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39,8 Grad in Basel! Tropische Hitze hat die Stadt und ihre Bewohner gnadenlos im Griff, als die zwölfjährige Mina auf offener Straße ermordet wird. Tief geschockt von diesem grausigen Verbrechen macht sich Kommissar Baumer auf die Jagd nach dem Mörder. War es der alte Kinderschänder, der drogensüchtige Rocker oder jemand im Umfeld der Familie? Hilfe bekommt Baumer einmal mehr von Wachtmeister Heinzmann, Zeitungsreporter Danner und Gerichtsmediziner Regazzoni. Während sein Chef nur die eigene Karriere im Sinn hat, geht das bewährte Team ein großes Risiko ein, um den Mörder schnellstmöglich zu überführen. Dabei schrecken sie auch vor einer illegalen Aktion nicht zurück.
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Seitenzahl: 355
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Roger Aeschbacher
In der Hitze der Stadt
Basel Krimi
Prolibris Verlag
Alle Figuren dieses Romans sind vom Autor frei erfunden. Jegliche auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit realen Personen – lebenden oder toten – wären reiner Zufall. Die beschriebenen Schauplätze, Gebäude und Institutionen existieren. Alle dort stattfindenden Handlungen sind hingegen frei erfunden. Der Autor hat sich zudem die Freiheit genommen, die Beschreibung einiger Prozeduren den erzählerischen Erfordernissen der Geschichte unterzuordnen.
1
Andi Baumer saß an seinem Bistrotischchen auf dem Mikrobalkon seiner Wohnung und blickte über die weiten Gleise des Bahnhofs Basel SBB. Es war nur wenige Minuten nach sieben Uhr morgens, doch längst hatte sich der Schotter der Gleisbette durch die frühe Sommersonne aufgewärmt. Die aufsteigende heiße Luft ließ die Schienenstränge wie hinter Milchglas verschwimmen. Zum Glück wirkte die kleine Abkühlung der Nacht noch nach, so dass Baumer sich lieber auf seinem kleinen Balkon aufhielt, als in seiner Wohnung. Die hatte sich in den letzten Tagen mächtig aufgeheizt, da tropische Luft aus Afrika über Basel hängen geblieben war und die Stadt gnadenlos im Griff hielt.
Baumer hatte in der Hitze der Hochsommernacht nur unruhig geschlafen, war immer wieder aufgewacht. Sein ärmelloses Unterhemd hatte er sogar wechseln müssen, so ungehörig verschwitzt war es gewesen. Am Morgen hatte sich dann auch das zweite Hemd völlig mit Schweiß vollgesaugt. Nur mit einer Turnhose bekleidet, hatte er es sich mit einem starken schwarzen Kaffee auf dem Balkon bequem gemacht.
Der Kriminalkommissar der Kantonspolizei Basel-Stadt machte die Beine lang und streckte die Zehen seiner ungewöhnlich großen Füße durch das Metallgeländer des engen Balkons. Vom Butterbrot mit Kirschmarmelade, das er sich gestrichen hatte, nahm er nur einen Bissen, legte das Brot wieder weg. Er hatte keinen Hunger. Es war schlicht zu heiß.
Baumer fuhr sich mit den Fingern durch die stoppeligen mahagonifarbenen Haare. Dann legte er die Arme auf sein kleines Bäuchlein, doch sogleich rutschten sie schwer herab. So ließ er sie eben hängen. Auch sein Kopf glitt matt nach hinten und fand erst an der Steinwand neben der Balkontür Halt. Zufrieden ließ es sich der müde 48-Jährige gefallen, dass seine noch feuchte Haut von einem kaum wahrnehmbaren Luftzug sorgsam gekühlt wurde.
Der Windhauch kam vom Schienenfeld des Bahnhofs her, das sich unter seinem Balkon ausstreckte. Es roch wegen des Abriebs von Schienen, Bremsen und Oberleitungen leicht metallisch, was bei Baumer, wie immer, wenn er diese Luft in der Nase hatte, sogleich Fernweh auslöste. Immer gab es auf Baumers Balkon mindestens diesen kleinen Luftzug. Er wurde durch die Personenzüge und Rangierloks bewegt, die zu aller Zeit ein- oder ausfuhren. Fuhr gerade kein Zug, heizten sich die blanken Schotterbette in der direkten Sonne stärker auf als die umliegenden Gebäude. Dann stieg die erhitzte Luft flirrend hoch, sog neue, kühlere nach. Auch jetzt kam der Windhauch einzig von nachströmender Luft, denn die Pendler waren zur siebten Stunde des Tages bereits unterwegs, und keine Bahn verabschiedete sich nach irgendwo.
