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Knut Hamsun: Hunger - Vollständige, ungekürzte deutsche Ausgabe; neu editiert | Ein junger Mann, Schriftsteller will er werden, zieht durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo. Er sucht Geschichten, er sucht Ideen, er sucht Erfolg. Doch seine Arbeiten werden nicht genommen, es hagelt Absagen von Verlagen und Redaktionen; die Armut naht. Er versucht, den Schein zu wahren, aus Stolz und Scham lehnt er Hilfe ab. Doch es kommt immer schlimmer, Hunger wird zum beherrschenden Gefühl. Obdachlos schleppt sich der junge Mann durch die Straßen der Stadt, immer noch hofft er auf den großen Erfolg, denn er ist talentiert. Doch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit weitet sich entsetzlich ... | Mit »Hunger« gelang Knut Hamsun 1890 der literarische Durchbruch. Die Zahl berühmter Autoren, die das Werk als eines der schonungslosesten und erschütterndsten der Weltliteratur betrachten, ist Legion. Hermann Hesse ließ sich inspirieren, Kafka, Brecht, Thomas Mann und Robert Musil lasen es beeindruckt. Sofort nach seinem Erscheinen 1890 wurde der Roman in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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Seitenzahl: 305
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Vorbemerkung des Herausgebers
HUNGER
Erster Abschnnitt
Zweiter Abschnnitt
Dritter Abschnnitt
Vierter Abschnnitt
EIN JUNGER MANN, Schriftsteller will er werden, zieht durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo. Er sucht Geschichten, er sucht Ideen, er sucht Erfolg. Doch seine Arbeiten werden nicht genommen, es hagelt Absagen von Verlagen und Redaktionen; die Armut naht. Seine Habe hat er längst beim Pfandleiher versetzt, nun droht der Hunger. Immer noch versucht er den Schein zu wahren, aus Stolz und Scham lehnt er Hilfe ab, verschenkt sogar sein letztes Geld an einen Bettler, dem es noch schlechter geht, als ihm selbst. – Es kommt immer schlimmer, der Hunger wird zum beherrschenden Gefühl. Obdachlos schleppt sich der junge Mann durch die Straßen der Stadt, mal voller Hoffnung, mal verzweifelt oder wie irre in verstörendes Gelächter ausbrechend und dem Wahnsinn nahe. Immer noch hofft er auf den großen Erfolg, denn er ist talentiert. Doch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit weitet sich entsetzlich ...
Mit ›Hunger‹ gelang Knut Hamsun 1890 der literarische Durchbruch. Die Zahl berühmter Autoren, die das Werk als eines der schonungslosesten und erschütterndsten der Literaturgeschichte betrachten, ist Legion. Henry Miller und Hemingway bewunderten das Buch. Hermann Hesse ließ sich inspirieren, Kafka, Brecht, Thomas Mann und Robert Musil lasen es beeindruckt. Ohne Zweifel gehört ›Hunger‹ zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur. Sofort nach seinem Erscheinen 1890 wurde der Roman in zahlreiche Sprachen übersetzt.
KNUT HAMSUN (1859–1952) war der bedeutendste norwegische Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts. 1920 erhielt er den Literaturnobelpreis für sein Werk. Der Roman ›Hunger‹ ist stark von eigenem Erleben geprägt. Vor und nach einer versuchten Auswanderung in die USA, die wegen schwerer Erkrankung scheiterte, lebte Hamsun unter erbärmlichen Verhältnissen als angehender Schriftsteller in Oslo, ehe ihm endlich der literarische Durchbruch gelang. Sein großes Werk ist überschattet von seinem aktiven Eintreten für den Nationalsozialismus in Deutschland. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur wird er dafür noch im hohen Alter wegen Landesverrats zu mehr als 400.000 Kronen Strafe verurteilt. Der Autor war damit finanziell ruiniert, doch uneinsichtig blieb er bis zu seinem Tod.
ES WAR IN JENER ZEIT, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist ...
Ich lag wach in meiner Dachstube und hörte eine Uhr unter mir sechs Mal schlagen; es war schon ziemlich hell und die Menschen fingen an, die Treppen auf und nieder zu steigen. Unten bei der Türe, wo mein Zimmer mit alten Nummern des ›Morgenblattes‹ tapeziert war, konnte ich ganz deutlich eine Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors sehen, und ein wenig links davon eine fette, geschwollene Anzeige von frischgebackenem Brot des Bäckers Fabian Olsen.
Sowie ich die Augen aufschlug, begann ich aus alter Gewohnheit nachzudenken, ob ich heute etwas hätte, worauf ich mich freuen könnte. In der letzten Zeit war es mir ziemlich schlecht ergangen; eins nach dem anderen meiner Besitztümer hatte ich zum ›Onkel‹ bringen müssen, ich war nervös und unduldsam geworden; ein paar Mal musste ich auch wegen Schwindels einen Tag lang im Bett bleiben. Hie und da, wenn das Glück mir günstig war, hatte ich fünf Kronen für ein Feuilleton von irgendeinem Blatt ergattern können.
Es tagte mehr und mehr, und ich begann, die Anzeigen unten bei der Türe zu lesen; ich konnte sogar die mageren grinsenden Buchstaben »Leichenwäsche bei Jungfer Andersen, rechts im Torweg« unterscheiden. Dies beschäftigte mich eine lange Weile, ich hörte die Uhr unter mir acht schlagen, bevor ich aufstand und mich anzog.
Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Von meinem Platz aus sah ich eine Wäscheleine und ein freies Feld; weit draußen lag noch der Schutt einer abgebrannten Schmiede, den einige Arbeiter forträumten. Ich legte mich mit den Ellbogen ins Fenster und starrte in die Luft hinaus. Es wurde ganz gewiss ein heller Tag. Der Herbst war gekommen, die feine, kühle Jahreszeit, in der alles die Farbe wechselt und vergeht. Der Lärm in den Straßen hatte schon begonnen und lockte mich ins Freie: dieses leere Zimmer, dessen Boden bei jedem Schritt, den ich darüber hinging, auf und nieder schwankte, war wie ein feuchter, unheimlicher Sarg; kein ordentliches Schloss an der Türe und kein Ofen im Raum. Ich pflegte in der Nacht auf meinen Strümpfen zu liegen, um sie bis zum Morgen ein wenig trocken zu bekommen. Das einzige Erfreuliche, was ich hier hatte, war ein kleiner roter Schaukelstuhl, in dem ich an den Abenden saß und döste und an allerhand Dinge dachte. Wenn der Wind stark blies, und die Türen unten offen standen, tönte vielfältiges seltsames Pfeifen durch den Boden herauf und durch die Wände herein, und das ›Morgenblatt‹ unten bei der Türe bekam Risse so lang wie eine Hand.
Ich erhob mich und suchte in einem Bündel in der Ecke beim Bett, ob noch etwas zum Frühstück darin wäre, fand aber nichts und kehrte wieder zum Fenster zurück.
Gott weiß, dachte ich, ob es mir jemals etwas nützen wird, nach einer Beschäftigung zu suchen! Diese vielen Absagen, diese halben Versprechungen, glatte Nein, genährte und getäuschte Hoffnungen, neue Versuche, die jedes Mal in nichts verliefen, hatten meinen Mut erdrosselt. Zuletzt hatte ich einen Platz als Kassenbote gesucht, war aber zu spät gekommen; und außerdem konnte ich nicht die fünfzig Kronen Sicherheit schaffen. Es gab immer das eine oder andere Hindernis. Ich hatte mich auch bei der Feuerwehr gemeldet. Wir standen ein halbes Hundert Mann in der Vorhalle und streckten die Brust heraus, um den Eindruck von Kraft und großer Kühnheit zu erwecken. Ein Bevollmächtigter ging umher und besah diese Bewerber, befühlte ihre Arme und stellte ihnen diese oder jene Frage, und an mir ging er vorbei, schüttelte nur den Kopf und sagte, dass ich wegen meiner Brille untauglich sei. Ich kam wieder, ohne Brille, ich stand mit gerunzelten Brauen da und machte meine Augen so scharf wie Messer, und der Mann ging wiederum an mir vorbei, und er lächelte, – er hatte mich wohl wiedererkannt. Das Schlimmste von allem war, dass meine Kleider anfingen, schlecht zu werden, und ich mich nirgends mehr als anständiger Mensch vorstellen konnte.
Wie gleichförmig und regelmäßig war es die ganze Zeit mit mir abwärts gegangen! Ich stand zuletzt so sonderbar entblößt von allem möglichen da, ich hatte nicht einmal mehr einen Kamm – hatte kein Buch mehr, um darin zu lesen, wenn mir traurig zumute wurde. Den ganzen Sommer über war ich auf die Kirchhöfe hinaus gegangen oder hinauf in den Schlosspark, wo ich mich dann hinsetzte und Artikel für die Zeitungen verfasste, Spalte auf Spalte, über die verschiedensten Dinge, seltsame Erfindungen, Launen, Einfälle meines unruhigen Gehirns; in der Verzweiflung hatte ich oft die entferntesten Themen gewählt, die mich die Anstrengung langer Stunden kosteten, und die dann niemals angenommen wurden. Wenn ein Stück fertig war, nahm ich ein neues in Angriff, und ich ließ mich selten von dem Nein des Redakteurs niederschlagen; ich sagte ständig zu mir selbst, dass es doch einmal glücken müsse. Und wirklich, zuweilen, wenn ich das Glück auf meiner Seite hatte, und das Ganze mir gut geriet, konnte ich fünf Kronen für die Arbeit eines Nachmittags bekommen.
Ich trat wieder vom Fenster weg, ging zu dem Stuhl, auf dem das Waschwasser stand, und sprengte ein bisschen Wasser auf meine blanken Hosenknie, um sie zu schwärzen und sie ein wenig neuer aussehen zu machen. Als ich das getan hatte, steckte ich wie gewöhnlich Papier und Bleistift in die Tasche und ging aus. Um nicht die Aufmerksamkeit meiner Wirtin zu erwecken, glitt ich sehr leise die Treppe hinunter. Es waren schon ein paar Tage vergangen, seit meine Miete fällig gewesen, und ich besaß nun nichts mehr, sie zu zahlen.
Es war neun Uhr. Wagengerassel und Stimmen erfüllten die Luft, ein ungeheurer Morgenchor, vermischt mit den Schritten der Fußgänger und dem Knallen der Kutscherpeitschen. Dieses lärmende Treiben überall belebte mich sofort, und ich begann mich mehr und mehr zufrieden zu fühlen. Nichts lag meinen Gedanken ferner als nur ein Morgengang in frischer Luft. Was ging die Luft meine Lungen an? Ich war stark wie ein Riese und konnte einen Wagen mit meiner Schulter aufhalten. Eine feine, seltsame Stimmung, das Gefühl der hellen Gleichgültigkeit, hatte sich meiner bemächtigt. Ich beobachtete die Menschen, die mir begegneten und an denen ich vorbeiging, las die Plakate an den Wänden, empfing den Eindruck eines Blickes, der aus einer vorbeifahrenden Trambahn auf mich fiel, ließ jede Bagatelle in mich eindringen, alle die kleinen Zufälligkeiten, die meinen Weg kreuzten und wieder verschwanden ...
