zu sorgen, dass es ihren Töchtern besser ergehen möge, als den Erzählerinnen damals.

Nach der exemplarischen Darstellung von Hochbegabung am Beispiel der sechs Kindheitsgeschichten tut sich die Frage auf, was Hochbegabung genau ist. Deshalb bringe ich in Teil 2 (S. 132-213) verschiedene Definitionen und Beschreibungen von Hochbegabung. Zunächst diskutiere ich quantitative Bestimmungen von Hochbegabung, die sich aus dem Vergleich mit der Norm ergeben und Hochbegabung als ein »mehr an« bzw. ein »zuviel oder zuwenig an« beschreiben. Im Vergleich mit der Norm zeigt sich Hochbegabung als weit überdurchschnittliche Intelligenz, als Hochleistung und als gesellschaftliche Nicht-Passung. Es folgen qualitative Beschreibungen, welche die Hochbegabung selbst zum Ausgangspunkt nehmen und das Denken, Fühlen und Wahrnehmen Hochbegabter näher beleuchten. Anschließend bringe ich eine Sammlung von Eigenschaften der hochbegabten Persönlichkeit.

Denjenigen, die nach der Lektüre von Teil 1 und Teil 2 eine Hochbegabung bei sich oder ihren Töchtern vermuten, stellt sich die Frage, was sie mit dieser Erkenntnis anfangen sollen. Deshalb folgt in Teil 3 ein Ratgeber für späterkannte hochbegabte Frauen (S. 214) und Eltern hochbegabter Töchter (S. 231). Er soll helfen, das Wissen um die Hochbegabung praktisch umzusetzen und ins Leben zu integrieren. Zunächst beschreibe ich den Erkenntnisprozess der späterkannten hochbegabten Frau, die sich auf die Suche nach ihrem verschütteten hochbegabten Selbst begibt und den Weg in ein begabungsgerechtes Leben beschreitet. Abschließend gebe ich Anregungen zur Stärkung hochbegabter Mädchen.

Mein Forschungsgebiet sind die Geisteswissenschaften. Ich arbeite mit phänomenologischen und hermeneutischen Methoden. In meiner Forschung gehe ich intersubjektiv vor. Mich interessiert die Erfahrung einzelner Frauen unter der Fragestellung: »Wie wird Hochbegabung im Einzelfall erlebt?« Es handelt sich um eine deskriptive Untersuchung von Individualität. Mein Ziel war, authentische Aussagen über Hochbegabung im weiblichen Lebenszusammenhang zu gewinnen. Es ging mir um die individuell erlebte Wirklichkeit. Die biographischen Erinnerungen sowie die Merkmale für Hochbegabung beruhen auf den Bekenntnissen Einzelner. Sie sind real, wenn auch nicht unbedingt verallgemeinerbar. Es ist ihre Authentizität, die sie für die Lesenden wertvoll macht. Aufgrund der Authentizität dieser Aussagen können Leserinnen auf ihre eigene Hochbegabung aufmerksam werden und versuchen, sie zu begreifen.

Ich beziehe mich zum einen auf die neun biographischen Erinnerungen der hochbegabten Frauen. Außerdem sind die Diskussionsergebnisse des DGhK-Frauenstammtischs des Regionalvereins Hamburg zum Thema »Hochbegabung im weiblichen Lebenszusammenhang« in dieses Buch eingeflossen. Auch meine Erfahrung im Umgang mit hochintelligenten Erwachsenen, die ich als Studentin in Oberseminaren, Arbeitskreisen und Stipendiatengruppen, als Hochschullehrerin während meiner 11-jährigen Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, als Betreuerin und Prüferin von Studierenden, als Personal Coach in der Beratung hochleistender Erwachsener und als Leiterin einer DGhK-Elterngruppe erlangt habe, ist eine Quelle und Inspiration für dieses Buch gewesen.

