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Annes Leben ist chaotisch genug – plötzlich alleinerziehend mit drei so liebenswerten wie lebhaften Kindern muss nicht nur der Alltagstrubel jongliert, sondern auch das Leben neu sortiert werden. Gar nicht so leicht mit einem Ex-Mann, der mit seiner schwangeren und wesentlich jüngeren Freundin ein neues Leben beginnt, einer überaus kritischen Mutter, einem Umzug, dem Job als Lehrerin an einer Kölner Hauptschule und mit Ben, Emma und Theo, den Kindern, die ein Leben alleine schon ganz schön durcheinander wirbeln können.
Eigentlich geht es nicht turbulenter – wären da nicht Hannes, Referendar an Annes Schule, jung und unverschämt charmant und Tom, der doch eigentlich nur ihr neuer Nachbar sein sollte …
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Seitenzahl: 522
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Annes Leben ist chaotisch genug – plötzlich alleinerziehend mit drei so liebenswerten wie lebhaften Kindern muss nicht nur der Alltagstrubel jongliert, sondern auch das Leben neu sortiert werden. Gar nicht so leicht mit einem Ex-Mann, der mit seiner schwangeren und wesentlich jüngeren Freundin ein neues Leben beginnt, einer überaus kritischen Mutter, einem Umzug, dem Job als Lehrerin an einer Kölner Hauptschule und mit Ben, Emma und Theo, den Kindern, die ein Leben alleine schon ganz schön durcheinander wirbeln können.
Eigentlich geht es nicht turbulenter – wären da nicht Hannes, Referendar an Annes Schule, jung und unverschämt charmant und Tom, der doch eigentlich nur ihr neuer Nachbar sein sollte …
Christina Beuther, geboren 1975, ist Lehrerin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Heidelberg. Bei Aufbau Digital sind ihre Romane „Aber sowas von Amore“, „Ist das jetzt schon Liebe“, "Konfetti im Herz" und "Luisa wagt das L(i)eben" lieferbar.
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Christina Beuther
Konfetti im Herz
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Impressum
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Das war es also. Ich betrachtete mich im Spiegel. Die Augen verheult und rot, die Wimperntusche verlaufen. Meine Ehe am Ende. Aus und vorbei. Endgültig. Ich schniefte, und wieder schossen mir Tränen in die Augen. Hier stand ich nun, Anne Hansen, fünfunddreißig Jahre, drei Kinder und bald geschieden, im Badezimmer unseres Reihenmittelhauses in Köln-Nippes, das in naher Zukunft nicht mehr unser Zuhause sein würde, und war fürchterlich wütend.
Was war ich blöd gewesen. Ich hätte es doch wissen müssen. Aber nein, Alex hatte es geschafft, mich zu verwirren. An unserem zehnten Hochzeitstag hatte er mich zum Mittagessen ins Pauls eingeladen, ein schickes Restaurant, von dem gerade jeder in Köln sprach, weil dem Koch ein Michelin-Stern verliehen worden war. Selbst zum Heiratsantrag hatte er mich nicht in ein solch nobles Restaurant ausgeführt, da hatte ich mich schon gefragt, ob diese Einladung eine tiefere Bedeutung haben könnte. Würde er um einen Neuanfang bitten?
Eigentlich hatte ich es mir nicht vorstellen können und dazu war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich ihm überhaupt eine neue Chance geben wollte. Und trotzdem war ich beim Friseur gewesen und hatte die naturblonden Haare frisch naturblond färben lassen, ein neues Kleid gekauft, organisiert, dass die Kinder nach der Schule zu Melli gingen, mir schnell ein kleines Schönheitsprogramm mit Gesichtsmaske gegönnt und die hohen roten Riemchenpumps angezogen, die für mich eigentlich zu hoch waren, es heute aber unbedingt sein mussten.