Wenn man nur ein wenig zu essen bei sich hätte, an einem so hellen Tag! Der Eindruck des frohen Morgens überwältigte mich, ich wurde unbändig zufrieden und fing an, ohne einen bestimmten Grund vor Freude zu summen ... Bei einem Metzgerladen stand eine Frau mit einem Korb am Arm und spekulierte auf Würste zu Mittag; als ich an ihr vorüberging, sah sie mich an. Sie hatte nur einen Zahn, und der saß ganz vorne. Nervös und leicht empfänglich, wie ich in den letzten Tagen geworden war, machte das Gesicht der Frau sofort einen widerlichen Eindruck auf mich; der lange, gelbe Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem Kiefer ragte, und ihr Blick war noch voll von Wurst, als sie sich zu mir drehte. Ich verlor mit einem Mal den Appetit und fühlte Würgen. Als ich zu den Basaren kam, ging ich zum Brunnen hin und trank ein wenig Wasser; ich sah empor – auf der Turmuhr der Erlöserkirche war es zehn Uhr.
Ich ging weiter durch die Straßen, trieb mich umher, ohne mich um irgend etwas zu bekümmern, blieb grundlos an einer Ecke stehen, bog ab und ging in eine Seitenstraße, ohne dort etwas zu tun zu haben. Ich ließ es darauf ankommen, ließ mich durch den frohen Morgen treiben, wiegte mich sorgenfrei vor und zurück unter anderen glücklichen Menschen; die Luft war leer und hell, und mein Gemüt war ohne einen Schatten.
Zehn Minuten lang hatte ich nun beständig einen alten hinkenden Mann vor mir gehabt. Er trug ein Bündel in der Hand und ging mit seinem ganzen Körper, arbeitete mit aller Macht, um schnell vorwärts zu kommen. Ich hörte, wie er vor Anstrengung schnaufte, und es fiel mir ein, dass ich ihm sein Bündel tragen könnte. Oben in der Graensenstraße begegnete ich Hans Pauli, der grüßte und vorbei hastete. Weshalb hatte er solche Eile? Ich hatte durchaus nicht im Sinn, ihn um eine Krone zu bitten, ich wollte ihm auch in der allernächsten Zeit die Decke zurücksenden, die ich vor einigen Wochen von ihm geliehen hatte. Sobald ich ein wenig obenauf gekommen wäre, wollte ich keinem Menschen mehr eine Decke schuldig sein; vielleicht begann ich schon heute einen Artikel über die Verbrechen der Zukunft oder über die Freiheit des Willens, irgend etwas, etwas Lesenswertes, wofür ich mindestens zehn Kronen bekommen würde ... Und bei dem Gedanken an diesen Artikel fühlte ich mich mit einem Mal von dem Drang durchströmt, sofort anzufangen und aus meinem vollen Gehirn zu schöpfen; ich wollte mir einen passenden Platz im Schlosspark suchen und nicht ruhen, bevor ich den Artikel fertig hätte.
Aber der alte Krüppel vor mir auf der Straße machte immer noch die gleichen zappelnden Bewegungen. Es begann zuletzt mich zu ärgern, die ganze Zeit diesen gebrechlichen Menschen vor mir zu haben. Es schien, als würde seine Reise nie ein Ende nehmen; vielleicht hatte er sich zu eben dem gleichen Ort entschlossen wie ich, und ich sollte ihn den ganzen Weg vor meinen Augen haben. In meiner Erregung schien es mir, als zögere er bei jeder Querstraße einen Augenblick und warte gleichsam darauf, welche Richtung ich nehmen würde, worauf er das Bündel wieder hoch in die Luft schwang und mit äußerster Macht weiterging, um einen Vorsprung zu bekommen. Ich gehe und sehe auf dieses verquälte Wesen und werde immer mehr mit Erbitterung erfüllt; ich fühlte, wie es nach und nach meine helle Stimmung zerstörte und den reinen, schönen Morgen mit einem Mal mit sich in Hässlichkeit hinunterzog. Er sah wie ein großes humpelndes Insekt aus, das sich mit Gewalt und Macht zu einem Platz in der Welt durchschlagen und den Gehsteig für sich allein behalten wollte. Auf der Höhe angekommen, wollte ich mich nicht mehr länger dareinfinden. Ich wandte mich einem Schaufenster zu und blieb stehen, um ihm Gelegenheit zu geben, fortzukommen. Als ich nach Verlauf einiger Minuten wieder zu gehen anfing, war der Mann wieder vor mir, auch er war wie angenagelt stillgestanden. Ich machte, ohne mich zu bedenken, drei, vier rasende Schritte vorwärts, holte ihn ein und schlug ihn auf die Schulter.
Er hielt mit einem Mal an. Wir starrten beide einander ins Gesicht.
Einen kleinen Schilling für Milch! sagte er endlich und legte den Kopf auf die Seite.
So, nun war ich schön hereingefallen! Ich suchte in den Taschen und sagte:
Für Milch, ja. Hm. Es sieht schlecht aus mit Geld in diesen Zeiten, und ich weiß nicht, wie bedürftig Sie sind.
Ich habe seit gestern in Drammen nichts gegessen, sagte der Mann; ich besitze nicht einen Ör und habe noch keine Arbeit bekommen.
Sind Sie Handwerker?
Ja, ich bin Nadler.
Was?