Der Kommissar fühlte sich auf seinem Kleinstbalkon wie ein Stellwerker aus früherer Zeit, als sie noch hoch über den Schienen in Kästen aus Metall und Glas saßen. Er sah die fast zwei Dutzend Gleise auf ebenem Feld verwaist daliegen. Das Bild erinnerte ihn an ein Stillleben des späten 19. Jahrhunderts.
Nature Morte.
Andi Baumer liebte diese Eindrücke in den ersten Morgenstunden. Die Intercitys waren alle weg und es würde einen Moment dauern, bis neue wichtige Züge einführen. Der Lärm machte Pause bis 7 Uhr 22.
»Wie schön doch die Welt ist«, dachte er in seinem Horst und glitt ob seines Glücks in einen Zustand sicheren Seins.
Noch bevor der Kommissar sich bewusst war, was ihn erschreckt und seine Aufmerksamkeit erregt hatte, krallte er seine Hände in die Lehnen seines Stuhls, riss die Augen auf. Ohne Ansatz, übergangslos, fuhr er hoch, alle Fasern des Körpers angespannt. Baumer starrte einen langen Moment ins Nichts, alle Sinne konzentriert. Es war der Reflex eines Tieres.
Als sein Hirn wieder zu funktionieren begann, wurde ihm bewusst, was ihn aufgeschreckt hatte. Von der Straßenseite her hatte er ein ungewöhnliches, ein merkwürdiges Geschrei wahrgenommen. Dieser Lärm war in seinen Körper eingedrungen und hatte ihn hochschnellen lassen, noch bevor sein Verstand die Geräusche hatte einordnen können.
Baumer fokussierte ganz und gar auf den Lärm, hielt sogar den Atem an, um besser hören zu können, was von der Straße auf der Vorderseite des Hauses bis zu ihm heraufdrang.
Es war kein Krach, wie man ihn bei einem erregten Gespräch hört. Den hätte er gar nicht erst wahrgenommen, ihn überhört, weil er solchen Radau in seinem Quartier gewohnt war. Bei vielen scharfen Zurufen hätte er nur auf einen Streit unter Nachbarn geschlossen. Wären noch ein paar »Du Schofseckel!« im Schwall der Wörter mitgeschwommen, wie krude Baumstämme im dreckigen Rhein nach einem Gewitter, er hätte auf eine beginnende Schlägerei getippt. Der Lärm, dem er jetzt ausgesetzt war, war jedoch anders. Er hatte unaufdringlich begonnen, war stufenlos angeschwollen, nahm noch immer weiter zu. Baumer hörte Leute, die in immer größerer Anzahl aufgeregt durcheinanderriefen, irgendetwas bestürzt zu kommentieren schienen.
Dann.
Dieser irre Schrei.
Eine Frau! Sie schrie sich ihre Seele aus dem Leib. Zugleich verstummte das Publikum. Baumer krallte seine Hände um die Stuhllehne, war erschrocken wie ein Kind beim Kasperlitheater, wenn das Krokodil mit riesigem Maul aus dem Kasten springt.
Dann nochmals dieser Schrei, gefolgt von einem einzelnen Wort, immer und immer wieder herausgebrüllt.
»Mina!«
»Mina!«
Baumer hätte aufspringen, sich in Kleider stürzen, auf die Straße rennen müssen. Da sein müssen für die Frau, hätte Polizist und Kommissar sein sollen.
Er konnte nicht.
Kerzengerade und starr saß er in seinem Stuhl, die Finger um die Stuhllehnen gekrallt, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Er realisierte verwundert, dass er seine Hände nicht bewegen, nicht lösen konnte. Erstaunt und überrascht zugleich nahm er wahr, dass auch seine Gedanken mit ihm machten, was sie wollten. Irgendetwas redete ihm ein, dass hier keine Erste Hilfe mehr nützen würde, dass er nichts mehr tun konnte für diese Frau, diese Mutter, und für ihr Mädchen, das sie unaufhörlich und wie irre beschrie.
Endlich übernahm das logische Denken das Sagen, befahl ihm, sich aus seiner Fixierung zu lösen. Ferngesteuert, mechanisch, erhob er sich, doch er schaffte es nicht bis ans Fenster zur Straße. Andi Baumer konnte nur sein Mobiltelefon greifen und die Nummer des Notrufs eintippen. Als die Verbindung stand, meldete er sich zügig: »Andreas Baumer hier. Ein Mädchen ist schwer verletzt. Ecke Hochstraße und Zwingerstraße.« Obwohl er es besser zu wissen glaubte, hatte er nicht von einer Toten, sondern von einer Schwerverletzten gesprochen. So würden sie nicht lange fackeln und schnell kommen.