Was dann geschah, lief später in Endlosschleife wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, mein Film: Ich trat aus dem Haus, und alles stimmte: Das Kleid saß perfekt, die Haare fielen sanft gelockt über meine Schultern, und das Wetter machte Lust auf Frühsommer. Typisches Aprilwetter war gestern, heute schien die Sonne. Gut gelaunt radelte ich ins Belgische Viertel. Als ich mein Rad an einen Baum vorm Pauls anschloss, wusste ich, dass Alex schon auf mich warten würde, schließlich war er immer fünf Minuten zu früh. Jemand kam aus dem Lokal, ein Mann, recht groß, er hielt mir die Tür auf und lächelte mich an. »Danke schön.« Unsere Blicke trafen sich. Einen kleinen Moment hing ich an seinen tiefblauen Augen, die mich von oben bis unten musterten, was sich sehr gut anfühlte; seltsam, dass ich mich jetzt daran erinnerte. Mein Film lief weiter: Ich trat ins Lokal und sah Alex sofort. Er saß an einem der Tische am Fenster, stand auf und kam auf mich zu. Er sah einfach gut aus – groß, mit kurzen blonden Haaren und sonnengebräunt. Er trug eine edle, dunkelblaue Hose, ein feines hellgraues Hemd und seine guten italienischen Schuhe. »Hallo, Anne.« Zur Begrüßung küsste er mich auf die Wange, und ich roch sein Aftershave. Der vertraute Duft, der so Alex war.
»Schön siehst du aus«, sagte er und schob mir den Stuhl zurecht.
»Danke. Du auch.«
Er hatte sich wieder gesetzt, und wir lächelten uns an. Ein Ober kam an den Tisch. »Was möchtest du trinken?«, fragte Alex. »Ein Glas Champagner als Aperitif?«
Champagner? Ich war erstaunt, sonst war ihm Champagner immer zu teuer gewesen. Aber Champagner? Warum nicht. Ich nickte. »Und du?«
»Nichts, danke, ich bleibe beim Wasser. Ich bin mit dem Auto da.«
Alex schien angespannt, und ich hatte kurz überlegt, ihn jetzt gleich und direkt zu fragen, warum er mich hierher eingeladen hatte, doch ich verwarf den Gedanken beim Blick in die Karte. Die Namen der Gerichte klangen köstlich. Während des Essens würde es genug Zeit geben, sich zu unterhalten.
»Haben Sie bereits entschieden?« Der Ober war unauffällig hinzugetreten und blickte zu mir.
»Ja, auch wenn die Auswahl wirklich schwerfällt. Als Vorspeise hätte ich sehr gerne das Tatar vom Kalbsfilet mit gegrillten Riesengarnelen und als Hauptgang die Goldbrasse mit Korianderpesto an Ofenpaprika. Und was das Dessert betrifft, Aprikosenparfait in Baumkuchenmantel, Blaubeer-Käsetörtchen oder Crème Brûlée mit Orange und Vanille, darüber muss ich wirklich noch nachdenken. Ich entscheide mich später.«
»Eine sehr gute Wahl«, sagte der Ober und wandte sich an Alex. »Und der Herr?«
»Ich hätte gerne das Erbsenschaumsüppchen, das wäre dann alles, danke.«
»Möchtest du nicht auch noch einen Hauptgang?«, fragte ich überrascht. »Das klingt doch alles so phantastisch.«
»Nein danke, ich habe gerade keinen richtigen Appetit.« Der Ober nickte und ging.
Gut, dann also vor dem Essen.
»Alex, jetzt sag mir bitte, was los ist. Warum hast du mich hierher eingeladen?«
Er rang offensichtlich mit sich und schien nach den richtigen Worten zu suchen. In mir kamen alle Gefühle des letzten Jahres wieder hoch. Der Schmerz und die Wut nach seiner Beichte, mich betrogen und sich neu verliebt zu haben. Die maßlose Enttäuschung, von ihm so hintergangen worden zu sein, und die Sehnsucht, aber auch das Gefühl, es inzwischen ganz gut alleine zu schaffen, das Leben wieder im Griff zu haben und auch wieder glücklich zu sein. Waren da noch Gefühle für Alex? Liebe? Vor einem Jahr hatte ich ihn aus dem Haus geworfen. Wollte ich ihn wirklich zurückhaben? Ich war mir nicht sicher. Ja, die Kinder vermissten ihn schrecklich, aber vermisste ich ihn auch?
