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Amoklauf am Bahnhof Basel SBB. Mit einem Samuraischwert wird ein Mann getötet. Der Täter verschanzt sich mit einer Geisel im Bahnhofsbistro. Kommissar Baumer ist sofort am Tatort und versucht, die gefährliche Situation zu deeskalieren. Zwar kann der Amoklauf gestoppt werden, aber es gibt einen weiteren Toten. Baumer glaubt nicht an einen willkürlichen Gewaltausbruch mit zufälligen Opfern. Gegen alle Widerstände macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit hinter den Bistromorden. Hilfe bekommt er von Wachtmeister Heinzmann, Gerichtmediziner Reggazoni und Zeitungsreporter Danner - ein außergewöhnliches Team.
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Seitenzahl: 308
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Roger Aeschbacher
Kommt Schnee
Basel Krimi
Prolibris Verlag
Alle Figuren dieses Romans sind vom Autor frei erfunden. Jegliche auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit realen Personen – lebenden oder toten – wären reiner Zufall. Die beschriebenen Schauplätze, Gebäude und Institutionen existieren. Alle dort stattfindenden Handlungen sind hingegen frei erfunden. Der Autor hat sich zudem die Freiheit genommen, die Beschreibung einiger Prozeduren den erzählerischen Erfordernissen der Geschichte unterzuordnen.
1
Baumer wohnte hinter dem Bahnhof Basel im Gundeldingerquartier. Dort, wo man immer Züge hört. Am Tag rumpeln die Personenzüge. Am Abend quietschen die Bremsen der Bummler. In der Nacht rattern die Güterzüge. Kies aus der Schweiz. Autos für Polen. Tote Hähnchen von Frankreich nach Italien. Noch später schleicht sich der Zug nach Amsterdam von Perron 9. Gegen Morgen erneut Lärm der Rangierarbeiter, welche die Kompositionen für den Tag zusammenstellen.
Baumer störten die unablässigen Geräusche nicht. Die Kakophonie aus metallischem Lärm gab Baumer Sicherheit. Er schloss daraus, dass es irgendwo dahinter ursächlich noch sinnvolle menschliche Aktivitäten geben müsse. Das Gerumpel war für ihn Sicherheit, dass die Außenwelt noch existierte.
Baumer war Polizist, und Freizeit gab es für ihn nie. Immer konnte ihn ein Telefonanruf erreichen. Sechs Uhr morgens. Zwei Uhr nachts. Vier Uhr neunundvierzig. Es machte keinen Unterschied.
Als Kommissar war er ein einsamer Mensch geworden. Vielleicht war er es ja auch schon immer gewesen. Sein Beruf war auf jeden Fall kein weiches Bett für einen gemütlichen Schlaf. Oft wusste Baumer gar nicht, wie spät es war, wenn er nach einer anstrengenden Schicht bei sich zu Hause einkehrte. Er kannte nur eine Einteilung in Tag und Nacht. Schwarz und Weiß. Leben und Tod.
Wenn ihm einer gesagt hätte, dass er heute einen brutalen Mord an einem jungen Menschen hautnah miterleben würde, ohne ihn verhindern zu können, er hätte es nicht geglaubt.
Wie hätte er es auch erahnen können? Dieser Tag begann für ihn wie jeder andere. Er war bei Bewusstsein und funktionierte doch nur wie ein Automat. Als Musik lief im Hintergrund der Lärm vom Bahnhof. Das Knirschen der Radgestelle auf den Schienen. Das Stampfen der deutschen Diesellok. Das manchmal langsame, manchmal explosionsartige Entweichen der Pressluft der Zugbremsen.
Heute war Baumer früher als üblich wachgeworden. Zuerst konnte er die wenigen Geräusche, die dumpf und zackig zugleich durch sein geschlossenes Fenster hereindrangen, nicht mit einer Uhrzeit in Verbindung bringen. Erst als in kurzer Folge drei überlange Züge vom westlichen Rangierfeld her einfuhren, wusste er, dass die großen Pendlerzüge nach Bern, Zürich und Genf bereitgestellt wurden. Doppelstockwagen. Das geschah immer kurz vor sechs. Wenn dann der erste dieser Züge mit müden Menschen gefüllt war, von denen viele schon in den Sitzen eingenickt waren, und der Pfiff des Zugleiters zur Abfahrt ertönte, wusste Baumer, wie spät es war.