Nadler. Übrigens kann ich auch Schuhe machen.
Das ändert die Sache, sagte ich. Warten Sie hier ein paar Minuten, so werde ich etwas Geld für Sie holen, einige Öre.
In größter Eile ging ich den Pilestraede hinunter, wo ich einen Pfandleiher im ersten Stock wusste; ich war im übrigen nie vorher bei ihm gewesen. Als ich ins Tor hineingekommen war, zog ich eiligst meine Weste aus, rollte sie zusammen und steckte sie unter den Arm; darauf ging ich die Treppe hinauf und klopfte an die Bude. Ich verbeugte mich und warf die Weste auf den Ladentisch.
Anderthalb Kronen, sagte der Mann.
Ja ja, danke, antwortete ich. Verhielte es sich nicht so, dass sie mir zu knapp wird, würde ich mich nicht von ihr trennen.
Ich bekam das Geld und den Schein und begab mich zurück. Es war das im Grund ein ausgezeichneter Einfall, das mit der Weste; ich würde sogar Geld zu einem reichlichen Frühstück übrig behalten und bis zum Abend könnte dann meine Abhandlung über die Verbrechen der Zukunft fertig sein. Ich begann auf der Stelle das Dasein freundlicher zu finden, und eilte zu dem Mann zurück, um ihn los zu werden.
Hier bitte! sagte ich zu ihm. Es freut mich, dass Sie sich zuerst an mich gewandt haben.
Der Mann nahm das Geld und begann mich mit den Augen zu mustern. Was stand er da und starrte? Ich hatte den Eindruck, dass er besonders meine Hosenknie untersuchte, und ich wurde dieser Unverschämtheit müde. Glaubte der Schlingel, ich sei wirklich so arm, wie ich aussah? Hatte ich nicht schon sozusagen damit begonnen, an einem Artikel für zehn Kronen zu schreiben? Überhaupt fürchtete ich nicht für die Zukunft, ich hatte viele Eisen im Feuer. Was ging es da einen wildfremden Menschen an, ob ich an einem so hellen Tag ein Trinkgeld fortgab? Der Blick des Mannes ärgerte mich, und ich beschloss, ihm eine Zurechtweisung zu geben, bevor ich ihn verließ. Ich zuckte mit den Schultern und sagte:
Mein guter Mann, Sie haben die hässliche Gewohnheit, einem auf die Knie zu glotzen, wenn man Ihnen eine Krone gibt.
Er legte den Kopf ganz gegen die Mauer zurück und sperrte den Mund auf. Hinter seiner Bettlerstirne arbeitete es, er dachte ganz gewiss, dass ich ihn auf die eine oder andere Weise narren wolle, und er reichte mir das Geld zurück.
Ich stampfte auf das Pflaster und fluchte, er müsse es behalten. Bildete er sich ein, dass ich alle die Beschwerlichkeiten für nichts gehabt haben wollte? Alles in allem genommen schuldete ich ihm vielleicht diese Krone, ich wäre so beschaffen, dass ich mich einer alten Schuld erinnerte, er stünde vor einem rechtschaffenen Menschen, ehrlich bis in die Fingerspitzen. Kurz gesagt, das Geld wäre sein ... Oh, nichts dafür zu danken, es war mir eine Freude. Lebwohl.
Ich ging. Endlich hatte ich diesen gichtbrüchigen Plagegeist aus dem Weg geschafft und konnte ungestört sein. Ich ging wieder durch den Pilestraede hinunter und hielt vor einem Lebensmittelladen an. Das Fenster war voll von Esswaren, und ich beschloss hineinzugehen und mir etwas mit auf den Weg zu nehmen.
Ein Stück Käse und ein Franzbrot! sagte ich und schmiss meine halbe Krone auf den Ladentisch.
Käse und Brot für alles zusammen? fragte die Frau ironisch, ohne mich anzusehen.
Für die ganzen fünfzig Öre, ja, antwortete ich unbeirrt.
Ich erhielt meine Sachen, sagte äußerst höflich guten Morgen zu der alten, fetten Frau und begab mich spornstreichs über den Schlossberg hinauf in den Park. Ich fand eine Bank für mich allein und begann gierig von meinem Vorrat abzubeißen. Das tat mir gut; es war lange her, seit ich eine so reichliche Mahlzeit genossen hatte, und ich fühlte nach und nach die gleiche satte Ruhe in mir, wie man sie nach langem Weinen empfindet. Mein Mut wuchs stark; es war mir nicht mehr genug, einen Artikel über etwas so Einfaches und Selbstverständliches wie die Verbrechen der Zukunft zu schreiben, die außerdem jeder beliebige selbst erraten, ja sich aus der Geschichte herauslesen konnte. Ich fühlte mich zu größeren Anstrengungen imstande, ich war in der Stimmung, Schwierigkeiten zu überwinden, und ich entschloss mich zu einer Abhandlung in drei Abschnitten über die philosophische Erkenntnis. Natürlich würde ich Gelegenheit finden, einige von Kants Sophismen jämmerlich zu zerknicken ... Als ich meine Schreibsachen herauszog und die Arbeit beginnen wollte, entdeckte ich, dass ich meinen Bleistift nicht mehr bei mir hatte, ich hatte ihn in der Pfandleiherbude vergessen, der Bleistift steckte in der Westentasche.