»Ich möchte dich um etwas bitten.«
Alles an ihm war so vertraut, der verlegene Blick in diesem Moment, genau wie Theo guckte, wenn er etwas ausgefressen hatte. Fünfzehn gemeinsame Jahre. Drei wunderbare Kinder … Vielleicht vermisste ich ihn auch. Ein bisschen.
»Anne, ich möchte die Scheidung.«
Es hatte eine kleine Ewigkeit gedauert, bis ich seine Worte wirklich verstanden hatte. Bis sie bei mir angekommen waren.
»Du lädst mich an unserem zehnten Hochzeitstag in dieses sündhaft teure Restaurant ein, um mich um die Scheidung zu bitten?« Ich war fassungslos.
»Ist das so?« Alex hob die rechte Augenbraue, so wie er es immer machte, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Dann tut es mir wirklich leid, dass ich ausgerechnet diesen Tag für unser Treffen vorgeschlagen habe« – er atmete tief ein – »aber Naomi bekommt ein Kind, und wir wollen heiraten.«
Ich lachte bitter. Da saß ich hier und hatte abgewogen, ob ich uns eine neue Chance geben würde. Ein erbärmlicher Versuch, zu verdrängen, was ich eigentlich wusste. Naomi besiegelte das, was ich nicht hatte wahrhaben wollen, auch wenn es offensichtlich gewesen war. Unsere Ehe hatte keine Chance. Sie hatte ab dem Moment, als Alex sich in Naomi verliebt hatte, keine Chance. Und jetzt war Naomi schwanger. Die Einsicht traf mich wie ein Schock. Es war aus und vorbei. Endgültig. Und wieder war ich diejenige, die zuguckte, während Naomi Tatsachen schaffte. Ich wurde wütend. Auf ihn. Und auf mich.
Alex nahm meine Hand, doch ich zog sie weg und stieß dabei mein Glas Champagner um. »Es tut mir leid … Wir sind Eltern und werden auch gemeinsam Eltern bleiben, das heißt aber nicht, dass wir ein Paar sind. Anne, ich liebe dich als gute Freundin, als die Mutter unserer drei Kinder, als jemanden, den ich schon sehr lange kenne und mit dem mich unendlich viel verbunden hat. Doch mehr ist da nicht, es tut mir leid.«
Während er sprach, kümmerte sich der Ober um mein Missgeschick, und ich bereute es, den guten Champagner vergossen und nicht in das Gesicht meines Gegenübers geschüttet zu haben.
»Schau, Anne, ich bin vor knapp einem Jahr ausgezogen, und mein Anwalt hat gesagt, dass das Trennungsjahr ab diesem Moment berechnet wird, was bedeutet, dass die Scheidung in vier Wochen über die Bühne gehen kann.« Er trank einen Schluck Wasser.
»Dein Anwalt? Du hast schon einen Anwalt?!« Ich war im Gegensatz zu ihm ein kleines bisschen lauter geworden.
»Warum nicht?«, fragte er und schüttelte irritiert den Kopf.
»Anne, wir sind seit fast einem Jahr getrennt. Ich liebe Naomi, und wir bekommen ein Kind. Ich habe ein neues Leben. Unser gemeinsames Leben war schön, es hat nur nicht für immer gereicht. Vielleicht haben wir uns einfach zu früh kennengelernt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir drei wunderbare Kinder zusammen haben und uns darum in dieser Sache vernünftig verhalten sollten.«
»In dieser Sache!?!!!« Andere Mittagsgäste sahen sich um.