6 Uhr 01.
Basel – Bern.
So war es auch diesen Morgen. Baumer hatte sich noch im Halbschlaf im Bett aufgerichtet. Nun kratzte er sich den Kopf, lange und ausführlich. Seine Hand fuhr vor und zurück, wie die Kolbenstange einer alten Dampflok. Pschii-Chrrr, Pschii-Chrrr, schliffen seine Fingernägel über die Haut. Die kurz geschorenen dunklen Haare prickelten in den Fingerspitzen. Baumer war schlaftrunken und nickte aufrechtsitzend wieder ein. Ein scharfer Pfiff weckte ihn. Es war das Signal einer feuerroten Rangierlok, die einem ebenfalls noch sehr müden Rangierarbeiter ein Warnzeichen gegeben hatte.
Wenig später hatte Baumer geduscht. Mechanisch, wie jeden Morgen. Zuerst hatte er die Brust eingeschäumt. Dann die Haare. Den Schwanz. Die Beine. Die Brust. Den Rücken. Mit dem rhythmischen Hin und Her, mit der Harmonie dieser Bewegungen wiegte er sich unabsichtlich wieder in einen halben Schlaf.
Baumer zwang sich, den Wasserhahn für Kaltwasser stärker aufzudrehen. Er hielt die aufkommende Kälte nur kurz aus. Es machte nicht wach, schmerzte nur. Also stoppte er den Wasserstrahl, packte ein Tuch, rieb sich trocken. Dann kleidete er sich ein mit dem, was halt so da war an Hose, Hemd und Jacke.
Mit dem Duschen war ein erster Hunger gekommen. Früher hatte er morgens immer in den Kühlschrank geschaut, ob etwas Essbares darin war. Ein Joghurt vielleicht? Käse? Es war selten etwas da. Und wenn, dann war es eingetrocknet oder verschimmelt.
Abgelaufen.
Also hatte er aufgehört hineinzuschauen. Also würde sein Frühstück auch heute aus ein oder zwei Croissants und ungezuckertem Kaffee bestehen, die er meist im ilcaffè zu sich nahm. Also verließ er seine Wohnung, die mehr Schlafhöhle denn Heim geworden war, ohne einen Blick darauf zu verschwenden, ob alles in Ordnung war.
*
Kommissar Baumer trat auf den Bürgersteig vor seinem Haus und stand beidfüßig hin. Er war mit einer seiner üblichen Jeans von Lee bekleidet. Selbst bei seinen 46 Jahren spannte sie seine Oberschenkel, obwohl sie ihm im Bund sogar noch eine Nummer zu groß war.
Baumer war früher ein sportlicher Mann und sah auch jetzt noch mit seiner Größe von 1 Meter 80 stattlich aus. Er hatte für den RTV Basel und die Basler Handballauswahl gespielt. Torhüter. Seine mächtigen Oberschenkel waren ein Überbleibsel aus der Zeit als Aktiver. Auch sein Oberkörper war immer noch ziemlich muskulös. Seine Jacke schien eine Nummer zu klein gekauft worden zu sein, und obwohl sie in XL geschneidert war, zwickte sie Baumer unter den Achseln. Beim Hemd war Baumer hingegen sehr wählerisch. Er besaß nur exquisite Männerhemden aus feinster Baumwolle. Baumer trug sie nie lose über die Hüften, sondern stopfte die Schöße akkurat in den Bund der Hose. Ein breiter schwarzer Ledergürtel schien alles zusammenzuhalten, aber er war gar nicht nötig, sondern bloßer Schmuck. Auch Baumers Gesäßmuskulatur war immer noch athletisch ausgeformt und würde noch lange genügen, um den Fall einer Hose zu stoppen.
