Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Scharlie wird von ihrer Freundin Yvonne in regelmäßigen Abständen dazu verpflichtet, sie zu irgendwelchen Single-Treffen zu begleiten, weil sie sich alleine nicht dorthin traut. Yvonne zur Liebe geht sie zwar mit, aber die dort kennengelernten Herren sind wirklich mehr als unterirdisch! Eine neue Beziehung wäre zwar schon mal wieder toll, aber doch nicht mit solchen Typen! Dann vielleicht doch lieber mit ihrem Chef Jannick, der sie schon seit langem anhimmelt und ihr wahrscheinlich die Welt zu Füßen legen würde? Na gut, ein paar unverbindliche Treffen kann man ja mal mit ihm machen. Aber eigentlich hat sie momentan auch mehr als genug um die Ohren mit ihrem Umzug und mit der täglichen Arbeit. Denn seit dem Ausfall einer weiteren Kollegin muss sie deutlich mehr Stunden in der Physiopraxis schieben, als sie vorher gearbeitet hat. Aber einen ziemlich spannenden neuen Patienten hat sie von ihrer verletzten Kollegin übernommen, der jetzt zweimal die Woche mit seinen Massageterminen zu ihr kommt. Und der will sie unbedingt mal zu einem Termin zum Essen gehen einladen und lässt keine Möglichkeit ungenutzt sie immer wieder aufs Neue herauszufordern. Allerdings sind private Treffen mit Patienten ein absolutes No-Go! Ein Umstand, den ihr Patient allerdings überhaupt nicht akzeptieren will.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 382
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Scharlie wird von ihrer Freundin Yvonne in regelmäßigen Abständen dazu verpflichtet, sie zu irgendwelchen Single-Treffen zu begleiten, weil sie sich alleine nicht dorthin traut. Yvonne zur Liebe geht sie zwar mit, aber die dort kennengelernten Herren sind wirklich mehr als unterirdisch. Zwar wäre eine neue Beziehung schon mal wieder toll, aber doch nicht mit solchen Typen! Dann vielleicht doch lieber mit ihrem Chef Jannick, der sie schon seit langem anhimmelt und ihr wahrscheinlich die Welt zu Füßen legen würde? Na gut, ein paar unverbindliche Treffen kann man ja mal mit ihm machen. Aber eigentlich hat sie momentan auch mehr als genug um die Ohren mit ihrem Umzug und mit der täglichen Arbeit. Denn seit dem Ausfall einer weiteren Kollegin muss sie deutlich mehr Stunden in der Physiopraxis schieben, als sie vorher gearbeitet hat. Aber einen ziemlich spannenden neuen Patienten hat sie von ihrer verletzten Kollegin übernehmen müssen, der jetzt zweimal die Woche mit seinen Massageterminen zu ihr kommt. Und der will sie unbedingt zu einem Termin zum gemeinsamen Essen gehen einladen und lässt keine Möglichkeit ungenutzt sie immer wieder aufs Neue herauszufordern. Allerdings sind private Treffen mit Patienten ein absolutes No-Go! Ein Umstand, den ihr neuer Patient allerdings überhaupt nicht akzeptieren will...
Es war Freitagmorgen kurz vor acht und Scharlie betrat gutgelaunt die Physiopraxis durch den Haupteingang.
„Guten Morgen“, grüßte sie fröhlich ihre Kollegin Kira von der Anmeldung, die gerade dabei war einem Herren von Anfang sechzig mit schütterem Haar und etwas ungepflegt wirkendem Vollbart Termine für seine Anwendungen rauszusuchen.
Kira hob nur kurz ihren Blick vom Monitor und nickte ihr zu, der Herr guckte ebenfalls kurz von seinem Papierterminplaner hoch und murmelte ein leises: „Morgen.“
Zwei weitere Patienten saßen schon im Wartebereich und waren mit ihren Handys beschäftigt. Scharlie ging um den großen Empfangstresen herum und öffnete dahinter die Tür zum Aufenthaltsraum, von dem im weiteren auch der Umkleideraum mit den Schränken für jeden Mitarbeiter und daran anschließend die Toiletten und eine Dusche abgingen. Sie hängte ihre Jacke in ihren Schrank und wechselte ihre Straßenschuhe gegen die sauberen Turnschuhe, die sie bei der Arbeit trug.
Zehn Minuten hatte sie noch Zeit, bis sie ihren ersten Patienten für heute hatte. Also checkte sie noch kurz ihr Handy und antwortete schnell auf zwei Mitteilungen, die sie von ihren Freundinnen Sabrina und Yvonne erhalten hatte.
„Scharlie?“ Kira schaute mit gerunzelter Stirn um die Ecke in den Umkleideraum. „Ah, hier bist du.“
„Hey Kira. Alles klar bei dir?“
„Bei mir schon. Aber wir haben ein fettes Problem: Rosi ist krank und fällt bestimmt für die nächsten zwei bis drei Monate aus!“
„Echt? Scheiße!“ Scharlie ließ ihr Handy in ihren Schoß sinken und guckte Kira fragend an. „Was ist denn passiert?“
„Sie ist gestern beim Fahrradfahren vom Rad gestürzt und hat sich einen ziemlich komplizierten Bruch im rechten Handgelenk zugelegt. Ihr Mann sagte mir vorhin am Telefon, dass das mindestens zwei- oder dreimal operiert werden muss.“
„Ach du Schande! Das hört sich ja richtig übel an“, sagte Scharlie betroffen.
„Ja, leider. Ist es ok, wenn ich dir ein paar ihrer Termine heute rüberschiebe? Jannick hat heute eigentlich erst ab mittags Dienst, aber den habe ich schon angerufen und der kommt gleich und macht Rosis Vormittagstermine. Und du hättest eigentlich eine Stunde Mittagspause, aber es wäre super, wenn du mit einer halben Stunde auskommst und Frau Reuter übernehmen könntest. Außerdem würde ich dir gerne noch heute Nachmittag in einer freien Zeit einen von Rosis Patienten reinbuchen. Und dann wäre nur noch die Frage, ob du vielleicht heute noch etwas länger machen könntest?“ Kira sah sie hoffnungsvoll fragend an und verzog ihren perfekt rot geschminkten Mund zu einer Schnute.
„Uhh, du meinst voll durchgebucht heute? Ähm, ja grundsätzlich geht das. Aber spätestens viertel nach fünf muss ich los, weil ich mich heute ja mit dem Hausverwalter für meine neue Wohnung treffe und den Schlüssel bekomme. Eigentlich wollte ich zwar vorher noch nach Hause und mich umziehen, aber ich habe eine Jeans hier in meinem Schrank liegen, die ich anziehen könnte. Also wenn dir das hilft…“
„Das hilft mir nicht nur, das wäre super! Der Typ, den du am späten Nachmittag übernimmst, ist übrigens sehr schnuckelig. Allerdings wird der überhaupt nicht davon begeistert sein, dass Rosi nicht da ist. Er ist an der Stelle etwas unflexibel. Das ist schon immer voll der Krampf mit ihm, wenn sie Urlaub hat!“
„Aha. Wer ist denn das? Kenn ich den?“
„Ich weiß gar nicht, ob du den schon mal gesehen hast. Der ist immer montags und freitags bei Rosi. Und immer erst am späten Nachmittag. Alexander Brockmann heißt er.“
Scharlie überlegte und schüttelte langsam den Kopf. „Der Name sagt mir jetzt nichts. Aber dann werde ich das Herzchen ja heute Nachmittag kennenlernen.“
„Super! Du bist ein Schatz. Ich muss auch wieder nach vorne und mir Gedanken machen, wie ich die nächsten Wochen alle umplane. Wir reden später nochmal, ok?“ Damit drehte sie sich um und verließ eilig den Umkleideraum.