»Anne. Bitte nicht so laut. Lass uns vernünftig bleiben und das Ganze wie Freunde regeln.«
Angesichts der Öffentlichkeit, in der wir uns befanden, konzentrierte ich mich darauf, meine Fassung zu wahren, keine Szene zu machen oder ihm gegen das Schienbein zu treten. Alex deutete meine Stille als stummes Einverständnis. »Da ist noch etwas … Wäre es für dich in Ordnung, wenn sich in der kommenden Woche jemand das Haus ansehen kommt?«
»Das Haus …?« Meine Stimme überschlug sich.
»Ich habe im letzten Jahr mehr Geld an die Kinder und dich überwiesen, als ich gemusst hätte, das weißt du. Ich kann es mir auf Dauer einfach nicht leisten, das Haus weiterhin für dich zu finanzieren.«
»Du kannst uns doch nicht so einfach auf die Straße setzen!«
»Das will ich doch nicht. Einer meiner Kollegen hat großes Interesse und würde das Haus kaufen. Wir wären die gemeinsamen Schulden los und könnten beide neu anfangen.«
»Aber es ist doch unser Zuhause …« Passierte das hier gerade wirklich?
»Es war unser Zuhause. Naomi und ich haben eine Wohnung in London in der Nähe ihrer Eltern gefunden. Und auch du wirst bestimmt eine schöne und passendere Wohnung finden.«
»London …« Ich erstarrte. »Und was ist mit den Kindern?«
»Ich werde natürlich weiterhin ein guter Vater sein, ob ich nun in London oder in Frankfurt wohne. Ich kann meine Flüge so legen, dass ich über Köln fliege und sie mit zu uns nehme. Und unsere Wohnung ist groß genug. Wenn Ben, Emma und Theo zu Besuch kommen, haben sie ein eigenes, gemeinsames Zimmer. Die Kinder werden Naomi bestimmt sehr gerne haben, wenn sie sie erst einmal kennengelernt haben. Naomi ist unkompliziert, offen und mag Kinder über alles. Sie würde auch dich gerne einmal kennenlernen.«
An dieser Stelle war die Stimmung endgültig gekippt. Ich wollte mich nicht länger zusammenreißen. Vor mir tat sich ein großes, tiefschwarzes Loch auf, das mich in die Tiefe zog, und ich fühlte nur noch Wut.
»Weißt du was, Alex Hansen?«, zischte ich, wohl wissend, dass ich viel zu laut war. Ich war aufgestanden, und meine Serviette war auf den Boden gefallen. Vor Wut schossen mir Tränen in die Augen. »Nach so vielen gemeinsamen Jahren, wäre es da nicht angemessen gewesen, früher etwas zu sagen? Mit mir zu reden? Aber nein, der Herr Pilot bumst sich lieber mit seiner Stewardess durch die Lüfte und in den siebten Himmel, macht sich eine neue Familie und trifft die Entscheidungen für sich alleine. Und Anne? Och, Anne macht schon keine Probleme. Die lädt man in ein teures Lokal ein, sagt ihr, dass man sie irgendwie, aber anders, immer noch immer liebt, und dann ist das schon okay. Weißt du was? Nichts ist okay!«
Am Ende hatte ich geschrien. Ich nahm meine Tasche und drehte mich um. Alex fasste mich am Arm, doch ich schüttelte ihn ab, ging einfach weiter und stieß die Tür auf. Das Tageslicht blendete, und ich wusste, dass mir die Tränen die Wangen hinunterrannen, doch es machte mir nichts aus. Wutentbrannt und benommen schloss ich mein Rad auf und fuhr los. Jemand rief »Vorsicht!«, doch in dem Moment lag ich auch schon auf dem Radweg, das Rad über mir. Ich war mit jemandem zusammengestoßen, der sich besser als ich hatte abfangen können. Er stieg von seinem Rad, kam auf mich zu und half mir wieder auf meine wackeligen Beine. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er, und ich blickte in Augen, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Dann stürmte Alex aus dem Restaurant. »Du meine Güte, Anne!!!«, rief er und versuchte, mich zu stützen.