»Wie ist doch gleich der Name?«
»Andreas Baumer.«
»Sind Sie der Autofahrer?«
»Nein, ich wohne an der Hochstraße.«
»Sie haben einen Unfall gesehen?«
Nein, er hatte keinen Unfall gesehen und wusste doch, dass Mina umgekommen war. Wie sie getötet wurde, das konnte er nicht wissen. Doch, wenn er jetzt sagte, er habe nichts gesehen, nur etwas gehört, dann würde es ewig dauern, bis sie kämen. Also wiederholte er: »Ein Mädchen ist schwer verletzt und braucht sofort Hilfe. Ecke Hochstraße und Zwingerstraße.« Er legte auf.
Nachdem die Sanität alarmiert war, befahl ihm sein Gehirn, auf die andere Seite der Wohnung zum Fenster zu gehen, um endlich zu schauen, was passiert war. Wieder gehorchte sein Körper nicht. Er blieb wie gelähmt im Zimmer stehen, hörte, wie die erschütterten und erregten Stimmen erneut wellenartig hoch- und niedergingen, darin eingefangen das animalische Wehklagen der Mutter.
»Geh helfen!«, schrie er sich an.
Es nützte einfach nichts. Er stand ohne Macht über irgendetwas im Raum. Zitterte er?
Als sein Körper endlich seinem Willen gehorchte, nahm er zugleich die rasch näher kommende Sirene einer Polizeipatrouille wahr, die immer lauter in das mittlerweile leisere, fast harmonische Wehklagen der Frau einbrach. Er hielt inne. Seine Kollegen waren in Erster Hilfe ausgebildet, hatten sicherlich viel mehr Erfahrung darin als er. Wenn er hätte helfen wollen, kam er jetzt zu spät.
Mit der Fähigkeit zu reagieren überkam ihn zugleich Scham. Scham, dass er als Freund und Helfer versagt hatte. Es belastete ihn außerordentlich, dass er nicht sogleich auf die Straße geeilt war. Daher redete er sich ein, dass die Patrouille jetzt ja da war und rettete, was es noch zu retten gab.
Es gab nichts zu retten.
Diese Mina musste tot sein. Zu schrecklich war der Schrei ihrer Mutter gewesen, zu hoffnungslos ihr Wehklagen. Zwar hoffte Baumer inständig, dass es ein älteres Kind war, das umgekommen sein musste. Eine Jugendliche, dann wäre alles nicht ganz so schlimm.
Aber dennoch.
Ein junger Mensch lag da, vielleicht verstümmelt, entsetzlich blutend, ja verblutend. Obschon er keinen scheppernden Krach gehört hatte, nahm er instinktiv an, dass es nur ein Autounfall gewesen sein konnte. Viele Fahrer auf ihrem Weg zur nahen Autobahn scherten sich keinen Deut um irgendeine Tempobeschränkung in der Hochstraße, wo Baumer wohnte. Erst kürzlich hatte einer in der Parallelstraße mit Tempo 100 einen anderen, unschuldigen PKW-Fahrer zu Tode gecrasht. Wenn wieder so ein Mörder hier hindurchgeprescht war und das Kind bei dem Tempo erfasst hatte, dann …
Andi Baumer mochte nicht weiterdenken, versuchte verzweifelt, sich der Bilder eines solchen Unfalls zu erwehren, und sah sie doch unweigerlich vor sich. Ein kaum beschädigtes Auto halb auf dem Bürgersteig und eine zerstörte Gliederpuppe auf dem Asphalt, die Arme und Beine verrenkt und mit Gelenken, wo nie welche gedacht waren.
Der Kommissar schauderte. Trotzdem, er musste jetzt einfach hinuntergehen, sehen, was wirklich geschehen war. Seine Kollegen würden froh sein um jede Hilfe. »Geh helfen!«, rief er laut. Diesmal nutzte es. Eiligst streifte er seine Turnhose ab, stellte sich in die Badewanne und riss den Duschvorhang zu. Er drehte das Wasser auf, erschrak, als er seine zitternden Hände an den Wasserknöpfen sah. Rasch steckte er den Kopf unter den Wasserschwall. Das Rauschen verbarg ihn vor diesem Nerven zerfressenden, unendlichen Wehklagen der Mutter.