Für wen ist dieses Buch? Für Frauen, die nicht wissen, ob sie hochbegabt sind, soll es ein Anstoß sein, eine Hochbegabung bei sich in Betracht zu ziehen. Für Frauen, die von ihrer Hochbegabung wissen, soll es eine Unterstützung sein, sich mit ihrer Hochbegabung zu arrangieren. Für Lebenspartner/innen und Verwandte hochbegabter Frauen soll es eine Hilfe sein, diese besser zu verstehen. Für Eltern soll es eine Ermutigung sein, intelligenten Töchtern einen selbstbestimmten Lebensweg zu eröffnen. Für Lehrkräfte soll es ein Ansporn sein, Mädchen häufiger eine Hochbegabung zuzutrauen. Für Psychologinnen und Psychologen soll es ein Anstoß sein, die Hochbegabung von Patientinnen in die Therapie mit einzubeziehen. Für die Hochbegabungsforschung soll es eine Anregung sein, sich intensiver mit dem Thema Frauen und Mädchen zu beschäftigen. Insgesamt hoffe ich, bei meinen Leserinnen und Lesern mehr Verständnis und Akzeptanz für das Phänomen der Hochbegabung zu erwecken.

MÄDCHEN VOM LANDE

ZUGANG ZUR WELT

Kommunikation

Mein Dilemma war, dass mir als Kind niemand zuhörte. So lernte ich nicht – wie andere Kinder – durch Fragen, sondern durch Zuhören, Mitdenken und Beobachten. Schweigend lauschte ich, wenn andere redeten und dachte mir meinen Teil. Dadurch konnte ich zwar erfahren, was andere zufällig zur Sprache brachten, aber nicht, was ich selber wissen wollte.

Großvater, Vater, Mutter und meine zweieinhalb Jahre ältere Schwester waren intelligente, eloquente Menschen. Sie hatten einnehmende Wesen, waren stark auf sich selbst bezogen und hatten die Fähigkeit, andere in Grund und Boden zu reden.

Mein Großvater mütterlicherseits war eine Respektsperson. Stundenlang dozierte er über wissenschaftliche Themen. Ihn zu unterbrechen, war nicht angesagt. Ihm zuzuhören war für mich aber immer interessant und lehrreich. War er der Meinung, dass wir Kinder eine Formulierung noch nicht kannten, fragte er uns nach der Wortbedeutung. Hier war Vorsicht geboten! Großvater legte jedes Wort auf die Goldwaage, witzelte, spöttelte und machte aus unseren Antworten Wortspiele. Das mochte ich nicht. Ich wollte ernst genommen werden.

Mein Vater redete ohne Pause. Während mein Großvater in Begriffen dachte und in langen, komplexen Satzgefügen sprach, waren Vaters Gedanken reine Assoziationsketten. Er war sprunghaft und impulsiv. Stichwörter riefen bei ihm Geschichten ab, die er dann zwanghaft erzählte, egal ob jemand sie hören wollte oder nicht. Was ihm in den Kopf kam, musste er ausspucken. Das war eine Mischung aus Erlebtem, Erinnertem und Erdichtetem, aus Gesehenem, Gehörtem und Gefühltem. Wovon er sprach, sah er gewissermaßen vor sich, denn er hatte ein photographisches Gedächtnis und eine lebhafte Phantasie. Besonders gut konnte er handwerkliche Tätigkeiten, technische Vorgänge oder Arbeitsabläufe beschreiben, vermutlich weil er in Bildern dachte. Mit der Sprache spielte er. Witze und Neuwortschöpfungen gehörten zu seinem Repertoire. Selten war er richtig ernst. Wenn er redete, gab ein Wort das andere, löste ein Bild das nächste ab. Dadurch entstand ein fortgesetzter Redestrom, der zwar amüsant war, dem aber das geistige Band fehlte. Ein Gespräch mit ihm war so gut wie unmöglich, denn er ließ andere nicht zu Wort kommen. Entweder wusste er ohnehin schon, was sein Gegenüber sagen wollte oder es fiel wieder ein Stichwort für eine neue Episode. Die unendlichen Geschichten meines Vaters, die ich in- und auswendig kannte, waren für mich schwer zu ertragen. Daher versuchte ich immer, mich unter irgendeinem Vorwand aus seinem Dunstkreis zu entfernen.