»Lass mich!«, fuhr ich ihn an und stieg wieder auf mein Rad.
»Du kannst in dem Zustand doch nicht mit dem Rad nach Hause fahren«, insistierte er. Ich sah in seine Augen, die einmal so vertraut gewesen waren, und sagte ruhig und deutlich: »Es war deine Entscheidung, dass dich das nichts mehr angeht.« Dann fuhr ich los.
Wie ich es geschafft hatte, nach Hause zu kommen, wusste ich nicht mehr.
Ich hatte geduscht, mir das verheulte Gesicht gewaschen und die Schürfwunden an Ellenbogen und Knie verarztet. In meinen Bademantel gewickelt, ein Handtuch um die nassen Haare, saß ich auf dem Bett und erinnerte mich daran, wie wir uns stolz und überglücklich hatten auf die Matratzen fallen lassen, nachdem wir das Gestell in unserer kleinen Wohnung in Sülz aufgebaut hatten. Ich hatte in Alex’ Arm gelegen, wir hatten zur Decke geschaut und uns ausgemalt, wie wir, alt und tattrig geworden, immer noch Arm in Arm in diesem Bett liegen würden. Nun lag ich schon fast ein Jahr alleine in diesem Bett. Nun ja, mehr oder weniger alleine. Ben, Emma, die beiden Großen, meine wunderbaren Zwillinge, und Theo, mein kleiner Bär, krabbelten nachts recht regelmäßig unter meine Bettdecke und kuschelten sich an mich. Die Kinder … Erneut schossen mir die Tränen in die Augen. Meine drei wunderbaren Kinder würden Scheidungskinder sein und womöglich als Erwachsene beim Therapeuten landen; als verkrachte Existenzen auf der Psychocouch, aus Beziehungsangst oder dem Unvermögen, an die wahre Liebe zu glauben, aus Wut auf den Vater, der die Familie im Stich gelassen hatte, oder um das Aufwachsen mit einer neurotischen und verbitterten Mutter zu verarbeiten. Nein! Jetzt hatte ich sie ja wohl nicht mehr alle beisammen. Anne, reiß dich zusammen! Erstens hatte ich die Scheidung meiner Eltern auch gut verarbeitet, zweitens hatte ich, trotz gestörter Mutter, bisher auch nicht auf die Couch gemusst, und drittens, was am Wichtigsten war, zeigten meine Kinder keinerlei Verhaltensweisen, die Grund zur Sorge geben würden, schließlich kamen sie mit der Situation schon seit einem Jahr zurecht. Und ich auch.
Gedankenverloren rubbelte ich meine Haare. Wenn ich ehrlich war, war die Tatsache, dass Alex nicht mehr bei uns wohnte, im Alltag gar nicht so groß aufgefallen. Aufgrund der vielen Fernflüge war er sowieso nicht oft zu Hause gewesen, obwohl ich inzwischen wusste, dass es in dem Jahr vor seinem Auszug nicht nur die Fernflüge gewesen waren, die ihn ferngehalten hatten, sondern auch der ein oder andere verlängerte Aufenthalt am Zielort zusammen mit Naomi. Während ich brav im Reihenmittelhaus das Alltagschaos jongliert hatte, hatte sich mein Ehemann, ich korrigiere, bald Exmann, mit dieser Stewardess immer wieder schöne Tage an exotischen Orten gegönnt. »Naomi …« Ich sprach den Namen aus und zog eine Grimasse. Nach Alex’ Beichte hatte ich sie auf Facebook gesucht und gefunden. Mein Scheidungsgrund war fünfundzwanzig Jahre jung, hatte die Figur eines Victoria’s Secret-Engels, einen hellen Porzellanteint, lange, glatte, rote Haare und ein Puppengesicht mit großen, grünen Augen, einem niedlichen Stupsnäschen und einem reizend geschwungenen Mund, so dass jeder Mann, der sie sah, bestimmt auf der Stelle hin- und hergerissen war zwischen dem unmittelbaren Bedürfnis, sie zu beschützen, und dem ungestümen Verlangen, sie leidenschaftlich auf das nächste Bett zu werfen. Selbst mit fünfundzwanzig hatte ich keinen Mann in diesen gewiss unerträglichen Zwiespalt gestürzt.