Nur zwei Sekunden blieb er so stehen. Er seifte sich rasant ein, wusch sich in Rekordzeit. Er beeilte sich, fertigzuwerden, denn die Gedanken an den Unfall wurde er nicht los. Er wollte sich endlich diesem furchtbaren Geschehen stellen. Er drehte das Wasser ab, trocknete sich knapp, seine Stoppelhaare rubbelte er nicht einmal trocken. Er schmiss sich trotz der Gluthitze des Sommers in eine Jeans von Lee. Darauf konnte er nicht verzichten. Ein Kommissar in kurzen Hosen war kein Kommissar. Stolpernd schlüpfte er in leichte Sommerschuhe und noch während er eines seiner geliebten Versace-Baumwollhemden überstreifte, rauschte er bereits die Treppe hinunter.
Noch nicht unten angekommen, überfielen ihn erneut schlimme Zweifel. Vor dem Haus wartete die erschütterte Mutter eines toten Mädchens auf ihn. Sollte er diesem armen, gebrochenen Menschen nicht ausweichen, wenn es irgend ging? Vor allem war da ein totes Mädchen. Musste er sich dies antun? Sollte er sich den Anblick von Mina nicht lieber ersparen?
»Hast du Angst vor mir?«, hörte er plötzlich die Stimme des Mädchens und Andi sah sie in Gedanken vor sich. Hübsch war sie, mit einem zierlichen Lächeln auf den Lippen, die Haut makellos und die Bäckchen rosarot, wie die eines edlen Porzellanpüppchens. Einzig, je ein Blutfaden lief dem Teenager aus Nase und Mund.
Baumer erschrak über sich selbst und versuchte sogleich, sich zu verteidigen: »Ich bin doch auch nur ein Mensch.«
»Du bist Kommissar. Du musst mir helfen.«
»Ja«, sagte Baumer. »Ja.«
Er atmete tief ein und hielt die Luft für einen Moment an. Dann blies er seinen Atem so langsam aus, wie es nur ging, und war endlich, endlich Kommissar.
*
Baumer öffnete die schwere, eisenbeschlagene Haustür und trat zügig hinaus auf den Bürgersteig. Es war ihm, als wäre er ein Stier, der aus dunklem Raum in die gleißende Arena kommt. Die blanke Sonne und ein wirres Durcheinander an Stimmen, Wehklagen, Bemerkungen, Erklärungen schlug ihm entgegen.
Ein Krankenwagen – er musste gekommen sein, als Baumer unter der Dusche war – stand mitten auf der Straße. Ein Dutzend Meter weiter war der Mercedes einer Polizeipatrouille abgestellt. Die Straße war mit allerlei Menschen gefüllt. Nur mühsam gelang es zwei Polizisten, die Gaffer zurückzudrängen und den Platz freizuhalten, damit die Sanitäter ihren Job tun konnten. Einzig, es fehlte ein kaputtes Auto.
Doch kein Unfall, fragte sich Baumer. Was kann es dann gewesen sein?
Er erkannte als Erstes den Gefreiten Meier. Der junge, gedrungene Polizist mit rundem Gesicht schob mit weit ausgebreiteten Händen ein paar Leute von der Szene weg auf den Bürgersteig. Dann strich er überdeutlich mit seinem Zeigefinger an den Füßen der Gaffer entlang und zeigte an, dass die Bordsteinkante nun absolute Grenze für sie sei, sonst gäbe es eine Buße. Weiter vorne sah Baumer seinen besten Freund, den Wachtmeister Heinzmann. Er erkannte ihn sogleich an seiner hohen und stämmigen Statur und dem alten Deckel, den er immer trug, selbst jetzt im Hochsommer. Der machte den erfahrenen Führer der Nachtpatrouille noch größer als die 1 Meter 85, die er eh schon war. Die Gaffer auf Heinzmanns Seite waren bereits zurückgewichen. Er sperrte seine Seite mit rot-weiß gestreiftem Sperrband ab, zog dann das Band auch an den Leuten entlang, die der kleinere Meier in Schach hielt.
Im so freigehaltenen Raum waren nur wenige Personen. Die Mutter hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Asphaltboden und stützte sich mit beiden Händen so auf, dass sie ganz nah zum Menschen kam, der vor ihr lag.
Irgendwie erinnerte die Frau an die Statue der kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen, einzig, dass ihr Gesicht nicht mehr ansehnlich war, sondern von Schmerzen verzerrt, die Augen überflutet vom Tränenstrom. Ihr Blick war glasig, kam von weit her, verlor sich zugleich im Nichts. Ihr Mund stand offen, der Unterkiefer zitterte, aber es kam kein Laut mehr von ihr.
Eine junge Frau – es sind immer junge Frauen – hatte sich zu ihr gebückt. Sie hatte der verzweifelten Mutter eine Hand auf den Oberarm gelegt. Die andere hielt sie vor den eigenen offenen Mund. Ihre Augen waren weit.