Scharlie pustete mit hochgezogenen Augenbrauen einmal die Luft durch die Lippen, steckte ihr Handy in die Tasche zurück und schloss diese in ihrem Schrank ein. Da fing der Tag ja gleich gut an! Ein Glück, dass heute Freitag war und damit das Wochenende vor der Tür stand.
Dann machte sie sich auf zu ihrem ersten Patienten für heute.
Kira hatte schon wieder den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und tippte gleichzeitig auf der Tastatur ihres Computers herum, während sie mit einem Patienten telefonierte.
„Guten Morgen Frau Bomke. Kommen Sie mit mir mit? Wir gehen heute in die Fünf, hat meine Kollegin mir gesagt. Dort ist schon alles vorbereitet.“
Mit einem leichten Ächzen erhob sich die Rentnerin von ihrem Stuhl und trippelte lächelnd auf Scharlie zu. „Alte Frau ist kein D-Zug“, sagte sie wie fast jedes Mal, während sie Scharlie in einen der Behandlungsräume folgte. Dort zog sie ihre Schuhe und ihre Hose aus und setzte sich dann auf die Behandlungsliege. „Soll ich mich hinlegen?“
Scharlie hatte in der Zwischenzeit schon die Eintragung in der Patientenkarte vorgenommen und blickte nun freundlich auf. „Ja, bitte. Wie geht es ihrem Knie denn heute? Irgendwelche Veränderungen zum letzten Mal? Waren die Übungen ok, die wir gemacht hatten, oder war es etwas zu viel?“ Sie verteilte etwas Massagecreme auf dem linken Oberschenkel ihrer Patientin und begann langsam und mit wenig Druck die Muskulatur zu massieren und zu lockern.
Frau Bomke berichtete haarklein, wie sie die letzte Behandlung empfunden hatte und was für Fortschritte es ihrer Meinung nach gab. Die Dame hatte vor acht Wochen ein neues Kniegelenk bekommen und war nach der Reha jetzt in der Physiopraxis von Scharlies Chefs zur weiteren Behandlung gelandet. Die OP war super verlaufen und auch die Reha hatte Frau Bomke weitestgehend wieder mobil gemacht, aber ein paar weitere Termine würde sie schon noch wahrnehmen müssen, bis sie keine Einschränkungen von ihrem operativen Eingriff mehr verspürte. Aber sie war auf einem guten Weg.
Den ganzen Vormittag hatte sie voll zu tun und zwischendurch nur kurz mal ein paar Minuten Zeit, um mit ihren anderen Kolleginnen oder Kollegen oder auch mit Kira zu plaudern. Und wie angekündigt fiel auch die Mittagspause heute sehr kurz aus. Gut, dass sie sich heute Morgen die Reste von ihrem Mittagessen vom Vortag eingepackt hatte. Die konnte sie jetzt schnell in der Mikrowelle warm machen und in den knapp fünfundzwanzig Minuten verspeisen, die ihr noch blieben.
„Scharlie, ich wünsche dir schon mal ein schönes Wochenende. Ich habe jetzt nur noch eine Patientin und danach dann ja Feierabend. Was liegt bei dir an?“ fragte ihre Kollegin Luisa, die gerade ihr Besteck in die Spülmaschine räumte, welches sie für ihren Salatteller benötigt hatte.
Scharlie nahm derweil ihre Mikrowellenschüssel aus der Mikrowelle raus und suchte sich einen Platz am runden Tisch in der Mitte des Raumes aus. „Steht noch nicht genau fest“, ließ sie die bestimmt fünfzehn Jahre jüngere Kollegin wissen. „Wahrscheinlich bin ich mit meinen beiden Mädels unterwegs, aber wir haben uns noch nicht festgelegt, was wir genau machen wollen. Und bei dir?“
„Ich gehe heute Abend mit Jonas ins Kino. Und ich hoffe, dass er danach noch mit zu mir kommt“, antwortete Luisa mit einem verschwörerischen Zwinkern.
„Ahhh, alles klar!“ sagte Scharlie wissend und zwinkerte ihrer Kollegin spitzbübig zu. „Ich erwarte deinen Bericht nächste Woche. Ich drück dir die Daumen!“
„Danke, Ciaoi!“
Damit verließ Luisa den Aufenthaltsraum und traf an der Tür genau mit Jannick zusammen, der jetzt anscheinend auch Pause hatte. Jannick schloss die Tür hinter sich und reckte den Hals, ob noch jemand weiteres im Umkleideraum war. „Scharlie…“, stellte er dann mit einem liebevollen Lächeln fest und legte ihr vertraut eine Hand auf die Schulter. „Ich habe schon gehört, dass du auch einige Termine von Rosi gemacht hast?“
Am liebsten hätte sie seine Hand direkt abgeschüttelt. Aber sie nickte nur und kaute ihre Nudeln zu Ende. Jannick nahm seine Hand jetzt weg und ging zum Kühlschrank, um sich dort einen Joghurt rauszuholen, mit dem er sich zu ihr an den Tisch setzte.
„Und du musstest heute deinen freien Vormittag opfern?“ fragte Scharlie auf Smalltalk Niveau und warf ihm einen kurzen musternden Blick zu.
„Ja, aber war nicht so schlimm. Ich hatte nichts besonderes geplant. Aber das mit Rosi ist ziemlich blöd! Ich denke, bis Ende des Jahres werde ich meine freien Vormittage vergessen können... Bei Boris sind auch zwei Mitarbeiter krank. Da können wir noch nicht mal jemanden von dort zu uns rüber holen, der uns bei Rosis ganzen festgeplanten Terminen unterstützen könnte“, sinnierte er und schaute mit gerunzelter Stirn in seinen Joghurt.
„Und wenn du kurzfristig eine Aushilfe einstellst? Kira meinte vorhin, dass das mit Rosi auch ganz schön lange dauern könnte. Und wenn das wirklich so ein komplizierter Bruch ist mit OP und allem drum und dran, dann kann das auch locker noch ein, zwei Monate länger dauern, bis sie wieder fit ist. Massieren geht ja schlecht nur mit einer Hand.“
„Hör bloß auf! Da mag ich noch gar nicht drüber nachdenken!“ sagte Jannick und schüttelte nebenbei den Kopf. „Aushilfe kannst du auch vergessen. Wir haben seit Monaten eine Anzeige geschaltet, dass wir Verstärkung für unser Team brauchen. Aber es meldet sich keiner. Und die, die sich melden, die kannst du auch auf ganzer Linie vergessen! Falls du jemanden weißt, hau raus! Ich würde momentan wahrscheinlich jeden nehmen.“
Jannick und sein Bruder Boris waren Scharlies Chefs und leiteten zusammen die beiden sehr gut gehenden Physiopraxen. Gerade vor einem Dreivierteljahr waren sie mit dieser Praxis in neue und wesentlich größere Räumlichkeiten in einem neu gebauten Ärztehaus umgezogen, was ihnen nochmal einen deutlichen Zuwachs an neuen Patienten gebracht hatte. Tatsächlich hatten sie sogar weit mehr Anfragen, als sie Termine vergeben und wahrnehmen konnten. Drei neue Kollegen hatte es seit dem Frühjahr schon in ihrem Team gegeben, aber sie könnten ohne Probleme noch weitere drei einstellen.
Scharlie nahm die letzte Gabel voll Nudeln und warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Nur noch wenige Minuten bis sie ihren nächsten Patienten hatte. Sie stand auf und räumte ihre Sachen in die Spülmaschine.
„Ich würde mich gerne mal wieder mit dir treffen“, sagte Jannick in ihrem Rücken und wartete auf eine Antwort von ihr.
Sie versteifte sich innerlich, hielt kurz im Einräumen inne und blickte sich zu ihm um. „Ich werde das Wochenende mit Wohnung streichen verbringen; das weißt du doch. Und abends bin ich mit meinen Mädels verabredet. Sorry“, wich sie ihm aus und schloss die Tür der Spülmaschine.
„Es muss ja nicht dieses Wochenende sein. Wir können auch in der Woche mal zusammen essen gehen oder so“, unternahm er einen weiteren Versuch.