Trotzdem war Baumer, wie mit so vielem, auch mit seiner Figur unzufrieden. In letzter Zeit hatte er sein kleines Bäuchlein immer wieder ertappt, wie es ihn zum Narren machte. Baumer musste – öfter als ihm lieb war – das aus der Hose gerutschte Hemd zurück in den Bund streichen. Er schämte sich dabei ein wenig, mehr noch, es erzürnte ihn, dass es ein Memento Mori war. Auch sein Körper würde langsam, dann immer schneller verfallen. Bald würde er auch körperlich gebückt durch Basel gehen. Meist hörte er aber zugleich eine innere Stimme, die ihm sagte: »Das ist doch nicht schlimm, Andi. Ich habe dein Bäuchlein gern.« Das beruhigte ihn ein wenig.
Andreas Baumer blickte in den grau verwaschenen Himmel, der gleichmäßig flach dastand wie eine hohe Betonwand. Seine Jacke hatte er über die Schulter geworfen und hielt sie nur mit dem Zeigefinger am Hänger. Seine mahagonifarbenen Haare sahen aus, als wäre die Farbe darin ausgewaschen worden, dabei waren es nur die weißen Haare, die sich in immer größerer Anzahl in seinem Haar einnisteten. Einen Hut oder eine Mütze trug Baumer selten. Wenn es regnete, platschten die Tropfen eben auf seinen nackten Kopf.
Baumer hob seine Nase in die Luft, wollte schnuppern. Es war eine Nase, die zu seinem Körper passte. Es war eine Schweizer Nase. Sie war weder besonders rund oder krumm, noch grobschlächtig, auch kein Haken. Sie war zusammengesetzt aus allerlei Zutaten und war doch eine ganz unauffällige Nase. Einzig, vielleicht wie alles an Baumer, war sie ein klein wenig knorriger als der Durchschnitt aller Nasen dieser Welt. Auch seine Augen waren eine Melange verschiedener Merkmale. In seinem Pass stand bei der Farbe der Augen: grün-braun-grau.
»Kommt Schnee«, hörte der athletische Mann hinter sich eine sanfte, aber stakkatohafte Stimme. »Kommt Schnee.«
Die Stimme gehörte Franz Heberlein, dem autistischen Mieter aus dem 3. Stock des Hauses an der Hochstraße, in dem auch Baumer wohnte. Obwohl Heberlein mit seinen 44 Jahren fast gleichen Alters wie Baumer war, hatte er eine knabenhafte Statur. Ein Eindruck, der durch seine schmalen Schultern nur noch verstärkt wurde. Seine flache und in der Mitte eingefallene Brust hätte die eines 12-Jährigen sein können. Seine dürren Beine unterstrichen den Eindruck der kindlichen Unschuld, obwohl solche Beine auch einem Greis hätten gehören können.
»Kommt Schnee«, plapperte Heberlein erneut. Wie immer, wenn er mit Baumer oder irgendeinem anderen Menschen sprach, schien es nur so, als ob er eine Konversation führen wollte. In Wahrheit hatte er ganz zu sich selbst geredet.
Baumer drehte seinen Oberkörper behäbig, schaute auf den behinderten Heberlein hinunter, sagte nichts, beobachtete nur, wie dieser Schneeriecher auf zerbrechlichen Beinen an ihm vorbeiwackelte. Sein Gang erinnerte an die Gehversuche eines kleinen Kindes. Baumer schaute ihm nach. Vielleicht hätte er etwas antworten sollen, machte sich der Kommissar Gedanken. Einen Satz entgegnen wie, »Ja, Gottverdammt. Scheiß Schnee«. Vielleicht hätte auch »Ja, Schnee« genügt. Doch Baumer war kein Plauderer. Er redete nicht mit Leuten, wenn er nicht musste.
Baumer war Polizist. Ein »Schugger«, wie sie diesen Berufsstand in Basel verächtlich rufen. Er sprach nie viel, beobachtete umso mehr. Wenn er sich ein »Ja« oder nur schon ein »Hhmm« verklemmen konnte, tat er es. Er schluckte solche Wörter hinunter wie die Baselbieter Bauern Kirschsteine manchmal nicht ausspucken, sondern in den Magen versenken. Dort liegen sie viele Tage und plagen den Besitzer.