Vor den zwei Frauen machten zwei Sanitäter, ein junger und ein etwas älterer, ihre Arbeit. Sie kümmerten sich um einen ausgestreckten jugendlichen Körper, den Kommissar Baumer hinter den knienden Figuren kaum erkennen konnte. Das musste Mina sein. Die beiden Retter taten ihren Job, so wie es wohl im Lehrbuch für Notfallmedizin stand. Zu ihrer Unterstützung hatten sie einen Passanten rekrutiert, der eine Infusion hochhielt. Der junge Mann schien gefasst und geschockt zugleich. Er war sehr bleich, schaute immer wieder ängstlich um sich, so als würde er verfolgt, als bräuchte er selbst Hilfe.
Die zwei uniformierten Samariter besprachen sich mit leisen Worten, die Köpfe eng beieinander. Dann stand der ältere der beiden auf. Im Gegensatz zu Baumer, dessen Haar nur sachte mit weißen Stoppeln verziert war, war dieser Mann komplett weißhaarig. Seine Bewegungen waren gemächlich und doch zielstrebig, wie die von alten Bauern im Oberbaselbiet. Er trat zum Passanten, den sie um Hilfe gebeten hatten. »Sie können die Infusion jetzt ablegen.«
Der verstand nicht, hielt den Plastikbeutel mit dem Plasma tapfer weiter hoch.
»Es hat keinen Sinn mehr«, erklärte der Mann in Sanitäteruniform dem unfreiwilligen Helfer. Er nahm ihm das Behältnis ab, drehte sich weg, um es abzulegen.
Nun konnte Baumer das junge Mädchen erkennen.
Mina.
Sie lag auf dem Rücken, war wohl etwa um die 12 Jahre alt. Sie war dick eingepackt mit Goldfolie. Ihr Gesicht schien ruhig, die Augen blickten verloren irgendwo hinauf in den Himmel. Sie hatte das Antlitz einer kindlichen und traurigen Madonna. Ihre Haare waren pechschwarz, erschienen aber unwirklich dicht, als wären sie aus Plastik.
Baumer trat näher. Erst jetzt erkannte er, dass sie ein Kopftuch trug. Einzig eine einzelne Strähne, die dem Mädchen flach auf der Stirn lag, lugte darunter hervor.
»Ein Kopftuch, bei dieser Hitze?«, dachte Baumer automatisch, doch begriff er sogleich, dass das Mädchen eine junge Muslimin sein musste. Zwar war es bekleidet mit einem wild gemusterten rosaroten T-Shirt, aber eben auch mit einem dumpfen Rock, der ihm bis über die Knöchel reichte. Am Rocksaum schauten seine zierlichen Füße hervor. Einer steckte in einer leichten Sommersandalette, deren fluoreszierend grüne Farbe ins Auge stach. Der andere, es war nur ein filigranes Puppenfüßchen, war nackt. Eine leuchtende Sandale lag daneben.
Baumer blickte auf die Mutter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass diese Frau selbst kein Kopftuch aufhatte. Sie war auch sonst nicht traditionell islamisch gekleidet. Sie trug normale Kleidung, also das, was Baumer für diese Jahreszeit als normal betrachtete – westliche sommerliche Mode: Ein ärmelloses T-Shirt und kurze, enge Caprihosen. Passable Mode für diesen unbändigen Sommer und anständig für diese aufgeklärte Stadt, diese Gesellschaft und dieses Land.
Noch.
Baumer fragte sich daher, ob diese Frau überhaupt die Mutter des toten Mädchens war? Ja, natürlich, das musste sie sein. Einerseits kann nur eine Mutter solche verzweifelten Schreie gebären, war er sich sicher. Andererseits bemerkte er trotz aller Verzerrung im Gesicht der Frau ganz bestimmte Ähnlichkeiten zwischen ihr und dem Mädchen. Die recht runde Nase, die hohe Stirn, insgesamt die schlanke Gesichtsform, die ganz zart gewölbten Lippen.
Stefan Heinzmann hatte mittlerweile die Fläche um das Opfer komplett abgesperrt. Als er an Baumer vorbeikam, begrüßte er seinen Freund nicht. Der Wachtmeister schob ihn einfach in den von Gaffern freigehaltenen Raum hinein und schloss hinter ihm das Band. Dann erst sprach er ihn ohne Grußformel an. »Hast du etwas mitbekommen?« Warum begrüßen? Heinzmann und Baumer waren die besten Freunde. Ein Tamtam konnten sie sich sparen. Es gab Wichtigeres zu tun.
Baumer schüttelte den Kopf. »Ich bin erst jetzt gekommen. Ich war in meiner Wohnung.«
»Mist.«
Baumer erwiderte nichts.