Sitzend betrachtete ich mich im großen Spiegel des alten Kleiderschranks gegenüber von mir. Ich war ein Meter siebzig groß und trug Kleidergröße achtunddreißig. Ich war nicht pummelig, aber bestimmt nicht mehr in der Form, in der ich mal war. Bauch, Oberschenkel und Po waren nicht mehr straff und knackig, und Ben, mein reizender großer Sohn, hatte mir vor ein paar Wochen auf seine unvergleichlich direkte Art klargemacht, dass meine Oberarme, wenn man gegen sie stupste, wabbeln würden. Mein Busen sah nicht mehr so aus, wie er noch vor zehn Jahren ausgesehen hatte. Er war zwar nicht so groß, aber auch kleine Busen konnten ein wenig hängen. Die Schwerkraft. Drei Kinder. Muss ich mehr sagen? Und meine Haare? Trotz frischem Naturblond wusste ich, dass es erste, vereinzelte graue Haare gab. Und das wusste ich nicht erst, seit Theo abends beim Vorlesen plötzlich und ohne Ankündigung an meinen Haaren gerissen, mir anschließend strahlend ein wirklich graues Haar unter die Nase gehalten und fasziniert bemerkt hatte: »Schau Mama, du hast ja graue Haare.«
Ich stand auf und trat an den Spiegel. Ich fand mich nicht wunderschön. Ich würde eher sagen, ich war normal hübsch. Meine graublauen Augen musterten mich, meine normale Nase, meinen normalen Mund mit den blassrosa Lippen. Fast berührte meine Nase den Spiegel. Um meine vom Heulen geschwollenen rot geränderten Augen hatte ich Falten, die sich nicht alleine als Lachfältchen wegargumentieren ließen. Auch auf der Stirn zogen sich feine Linien. Immer wieder wuchsen mir zwei schwarze Haare im Gesicht, eines am Kinn und das andere unter meinem linken Ohr, die ich eilig herauszupfte, sobald ich sie bemerkte. Ich ließ mich aufs Bett fallen und machte mit meiner Bestandsaufnahme weiter. Wenn ich morgens aufstand, hatte ich neuerdings immer mal wieder Rückenschmerzen, und meine Kondition war definitiv schon wesentlich besser gewesen, was sicherlich auch daran lag, dass Sport und ich seit Langem nicht mehr eng befreundet waren, sondern mir die Schokolade gerade im letzten Jahr viel nähergestanden hatte. In meiner freien Zeit, also wenn die Kinder im letzten Jahr am Wochenende bei Alex in Frankfurt gewesen waren, hatte ich lieber in Jogginghose auf dem Sofa gelümmelt, als Sport zu treiben. Theo lief inzwischen wahrscheinlich schneller wie ich. Kurz: Ich war außer Form, träge, fünfunddreißig … und bald geschieden.
Mein Handy klingelte. Ich robbte über das Bett und griff nach meiner Tasche, die ich vorhin vor Wut in die Ecke gepfeffert hatte. Im dunklen Chaos suchte ich nach meinem Handy, fand ein Matchboxauto, Lipgloss, einen Stein, den Emma im Park aufgelesen und so wunderschön gefunden hatte, dass er unbedingt mit nach Hause musste, ein Paar Socken und endlich das Handy. Melli. O Gott, wie spät war es? Hatte ich die Kinder vergessen?