Baumer schaute seinem ganz auf sich bezogenen Nachbarn immer noch nach. Der war wie von unsichtbarer Hand geführt in Richtung des Einkaufszentrums Migros losgegangen. Heberleins Gang war krude, aber doch flüssig. Er bewegte die Beine so, als ob ein Puppenspieler sie an Fäden hielte. Heberlein setzte Füßchen um Füßchen vor sich und schien diese Bewegung doch nicht kontrollieren zu können. Den Kopf hielt er erstaunlich gerade, als wäre er wie eine Marionette an einem einzigen tragenden Faden aufgehängt. Die Augen des Autisten flogen jedoch mit jedem Schritt rhythmisch hin und her wie der Reisigbesen eines munteren Straßenwischers.
Bekleidet war Heberlein mit einem roten Regenmantel der Größe S, der wie der Lippenstift von Irma, der Bardame vom Pussycat, glänzte. Trotz der kleinen Konfektionsgröße war fast sein ganzer Körper darin verschluckt. Die Hände des kleinwüchsigen Mannes waren in den Ärmeln versteckt, nur die Fingerspitzen staken eng aneinandergepresst heraus. Sie erinnerten an Primeln, wenn sie im Frühling aus dem Boden drücken. Heberleins Kopf steckte unter der Kapuze des Regenmantels, die er um das Gesicht zusammengezogen hatte, sodass selbst Wangen und Kinn verborgen waren. Nur für Augen, Mund und Nase war eine runde Öffnung geblieben. Heberlein erinnerte an einen Magaziner von der Basler chemischen Industrie, der während eines Regengusses auf den Hof geschickt wird, um dort gelagerte Fässer zu kontrollieren.
Gleichmäßig spazierte der Autist Richtung Migrosladen. Egal ob ein Fahrradfahrer ihm vor der Nase vorbeifuhr oder gar ein Auto ihn kreuzte. Nichts konnte ihn bremsen. Heberlein hatte ein Ziel und wurde wie von einer unsichtbaren Gummischnur dorthin gezogen, ebenso wie ein Magaziner von der Novartis ständig die ferne Pensionierung vor Augen hat.
Baumer dachte: »So ein Kind. Der wird noch einmal umgefahren.«
Der Kommissar dachte das immer, wenn er Heberlein sah. Manchmal wollte er eingreifen, wollte den Mann vor sich selbst schützen. Immer aber ließ er es bleiben. Wozu diesem seinen eigenen Willen aufzwingen? »Viel hat der ja nicht«, dachte Baumer und erschrak, weil er merkte, dass das ja auch auf ihn selbst zutraf.
Um sich vor Vorwürfen zu schützen, redete er sich schnell ein, dass es sowieso nichts genützt hätte, mit einem Autisten ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen. Seit das Quartier eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung – Tempo 30 – erhalten hatte, war Baumers Gewissen ein wenig beruhigt. »So hat er vielleicht noch eine Chance, wenn ihn einer umfährt«, dachte er.
Heberlein war wie ein Soldat beim Exerzieren um die Ecke gebogen und aus dem Blickfeld Baumers verschwunden. Baumer sah auf seine Füße. Diese waren unglaublich groß. Umso mehr fielen sie bei diesem, nur leicht übergewichtigen, Standardkörper auf. Wenn man ihn persönlich angreifen wollte und nichts Dümmeres fand, konnte man sich immer über seine Füße lustig machen. Sie waren immer sichtbar und sie waren immer viel zu lang. Manchen Spott hatte er deswegen schon ertragen müssen. Wie kürzlich, als er den neuen Rekruten eine Vorlesung über Detektivarbeit hatte halten müssen. Den pausbäckigen Sportlertypen, die voll im Saft standen und das bei jeder Gelegenheit und meist obszön zeigten, schien Baumer wie von einer anderen Welt.
Ein hohlwangiger Rekrut schien Baumers Ausführungen besonders abgeneigt gewesen zu sein. In der Pause hatte er den Spaßvogel für seine Kameraden gemacht. »Gute Detektive haben eine große Nase. Pflaumer hat nur große Füße.«
»Ha, ha, ha, ha«, hatte es vielstimmig zurückgeschallt.