»Das Mädchen wurde ermordet.«
Der Kommissar riss die Augen auf, sein Kinn fiel herunter. Er blickte Heinzmann in die Augen, suchte nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass er falsch verstanden hatte.
Der Wachtmeister hielt Baumers eindringlichen Blick kaum aus. Er hatte deutlich Mühe weiterzusprechen, musste sich zuerst fassen. »Offenbar Messerstiche in die Brust«, konnte er endlich sagen.
»Ermordet?«, fragte Baumer ungläubig und hatte doch schon begriffen. Was er als wildes Motiv auf dem T-Shirt zu erkennen geglaubt hatte, war kein gedrucktes Bild. Es war Blut. Wogen von echtem Blut.
Der altgediente Wachtmeister, der schon so viel wortloses Leid und Unglück gesehen hatte, trat näher an seinen Freund. Er hielt ihn mit der einen Hand am Oberarm fest. Fast schien es, als müsse er sich selbst an jemandem festhalten, um nicht einzuknicken. Hatte er zuvor schon geflüstert, so wurde seine Stimme nun noch leiser, als er wiederholte, was kaum auszusprechen, noch weniger zu fassen war: »Ein Stich ging offenbar mitten ins Herz.«
Baumer löste sich von Heinzmann, dem die Sache sehr naheging. Fast schien es, als kämpfe er mit den Tränen. Das schockierte ihn noch mehr. Er hatte Stefan Heinzmann kaum je so mitgenommen gesehen.
Der hatte sich aber sogleich wieder im Griff. Er wischte sich eine Träne weg, die ihm doch gekommen war. Er schniefte kurz, war wieder Polizist. »Das Mädchen war sofort tot«, murmelte er. »Wenigstens das.« Ein hilfloser Versuch, irgendwo noch etwas Gutes zu finden, damit man überhaupt weitermachen konnte in diesem Beruf.
Baumer glaubte nicht an irgendetwas Positives in einem sinnlosen Mord. Auch wenn ihm die Schritte schwerfielen, überwand er sich, näher an die Tote heranzutreten. Er betrachtete das kleine Geschöpf in seiner Goldfolie. Es erinnerte an eine Ikone der orthodoxen Christen. Ein fahles Gesicht, die Muskeln darin erschlafft, so dass das schmale Antlitz breiter wirkte. Mimik war keine mehr erkennbar. Der Kopf lag starr und schwer wie eine Totenmaske aus Marmor, umflackert von einem goldenen Leuchten.
»Schaust du zu mir?«, wollte das Mädchen von Andreas Baumer wissen. Der verstand nicht sogleich. »Bitte, schaust du zu mir, Andi? Meine Mutter muss doch einmal verstehen können.«
»Was … soll ich tun?«, wollte Andi von dem Mädchen wissen.
Da schlug der ältere Sanitäter die Goldfolie schon über das Gesicht der Ermordeten und beendete das Selbstgespräch.
Der zweite Sanitäter kam mit der Rollbahre, senkte sie herunter. Zusammen betteten sie das Mädchen darauf. Sie taten es würdevoll und behutsam, als müssten sie achtgeben, dem Mädchen nicht wehzutun.
Baumer drehte sich rasch um, wollte nicht sehen, wie die Mutter jetzt aus ihrer Starre erwachen, wie sie sich um ihr Kind kümmern würde, den Sanitätern zur Hand ginge. Er wollte nicht miterleben müssen, wie sie ihr Kind fürsorglich zudecken würde, damit es bequem und warm läge auf seiner kurzen langen Reise.
Er sah den Wachtmeister mit gesenktem Kopf dastehen, während er in sein Funkgerät sprach. Der Gefreite Meier stand daneben, blickte aufmerksam zu seinem Vorgesetzten hoch.
Der Meier hat es einfach, dachte Baumer. Hat einen Chef, an den er sich hängen kann, wenn es schwierig ist. Und ich? Er trat zu Heinzmann, denn der Kommissar fühlte sich ebenso unsicher wie Meier, was jetzt zu tun sei. Sein Freund sprach mit der Leitstelle.
»Die Namen der Passanten, die das Mädchen gefunden haben, haben wir bereits notiert. Wir bleiben, bis die Spurensicherung da ist. Danach beteiligen wir uns an der Suche nach dem Täter. Ende.« Er drehte sich zu Baumer, wandte sich an ihn und Meier zugleich. »Rötheli und seine Zivilen sind alarmiert. Sie klappern das Bahnhofsgebiet ab. Alle verfügbaren mobilen Patrouillen kontrollieren die Straßen in der Nähe.«
Dass sie mehr Polizisten bräuchten für diese Stadt, mehr Beamte auf der Straße, erwähnte er schon gar nicht mehr. Wenn ein Verbrechen geschieht, gibt es immer zu wenig Polizisten. Er nahm seine Mütze ab, fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Zu Meier blickend, sagte er: »Wir werden Richtung Dreispitz suchen, sobald wir hier weg können.«
Meier nickte.