„Du, es tut mir echt leid, aber das wird momentan nichts. Ich will in zwei Wochen umziehen und habe bis dahin über beide Ohren zu tun. Und wenn ich mal eine Stunde zwischendurch frei habe, dann freue ich mich auch, wenn ich mich einfach nur aufs Sofa legen kann.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und warf ihm einen kurzen Blick zu.
Jannick nickte und lächelte sie leicht an. „Ich kann dir auch beim Streichen und Umziehen helfen. Ruf einfach an, wenn du mich brauchst.“
Sie nickte ebenfalls und warf einen weiteren Blick auf die Uhr. „Ich muss los. Schönes Wochenende, wenn wir uns nicht mehr sehen.“ Mit der Tür in der Hand drehte sie sich nochmal kurz um, weil sie ein leicht schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatte. „Ich weiß das zu schätzen, dass du für mich da bist. Aber ich will zur Zeit keine weitere Baustelle aufmachen, ok?“
Ihre Blicke trafen sich für ein paar Sekunden und Jannick nickte verstehend.
Natürlich hatte er wie immer für alles Verständnis, dachte sich Scharlie leicht genervt und holte ihren nächsten Patienten ab. Da dieser Herr sowieso nicht sehr unterhaltsam war, konnte sie bei der Massage ihren Gedanken nachhängen.
Im Frühjahr hatten sie mit der Belegschaft dieser Praxis einen sehr lustigen Betriebsausflug unternommen, der in einem leckeren Abendessen in einem gutem Restaurant und dem anschließenden Besuch einer Cocktailbar endete. Natürlich gehörte Scharlie auch zu den Kollegen, die den Abend noch nicht nach dem Abendessen beenden wollten und nach mehreren Cocktails war die allgemeine Stimmung unter den verbliebenen Kollegen gelöst und lustig.
Eigentlich war Jannick nicht wirklich ihr Typ, aber sie hatten den Abend viel zusammen gelacht und geredet und zu später Stunde hatte er sie nach Hause begleitet, weil er sie keinesfalls alleine gehen lassen wollte. Vor der Haustür ihres Wohnblocks hatten sie dann zum Abschied ein wenig geknutscht. Und ja, Scharlie musste schon zugeben, dass das gar nicht so übel gewesen war. Immerhin waren sie dann in den darauffolgenden Tagen und Wochen auch noch ein paarmal zusammen ausgegangen, aber es hatte keine Weiterentwicklung der zarten Bande stattgefunden. Und ohne die entsprechende Menge Alkohol im Blut, war ihr immer sehr schnell bewusst geworden, dass sie kein gesteigertes Interesse an ihm hatte.
An seinem Aussehen lag es allerdings nicht, denn er sah wirklich gut aus. Er war groß, schlank, sehr durchtrainiert, mit breiten Schultern und kräftigen Oberarmen und hatte ein hübsches markantes Gesicht mit kurzgeschnittenen dunkelblonden Haaren. Er war sechsundvierzig und damit zwei Jahre älter als sie selber. Aber in ihren Augen war er einfach kein richtiger Kerl! Er hatte für alles Verständnis und stellte sein Wohlergehen immer ganz hinten an. Schon seine Exfrau hatte ihn die Jahre vor der Trennung einfach nur wie Dreck behandelt, wie Scharlie immer wieder auf der Arbeit mitbekommen hatte. Ein durchtriebenes Biest, die ihn nach Strich und Faden ausgenutzt, belogen und hintergangen hatte, bis sie mit einem Freund von ihm durchgebrannt war. Selbst als er vor den Scherben seiner Beziehung stand, suchte er selbstverständlich das Problem für das Scheitern bei sich.
In Gedanken schüttelte Scharlie den Kopf und konzentrierte sich wieder mehr auf ihren Patienten vor sich. Aber schon nach kurzer Zeit schweiften ihre Gedanken wieder zurück zu Jannick. Er war wirklich ein lieber und supernetter Typ, aber passte einfach überhaupt nicht in ihr Beuteschema. Sie selber war sich dessen bewusst, dass sie eine recht starke Persönlichkeit war und sie brauchte auch einen entsprechenden Gegenpart, wenn eine Beziehung funktionieren sollte. So einen Typen wie Jannick würde sie nach kurzer Zeit in seine Einzelteile zerlegen und ihm wahrscheinlich einfach nur weh tun. Und das war etwas, was sie keinesfalls wollte. Denn immerhin war er auch ihr Chef und sie fühlte sich sehr wohl in dieser Praxis. Aber wie konnte sie ihm das auf schonende Weise beibringen, so dass er sein Interesse an ihr aufgeben würde?
Sie atmete tief ein und aus. Er machte sich wahrscheinlich immer noch Hoffnungen, dass sie sich doch nochmal näher kommen würden. Denn seit ein paar Wochen hatte er seine Bemühungen in ihre Richtung wieder deutlich intensiviert. Aber das stieß nicht so recht auf Gegenseitigkeit.
Bei ihren Verabredungen im Frühjahr war nie richtig Schwung in die Sache gekommen, was Scharlie auch gar nicht schlimm fand. Eigentlich war sie nur ab und zu mit ihm ausgegangen, weil es zu der Zeit keinen anderen ansprechenden Herren in ihrer Nähe gegeben hatte. Nachdem Scharlie dann irgendwann im Sommer zwei Wochen Urlaub gehabt hatte und Jannick gleich im Anschluss daran drei Wochen weg gewesen war, hatte sich ihre leichte Annäherung sogar komplett erschöpft. Und außerdem gab es da dann einen anderen, viel interessanteren Herren, der für kurze Zeit Scharlies Aufmerksamkeit gewonnen hatte.
Als Jannick das irgendwann mitbekommen hatte, hatte er natürlich Verständnis dafür gehabt und sich einfach nur etwas zurückgezogen.
„Au!! Sie tun mir weh! Ich weiß, dass die Stelle dort arg verspannt ist, aber Sie massieren jetzt schon die ganze Zeit auf diesem Knubbel herum. Können Sie bitte woanders hin wechseln?“ beschwerte sich ihr Patient mit gequälter Stimme.
„Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich war ganz in Gedanken.“ Ertappt wurde Scharlie leicht rot, was der Herr auf der Behandlungsliege allerdings nicht sehen konnte, weil er ja auf dem Bauch lag und sie seinen Schulter- und Nackenbereich bearbeitete.
Schnell massierte sie nochmal den ganzen Rücken mit deutlich weniger Druck durch und strich dann die Muskeln mit den ganzen Händen aus. „So, Herr Weise, das wars dann für heute. Ich hoffe, ich habe sie nicht zu doll gequält“, beendete sie die Massage und wischte sich die Hände an einem Handtuch sauber.
Ihr Patient richtete sich auf und grinste sie leicht schief an. „Nein, alles gut. Eigentlich ist das ja immer total gut, wenn Sie die echten Knackpunkte finden und bearbeiten. Zumindest spürt man da deutlich eine Besserung nach. Auch wenn ich morgen wahrscheinlich richtig leiden werde, weil Sie heute ordentlich zugepackt haben.“
Scharlie zwinkerte ihm zu und hielt ihm den Kugelschreiber zum Unterschreiben der Patientenkarte hin. „Eine Unterschrift noch und dann sind Sie mich auch los.“
„Gerne.“
„Dann bis nächsten Freitag wieder. Schönes Wochenende, Herr Weise.“
„Wir sehen uns erst in zwei Wochen wieder. Nächste Woche bin ich im Urlaub“, ließ er sie wissen.
Den gesamten Nachmittag hatte Scharlie wieder voll zu tun und es blieb kaum eine Minute, um mal zwischendurch was zu trinken. Jetzt war nur noch der letzte Patient für heute dran. Der besagte Alexander Brockmann, der normalerweise immer bei Rosi seine Massagetermine hatte.