Baumer kannte solche Lachsalven. Sie hagelten auf ihn ein wie Gewehrschüsse. Kaum waren die Schüsse abgefeuert, reckten die Schützen ihre Köpfe über die Läufe ihrer Sturmgewehre, wie sie dies auch beim Eidgenössischen Feldschießen tun, und schauten penetrant hin, ob sie das Ziel auch getroffen hatten. Baumer schaute auch. Sah diejenigen, die sich kaum halten konnten vor Lachen. Sah auch denjenigen, der am wenigsten lachte. Das war immer der, welcher den Witz erzählt hatte. Der Obergauner. Während die anderen sich schüttelten, stand dieser aufrecht und hatte ein leises, aber zynisches Lächeln um die Mundwinkel. Das ätzte Baumers Seele wie chloriges Gift.
Baumer hatte diese Gesellschaftsspiele nie mitgemacht. Er war kein Mundwerker. Er war Handwerker. Ein Polizist und ein guter Detektiv. Das war er nicht, weil er besonders schlau gewesen wäre und über die besondere Gabe des intelligenten Kombinierens verfügt hätte. Er war es auch nicht, weil er besonders aggressiv mit seinen »Kunden« umgegangen wäre und sie für ein Geständnis geschüttelt hätte, wie ein Bauer einen Zwetschgenbaum, um an die feinen Früchte zu kommen. Baumer machte einfach seine Arbeit. Das war heutzutage nicht mehr selbstverständlich. Im Vergleich zu einigen der anderen Polizeibeamten eckte Baumer daher zwangsläufig mehr an, als diese. Baumer war das egal. Es kümmerte ihn nicht, was seine Vorgesetzten und Kollegen von ihm dachten. Er machte seinen Job, weil er nicht viel anderes hatte und daher nicht anders konnte. Sein Job gab ihm Sicherheit, nicht nachdenken zu müssen über sich und die Welt. Er füllte die Leere. Wenn dann ein verknorzter Fall anstand und man ihm das Dossier auf den Tisch schob, suchte er nie nach einem anderen Dummen. Er nahm das Dossier und begann seine Untersuchungen. So ging es einfacher mit dem Vergessen.
Nicht selten meinten seine Kunden dann, dass er ein besonders schlauer und harter Hund sei. Sie dachten das, weil Baumer wenig mit ihnen sprach oder nur das Allernotwendigste. So schlossen sie, dass er wohl schon alles wisse. Weil Baumer schwieg, sprachen sie umso mehr, weil sie es nicht aushielten, wenn ihnen einer für einmal keine Vorwürfe machte. Darum hatte Baumer mehr Erfolg als die anderen Detektive, die ihre Kunden grob anfassten oder gleich richtig holzten. Darum holte man ihn, wenn ein Kunde gar nicht mehr reden wollte, weil ihm ein Großmaul in Uniform den wurstigen Finger auf die Brust gedrückt hatte, oder ins Gesicht. Dann war Baumer recht. Er bekam die vergeigten Fälle, die Schlamassel, weil er seine Arbeit machte und die ihm wichtiger war als die Karriere. Aber mit jedem Fall, den er löste, obwohl er seine Hände in den Hosentaschen behielt und nicht sprach, wie die Cops in Hollywood sprechen, wuchs die Eifersucht der Beamten auf diesen Kommissar. Damit kam die Wut auf ihn. Schließlich hassten sie ihn nur noch.
Andreas Baumer stand vor seiner Wohnung auf dem Gehsteig und schaute noch immer auf seine Füße. Wie groß sie waren. Gern hätte er sie gegen eine Hakennase getauscht. Er hätte auch abstehende Ohren akzeptiert, wenn er nur diese Füße losgewesen wäre. Das Einzige, was Linderung gebracht hätte, wäre der richtige Stammbaum gewesen. Aber weil er aus einer armen Gebärmutter gekrochen war, gab es kein Zurück. Seine Füße würde er, genau wie seinen kleinen Namen, nicht mehr los. Vielleicht waren sie sogar als Entschädigung für den zu geringen Namen gedacht gewesen.