Die Männer in der Familie hielten Monologe. Dialoge gab es nur zwischen den weiblichen Mitgliedern. Meine Mutter konnte gut erzählen. Sie konnte aber auch zuhören. Meine Schwester war sehr sprachbegabt. Bevor sie deutsch sprach, hatte sie eine Phantasiesprache mit einem ganz eigenen Vokabular entwickelt, die meine Eltern auch verstanden. Sie hatte einen umfangreichen Wortschatz. Jedes neue Wort wurde sofort aufgegriffen, angewandt und in ihr Vokabular integriert. Sie konnte sich sehr gut Geschichten ausdenken, Stimmen imitieren, Dialekte nachmachen und war schlagfertig. Sie sprach alles an, alles aus und konnte nichts für sich behalten. Man kann sagen, dass sie ihre Welt durch Sprache konstruierte, wobei sie recht großzügig mit der Wahrheit umging. Ich bewunderte ihre Sprachfähigkeit und profitierte davon. Von klein auf war ich Zeugin der angeregten Gespräche zwischen Mutter und Schwester, an denen ich selber unbeteiligt blieb. Meine Schwester fragte viel. Meine Mutter ging immer auf sie ein. So erfuhr ich recht früh, wie eine Geburt ablief. Leider wurde nicht erörtert, wie die Kinder in den Bauch kamen.

Meine Großmutter mütterlicherseits war anders. Sie redete wenig und wenn, dann über die Belange des täglichen Lebens. Wichtiger als Reden war für mich ihre Nähe. Wir verstanden uns ohne Worte. Ihre liebevolle Gegenwart und ihr mütterliches Umsorgen gaben mir das Gefühl, erwünscht zu sein. Sie war immer gut zu mir.

Wo stand ich? Als Jüngste rangierte ich in der Familienhierarchie ganz hinten. Daher gelang es mir auch nicht, im bestehenden Kommunikationsgefüge die Position einzunehmen, die ich gern gehabt hätte, nämlich die einer gleichberechtigten, ernstzunehmenden Gesprächspartnerin. Was ich sagte, wurde – von wenigen Ausnahmen abgesehen – überhört. Wenn meine Eltern etwas vergessen hatten oder nicht weiterwussten, wurde ich gefragt. Aufgrund meines sehr guten Gedächtnisses, wusste ich, wer wann was in welchem Kontext gesagt oder wann sich was wie zugetragen hatte, so dass ich zuverlässig Auskunft geben konnte. Dann hörten sie mir aufmerksam zu, bis ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen war und meine Rede von einer neuen Sprechlawine überrollt wurde.

Eine weitere Gelegenheit, zu Wort zu kommen, bot sich, wenn die anderen Luft holten. Dann streute ich Bonmots, Kurzkommentare oder lakonische Bemerkungen in die Atempausen, bevor mir das Wort erneut abgeschnitten wurde. Da meine Redezeit äußerst knapp bemessen war, lernte ich früh, mich kurz und präzise auszudrücken – eine Fähigkeit, die nicht viele beherrschen. Obgleich ich meine Beiträge ziemlich gut fand, erntete ich hauptsächlich Gelächter. »Während die anderen endlos reden, bringe ich die Sache auf den Punkt«, grübelte ich. »Dafür müsste ich eigentlich gelobt werden.« Doch das geschah nicht. Durch meine Zwischenrufe im richtigen Moment übte ich mich in Aufmerksamkeit, Geduld, Präzision und Komik. Was mir mit meinen Einwürfen nicht gelang, war, ein Gespräch maßgeblich zu bestimmen und zu gestalten. Ich war und blieb die ewige Ergänzung. Das war auf Dauer höchst unbefriedigend. Ich wurde still, zurückhaltend, traurig und verstockt.

So war die Entdeckung der Welt bei mir überwiegend von einem passiven Wissenserwerb bestimmt. Ein aktiver Wissenserwerb in Form von fragen, erkunden, ausprobieren, diskutieren, Positionen entwickeln, sich behaupten oder streiten fand bei mir nicht statt.