Da sie heute ungewöhnlich viele Massagen den Tag über gemacht hatte, fühlte sie sich schon etwas kraftlos in den Fingern und spürte, wie sich bei ihr eine Verspannung dadurch zwischen ihren Schultern gebildet hatte. Auf dem Weg zu Behandlungsraum drei ließ sie ihre Schultern ein paarmal kreisen und dehnte ihre Nackenmuskulatur ein wenig.
Kira hatte den Patienten schon vor einer Viertelstunde auf eine heiße Moorpackung gelegt, damit die Muskulatur für die Massage gut vorgewärmt war. Wie Scharlie gehört hatte, war Herr Brockmann Selbstzahler und gönnte sich zweimal pro Woche eine ausgiebige Rückenmassage mit vorheriger Wärmepackung. Nicht gerade billig so ein Unterfangen, aber es gab durchaus mehrere Leute, die sich regelmäßig Massagen auf eigene Rechnung genehmigten. Fast jeder, der heutzutage in einem Büro arbeitete, saß viel zuviel und hatte durch die Arbeit am PC mehr oder weniger starke Verspannungen im Rücken.
Vor der Tür atmete sie nochmal tief durch und öffnete dann mit einem Lächeln auf den Lippen beim Eintreten. Ihr Patient lag zugedeckt mit einer Decke auf dem Rücken auf der Behandlungsliege und war mit dem Handy am Ohr am Telefonieren. Da er sie nicht beachtete, trat Scharlie in sein Blickfeld, nickte ihm begrüßend zu, und gestikulierte ihm, dass er sich bitte aufrichten sollte und sie schon mal die Wärmepackung entfernen wollte. Er nickte abwesend und musterte sie mit ernstem, aber interessiertem Blick, während er weiter seinem Anrufer zuhörte.
Wow! Wie hatte Kira es vorhin gesagt? Sieht ganz schnuckelig aus der Typ. Und das stimmte wahrhaftig!
„Vergiss es! Das kommt mir nicht in die Tüte! Sag Herrn Dudeck wie es laufen wird und basta! Entweder er akzeptiert das jetzt oder ich verkaufe an jemand anderen. Ich bin es langsam leid“, schimpfte ihr Gegenüber mit seinem Anrufer.
Oha, der war ja richtig geladen! Scharlie nahm die Decke zusammen und legte diese auf einen Stuhl. Auf einem zweiten Stuhl lagen achtlos hingeworfen ein weißes Hemd und ein ausgezogenes T-Shirt. Davor standen teuer aussehende schwarze Lederschuhe, am Kleiderhaken hing eine schwere gefütterte Winterjacke einer noblen Herrenausstattermarke. Langsam richtete sich ihr Gegenüber auf, während er weiter telefonierte und sie kaum beachtete.
Scharlie nahm die Wärmepackung an sich und gestikulierte ihrem Patienten wieder wortlos, dass er sich bitte auf den Bauch legen sollte und sie gleich wieder da wäre, weil sie kurz das Kissen wegbringen würde. Er schaute sie nur dabei an und lauschte weiter angestrengt und mit ärgerlicher Miene in sein Handy. Na hoffentlich brachte er sein Gespräch bald mal zu einem Ende!
Aber leider Fehlanzeige! Als sie wieder den Raum betrat, saß er immer noch auf den rechten Arm aufgestützt auf der Behandlungsliege und war am Telefonieren.
„Carsten, es ist mir egal, was Dudeck von mir denkt. Und ich werde ihm auch nicht einen Zentimeter entgegen kommen! Die Zeit des Geplänkels ist vorbei.“
Scharlie musterte ihren Patienten und überlegte, was sie noch machen könnte. Sie schätzte Herrn Brockmann ähnlich alt wie sich selber und für sein Alter war er auf jeden Fall sehr gut in Form, wie sie feststellen konnte. Sie entschied sich, einen Blick in seine Patientenkarte zu werfen. Hier stand allerdings so gar nichts drin! Lediglich einen Blick auf sein Geburtsdatum bestätigte ihre Annahme, dass er nur knapp zwei Jahre älter war als sie selber. Kira hatte immerhin schon in einer Spalte das heutige Datum und den Hinweis auf die Moorpackung eingetragen, aber die davor liegenden Eintragungen von Rosi lauteten alle gleich: Wärme, Massage. Dazu Rosis Namenskürzel und das Datum des Tages. Sehr aussagekräftig!!!
Sie selber trug immer deutlich mehr in die Karten ein, damit im Falle einer Vertretung ihr Kollege wusste, was sie vorher gemacht hatte.
Herr Brockmann telefonierte immer noch weiter. Sie gab ihm ein Zeichen, dass sie kurz mit ihm reden wollte, damit sie endlich anfangen konnte. Er schaute sie mit hartem Blick an, ging aber nicht auf ihr Zeichen ein. Sie versuchte es nochmal mit einem kurzen Wink und grinste ihn mit entschuldigend wackelndem Kopf an.
Herr Brockmann senkte genervt den Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Carsten, warte mal kurz“, sagte er dann zu seinem Telefonpartner. „Was ist denn? Was wollen Sie?“ wandte er sich mit genervtem Tonfall an Scharlie.
„Ähm, ich würde jetzt anfangen wollen Sie zu massieren. Aber dafür müssten Sie sich bitte auf den Bauch legen und langsam ihr Telefongespräch zu Ende bringen. Und ganz toll wäre es, wenn wir kurz ein, zwei Sätze wechseln könnten, was für Beschwerden Sie haben und was Sie von mir erwarten. In ihrer Karte ist nämlich nichts vermerkt, was mir da weiterhelfen könnte“, sagte Scharlie charmant und lächelte ihn freundlich an.
„Ist das nicht eindeutig?“ fragte er irritiert nach. „Ich dachte, eine Rückenmassage ist eine Rückenmassage. Was wollen Sie denn da jetzt bitte noch von mir zu wissen? Ich dachte eigentlich, Sie verstehen ihren Job. Oder soll ich Ihnen jetzt erklären, wie man am besten massiert?“ blaffte er sie etwas ungehalten an.
Scharlie war leicht konsterniert, weil er mit ihr im gleichen genervten Ton wie mit seinem Gesprächspartner sprach. Dabei gab es eigentlich keinen Grund, weshalb er so genervt von ihr war. „Nein, das brauchen Sie mir tatsächlich nicht zu erklären. Aber es ist für mich schon wichtig, ob Sie bestimmte Beschwerden haben, auf die ich eingehen soll, oder ob Sie vielleicht irgendwas nicht möchten, was ich machen soll. Das ist das normale Vorgehen, wenn man einen Patienten nicht kennt und ich Sie zum ersten Mal behandeln soll“, erklärte Scharlie ihm ruhig und immer noch um einen freundlichen Ton bemüht und schaute ihn abwartend an.
Ihr Gegenüber atmete tief und genervt aus und widmete sich wieder seinem Gesprächsteilnehmer. „Carsten, ich muss jetzt Schluss machen. Schick mir ne Mail, was du mit Dudeck besprochen hast. Und wenn er zickt, schieß ihn ab. Ich habe keine Lust mehr auf den Typen, ok? Ich muss nicht an ihn verkaufen; es gibt da auch noch andere, die mich weniger nerven.“ Er lauschte nochmal kurz in sein Telefon und beendete dann das Gespräch. „So, und jetzt zu Ihnen. Welche Infos brauchen Sie jetzt noch alle von mir, bevor Sie endlich loslegen?“ fragte er spöttisch und drehte sich auf den Bauch. Das Handy hatte er neben seinen Kopf abgelegt.
„Ich lege Ihr Handy auf den Stuhl zu Ihrem Hemd“, sagte Scharlie und wollte gerade nach dem Gerät greifen, als er wieder mit dem Kopf hochkam und sie kämpferisch anblinzelte.