Die graue Wand riss einen Spaltbreit auf. Licht brach durch, nur wenig heller als das Betongrau. Es war, als sähe man das Licht einer Leselampe durch ein ungewaschenes Duvet hindurch.
Es wurde Zeit. Baumer musste los. Musste einen Fuß vor den anderen setzen. Wie Heberlein. Baumer spürte die Kälte der Nacht an seinem ganzen Körper. Es war bereits tiefer Winter. Ob wohl erneut Schnee kam? Endlich zog er seine Jacke zu. Baumer schnalzte verächtlich mit der Zunge. Es war unausweichlich. Er musste den linken Fuß vor den rechten setzen, dann den rechten vor den linken. Tat es und sagte »Gottverdammt.«
*
Baumer ging zu Fuß in die Innenstadt. Er brauchte diese zwanzig Minuten, die der Gang zu seinem Büro benötigte, um richtig wach zu werden. In dieser Zeit ließ er immer seine Gedanken treiben. Wenn er an einem Fall arbeitete, hatten sich die gesammelten Fakten über Nacht in seinem Hirn angeordnet, wie die Pinselstriche auf einem Bild von Monet, und man konnte ein Motiv erahnen.
Meist verflüchtigten sich diese Bilder aber auf dem Weg von seinem Heim bis in den Spiegelhof, wo sein Büro war. Dann blieb der Fall vorerst ungelöst.
Manchmal verdichteten sich die Bilder aber zu einer Geschichte. Mit Anfang und Ende und ohne Bruch dazwischen. Mit Personen, die alle ihre Rolle und Funktion darin hatten und die untrennbar miteinander verknüpft waren.
Ein Film lief ab. Das Opfer trat auf und wurde ermordet. Der Unschuldige wurde verdächtigt und dann entlastet. Der Täter erschien, wand sich und wurde doch irgendwann festgenagelt. Wenn das geschah, wurde der Kommissar gelassen und unruhig zugleich. Er wusste, dass er nur noch den Namen des Täters in ein Dialogfeld am Computer eingeben und die Enter-Taste drücken musste. Dann hatte er den Staatsapparat in Bewegung gesetzt und der Täter wurde von der Meute wie ein Tier gejagt. Das gab Baumer Genugtuung.
Genugtuung.
Mit dem Erfolg begann aber zugleich eine neue Unruhe zu keimen. Baumer nahm dann, zuerst nur unbewusst, wahr, wie sich eine frische Unbehaglichkeit in seinem Bauch einzunisten begann. Sie würde sich zu einem chronischen Schmerz auswachsen, der sich über Wochen verstärken würde.
Es war das Unwohlsein dessen, der keinen Sinn und Zweck in seinem Dasein sieht. Eine krebsige Krankheit, die mit jedem Tag fortschreitet, an dem kein neuer Mord geschieht. Gegen diese Krankheit gibt es kein Heilmittel. Sie würde erst verschwinden, wenn er einen neuen Telefonanruf bekäme, in dem ihm sein Chef sagen würde: »Baumer. Wo stecken Sie? So ein Scheiß Mist. Verdammt. Haben Sie schon gehört?«
Dann war das Leben wieder erträglich, weil er mit fremden Gedanken beschäftigt war. Ein solcher Anruf lag aber bereits mehrere Monate zurück. Damals hatte er den Täter ans Licht gebracht, wie der scharfe und unerbittliche Khamsin verborgene Grabplatten vom Wüstensand befreit.
Es ging um eine Leiche, die man in einer Autowerkstatt beim Hegenheimerquartier gefunden hatte. Sie lag unter einem Toyota, der offenbar von der Hebebühne gerutscht war. Der etwa 30-jährige türkische Mann im legeren Businessanzug lag dort, wie wenn er sich zum Schlafen auf den Rücken gelegt hätte. Ausgestreckt. Nicht verkrümmt. Der Brustkorb war zerquetscht. Das Heck des Autos deckte den Körper des Toten von der Brust an abwärts wie ein hastig darübergeworfener Sargdeckel zu. Die Hände waren nicht vors Gesicht geschlagen. Sie lagen am Körper des Toten an.