Herrgott, wie doch alles verkehrt ging! Ich fluchte ein paar Mal, erhob mich von der Bank und trieb in den Wegen auf und ab. Es war überall sehr still; weit weg, beim Lusthaus der Königin, rollten ein paar Kindermädchen ihre Wagen umher, sonst war nirgends ein Mensch zu sehen. Ich war in meinem Innern sehr verbittert und ging wie ein Rasender vor meiner Bank auf und ab. Wie merkwürdig verkehrt ging es doch in jeder Beziehung! Ein Artikel in drei Abschnitten sollte an dem simplen Umstand scheitern, dass ich nicht ein Stück eines Zehn-Öre-Bleistiftes in der Tasche hatte! Wenn ich nun wieder in den Pilestraede ginge und mir meinen Bleistift ausliefern ließe? Es würde trotzdem noch Zeit bleiben, ein gutes Teil fertig zu bekommen, bis die Spaziergänger anfingen den Park zu füllen. Es gab auch so vieles, was von dieser Abhandlung über die philosophische Erkenntnis abhing, vielleicht das Glück vieler Menschen, niemand konnte das wissen. Ich sagte zu mir selbst, sie könne vielleicht eine große Hilfe für manchen jungen Menschen werden. Wenn ich es recht bedachte, wollte ich mich nicht an Kant vergreifen; ich konnte das ja umgehen, ich brauchte nur eine unmerkliche Schwenkung zu machen, wenn ich an die Frage von Zeit und Raum käme; aber für Renan wollte ich nicht einstehen, für den alten Landpfarrer Renan ...
Unter allen Umständen galt es, einen Artikel von so und so vielen Spalten herzustellen; die unbezahlte Miete, der lange Blick der Wirtin am Morgen, wenn ich sie auf der Treppe traf, peinigten mich den ganzen Tag und tauchten sogar in meinen frohen Stunden auf, wenn ich sonst keinen dunklen Gedanken hatte. Diesem musste ich ein Ende machen. Ich ging schnell aus dem Park, um meinen Bleistift beim Pfandleiher zu holen.
Als ich den Schlosshügel hinunterkam, holte ich zwei Damen ein, an denen ich vorbeiging. Indem ich sie überholte, streifte ich den Ärmel der einen, ich sah auf, sie hatte ein volles, ein wenig bleiches Gesicht. Mit einem Mal erglüht sie und wird merkwürdig schön, ich weiß nicht weshalb, vielleicht wegen eines Wortes, das sie von einem Vorübergehenden hört, vielleicht nur wegen eines stillen Gedankens bei sich selbst. Oder sollte es sein, weil ich ihren Arm berührt hatte? Ihre hohe Brust wogt einige Male heftig, und sie presst die Hand hart um den Schirmstock. Was war ihr?
Ich blieb stehen und ließ sie wieder vorausgehen, ich konnte im Augenblick nicht weitergehen, das Ganze kam mir so sonderbar vor. Ich war in einer reizbaren Laune, ärgerlich auf mich selbst wegen des Vorfalls mit dem Bleistift und in hohem Maß erregt von all dem Essen, das ich mit leerem Magen genossen hatte. Auf einmal nehmen meine Gedanken durch eine launenhafte Vorstellung eine merkwürdige Richtung, ich fühle mich von einer seltsamen Lust ergriffen, dieser Dame Angst zu machen, ihr zu folgen und sie auf irgendeine Weise zu ärgern. Ich hole sie wieder ein und gehe an ihr vorbei, wende mich plötzlich um und begegne ihr, Antlitz in Antlitz, um sie zu beobachten. Ich stehe und sehe ihr in die Augen und erfinde auf der Stelle einen Namen, den ich niemals gehört hatte, einen Namen mit einem gleitenden, nervösen Laut: Ylajali. Als sie mir nah genug gekommen war, richte ich mich auf und sage eindringlich:
Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.
Ich konnte vernehmen, wie mein Herz hörbar schlug, als ich das sagte.
Mein Buch? fragt sie ihre Begleiterin. Und sie geht weiter.
Meine Bosheit nahm zu und ich folgte ihnen. Ich war mir in diesem Augenblick voll bewusst, dass ich verrückte Streiche beging, ohne dass ich dagegen etwas hätte tun können; mein verwirrter Zustand ging mit mir durch und gab mir die wahnsinnigsten Einflüsterungen, denen ich der Reihe nach gehorchte. Wie sehr ich mir auch vorsagte, dass ich mich idiotisch benehme, machte ich doch die dümmsten Grimassen hinter dem Rücken der Dame und hustete einige Male rasend, während ich an ihr vorbeiging. Auf diese Weise ganz langsam vorwärtsgehend, immer um einige Schritte im Vorsprung, fühlte ich ihre Augen in meinem Rücken, und ich duckte mich unwillkürlich nieder vor Scham darüber, sie belästigt zu haben. Nach und nach hatte ich die seltsame Wahrnehmung, weit fort zu sein, an anderen Orten, ich hatte halb unbestimmt das Gefühl, dass gar nicht ich es sei, der hier auf den Steinfliesen ging und sich niederduckte.
Einige Minuten später ist die Dame zu Paschas Buchladen gekommen. Ich war bereits beim ersten Fenster stehen geblieben, und als sie vorbeigeht, trete ich vor und wiederhole:
Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.
Nein, welches Buch? sagt sie ängstlich. Begreifst du, von welchem Buch er spricht?
Und sie bleibt stehen. Ich ergötze mich grausam an ihrer Verwirrung, diese Ratlosigkeit in ihren Augen berückt mich. Ihr Denken kann meine kleine desperate Anrede nicht fassen; sie hat durchaus kein Buch dabei, nicht ein einziges Blatt eines Buches, und trotzdem sucht sie in ihren Taschen, sieht sich wiederholt in die Hände, wendet den Kopf und untersucht die Straße hinter sich, strengt ihr kleines, empfindliches Gehirn auf das äußerste an, um herauszufinden, von welchem Buch ich spreche. Ihr Gesicht wechselt die Farbe, hat bald den einen, bald den andern Ausdruck, und sie atmet hörbar; selbst die Knöpfe an ihrem Kleid scheinen mich wie eine Reihe erschreckter Augen anzustarren.