„Lassen Sie es doch einfach hier liegen. Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, bin ich gerade in einem wichtigen Geschäftsabschluss und muss mich um alles selber kümmern, weil mein Mitarbeiter etwas unfähig ist.“
Scharlie zog ihre Hand wieder zurück und blitzte ihn genauso stur an. So langsam hatte sich ihre Geduld mit diesem Herren vollständig erschöpft. „Ich möchte nur verhindern, dass Ihr Ach-so-wichtiges-Telefon durch eine Unachtsamkeit runterfällt und Sie Ihre superwichtigen Geschäfte dann nicht zu Ende bringen können. Das wäre ja höchst unangenehm, oder? Und falls Sie gerade keine Zeit für diesen Termin hier haben, weil Ihre Arbeit wichtiger ist, dann können wir die Sache auch gleich beenden. Dann habe ich früher Feierabend und Sie können sich Ihrer Arbeit widmen. Ich will Sie keinesfalls aufhalten“, blaffte sie mit deutlich ironischem Unterton in der Stimme zurück.
Seine Augen musterten sie kalt, aber mit dem Hauch eines Schmunzelns, von oben bis unten. Dann reichte er ihr sein Handy und legte sein Gesicht wieder in die Aussparung der Behandlungsliege zurück.
„Danke“, sagte Scharlie und legte das teure Gerät zu seinen Sachen auf den Stuhl. Solche Typen zum Feierabend waren ja genau das, was einem noch nach einem anstrengenden Arbeitstag fehlte. „Rückenmassage“, stellte sie dann kurz und knapp klar. „Irgendwelche besonderen Wünsche?“
„Was wollen Sie jetzt von mir hören? Am liebsten mit Happy End oder was?“ fragte er genauso barsch zurück.
Sowas bekam sie natürlich öfter mal zu hören, weil es viele Männer gab, die dachten, dass sie damit den besonders witzigen Gag landen konnten. Trotzdem musste sie dieses Mal darüber schmunzeln, weil sie ihn ja vorher durch ihre leicht zickige Ansprache auch herausgefordert hatte. Sie verteilte die Massagecreme in ihren Händen und trat nun seitlich an die Behandlungsliege heran und begann mit leichten kreisenden Bewegungen die Creme auf seinem Rücken zu verteilen. „So hätte ich Sie gar nicht eingeschätzt, dass Sie bei Rosi immer mit Happy End nehmen. Aber tut mir leid für Sie; ich biete diesen Service nicht an.“
Ihre Kollegin Rosi war Anfang sechzig, recht korpulent und mit einem breiten Kreuz ausgestattet und man würde sie gemeinhin nicht als hübsche Frau bezeichnen. Mit der Bezeichnung Ringer der Schwergewichtsklasse konnte sich jeder ein sehr passendes Bild von dieser Frau machen. Aber nichtsdestotrotz war sie eine herzensgute Person, die immer ein offenes Ohr für alle Probleme hatte, und die schon seit Anbeginn in der Physiopraxis bei Jannick und Boris arbeitete. Ihre Massagen waren bei vielen Patienten sehr beliebt, weil Rosi so richtig fest zupackte, so dass man die nächsten zwei Tage was davon hatte. Aber das war auch nicht jedermanns Sache. Aber der Gedanke an Happy End im Zusammenhang mit Rosi fiel einem schon irgendwie schwer.
„Ist wahrscheinlich auch besser. Bei Ihnen muss man ja Angst haben, dass Sie gleich zubeißen“, gab Alexander Brockmann ironisch zurück.
Scharlie schmunzelte wieder und wurde dann schnell wieder ernst. „Die ersten sieben Minuten Ihrer Zeit sind schon rum. Sie möchten also einfach eine ganz normale Rückenmassage?“
„Ja bitte.“
„Dann mach ich mal.“
„Na endlich!“
Sie legte los und nahm nochmal etwas Massagecreme nach. Sein Rücken war nach wie vor von der Wärmepackung gerötet und sie betrachtete interessiert seine große Tätowierung, die er auf dem oberen Rücken und über die Schultern hinweg hatte. Ein sehr hübsch gearbeiteter Drache bedeckte den halben Rücken. Es war immer wieder spannend, wie viele Menschen Tätowierungen hatten, denen man sowas gar nicht auf den ersten Blick zutraute.
Auch Scharlie selber hatte mehrere Tätowierungen auf ihrem Körper, die zum größten Teil während ihrer gemeinsamen Zeit mit ihrem Ex Lennox entstanden waren. Aber die meisten waren während der Arbeit komplett von Kleidung bedeckt und nicht sichtbar.
Schon nach nur wenigen Handgriffen hatte sie deutliche Verspannungen im Schulter-Nackenbereich lokalisiert, denen sie sich auf jeden Fall im weiteren Verlauf der Massage etwas mehr widmen würde. Aber momentan war sie noch beim ersten Einstieg.
„Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann könnten Sie auch gerne etwas kräftiger massieren. Ich habe ja keine sanfte Streicheleinheit bei Ihnen gebucht“, beschwerte sich Herr Brockmann.
„Sehr gerne“, antwortete Scharlie süffisant und erhöhte den Druck gleich mal ein wenig. „Ist es so besser? Oder wollen Sie noch etwas mehr?“
„Nee, so ist schon ganz gut“, brummte er.
Na, dann wollen wir mal gucken, was du abkannst, dachte sie mit einem Schmunzeln um die Mundwinkel. Sowas ließ sie sich ja nicht zweimal sagen. „Das war zum Beispiel etwas, was Sie mir zu Anfang hätten sagen können. Die Geschmäcker und Befindlichkeiten sind ja bei jedem Patient unterschiedlich und wenn ich Sie zum ersten Mal hier auf dem Tisch habe, kann ich nicht wissen, was Sie bevorzugen. Es gibt Menschen, die wollen eher stärker massiert werden und andere wiederum wollen lieber eine Entspannungsmassage.“
Er brummte kurz abwertend, antwortete aber nicht weiter. Scharlie trat jetzt an die Stirnseite der Liege hinter seinen Kopf, so dass sie mit beiden Händen direkt von oben Druck auf seine verspannte Nackenmuskulatur ausüben konnte. An seinen etwas schmerzverzerrten Schläfen konnte sie erkennen, dass sie hier genau die richtigen Punkte bearbeitete. Er atmete etwas abgehackt, aber beschwerte sich nicht
„Ist der Druck ok für Sie oder doch lieber etwas weniger?“ fragte sie mit einem süffisanten Unterton.
„Ich bin nicht aus Zucker“, kam es von ihm zurück.
„Dann ist ja gut“, sagte sie fröhlich und ärgerte ihn weiter an den verspannten Stellen seines Rückens. Ärgern war natürlich das falsche Wort, aber es bereitete ihr gerade ziemliche Genugtuung, dass sie diesen großkotzigen Typen etwas leiden ließ.
Sie strich jetzt mit den Daumen und den Handballen links und rechts entlang der Wirbelsäule vom Hals in Richtung unteren Rücken, was die meisten Menschen sehr genossen. Anscheinend auch der Herr vor ihr, denn er gab ein entspanntes Seufzen von sich. Aber genug Entspannung jetzt für ihn, entschied Scharlie, und ging eine weitere stark verspannte Stelle entlang seines Schulterblattes an.
Wieder konnte sie erkennen, dass sie genau die richtigen Punkte bearbeitete, die ihm eine deutlich schmerzhafte Rückmeldung gaben. Sie grinste in sich rein und massierte mit starkem Druck weiter, auch wenn ihre Finger durch den anstrengenden Tag schon mehr als geschafft waren.
Aber irgendwann war auch die Zeit für diesen letzten Termin um und Scharlie beendete die Massage. „So Herr Brockmann, das soll es mal für heute gewesen sein“, sagte sie, während sie ihre Hände an einem Handtuch sauber wischte.
Er richtete sich auf und musterte sie interessiert von der Seite, während er zu dem Stuhl trat, auf dem seine Klamotten lagen. Scharlie machte derweil ihre Eintragung in die Karte.