Beobachtete Welt

Da ich mir die Welt verbal nicht erobern konnte, verlegte ich mich aufs Beobachten. Wenn ich die Dinge mit Umsicht und von allen Seiten betrachtete, zeigten sie sich mir in ihren äußeren und inneren Zusammenhängen. Nach einiger Übung reichte ein flüchtiger Blick, um zu erfassen, was los war. Im Stillen wunderte ich mich, was das Besondere an dem Jesuswort sein sollte: »Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Wer Augen hat, zu sehen, der sehe!« Genau das tat ich nämlich. Ich hielt Augen und Ohren offen. Mehr nicht. Ich schaute hin und sah. Ich hörte hin und verstand. Bange fragte ich mich: »Warum fordert Jesus etwas Selbstverständliches? Stimmt mit mir etwas nicht, weil ich es nicht schwer finde? Darf ich etwas, was Jesus fordert, überhaupt leicht finden? Ist das Gotteslästerung? Habe ich seine Aufforderung falsch verstanden? Meint Jesus vielleicht etwas ganz anderes als ich?« Ich traute mich nicht, über meine Zweifel zu sprechen.

Einen besonders guten Sinn hatte ich für zwischenmenschliche Beziehungen. Ich beobachtete meine Familie, Passanten auf der Straße, Leute an der Bushaltestelle, Menschen bei der Arbeit, Kinder auf dem Schulhof. Ich hörte zu, was im Dorfladen – einer wahren Informationszentrale – besprochen wurde, was die Nachbarinnen redeten, worüber man sich auf Parkbänken oder in Eisenbahnabteilen unterhielt und was Freunde meiner Eltern aus fernen Ländern erzählten. Alles war interessant, denn jede Information war ein Puzzlestein im Bild, das ich mir von der Welt machte. Da mir aufgrund eines abgeschiedenen Lebens auf dem Dorfe nur wenige Puzzlesteine zur Verfügung standen, lernte ich, aus Bruchteilen das Ganze zu erschließen.

Für mich gab es keine hässlichen Menschen. Ich las solange in ihren Gesichtern, bis ihr Wesen nach außen strahlte und sie schön machte. Ich registrierte Nuancen in Stimme, Mimik und Körperhaltung und konnte atmosphärische Veränderungen seismographisch genau feststellen. Als ich später auf dem Schulhof die Großen beobachtete, ahnte ich häufig, wer in wen verliebt war, bevor es die Beteiligten selber wussten. War etwas unklar, weil ich es nicht deuten konnte, blieb diese Einzelheit solange in meiner Erinnerung haften, bis ich die Lösung hatte. Manchmal erfuhr ich Zusammenhänge erst Jahre später. Dann durchzuckte es mich: »Ach so! Deshalb hat sie damals so geguckt! Na, klar! Darum hat er damals das und das gesagt.« Hatte ich es verstanden, konnte ich dieses Detail getrost vergessen. Von Menschen, die mir zufällig auf der Straße, in Wartezimmern oder beim Einkaufen begegneten, kriegte ich mehr mit, als mir lieb war. Ihr Wesen drängte sich mir förmlich auf, so dass ich nicht umhin konnte, mir Einzelheiten aus ihrem Leben vorzustellen. Auf diese Weise erfuhr ich so manches über meine Mitmenschen, was ich gar nicht wissen wollte. Meine Beobachtungsgabe kam nicht gut an. »Du wieder mit deinem Röntgenblick! Du spinnst doch!« bekam ich zu hören. Ich hielt den Mund und behielt meine Eindrücke für mich.