Baumer fragte seine Kollegen nicht, ob irgendeiner der Passanten den Täter gesehen hatte. Dazu waren die Gaffer sicher längst befragt worden. Wäre der Mörder beobachtet worden, dann hätte man ihm eine Personenbeschreibung gegeben. Es gab also nur noch die Hoffnung, dass man irgendwo in der Nähe jemanden aufgreifen würde, der sich verdächtig verhielt. Einen Menschen, der davonrennt, wenn er die Polizei sieht, oder einer, der erschüttert auf einer Bank sitzt, immer wieder wie ein Jude beim Gebet vor und zurück schaukelt, vielleicht leise wehklagt oder sich mit offenem Mund und erschreckten Augen die Fingerkuppen an die Schläfen drückt. Doch wenn sich der Mörder einigermaßen in der Gewalt hatte, war alles Suchen vergebens. Die Hochstraße führte direkt zum Bahnhof Basel SBB. Videoüberwachung würde es in dieser von einer rot-grünen Mehrheit regierten Stadt wohl nie geben. Einzig ein paar Verkehrsüberwachungskameras filmten in weiter Perspektive. Gut erkennbare Gesichter von Personen durfte man auf diesen Aufnahmen per Gesetz nicht entdecken. Im Bahnhof konnte man also ohne Probleme unerkannt in der Masse untertauchen, konnte ein Billett lösen, in irgendeinen Zug steigen.
Konnte abfahren.
Konnte winken.
Alle auslachen.
In der Schalterhalle selbst waren zwar auch ein paar Videokameras installiert, aber was nützten die schon? Wie sollte man irgendjemanden, der auf deren Videos auftauchte, mit einem Mord in Verbindung bringen? Hier vor Ort hätte es Videoüberwachung gebraucht. Hier! In der Hochstraße, vor Baumers Haustür.
»Diese politisch korrekten Scheißpolitiker!«, fluchte plötzlich Meier los, als ob er die gleichen Gedanken hätte wie Kommissar Baumer. »Wie sollen wir wissen, wonach wir suchen müssen? In jeder verfurzten Provinzstadt hat es Videos wie blöd, nur hier nicht.«
»Das ist eben Basel«, meinte Heinzmann
»Scheiß auf Basel. Kaputte Dreckstadt.«
»Du kannst nicht alle Ecken der Stadt überwachen.«
»Doch, jede verlauste Ecke soll überwacht werden. Hast du schon diese Frau vergessen, die vor zwei Monaten vergewaltigt worden ist? Sie wird am Aeschenplatz begrapscht, flüchtet in die St-Alban-Anlage. Dort wird sie eingeholt, von hinten gepackt und gleich im Gebüsch vergewaltigt.«
»Wir kennen alle diese Geschichte«, entgegnete der Wachtmeister und setzte sich den Hut wieder auf.
»Eben. Noch heute läuft der Vergewaltiger frei rum. Und noch immer hat es keine Kameras auf den großen Plätzen in Basel. Dauernd diese Messerstechereien, immer mehr Raubüberfälle und dieser ganze Dreck. Und wir sind dann auf Phantombilder angewiesen, auf die 50 Prozent aller Männer passen. Die wenigen Videokameras werden nur eingeschaltet, wenn die Reichen und Schönen zu den Messen kommen. Da hat’s dann tonnenweise uniformierte Kollegen auf der Messe. Basel ist schön! Aber das gemeine Volk wird in dieser Scheißstadt …«
»Meier?«
»Was ist?«
»Such die Hauseingänge auf dieser Seite ab!«, befahl Heinzmann seinem Untergebenen in scharfem Ton.
Ohne weiter herumzuschimpfen, tat der sofort wie ihm geheißen. Er war froh, irgendetwas tun zu können, irgendetwas suchen zu können. Vielleicht konnte man doch noch eine Spur finden. Immerhin vertrieb es die schwarzen Gedanken, die ihn plagten. So musste er auch nicht daran denken, wie diese Stadt nun einmal war und wohin sie sich entwickelte.