Baumers Kollegen waren vom Unfallhergang fasziniert gewesen und fummelten an den fünf Bügeln, mit denen man die Hebebühne in allen möglichen Dimensionen verschieben und neigen konnte.
Baumer setzte sich hingegen zum türkischen, etwa 40-jährigen Garagisten, dem die miese Bude an der Grenze zu Frankreich gehörte und der so klein war wie ein portugiesischer Bauarbeiter. Der Mann, dem pechschwarze Bartstoppeln dunkle Schatten auf die Wangen und unter sein Kinn bis unter den Adamsapfel warfen, hatte die Polizei alarmiert.
»Ist schwer zu überleben?«, hatte Baumer gesagt, als er sich zum Türken hingesetzt hatte.
»Ja. Die Geschäfte sind hart.«
»Wenig Aufträge?«, sagte Baumer beiläufig und rückte sein Gesäß im Stuhl zurecht. Interessierte er sich für die Antwort des Garagisten? Nicht wirklich. Sowieso wäre es ihm recht gewesen, wenn die Untersuchungen eine Weile dauern würden und er sich nicht mit sich selbst beschäftigen müsste. Baumer war einfach zum Garagisten gesessen, weil er darauf spekulierte, dass ihm der Mann einen echten türkischen Kaffee anbieten könnte. Dafür lohnt es sich, einen kleinen Schwatz mit einem wildfremden Menschen zu halten.
Der Türke schob den Kopf nach vorn. »Aufträge?«, wiederholte er die Frage von Baumer und hob die Augenbrauen. Dann senkte er sie wie in Zeitlupe. »Die Schweizer fahren alle teure Kisten, Mercedes und so. Die Franzosen lassen in Mulhouse flicken.«
»Keine Türken?«
»Pah, die Scheißtürken. Für Tuning geben sie das ganze Geld aus, aber dann nicht zahlen«, stieß es aus dem Geschäftsmann hervor, dessen Kleidung schon bessere Tage gesehen hatte und unter dessen Fingernägeln verölter schwarzer Dreck stak. Der Nagel des linken Daumens war komplett blauschwarz unterlaufen. Wahrscheinlich hatte er sich diesen Finger kürzlich eingeklemmt.
»Gehört euch beiden das Geschäft?«, fragte Baumer, während er den rechten Unterarm drehte und mit dem Daumen der geschlossenen Hand auf den Toten unter dem Auto wies, der bereits so kalt war wie die Kasse der Yeremi-Auto-Reparatur.
»Ja. Wir machen das seit einem Jahr zusammen.«
»Muss schwierig sein. So wenig Kunden«, sagte Baumer und wollte doch eigentlich nur einen Kaffee erbitten.
Der Garagist schaute auf den Audi A3 in der hinteren Ecke. Seine linke Tür war weiß, der restliche Wagen schwarz. Den hatte er zu flicken begonnen. Neu lackieren brauchte er ihn nicht mehr. Der Besitzer würde das Auto nicht mehr abholen, da er wegen einer Alimentengeschichte in sein Heimatland geflohen war. »Die Geschäfte gehen schlecht. Verdammt. Und die Frau zu Hause gibt das Geld mit beiden Händen aus«, sagte der eher mehr als weniger korpulente Automechaniker, dem als Geschäftsmann offenbar wenig Erfolg beschieden war.
Baumer entging nicht, dass Yeremi, als er über seine Frau herzog, nicht verhärtete. Er hatte die Brauen nicht über der Nase zusammengezogen und öffnete diese sogar eine Spur weit. Auch seine Unterlippe wurde voller, wölbte sich nach vorn und ging nach unten. Seine linke Hand öffnete sich zugleich, als wolle er zu beten beginnen.
»Ist kein Leben«, meinte Baumer. Er dachte an türkischen Kaffee. An das kleine Pfännchen, mit dem man das Pulver aufkocht.
»Nein«, antwortete Ilmaz Yeremi und schüttelte den Kopf in Zeitlupe. Auf seinen Lippen stand nun ein bitteres Lächeln.
»Wie heißt deine Frau?«
»Fatima.« Der Befragte wurde weicher. Die Bitterkeit wich der Traurigkeit.