Ach lass’ ihn doch, sagt ihre Begleiterin und zieht sie am Arm; er ist ja betrunken; siehst du denn nicht, dass der Mann betrunken ist!
So fremd ich mir in diesem Augenblick auch selbst war, so vollständig eine Beute unsichtbarer Einflüsse, ging doch um mich herum nichts vor sich, ohne dass ich es bemerkte. Ein großer brauner Hund sprang quer über die Straße, gegen die Anlagen zu und hinunter nach Tivoli; er hatte ein schmales Halsband aus Neusilber um. Weiter oben in der Straße wurde im ersten Stock ein Fenster geöffnet, und ein Mädchen mit aufgestülpten Ärmeln lehnte sich heraus und begann die Scheiben auf der Außenseite zu putzen. Nichts entging meiner Aufmerksamkeit, ich war klar und geistesgegenwärtig, alle Dinge strömten mit einer leuchtenden Deutlichkeit auf mich ein, als verbreitete sich plötzlich ein starkes Licht um mich her. Die Damen vor mir hatten beide blaue Vogelflügel auf dem Hut und schottische Seidenbänder um den Hals. Es schien mir, dass es Schwestern seien.
Sie bogen ab und hielten bei Cislers Musikalienhandlung an und sprachen zusammen. Auch ich blieb stehen. Darauf kamen sie zurück, nahmen den gleichen Weg, den sie gekommen waren, gingen wieder an mir vorbei, schwenkten um die Ecke bei der Universitätsstraße und gingen direkt hinauf zum Sankt Olafsplatz. Ich war ihnen die ganze Zeit so dicht auf den Fersen, wie ich nur wagte. Einmal wandten sie sich um und sandten mir einen halb erschreckten, halb neugierigen Blick zu, und ich sah in ihren Mienen keinen Unwillen und keine gerunzelten Brauen. Diese Geduld mit meinen Belästigungen machte mich sehr beschämt, und ich schlug die Augen nieder. Ich wollte ihnen nicht länger zum Verdruss sein, ich wollte aus reiner Dankbarkeit ihnen nur mit den Augen folgen, sie nicht aus dem Gesicht verlieren, ganz, bis sie irgendwo hineingehen und verschwinden würden.
Vor Nummer 2, einem großen dreistöckigen Haus, wandten sie sich noch einmal um, dann traten sie ein. Ich lehnte mich an einen Laternenpfahl beim Springbrunnen und lauschte ihren Schritten auf der Treppe nach; sie erstarben im ersten Stock. Ich trete vom Licht weg und sehe am Haus hinauf. Da geschieht etwas Sonderbares, die Vorhänge bewegen sich hoch oben, einen Augenblick später wird ein Fenster geöffnet, ein Kopf schaut heraus, und zwei seltsam blickende Augen ruhen auf mir. Ylajali! sagte ich halblaut und fühlte, dass ich rot wurde. Warum rief sie nicht um Hilfe? Warum stieß sie nicht an einen der Blumentöpfe, so dass er mir auf den Kopf fiel, oder schickte jemand herunter, um mich wegzujagen? Wir stehen da und sehen einander in die Augen, ohne uns zu rühren; das dauert eine Minute. Gedanken schießen zwischen dem Fenster und der Straße hin und her, und kein Wort wird gesagt. Sie wendet sich um, es gibt mir einen Ruck, einen zarten Stoß durch den Sinn; ich sehe eine Schulter, die sich dreht, einen Rücken, der ins Zimmer verschwindet. Dieses langsame Weggehen vom Fenster, die Betonung in dieser Bewegung mit der Schulter, war wie ein Nicken zu mir; mein Blut vernahm diesen feinen Gruß, und ich fühlte mich im selben Augenblick wunderbar froh. Dann kehrte ich um und ging die Straße hinunter.
Ich wagte nicht zurückzusehen und wusste nicht, ob sie abermals ans Fenster gekommen war; ich wurde immer unruhiger und nervöser, je mehr ich diese Frage überlegte. Vermutlich stand sie in diesem Augenblick am Fenster und verfolgte genau meine Bewegungen, und sich so von hinten beobachtet zu wissen, war in keiner Weise auszuhalten. Ich straffte mich auf, so gut ich konnte und ging weiter; es begann in meinen Beinen zu zucken, mein Gang wurde unsicher, weil ich ihn mit Absicht schön machen wollte. Um ruhig und gleichgültig zu scheinen, schlenkerte ich sinnlos mit den Armen, spuckte auf die Straße und streckte die Nase in die Luft; aber nichts half. Ich fühlte ständig die verfolgenden Augen in meinem Nacken, es lief mir kalt durch den Körper. Endlich rettete ich mich in eine Seitenstraße, von wo ich den Weg zum Pilestraede hinunter nahm, um meinen Bleistift zu holen.