Ich beobachtete meine Umwelt und die Natur. Wenn ich irgendetwas sah, überlegte ich sofort, wie es zusammenhing, gebaut war oder funktionierte. Wenn ich beispielsweise mit der Bahn fuhr und aus dem Fenster blickte, bemerkte ich, dass alles, was nah war, an mir vorbeiraste, und alles, was fern war, sich langsam bewegte. Was ganz weit weg war, schien stillzustehen. Warum war das so? Ich spielte das Ganze geometrisch durch. Ich fixierte einen beliebigen Punkt am Horizont, z.B. einen Strommast, und stellte ihn mir als Mittelpunkt eines Kreises vor. Dann stellte ich mir vor, ich würde mich auf einer imaginären Kreislinie um diesen Fixpunkt bewegen. Jetzt suchte ich mir Punkte auf dem zwischen mir und dem Strommast entstandenen Radius, und schon war alles ganz logisch. Die Punkte in der Nähe des Mittelpunktes bewegten sich sehr langsam, weil sie einen kleinen Kreis beschrieben. Je weiter ich auf dem Radius zum äußeren Rand wanderte, desto stärker beschleunigten sich die Punkte, weil die Kreise, die sie beschrieben, immer größer wurden und die Punkte auf den imaginären Kreisen in der gleichen Zeit eine immer größere Strecke zurücklegten. Dort wo der Kreis am größten war, nämlich im Gras an der Bahnböschung, da raste es nur so. Man hätte das Ganze sicherlich wesentlich einfacher erklären können, aber das Spiel brachte mir Spaß. Ich suchte mir ständig neue Fixpunkte – in der Ferne oder in der Nähe – und amüsierte mich darüber, wie sich meine Geschwindigkeit subjektiv veränderte, je nachdem, ob ich mich auf einer größeren oder kleineren Umlaufbahn befand.

Natürlich wusste ich, dass das Ganze eine Illusion war, weil der Zug eigentlich auf einer geraden Strecke fuhr, so dass der Abstand zwischen mir und dem Strommast in Wirklichkeit immer größer wurde. »Man muss sich den Radius nur groß genug vorstellen«, räsonierte ich, »dann nähert sich die Krümmung des Kreises ohnehin einer Geraden und das Ganze stimmt wieder. Außerdem gibt es überhaupt keine echten Geraden, da sich Parallelen im gekrümmten Raum voneinander entfernen. Auch Fixpunkte gibt es von außen betrachtet nicht, denn die Erde bewegt sich. Alles bewegt sich. Ruhe gibt es nicht. Ein gleich bleibender Abstand ist lediglich eine scheinbare Konstante zwischen zwei sich gleichmäßig bewegenden Körpern, wie bei zwei Menschen, die sich aus zwei im gleichen Tempo nebeneinander herfahrenden Zügen zuwinken. Auf das Verhältnis zwischen den Dingen kommt es an.« Auf solche Weise vertrieb ich mir die Zeit. So machte ich es mit vielen Dingen und erschloss mir die Welt, indem ich eigene Überlegungen anstellte. Damals glaubte ich, alle Kinder würden es so machen. Jahre später fragte ich einmal meine Mutter, ob sie als Kind auch so etwas wie »Rasender Radius« gespielt hätte. Verwundert schüttelte sie den Kopf und wusste überhaupt nicht, wovon ich sprach.

Als Mädchen vom Lande hatte Technik auf mich eine faszinierende Wirkung. Wenn wir zu meinen Großeltern in die Stadt reisten, genoss ich alle urbanen Errungenschaften. Brücken, Tunnel, U-Bahnen, Fahrstühle, Rolltreppen, Paternoster – ich nahm mit, was ich nur konnte. Das Größte war für mich der Autofahrstuhl, mit dem man auf das Dach eines Kaufhauses fahren konnte, und die vollautomatisierte Waschstraße, wo man während der Autowäsche im Fahrzeug sitzen bleiben konnte. Noch heute löst es bei mir Hochgefühle aus, wenn ich im Wagen sitzend sehe, wie ich eingeseift werde, Bürsten über mich rollen, Duschen über mich sprühen, Stofflappen über mich wabern und mir Heißluft ins Gesicht bläst, während ich lachend im Trockenen sitze. Natürlich interessierte mich brennend, wie das alles funktionierte. Wieder schaute ich genau hin, beobachtete die Abläufe, analysierte das Ergebnis, bis ich Bescheid wusste.