»Melli, sorry, ich hab das Handy nicht sofort gefunden.«
»Nicht gefunden oder keine Zeit gehabt, zu suchen?«
Ich wusste im Moment nicht, wie ich auf ihre Frage reagieren sollte, doch die kurze Stille am Telefon war für meine beste Freundin Antwort genug, und das Melli-Notfalldienstprogramm startete: »Warte, Simon bestellt für die Kinder und sich Pizza, und die vier machen es sich mit einer DVD gemütlich. Ich bin gleich bei dir.«
Sie hatte aufgelegt, und ich wusste, dass sie spätestens in einer Viertelstunde vor der Tür stehen würde. Meine beste Freundin.
»Liebelein, du siehst scheiße aus«, war das Erste, was Melli sagte, als ich ihr die Tür öffnete. Dann drückte sie mich fest.
»Schließlich ist meine Welt heute untergegangen.«
»Weltuntergang? Hattest du etwa ein Treffen mit Gott?« Melli stupste mich. »Und wenn deine Welt untergegangen ist, warum bin ich dann noch da?«
Ein Lächeln huschte über mein verheultes Gesicht, und ich wusste, warum sie nun schon so lange meine beste Freundin war. Wir hatten uns vor sieben Jahren in der Schule kennengelernt, an meinem ersten Tag an der Konrad-Adenauer-Hauptschule in Ehrenfeld. Als ich mein Fahrrad abschloss, stieg neben mir jemand vom Rad. »Du musst die neue Kollegin sein. Willkommen an der KAS. Ich bin Melanie Weber, Melli. Ich hab die 7a. Du bekommst, glaube ich, die 7b.« Melli, klein, rundlich, dunkle, kurze Haare, große dunkelbraune und fröhliche Augen, hatte mich offen angestrahlt. So offen war sie. Dazu spontan, quirlig, ehrlich, etwas vorlaut und eigentlich immer fröhlich und gut gelaunt.
Melli ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Und ich schlich langsam hinter ihr her. Sie öffnete die Fenster zum Garten.
»Schau, nichts mit Weltuntergang«, verkündete sie, dann drehte sie sich zu mir um. »Und jetzt erzählst du mir, was passiert ist.«
Ich ließ mich auf das Sofa fallen, holte tief Luft und schilderte ihr alles. Angefangen mit der prächtigen Laune und dem Gedanken an eine mögliche neue Chance, die ich hatte, als ich mit dem Rad über den Ring gefahren war, bis hin zu Alex’ Worten und zu der Wut, die mich überrannt hatte, weshalb ich vollkommen neben mir stehend das Restaurant verlassen und nach Hause geradelt war.
Als ich fertig war, schaute Melli mich nachdenklich an, dann fragte sie ruhig: »Du hättest ihn zurückgenommen?«
Ich zuckte mit den Schultern und antwortete: »Ich weiß es nicht.«
Melli nickte ernst.
»Was ist mit meinem Alex passiert? Der Mann, den ich heute im Pauls getroffen habe, hat nichts mehr von dem Mann, den ich heute vor zehn Jahren geheiratet habe«, sagte ich leise. Dann kam die Wut zurück. »Anstatt früher mit mir zu reden, veranstaltet er so eine Schmierenkomödie. Aber nicht mit mir! Und weißt du, was das Schlimmste ist? So wütend ich bin, so schrecklich tut es doch weh.« Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Und dann schmeißt er uns aus unserem Zuhause. Ich möchte nicht, dass die Kinder ihr Zuhause verlieren.« Mein Ben. Meine Emma. Mein Theo.