»Und ich? Was soll ich tun?«, wollte Baumer von Heinzmann wissen. Er fühlte sich unfähig, selbst einen sinnvollen Gedanken zu formulieren, brauchte dringend einen starken Arm, der ihm Halt geben würde. Wie war die Prozedur bei einem Mord an einem jungen Mädchen? Wie konnte man hier systematisch vorgehen, bei einer so unwirklichen, so undenkbaren Tat?
Stefan Heinzmann fasste sich an den Mund, legte die Stirn in Falten. Er schnalzte. »Hier kannst du nicht viel in Erfahrung bringen. Die Spurensicherung wird alles aufnehmen. Das Messer haben wir bereits gesichert. Ich habe es im Wagen.«
»Also, was soll ich machen?«, suchte Baumer nach einer Aufgabe.
»Die Familie hat sie auf dem Gewissen«, entgegnete Heinzmann plötzlich erregt und öffnete die Hände wie ein Muslim beim Gebet. »Das ist klar.«
»Wie meinst du das? Eine Familie bringt doch niemanden um.«
»Das weiß ich auch«, wurde Heinzmann unwirsch. »Aber einer aus der Familie könnte es doch gewesen sein. Es ist ein Muslimmädchen. Vielleicht ist es ein Ehrenmord.«
»Aber es ist doch noch viel zu jung für einen Ehrenmord. 14 Jahre höchstens. Noch fast ein Kind.«
Der Wachtmeister ließ die Arme fallen. »Ja, du hast Recht.« Dann machte er eine Faust und tippte damit einige Male auf seinen Mund. »Trotzdem. Du musst in der Familie beginnen. Vielleicht hatte sie auch schon einen Freund.«
»Einen Freund? In dem Alter?«
»Vielleicht wollte der Sex, sie lehnte ab und er hat sie umgebracht. Was weiß ich?« Heinzmann rieb sich den verschwitzten Nacken mit einem Taschentuch. »Sie ist ein Muslimmädchen. Das ist wichtig. Was meinst du?«
Baumer meinte nichts.
Der erfahrene Wachtmeister schüttelte den Kopf, als könne er so seine Gedanken darin besser ordnen. Wer würde sonst einen jungen Menschen auf offener Straße ermorden? Er kam zu keinem besseren Entschluss. »Das liegt in der Familie. Da musst du beginnen«, war er überzeugt.
»Da beginnen, da beginnen«, wiederholte Baumer mechanisch, als wäre er ein Autist, wie sein Nachbar Franz Heberlein. Das Entsetzen über die brutale Ermordung eines so jungen Mädchens hatte ihn zutiefst berührt, wie ihn selten ein Mord erschüttert hatte.
Heinzmann – auch er nur in der Fassade ruhig – spürte es. Er legte dem Freund seine linke Pranke auf die Schulter. »Bist du okay?«, suchte er den Blick Baumers, der seinen Kopf gesenkt hatte und mit seinen Augen irgendwo auf dem Boden Halt suchte.
»Komm!«, sagte der Wachtmeister schließlich, der wie ein älterer Bruder zu Baumer war. »Wir packen uns den Mörder.«
Andi Baumer hob den Kopf schwerfällig. Er schaute von einem Messingknopf auf Heinzmanns Uniform zum nächsten. Auf der Schulter erblickte er die ausgewaschenen Schulterstücke eines Wachtmeisters, also ein Paar Winkel, zwei Löwen, die das Wappen mit dem Baslerstab hielten, darunter noch das Wort Polizei. Die spitzen Winkel sahen aus wie die weißen Pfeile auf den schwarzen Schildern, die in gefährlichen Kurven standen. Sie schienen den Kommissar zu wecken, dafür aufmerksam zu machen, was zu tun sei. Einfach den Hinweisen folgen. Eine Spur suchen, die sie zum Täter führen würde. Dieser Gedanke gab Baumer Halt. Er sah in Heinzmanns eindringliche Augen. Andi Baumer nickte. »Ja, du hast Recht, Stefan. Tun wir etwas.«
»Was?«, fragte nun Heinzmann.
»Wir folgen den Zeichen.«
»Welchen Zeichen?«
»Den vielen Hinweisen, die wir jetzt schon haben.«
2
Baumer hatte ein paar Zeichen gesammelt, ein paar Fakten. Das war ganz unbewusst geschehen. Es waren noch keine Hinweise auf die Täterschaft, aber dennoch wichtige Informationen für ihn als Kommissar. Das tote Mädchen trug ein traditionelles Kopftuch und einen Rock, aber auch fluoreszierende Sandalen. Die Mutter war keine Muslimin, eine Schweizerin offensichtlich. Also musste der Vater Muslim sein. Das Kind war vielleicht Spielball beider Kulturen gewesen. Das war kein Fakt. Es war ein Bauchgefühl.
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