Mich interessierte, in welcher Reihenfolge ein Haus gebaut wurde. Ich schaute zu, wie der Bauer das Feld pflügte, wie eine Erntemaschine arbeitete und was ein Mähdrescher leistete. Dieser Vorgang ließ sich umkehren. Wenn ich ein Ergebnis sah, versuchte ich zu rekonstruieren, wie es dazu gekommen war. Sah ich Strohballen auf einem gemähten Feld liegen, überlegte ich, welche Maschinen und Arbeitsabläufe notwendig waren, um sie in gleicher Größe und gleichmäßigen Abständen auf dem Stoppelfeld zu verteilen. So entwickelte ich, was meine Mutter meinen »technischen Verstand« nannte. War eine Lampe kaputt, reparierte ich sie. Ging ein Gerät nicht, las ich die Gebrauchsanweisung und brachte es zum Laufen. Außerdem half ich meinem Vater beim Tapezieren, Fenster streichen, Fliesen kleben, Steine schichten, Zement mischen, Parkett verlegen, Regale bauen und bei der Gartenarbeit, denn um eine Arbeit anzufangen, brauchte er immer jemanden, der ihm dabei half.

Wo sind diese Fähigkeiten geblieben? Heute kann ich kein Handy bedienen und keine Fahrkarte aus dem Automaten holen. Geblieben ist nur meine Neugierde. Wenn ich etwas sehe, sei es eine Baustelle, das Fällen eines Baumes oder das Rangieren einer Lock, schaue ich wie gebannt hin und frage ich mich: »Wie geht das?«, auch wenn ich es gar nicht zu wissen brauche.

Innerer Dialog

Wer sich die Welt durch Sprache konstruiert, redet sie sich zurecht. Wer sich die Welt durch Beobachtung erschließt, belässt sie, wie sie ist.

Ich begann, die Dinge, die ich beobachtete, von allen Seiten zu betrachten und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Ich bewegte sie im Geiste hin und her und erwarb – meiner Isolation zum Trotz – die Fähigkeit der dialogischen Welterschließung. Auf diese Weise zeigten sich mir die Dinge, wie sie waren. Ohne mich anzustrengen, strahlte mir ihr Sinn entgegen. Ich versuchte, bevor ich urteilte, möglichst alle Aspekte zu berücksichtigen. Dass ich dabei versuchte, nicht nur die positiven Seiten, sondern auch mögliche negative Aspekte einzubeziehen, wurde mir oft als Pessimismus ausgelegt. Mir wiederum stellte sich der unreflektierte Optimismus mancher Menschen als Naivität dar.

Natürlich beobachtete ich nicht nur meine Umgebung, sondern auch mich selbst. Es entstand ein innerer Dialog, in dem ich Geschehenes nacherlebte und analysierte. Auf diese Weise legte ich meine kindliche Unbefangenheit früh ab und wurde – sehr unpassend für ein Mädchen – ein reflektierter Mensch. Das merkte aber niemand.

In der inneren Zwiesprache redete ich respektvoll und höflich mit mir, manchmal sogar in Versen. Die Sprache meiner Gedanken war weitaus entwickelter als meine gesprochene Sprache. Immer wieder war ich perplex, wie simpel die Worte klangen, die aus meinem Mund kamen. »Das soll ich sein?« wunderte ich mich, denn mein Denken lief anders ab.

Traumwelt

In Ermangelung adäquater Spielgefährten versetzte ich mich in Welten, in denen ich die Rolle einnahm, die mir entsprach. Wenn ich als Kind (5) alleine über Feldwege wanderte, begleitete mich ein imaginärer Löwe namens Nelson. Er war unsichtbar und konnte nur von mir gesehen werden. Geriet ich im Spiel in Not, brauchte ich nur »Nelson« zu rufen und schon war er zu Stelle, um mich zu retten. Ich spielte (10-11), ich sei Entdecker, der auf gefährliche Expeditionen ging oder etwas Glorreiches vollbrachte. Es kam auch vor, dass ich mich in die Steinzeit versetzte und ein zufriedenes Dasein in einer Grasmulde fristete (11-12). In diesen Tagträumen war ich mutig, erfolgreich, bewundernswert und meistens männlich.