Es machte mir keine Mühe, ihn zurückzuerhalten. Der Mann brachte mir die Weste selbst und bat mich, gleich alle Taschen zu untersuchen; ich fand auch ein paar Pfandscheine, die ich zu mir steckte, und dankte dem freundlichen Mann für sein Entgegenkommen. Er nahm mich mehr und mehr für sich ein, es war mir im selben Augenblick sehr darum zu tun, diesem Menschen einen besonders guten Eindruck von mir zu geben. Ich wandte mich zur Türe und kehrte wieder zum Ladentisch zurück, als hätte ich etwas vergessen; ich glaubte ihm eine Erklärung schuldig zu sein, eine Auskunft, und ich begann zu summen, um ihn aufmerksam zu machen. Dann nahm ich den Bleistift in die Hand und hielt ihn in die Luft.
Es könne mir nicht einfallen, sagte ich, weite Wege wegen irgendeines beliebigen Bleistiftes zu gehen; mit diesem hier aber sei es eine andere Sache, eine eigene Sache. So gering er auch aussah, hatte dieser Bleistiftstumpf mich schlechthin zu dem gemacht, was ich in der Welt war, hatte mich sozusagen auf meinem Platz im Leben gestellt ...
Mehr sagte ich nicht. Der Mann kam ganz nahe zum Ladentisch her.
Soso? meinte er und sah mich neugierig an.
Mit diesem Bleistift, fuhr ich kaltblütig fort, habe ich meine Abhandlung in drei Bänden über die philosophische Erkenntnis geschrieben. Ob er nicht davon reden gehört habe?
Und dem Mann schien es wirklich, dass er den Namen, den Titel gehört habe.
Ja, sagte ich, das sei von mir, das! Da dürfe es ihn schließlich nicht wundern, wenn ich dieses kleine Ende von einem Bleistift zurückhaben wolle. Es habe allzu großen Wert für mich, es sei mir beinahe wie ein kleiner Mensch. Übrigens sei ich ihm für sein Wohlwollen aufrichtig dankbar, und ich wolle mich seiner dafür erinnern – doch, doch, ich wolle mich wirklich dafür seiner erinnern; ein Mann ein Wort, so sei ich, und er verdiene es. Lebwohl.
Ich ging mit einer Haltung zur Türe, als könnte ich ihn in einer hohen Stellung unterbringen. Der freundliche Pfandleiher verbeugte sich zweimal vor mir, als ich mich entfernte, und ich wandte mich noch einmal um und sagte Lebwohl.
Auf der Treppe begegnete ich einer Frau, die eine Reisetasche in der Hand trug. Sie drückte sich ängstlich zur Seite, um mir Platz zu machen, weil ich mich so aufblies, und ich griff unwillkürlich in die Tasche, wollte ihr etwas geben; als ich nichts fand, wurde ich herabgestimmt, und ich ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei. Kurz darauf hörte ich, dass auch sie an die Bude klopfte; es war ein Drahtgitter an der Tür, ich erkannte sogleich den klirrenden Laut wieder, den es von sich gab, wenn eines Menschen Knöchel es berührte.
Die Sonne stand im Süden, es war ungefähr zwölf Uhr. Die Stadt fing an auf die Beine zu kommen, die Promenadezeit näherte sich, und grüßendes und lachendes Volk wogte in der Karl Johanstraße auf und nieder. Ich drückte die Ellbogen an die Seite, machte mich klein und schlüpfte unbemerkt an einigen Bekannten vorbei, die eine Ecke bei der Universität in Beschlag genommen hatten, um die Vorübergehenden zu betrachten. Ich wanderte den Schlossberg hinauf und fiel in Gedanken.
Diese Menschen – leicht und lustig wiegten sie ihre hellen Köpfe und schwangen sich durch das Leben wie durch einen Ballsaal! In keinem einzigen Auge war Sorge, keine Bürde auf irgendeiner Schulter, vielleicht nicht ein einziger trüber Gedanke, nicht eine einzige kleine heimliche Pein in einem dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging hier dicht neben diesen Menschen, jung und vor kurzem erschlossen, und ich hatte schon vergessen, wie das Glück aussah. Ich liebkoste diesen Gedanken bei mir selbst und fand, dass mir ein grausames Unrecht geschehen war. Warum waren die letzten Monate so merkwürdig hart gegen mich gewesen? Ich kannte meinen hellen Sinn nicht wieder. An allen Ecken und Enden litt ich an den sonderbarsten Plagen. Ich konnte mich nicht einmal allein auf irgendeine Bank setzen oder meinen Fuß irgendwohin bewegen, ohne von kleinen, bedeutungslosen Zufälligkeiten überfallen zu werden, von jämmerlichen Bagatellen, die sich in meine Vorstellungen eindrängten und meine Kräfte in alle Winde zerstreuten. Ein Hund, der an mir vorbei strich, eine gelbe Rose im Knopfloch eines Herrn, konnten meine Gedanken in Schwingungen versetzen und mich für längere Zeit beschäftigen.
Was fehlte mir? Hatte der Finger des Herrn auf mich gedeutet? Aber warum gerade auf mich? Warum nicht ebenso gut auf einen Mann in Südamerika, wenn es schon so sein musste? Überlegte ich die Sache recht, wurde es mir immer unbegreiflicher, dass gerade ich zum Probierstein für die Laune der Gnade Gottes ausersehen sein sollte. Es war dies eine höchst eigentümliche Art vorzugehen, eine ganze Welt zu überspringen, um mich zu erreichen; der Antiquarbuchhändler Pascha und der Dampfschiffexpediteur Hennechen waren doch auch noch da.