„Kaum vorzustellen, wie ihre Hände Entspannung hervorbringen sollen“, murmelte er verschmitzt, während er sich sein T-Shirt über den Kopf zog.
Sie blickte erstaunt auf und ihn von der Seite an. „Ach stimmt; Sie nehmen ja sonst immer die Behandlung mit dem entspannten Ende. Tut mir leid, aber das gibt es ja nicht bei mir. Dann müssen Sie heute wohl nochmal fünfzig Euro investieren und in einer der bekannten Straßen in Hamburg vorbeifahren. Dort soll es Damen geben, die voll auf männliche Entspannung ausgerichtet sind.“
Uhhh, gleich nachdem sie das ausgesprochen hatte, wurde ihr deutlich bewusst, dass ihr freches Mundwerk mal wieder ungefiltert das ausgegeben hatte, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war. Leider war das an dieser Stelle völlig unangebracht, weil Herr Brockmann ja ein Kunde war und nicht irgendein guter, alter Freund, dem man auch mal was Freches an den Kopf werfen konnte. Aber die Worte waren jetzt gesagt und sie war auch nicht gewillt, sich dafür zu entschuldigen.
„Wenn Sie hier noch einmal bitte unterschreiben?“ sagte sie schnippisch und hielt ihm den Kuli hin.
Mit einem leichten Grinsen um die Mundwinkel trat er zu ihr und blickte ihr für ein paar Sekunden direkt in die Augen. Dann kritzelte er seine Unterschrift neben den heutigen Eintrag, warf noch einen Blick auf ihr Namensschild, was sie an ihrem Poloshirt angesteckt trug, und wandte sich danach wieder seinem Ankleiden zu.
Scharlie nahm die Karte, die sie vorne beim Empfang wieder in die Kartei einsortieren musste, und ging zur Tür.
„Danke für den Tipp; ich überlege es mir. Für Sie habe ich aber auch einen guten Tipp: es gibt sehr gute Fortbildungen zum Thema korrekter Umgang mit Kunden. Das werde ich Ihrem Chef mal vorschlagen, dass er das für seine Mitarbeiterinnen anbieten sollte.“
Scharlie schluckte. Scheiße, bestimmt würde der Typ sich bei Jannick über sie beschweren. Aber egal jetzt. Sie konnte es sowieso nicht mehr ändern. „Ein schönes und entspanntes Wochenende Herr Brockmann“, verabschiedete sie sich patzig und betonte das Wort entspannt dabei natürlich ganz besonders ironisch.
Kira hatte bereits Feierabend gemacht, als Scharlie vorne am Empfang die Karte wieder an der richtigen Stelle einsortierte. Dafür saß dort Leonie, eine Studentin von Anfang zwanzig, die sich in den späten Nachmittagsstunden ein paar Euro nebenbei dazuverdiente.
„Hi Scharlie. Du heute noch hier?“ begrüßte sie sie.
„Ja, wegen Rosis Ausfall.“
„Stimmt. Hab ich von gehört. Hast du jetzt Feierabend oder noch einen weiteren Patienten?“ fragte sie weiter.
„Zum Glück Feierabend. Aber den Typen eben hätte ich mir echt schenken können“, raunte Scharlie ihr leise zu und warf prüfend einen Blick in Richtung der Behandlungsräume, ob Herr Brockmann dort schon zu sehen war. Aber der war anscheinend noch nicht fertig mit Anziehen. „So ein selbstverliebter Arsch! Aber egal. Ich muss jetzt los. Ich bekomme jetzt gleich den Schlüssel für meine neue Wohnung.“
„Oh cool! Freust du dich schon auf deine neue Wohnung?“ fragte Leonie fröhlich.
Scharlie gab ein verächtliches Lachen von sich. „Nee, ganz bestimmt nicht. Ich ziehe von einer großen Vierzimmerwohnung in eine deutlich kleinere mit gerade Mal der Hälfte an Quadratmetern. Dazu sind Bad und Küche alt und die Hälfte meiner Möbel passt nicht mehr, weil das dort alles viel kleiner ist.“
„Oh“, war alles, was Leonie dazu zu sagen wusste. Betreten überlegte sie, wie sie etwas Positives auf Scharlies kurze Zusammenfassung sagen könnte.
„Mach dir keinen Kopf. Ich habe mir die Wohnung ja ausgesucht, also muss ich damit jetzt auch leben. Ich werde das Wochenende mal neue Farbe an die Wände bringen und die letzten Dinge ausmessen. Oh, jetzt muss ich mich echt sputen, damit ich den Verwalter nicht warten lasse.“
Schnell schlüpfte sie durch die Tür in den Aufenthaltsraum und schloss ihren Schrank im Umkleideraum auf. Sie sprüht etwas Deo unter ihre Arme und tauschte die Sporthose gegen die Jeans, die sie dort im Schrank hatte. Dann zog sie ihre Straßenschuhe und ihre Jacke an und verabschiedete sich mit einem Winken von Leonie.
Draußen vor der Tür empfing sie ein unangenehmer Wind, der einen leichten Nieselregen um die Hausecke fegte. Die letzten Tage war noch richtig schönes Herbstwetter gewesen, aber heute zeigte der November ganz deutlich, warum dieser Monat bei vielen Leuten so ein schlechtes Standing hatte. Es war den ganzen Tag schon diesig und grau gewesen und es setzte auch schon langsam die Dunkelheit ein. Scharlie zog automatisch den Kopf ein und schlug den Kragen ihrer Jacke nach oben, als die nächste feuchte Böe ihr um die Ohren wehte. Was für ein Scheißwetter!
Sie kramte nebenbei in ihrer Tasche schon mal nach ihrem Autoschlüssel, konnte ihn aber nicht ertasten. Wo war das Ding denn bloß? Sie blieb genervt stehen und holte ein Teil nach dem anderen aus der Tasche raus. Da waren zum einen die Mikrowellendose von ihrem Mittagessen, eine halbvolle Flasche Mineralwasser, ein Regenschirm, zwei Packungen Taschentücher, ihr Portemonnaie und mehrere alte Kassenbons, die sie schon lange mal hätte entsorgen können, die aber, wie so häufig, einfach unbesehen in die Tasche gestopft wurden. Außerdem hatte sie heute auch noch einen dicken Briefumschlag mit dem unterschriebenen Mietvertrag und allen Infos zur neuen Wohnung dabei, obwohl sie dieses eigentlich nicht brauchen würde. Aber sicher war sicher und man wusste ja nie.
Noch immer konnte sie ihren Autoschlüssel nicht in der Tasche ausmachen und warf ungeduldig einen Blick hinein. Dabei schepperte erstmal die Mikrowellendose zu Boden, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Als sie sich nach der Dose bückte, rutschte als nächstes die Mineralwasserflasche unter ihrem Arm hervor und kullerte ebenfalls über den Bürgersteig. Was für ein absoluter Mist! Fluchend fing sie die Flasche wieder ein und stellte diese neben die Dose auf den Fußboden. Dann kramte sie weiter in der Tasche nach dem Schlüssel, den sie jetzt auch fand. Sie hatte ihn heute Morgen anscheinend einfach achtlos in die Tasche gleiten lassen und nicht in die Seite gepackt, wo sie ihn normalerweise immer hatte. Da hätte sie ja noch lange nach dem Schlüssel tasten können! Schnell verstaute sie jetzt die Sachen alle wieder in der Tasche und richtete sich auf. Die ganzen alten Kassenbons hatte sie dabei noch in der Hand, um diese da vorne im Mülleimer zu entsorgen. Natürlich zerrte die nächste Windböe einen der Zettel aus ihrer Hand und ließ diesen fröhlich in Richtung des Eingangs zurück flattern. Genervt lief sie dem Zettel hinterher, weil sie nicht wollte, dass man ihr illegale Müllentsorgung hinterhersagte. Nach ein paar Anläufen hatte sie ihn wieder eingefangen und knüllte wütend die Papiere in ihrer Hand zusammen. Jetzt wurde es aber wirklich Zeit, dass sie endlich zu ihrem Termin kam!