Um meine vielfältigen Eindrücke zu verkraften, brauchte ich immer schon viel Schlaf. Während andere Kinder es darauf anlegten, so spät wie möglich ins Bett zu kommen, wurde ich unleidlich, wenn mein Schlafbedürfnis zu kurz kam. Im Halbschlaf, vor dem Einschlafen, spulten Bilder vor meinen Augen ab. Meistens fing es an mit den Ereignissen des Tages, die in mir aufstiegen. An diese Bilder dockten sich andere an, so dass Assoziationsketten entstanden. Dann kam die Phantasie ins Spiel. Ich spann die Bildfolgen weiter. Irgendwann verselbständigten sie sich. Ich genoss das wie ein Kino, bis ich schließlich einschlief. Schon als Kind träume ich jede Nacht und erinnerte mich meistens morgens daran. Meine Träume waren farbig und vielschichtig. Die ganze Familie träumte viel. Beim Frühstück erzählten wir uns unsere Träume und nahmen uns dabei sehr wichtig. Im Traum herrschte eine andere Realität. Dort konnte ich in einer Person stecken und die Szene gleichzeitig von außen wie auf einer Bühne sehen. Ich konnte mein Ich aufteilen und gleichzeitig verschiedene Personen verkörpern oder als eine Person zugleich an verschiedenen Orten sein. Ich konnte auch das Geschlecht wechseln. Häufig träumte ich mich als kühnen, jungen Mann. Das war gar nicht so leicht zu erzählen. Meistens kam abends vor dem Einschlafen der Traum der Vornacht zurück und ich versuchte, dort anzuknüpfen, wo ich morgens aufgehört hatte.

IDENTITÄT

Lebensgefühl

Soweit ich zurückdenken kann, war mein Lebensgefühl von einer inneren Zerrissenheit bestimmt. Auf der einen Seite waren Urvertrauen, Unbeschwertheit und Glück; auf der anderen Seite waren Aggressivität, Traurigkeit und Leere.

Meine früheste Erinnerung ist das Erlebnis der Differenz. Mit ca. zwei Jahren erblickte ich beim Plantschen im Wasserbassin zum ersten Mal bewusst einen nackten Knaben, meinen Cousin. Es befremdete mich, dass bei ihm so etwas wie ein Wasserhahn angebracht war. Das Teil war schief und hässlich. Er tat mir leid. Ich war heilfroh, nicht so auszusehen.

Die zweitfrüheste Erinnerung ist das Gefühl, anders zu sein. Wenn ich mit meiner Familie unterwegs war, merkte ich, dass wir anders waren als die Leute auf der Straße. Ich wollte das nicht. Ich wollte normal sein. Ich führte das damals auf meine unangepassten Eltern zurück, die in meinen Augen immer aus der Reihe tanzten. Es war mir peinlich. Heute weiß ich, dass dieses Gefühl nichts mit meinen Eltern zu tun hatte. Ich selber war schlicht und einfach anders. Das wusste ich damals aber noch nicht.

Ich kannte auch das Gefühl der Identität. Als ich klein war, konnte ich mich an jeden Tag meines Lebens erinnern, weil es noch so kurz war. Alle Momente meines Daseins zu wissen, rief in mir das Gefühl hervor, mit mir eins zu sein. Die Summe meiner Erinnerungen, das war ich. Dabei brauchte ich mir nicht jeden Tag einzeln vorzustellen. Es reichte zu wissen, dass ich es konnte. Dann trat plötzlich die Gesamtheit meines Seins vor mein inneres Auge. Das war wie ein Blick nach innen, als könnte ich hinter meine Augen sehen. Hinter meiner Stirn und unter meiner Hirnschale begann es zu leuchten. Dieses Erlebnis war immer von Glücksseligkeit begleitet und trat meistens auf, wenn ich allein in freier Natur war. Als ich älter wurde (so mit 5 Jahren), verlor sich diese Fähigkeit.