»Und«, sagte Baumer mechanisch und wollte doch eigentlich nur wissen, ob man vielleicht einen Kaffee – oder so? Baumer schaute dem Garagisten nicht in die Augen, als er das sagte. Dann fragte er noch mal. »Keinen Ausweg gefunden?« Erneut war es mehr Feststellung als Frage. Baumer sagte auch das in milder Form. Eine Anklage war darin nicht wahrzunehmen. Er wollte den Türken nicht vor den Kopf stoßen, wollte doch nur einen Schluck richtig guten Kaffee trinken.
Der Garagist schaute ins Leere. Dann plötzlich schürzte er die Lippen und mahlte mit dem Unterkiefer, sodass seine Kiefermuskeln deutlich hervortraten.
»Nein. Ich ... ich ... es war …« Der Garagist riss am Knopf seiner schmuddeligen Krawatte, um sich mehr Luft zu verschaffen. Der Knoten war jedoch zu stark und löste sich nicht. Der ganze Oberkörper von Ilmaz Yeremi wurde von seiner eigenen Hand hin und her gezogen, als er versuchte, die Krawatte zu lockern.
Seine Stimme lag einen deutlichen Schlag höher, als er sagte: »Es war ein Unfall. Ein Streit. Ich, ich ...« Dann warf er die Hände vors Gesicht und begann, hemmungslos zu heulen. Sein Körper zuckte unkontrolliert, als gingen Stromstöße durch ihn hindurch. Bei jedem Stoß sog Ilmaz Yeremi unbändig Luft ein, als müsste er ersticken.
Baumers Kollegen standen an der Hebebühne und schauten erstaunt zu dem in sich zusammensinkenden Garagisten hinüber, der schluchzend sein ganzes Elend zu erzählen begann. Dann blickten sie Baumer tatsächlich ein wenig vorwurfsvoll an.
Aus Yeremi brach es nun hervor, wie er einen Partner gesucht hatte, der sich an seiner Firma beteiligen sollte. Wie er diesen feinen Herrn – Acar Cetin – fand, der ihm versprach, Geld einzuschießen. »Ich bringe dir viele Kunden. Vertrau mir!«, hatte ihm Cetin gesagt. Wie dieser Herr aber seine Finger nicht rührte. Wie er stattdessen mit einer Hand in die Kasse seiner Garage langte. Mit der anderen griff er an den Hintern von Fatima. Yeremi erzählte, wie er Cetin zur Rede gestellt hatte. Wie dieser ihn nur auslachte.
Verhöhnte.
Der Türke erzählte, was ihm immer wieder durch den Kopf gegangen war: »Du willst meine Frau? Du kannst mein Auto in Fresse bekommen!« Wie er das Schwein gestern Abend vor der Garage überfuhr. Niemand sah ihn in dieser verlassenen Gegend. Wie er Cetin dann unter die Hebebühne schleifte, den Toyota herunterfallen ließ.
Yeremi hatte die Geschichte zu Beginn mit brüchiger Stimme erzählt. Bei der Schilderung der Tat war sie fester geworden. Als er den Mord beschrieb, hatte er seine Hände vor die Brust gezogen. Sein Gesicht war verzerrt, seine Finger verkrampften sich. Die Sehnen spannten sich über die Knöchel und traten weiß hervor. Auf seiner linken Faust prangte der schwarze Nagel seines blutunterlaufenen Daumens.
Baumer beachtete den Mörder schon nicht mehr. Die ganze Zeit über hatte er an Kaffee gedacht. Hier war nichts mehr zu holen, nichts mehr zu tun. Dem Mann würden Handschellen angelegt, er würde in das Untersuchungsgefängnis geführt werden.
Baumer wollte aufstehen. Er stellte erstaunt fest, dass sein Körper schwer und unbeweglich war. Mühsam hob er sich auf die Füße. Seine Knochen wurden ihm bereits wieder schwere Last.
2
Baumer war in die Innenstadt gegangen. Wie fast jeden Morgen kehrte er im ilcaffè ein, eine hübsche italienische Kaffeebar, die zwischen Barfüsserplatz und Hauptpost liegt. Dort nahm er jeweils seinen ersten Kaffee.
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