Sie stopfte diese in den Mülleimer und machte sich wieder auf den Weg zum Mitarbeiterparkplatz ganz hinten, wo ihr Auto stand, als in ihrem direkten Sichtfeld mit einem lauten, tief grollendem Motorengeräusch ein großer SUV gestartet wurde. Scharlie warf einen Blick auf den Fahrer und erstarrte. Mit einem breiten Grinsen blickte sie von dort Alexander Brockmann an und klatschte süffisant grinsend dabei langsam in seine Hände, wie um ihr Applaus zukommen zu lassen, dass sie endlich ihren Schlüssel gefunden hatte. Na super! Da hatte sie sich also gerade so richtig vor ihm zum Affen gemacht und er hatte die ganze Vorstellung lachend aus seinem Auto heraus verfolgt. Am liebsten hätte sie ihm jetzt den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt, aber sie konnte sich gerade noch beherrschen und eilte einfach mit grimmigem Blick zu ihrem Auto, als ob nichts gewesen wäre.
Während der Fahrt durch den proppenvollen Feierabendverkehr ärgerte sie sich über diesen aufgeblasenen Typen und auch über sich selber, dass sie sich heute Nachmittag zu so einer unvorsichtigen Aussage hatte hinreißen lassen.
Nach kurzer Fahrt fand sie dann aber sogar einigermaßen dicht zur neuen Wohnung einen Parkplatz in der Straße und stellte ihr Auto dort ab. Die Mikrowellenschüssel, die Mineralwasserflache und den Regenschirm nahm sie erstmal aus ihrer Tasche raus und legte diese auf den Beifahrersitz. Jetzt hatte sie nur noch das Wesentliche in der Handtasche und konnte nicht wieder in die Verlegenheit kommen, dass sie sich vor jemandem blamierte, weil wie wieder irgendwas nicht fand oder erst ihren halben Hausstand ausräumen musste.
Sie machte sich eilig auf den kurzen Fußweg zum Eingang ihres zukünftigen Wohnblocks und konnte schon von weitem erkennen, dass der Verwalter bereits da war und mit dem Handy am Ohr telefonierte. Als sie auf ihn zukam, beendete er aber das Gespräch und steckte das Gerät umgehend weg.
„Hallo Herr Duis“, begrüßte sie ihn und gab ihm die Hand.
„Guten Tag Frau Scharling. Scharling war doch richtig, oder?“ fragte er mehr sich selber und warf einen Blick in die Akte, die er in der Hand hielt. „Kommen Sie mit. Ich habe nicht viel Zeit, aber es geht ja heute auch nur um die Schlüsselübergabe.“ Er schloss nebenbei schon die Haustür auf und ging immer zwei Stufen auf einmal nehmend voran in den ersten Stock.
Das Treppenhaus war unscheinbar im unteren Bereich in einem grün-grauen Farbton gestrichen, im oberen Teil in cremefarben. Die hellgrau gemusterten Treppenstufen waren grundsätzlich sauber gewischt, aber in den Ecken waren Schmutzreste sichtbar, weil keiner in einem Mietshaus so hundertprozentig genau putzte.
„Es ist verboten Fahrräder, Kinderwagen, Dreiräder, Bobbycars und was auch immer im Hausflur abzustellen. Auch Schuhe haben vor der Haustür nichts zu suchen und schon gar keine Schuhschränke oder sowas ähnliches“, ratterte der Verwalter runter und schloss mit einem weiteren Schlüssel die Haustür zu ihrer neuen Wohnung auf. „Einmal pro Monat sind Sie mit der Treppenhausreinigung dran. Dafür sprechen Sie sich aber mit den Nachbarn auf ihrer Etage ab, welche Woche Sie zu übernehmen haben.“
Auf jeder Etage waren vier Eingänge vorhanden. Vor den übrigen Wohnungstüren im ersten Stock lagen Fußmatten, auf einer Tür geradezu prangte ein buntes Schild: Hier hausen Philipp, Corinna, Marlene und Tilda. Neben der bunten Fußmatte lagen mindestens vier oder fünf Paar wild durcheinandergeworfene Kinderschuhe, die der Verwalter mit einem bösen Blick bedachte. Scharlie atmete tief aus und wartete ab, dass er die Haustür aufschloss.
Sie betraten zusammen einen recht geräumigen Wohnungsflur, von dem die Küche und das Wohnzimmer abgingen.
„Hier ist allerdings gerade keine Lampe angebracht“, teilte Herr Duis ihr mit und machte dafür das Licht in der Küche an, deren Lichtschein den Flur zum Teil mit erleuchtete.
Die Luft in der Wohnung war abgestanden und roch irgendwie nach alten Leuten. Das war auch nicht so verwunderlich, weil hier bis vor kurzem eine alte Dame gewohnt hatte, die jetzt aber in ein Seniorenheim umgezogen war, weil sie nicht mehr alleine wohnen konnte. Scharlie atmete ergeben aus und folgte dem Verwalter in die Küche mit der hässlichen Küchenzeile. Bis darauf, dass eine Wand neu gestrichen worden war, wo ein kleiner Esstisch für zwei Personen gestanden hatte, hatte sich hier nichts verändert, als sie die Wohnung vor ein paar Wochen zum ersten Mal angeschaut hatte. Herr Duis ließ einmal kaltes und warmes Wasser laufen und prüfte, ob beides funktionierte. Ebenso schaltete er den Herd und den Backofen an und überprüfte, ob auch hier alles in Ordnung war. Im Anschluss öffnete er jede Küchenschranktür und schloss diese wieder. Dieses vermerkte er in seiner Akte und blicke Scharlie fragend an. „Ich hätte hier jetzt nichts dran auszusetzen. Sehen Sie das genauso?“
Scharlie blickte sich um und nickte dann langsam. „Bis darauf, dass die Küche an sich nicht wirklich hübsch ist, habe ich nichts auszusetzen. Aber das hatten wir ja schon bei der Besichtigung besprochen.“
„Es ist alles funktionsfähig und sauber. Der Backofen ist nur wenig benutzt, die Schranktüren sind alle von unserem Team gerichtet worden. Es gibt keinen Grund diese Küche gegen eine neue auszutauschen“, überging er ihren Einwand und drängelte sich an ihr vorbei ins Wohnzimmer.
Wieder folgte sie ihm und guckte sich auch hier um. Er überprüfte derweil schon die Funktionsfähigkeit der Fenster und Balkontür und steckte einmal den Kopf auf den Balkon.
„Sehr schön, hier ist auch alles in Ordnung.“
Schon war er weiter ins Schlafzimmer gewuselt, blickte sich um und überprüfte wieder das Öffnen und Schließen des Fensters. Vom Schlafzimmer ging auch noch ein weiteres kleines Zimmer ab, welches aber bestenfalls sieben Quadratmeter groß war. Man konnte es als kleines Kinderzimmer oder auch als Ankleidezimmer nutzen, aber Scharlie würde hier einfach versuchen ihre Mengen von Sachen unterzubringen, die sie alle hatte.
„Teppichboden wollten Sie sich ja selber neu reinlegen. Sie können die Rechnung bei mir einreichen. Den Preis von zwölf Euro pro Quadratmeter würden wir Ihnen erstatten. Wenn Sie mehr ausgeben, geht das natürlich zu Ihren eigenen Kosten“, dozierte er weiter und war schon auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, um von dort durch einen weiteren kleinen Flur in das winzige Bad zu gehen.