Während jeder Entwicklungsschritt meiner älteren Schwester bejubelt wurde, erregten meine Fortschritte kein Aufsehen mehr. Alles war schon einmal da gewesen. Mit 6 Monaten hatte ich den ersten Zahn. Mit einem Jahr begann ich zu laufen. Ich war gesund, kräftig und pflegeleicht. Eigentlich war alles gut. Trotzdem fühlte ich mich nicht vollständig in meinem Dasein verankert. Meine frühe Kindheit war von dem Gefühl der Unbeholfenheit und Unbedarftheit begleitet. In meinem Körper fühlte ich mich tollpatschig und linkisch. Meine Sprache empfand ich als unausgereift und stümperhaft. Warum das so war, weiß ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich meine geschickte, sprachbegabte Schwester als Maßstab nahm, deren Vorsprung unaufholbar war. Vielleicht lag es daran, dass mein Denkvermögen meiner körperlichen und sprachlichen Entwicklung vorauseilte und ich nicht adäquat ausdrücken konnte, was in mir vor sich ging.

Schon als kleines Kind hatte ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wenn ich Ungerechtigkeiten erlebte oder beobachtete, reagierte ich mit Wut und Hass. Wenn meine große Schwester mich drangsalierte, brüllte ich los. Das Wutgeschrei war symptomatisch für meine Kleinkindzeit. Hass empfand ich vor allem gegenüber bestimmten Männern – in meinen Augen alle alte Knacker – die mir vorschreiben wollten, wie ich zu sein hatte. Unter Druck lief bei mir nämlich gar nichts. Während die Wut hochstieg und schnell wieder verrauchte, grub sich der Hass tief ein und blieb. Ich vergaß nicht und verzieh nicht. Wenn jemand meine Freiheit einschränken wollte, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Ich reagierte unverschämt und bockig. Danach spielte ich die Szene in Gedanken endlos durch, bis mir – meist Stunden später – die passende Antwort einfiel. Dann ärgerte ich mich maßlos, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war. Ebenso wenig vergaß ich diejenigen, die mir Gutes taten, und war für immer dankbar.

Wenn es mir gut ging, wurde ich übermütig und kiebig. Das ist immer noch so. Wenn ich gute Laune habe, werde ich frech. Das wird oft missverstanden. »Du spielst nur mit mir!«, beschwerte sich später einmal ein Liebhaber, als ich ihn ganz harmlos neckte.

Es gab in meiner Kindheit auch Zeiten der Langeweile. »Mutter, mir ist so langweilig«, klagte ich, als meine Schwester eingeschult worden war und ich die Vormittage allein zu Hause verbrachte. Gern hätte ich jetzt Lesen und Schreiben gelernt, um mir die Zeit zu vertreiben, aber meine Mutter stoppte meine Versuche. Ich sollte möglichst lange Kind bleiben und unbeschwert spielen. »Mal’ ein Bild«, schlug sie vor und widmete sich ihrer Arbeit. Ich hatte aber keine Lust, andauernd Bilder zu malen. Ich wurde trübsinnig. Meist ging ich dann nach draußen und stromerte herum.

Phasen der Traurigkeit erinnere ich seit dem 8. Lebensjahr. Am besten halfen dann Bewegung an der frischen Luft und Singen. Ich kannte jede Menge trauriger Lieder in Moll, mit denen ich meiner Melancholie Ausdruck verlieh und die mich gleichzeitig trösteten. Singend kletterte ich auf Schuttplätzen herum, balancierte auf Steinen, kletterte über Weidezäune, überquerte Kuhwiesen oder überwand aufgeweichte Äcker. Dabei stellte ich mir vor, dass die Erdschollen mächtige Gebirge seien, die Pfützen in den Ackerfurchen gewaltige Seen und ich Riesin in einer Miniaturlandschaft, die nichts kaputt treten durfte.

Vorbilder

Mit acht Jahren trat der Glaube in mein Leben. Wir nahmen in der Schule gerade die Gleichnisse Jesu durch. Gott Vater war mir unheimlich. Aber Jesus, der einfühlsame, gewaltfreie Mann von 30 Jahren stand mir nahe. Ihm vertraute ich mich an.