Ich ging weiter und prüfte diese Sache und wurde nicht fertig mit ihr; ich fand die gewichtigsten Einwände gegen diese Willkür des Herrn, mich die Schuld aller entgelten zu lassen. Sogar nachdem ich eine Bank gefunden und mich niedergesetzt hatte, fuhr diese Frage fort, mich zu beschäftigen und mich zu hindern, an andere Dinge zu denken. Seit dem Tag im Mai, da meine Widerwärtigkeiten begonnen hatten, konnte ich ganz deutlich eine allmählich zunehmende Schwäche bemerken, ich war gleichsam zu matt geworden, um mich dahin zu steuern und zu leiten, wohin ich wollte. Ein Schwarm von kleinen schädlichen Tieren hatte sich in mein Inneres gedrängt und mich ausgehöhlt. Wie, wenn nun Gott geradezu im Sinn hätte, mich ganz zu zerstören? Ich stand auf und trieb vor meiner Bank hin und her.
Mein ganzes Wesen befand sich in diesem Augenblick im höchsten Grad der Pein; ich hatte sogar in den Armen Schmerzen und konnte es kaum ertragen, sie auf gewöhnliche Art zu halten. Auch von meiner letzten schweren Mahlzeit her fühlte ich ein starkes Unbehagen, ich war übersättigt und erregt und spazierte auf und ab, ohne aufzusehen; die Menschen, die um mich her waren, kamen und glitten an mir vorbei wie Schatten. Schließlich wurde meine Bank von ein paar Herren besetzt, die ihre Zigarren anzündeten und laut schwätzten. Ich geriet in Zorn und wollte sie anreden, kehrte aber um und ging ganz hinüber zur anderen Seite des Parkes, wo ich eine andere Bank fand. Ich setzte mich.
Der Gedanke an Gott begann mich wieder in Anspruch zu nehmen. Ich fand es höchst unverantwortlich von ihm, mir jedes Mal in den Weg zu treten, wenn ich einen Posten suchte, und alles zu zerstören, obwohl es doch nur die Nahrung des Tages war, um die ich bat. Ich hatte es ganz deutlich bemerkt, immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne mein Gehirn langsam aus dem Kopf, und als würde er leer. Das Haupt wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf meinen Schultern, und ich hatte das Gefühl, dass meine Augen allzu weit geöffnet glotzten, wenn ich jemand ansah.
Ich saß da auf der Bank und dachte über all dieses nach und wurde immer bitterer gegen Gott wegen seiner andauernden Quälereien. Wenn er glaubte, mich näher an sich zu ziehen und mich besser zu machen, indem er mich peinigte und mir Widerstand auf Widerstand in den Weg legte, griff er ein wenig fehl, das konnte ich ihm versichern. Und ich sah zum Himmel auf, weinend fast vor Trotz, und sagte ihm das im stillen ein für allemal.
Bruchstücke meines Kinderglaubens kamen mir ins Gedächtnis, der Tonfall der Bibel sang in meinen Ohren, ich sprach leise mit mir selbst und legte den Kopf spöttisch auf die Seite. Weshalb bekümmerte ich mich darum, was ich fressen sollte, was ich saufen sollte, und in was ich diesen elenden Madensack, meinen irdischen Leib genannt, kleiden sollte? Hatte nicht mein himmlischer Vater für mich gesorgt wie für die Sperlinge unter dem Himmel und mir die Gnade erwiesen, auf seinen geringen Diener zu deuten? Gott hatte seinen Finger in mein Nervennetz gesteckt und behutsam, ganz obenhin, ein wenig Unordnung in die Drähte gebracht. Und Gott hatte seinen Finger zurückgezogen und siehe, es waren Fäden, feine Wurzelfäden von den Fasern meiner Nerven an dem Finger. Und es blieb ein offenes Loch von seinem Finger zurück, der Gottes Finger war, und Wunden blieben in meinem Gehirn von den Wegen seines Fingers. Aber als Gott mich mit dem Finger seiner Hand berührt hatte, entließ er mich und berührte mich nicht mehr und ließ mir nichts Böses widerfahren. Vielmehr durfte ich in Frieden gehen und durfte mit dem offenen Loch gehen. Und nichts Böses widerfährt mir von Gott, der der Herr ist, in alle Ewigkeit ...
Stöße von Musik wurden vom Wind aus dem Studentenhain zu mir heraufgetragen, es war also zwei Uhr vorbei. Ich zog meine Papiere hervor und versuchte etwas zu schreiben, gleichzeitig fiel mein Barbier-Abonnement aus der Tasche. Ich öffnete es und zählte die Blätter, es waren noch sechs Karten übrig. Gott sei Dank! sagte ich unwillkürlich; ich konnte mich noch einige Wochen rasieren lassen und anständig aussehen! Und gleich kam ich in eine bessere Gemütsstimmung durch dieses kleine Eigentum, das ich noch besaß; ich glättete die Karten sorgfältig und verwahrte das Buch in der Tasche.
Aber schreiben konnte ich nicht. Nach ein paar Linien wollte mir nichts mehr einfallen; meine Gedanken waren anderswo, ich konnte mich zu keiner bestimmten Anstrengung aufraffen. Alle Dinge wirkten auf mich ein und zerstreuten mich, alles, was ich sah, gab mir neue Eindrücke. Fliegen und kleine Mücken setzten sich auf dem Papier fest und störten mich; ich blies sie an, um sie weg zu bringen, blies fester und fester, aber ohne Erfolg. Die kleinen Biester legen sich nach hinten, machen sich schwer und kämpfen dagegen an, so dass ihre dünnen Beine sich ausbauchen. Sie sind durchaus nicht vom Fleck zu bringen. Sie finden immer etwas, um sich daran festzuhaken, stemmen die Fersen gegen ein Komma oder eine Unebenheit im Papier und stehen unverrückbar still, bis sie selbst es für gut finden, ihren Weg zu gehen.