Der kleine Vorflur machte irgendwie so gar keinen Sinn, weil er nur knapp eine Grundfläche von zwei Quadratmetern aufwies und durch eine weitere Tür dann ins Bad führte, welches die zwei Quadratmeter mehr an Fläche gut hätte gebrauchen können. Vermutlich war hier früher mal die Tür zum Schlafzimmer von abgegangen, aber dieses war mittlerweile vom Wohnzimmer aus zu betreten, wodurch sich im Schlafzimmer eine bessere Möglichkeit ergab, einen langen Kleiderschrank an eine Wand zu stellen. Mit dem vorherigen Zugang mittig in der Wand, wäre bestenfalls ein Kleiderschrank von zwei Metern Breite möglich gewesen.
Das Bad war wirklich der triste Höhepunkt in der ganzen Wohnung. Graue quadratische Fliesen bedeckten den Boden, die Wände waren mit weißen Fliesen mit einem grauen Sprenkelmuster bis komplett unter die Decke gefliest. Geradezu stand eine alte, glanzlose Badewanne, an deren Boden sich ein grünlicher Wasserstreifen in Richtung Abfluss zog. Das die Badewanne umgebende Silikon war an mehreren Stellen schwarz und spakig und unterstrich den tristen Eindruck dadurch noch deutlich.
„Ah, das Silikon sollte eigentlich noch erneuert werden, aber unser Klempner hatte noch keine Zeit dafür. Aber ich habe das noch auf meiner Liste und werde Ihnen Bescheid geben, wenn der Zeit dafür hat. Vielleicht klappt das ja noch, bevor Sie einziehen. Ansonsten eben später. Aber das ist ja auch nur eine Kleinigkeit und schnell gemacht.“
Wieder notierte Herr Duis etwas in seiner Akte und prüfte weiter die Wasserhähne und die Toilettenspülung. Hierbei handelte es sich um ein Standtoilettenbecken mit deutlich sichtbaren Wasserrändern im Inneren. Scharlie stöhnte innerlich auf und überlegte schon, wie sie dieser langjährigen Verschmutzung wohl zu Leibe rücken könnte. Als erstes würde sie auf jeden Fall in einen neuen Toilettensitz investieren!
Auch das Waschbecken war ein einfaches, schmuckloses Becken, dessen Oberfläche an einigen Stellen von der langen Benutzung schon leicht matt geworden war. Darüber hing ein alter Alibert-Spiegelschrank, wie er früher zu ihrer Kinderzeit bei ihrer Oma im Bad gehangen hatte.
„Darf ich den Schrank eigentlich gegen einen neuen austauschen oder legen Sie Wert darauf, dass genau dieses Modell hier immer noch drin hängt, wenn ich mal wieder ausziehe?“ fragte Scharlie, weil sie in diesem minikleinen Schränkchen nicht mal die Hälfte ihrer Sachen unterbringen können würde.
„Wenn Sie das neue Modell ohne Abstand zu verlangen hier drin lassen und das Möbelstück von einer entsprechenden Qualität ist, so dass man es dem Nachmieter zumuten kann, ist das in Ordnung.“
Ihr blieb bei so viel Unverfrorenheit glatt der Mund offenstehen. Das meinte der doch wohl nicht ernst, oder? Na egal. Sie würde es zur Not drauf ankommen lassen und sich auch beim Auszug mit ihm anlegen. Alternativ konnte sie dieses hässliche Alibert-Ding auch in den Keller stellen und beim Auszug wieder hinhängen.
Herr Duis atmete schwer ein und aus und blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen über den Rand seiner Brille an. „Sie sind mir ja auch gut. Reden schon von Auszug bevor Sie eingezogen sind! Solche Mieter liebe ich ja. Machen meistens nur Ärger!“
Scharlie verkniff sich einen bissigen Kommentar, weil sie sich nicht mit noch jemandem am heutigen Tag anlegen wollte. „Nein, das haben Sie falsch verstanden. Ich will nicht gleich wieder ausziehen. Es war nur eine Frage, weil mir der hier hängende Spiegelschrank zu klein ist und ich über ein größeres Modell nachdenke“, insistierte sie und kniff sich ein Lächeln ab, was ihn hoffentlich milde stimmte.
„Na gut“, brummte er. „Dann haben wir es jetzt soweit. Ich habe alles protokolliert. Ist Ihnen jetzt noch was aufgefallen, was Sie noch hier niedergeschrieben haben wollen? Ansonsten würde ich vorschlagen, dass wir das Protokoll in der Küche unterschreiben und dann noch einmal unten im Keller vorbeischauen, wenn wir rausgehen.“
Scharlie nickte und folgte ihm wieder wie ein Hündchen in die Küche. Dort setzte sie ihre Unterschrift unter das Übergabeprotokoll und nahm ihre Schlüssel in Empfang.
„Aber warum hast du denn nicht lieber die Wohnung in dem Neubau genommen?“ fragte ihre Freundin Sabrina, als sie Freitagabend kurz miteinander telefonierten, um die Planung für den morgigen Abend abzuschließen. Gerade hatte Scharlie ihr eine genaue Schilderung von der Wohnungsübergabe vorhin gegeben und dabei natürlich auch von der Küche und dem hässlichen, kleinen Bad berichtet.
„Weil die hundertvierzig Euro Kaltmiete mehr gekostet hätte als die Wohnung jetzt. Und da ich in Zukunft den Gürtel deutlich enger schnallen muss, muss ich erstmal gucken, wie ich mit meinem Geld so hinkomme. Seit September ist jetzt schon das Kindergeld für Colin weggefallen und ab diesem Monat zahlt Lennox auch nix mehr. Ich habe den November jetzt die Mieten für beide Wohnungen zu stemmen und dann muss ich mal gucken, wie ich ohne seinen Zuschuss zurechtkomme. Dabei fällt mir ein, dass ich Lennie unbedingt nochmal festnageln muss, wann er endlich die Sachen aus seinem Zimmer rausholt. Ich habe zukünftig keinen Platz mehr für seinen ganzen Scheiß, den er immer noch in der Wohnung hat.“
„Na ja, so lange er immer noch gezahlt hat, war es dir ja wahrscheinlich egal, dass er eins der Zimmer mit seinen Klamotten belegt hat. Aber ihr wohnt doch schon seit bestimmt vier Jahren nicht mehr zusammen. Braucht er die Sachen denn überhaupt noch? Wenn er sie so lange nicht mehr benötigt hat, kann man sie doch auch einfach entsorgen, oder?“ fragte Sabrina pragmatisch.
„Sehe ich grundsätzlich auch so, aber das sind zum Beispiel seine alten Platten und sowas alles. Alles so Dinge, die man zwar nicht mehr braucht, von denen man sich aber auch nicht trennen will“, erklärte Scharlie.
„Ok, verstehe. Und du willst jetzt morgen in der neuen Wohnung streichen?“
„Ja. Ich will keinesfalls nur weiße Wände in der Wohnung haben. Ich fahre morgen Vormittag als erstes in einen Baumarkt und werde mich mit Farbe und Pinseln und sowas eindecken. Und dann leg ich dort los. Und außerdem muss ich die Küche und das Bad nochmal einer Grunddesinfektion unterziehen. Das war zwar alles auf den ersten Blick sauber, aber alleine der Geruch beim Betreten der Wohnung lässt mich echt erschaudern. Aber wenn erstmal neuer Teppich darin verlegt ist und meine Möbel eingezogen sind, wird sich das bestimmt geben.“
„Das denke ich auch. Dann wünsche ich dir viel Spaß und freue mich auf unser Treffen morgen Abend. Wir treffen uns um neunzehn Uhr bei mir und laufen dann gemeinsam zu dem neuen syrischen Restaurant. Ich würde an deiner Stelle nicht ganz so hohe Schuhe anziehen, denn das ist doch eine ganze Ecke zu Fuß von mir.“
„Ok, was heißt das? Zehn Minuten oder länger?“
„Damit kommst du nicht aus! Bestimmt fünfzehn oder zwanzig Minuten. Bis zur Grundschule läuft man ja schon zwölf Minuten und das ist nochmal eine ganze Ecke dahinter.“