Melli nahm mich in den Arm. »Schscht«, machte sie, »da, wo du bist, ist ihr Zuhause.«
Zur Wut hatte sich Selbstmitleid gesellt. »Und dazu habe ich Falten, die definitiv keine Fältchen mehr sind, ich bekomme graue Haare, und ich habe einen schwabbeligen Bauch, Dellen an den Oberschenkeln und keinen Knackpo. Und guck«, ich stupste gegen meinen rechten Oberarm, »wabbelige Oberarme habe ich auch …«
»Ich weiß«, Melli seufzte dramatisch, »ich schäme mich immer fürchterlich, wenn ich mit dir gesehen werde.«
An jedem anderen Tag, in jeder anderen Situation hätte mich ihr Kommentar sicherlich zum Lachen gebracht, doch heute war mir danach, im Selbstmitleid zu baden, bis ich runzelig wurde. Ich ging über ihren Kommentar hinweg. »Ich bin keine zierliche und zarte Elfe mit einer Traumfigur und langen Beinen, ich habe weder einen Porzellanteint noch lange, glatte, schöne, glänzend rote Haare.« Ich redete mich langsam in Rage. »Ich habe keine kleine, niedliche Stupsnase und keine grünen Rehaugen, die Männer verrückt machen, weil sie mich nicht nur erobern und voller Verlangen in die Flugzeugtoilette drücken wollen, sondern mich ebenso an die Hand nehmen und beschützen wollen …«
»Hey, du Stimme aller verlassenen, mittelalten Ehefrauen mit Dellen an den Oberschenkeln und Wabbeloberarmen, jetzt reicht es!«, bemerkte Melli entschlossen. »Den Alex, den du geheiratet hast, gibt es leider nicht mehr, und den Alex, den es jetzt gibt, den kann die Elfe geschenkt haben, denn wenn wir ehrlich sind, passt er gar nicht mehr in dein Leben.«
Ich sah sie an. Melli hatte den Kopf leicht schräg gelegt, wie sie es oft tat, und ihre braunen Augen funkelten herausfordernd. »Mensch, du bist so stark. Sei stolz auf dich und das, was du im letzten Jahr geschafft hast! Jetzt hörst du auf, nach hinten zu schauen und guckst nach vorne!« Sie nickte entschieden. »Verstanden?«
Wenn Melli bestimmt war, war sie bestimmt. Ich hatte keine andere Wahl und nickte. Aber nicht nur, weil Melli keinen Widerspruch dulden würde, ich wusste, dass sie recht hatte.
Mit einem Kölsch in der Hand saßen Melli und ich auf der Dachterrasse in der Abendsonne und stießen auf die klaren, neuen Verhältnisse an.
»Wie soll ich es nur den Kindern sagen?«
»Das kommt darauf an, was du den Kindern sagen möchtest.«
Ich sah sie an. »Wie meinst du das?«
»Ich finde, dass Alex die Verantwortung übernehmen sollte, ihnen all das zu sagen und zu erklären, was er für sich entschieden hat. Sind sie nicht am kommenden Wochenende wieder bei ihm in Frankfurt?«
Ich nickte, und als ich daran dachte, ihn in ein paar Tagen wiederzusehen, zog sich mein Herz zusammen und die Wut kam zurück. Ich kannte dieses Gefühl seit fast einem Jahr.
»Wenn ich daran denke, dass er Freitag strahlend an der Haustür klingeln wird, Ben, Emma und Theo ihm um den Hals fallen, und er sie mit nach Frankfurt nehmen wird, könnte ich kotzen.«
Melli nickte: »In mir würde es auch kochen und es würde mir wahnsinnig schwerfallen, ihm nicht die Rolle des Buhmanns zuzuschieben, der die Familie für seine neue Familie verlassen hat.«
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Melli wusste, wie schwer es für mich gewesen war, den Kindern gegenüber kein schlechtes Wort über Alex zu verlieren. Ich hatte versucht, meine Traurigkeit und meine Wut vor ihnen zu verbergen, und mich zusammengerissen. Ich hatte Ben in den Arm genommen, wenn er sich verlassen gefühlt hatte und wütend weinte. Ich hatte Emma getröstet, wenn sie abends im Bett geschluchzt hatte, weil sie ihren Papa vermisste. Und ich hatte auf Theos Frage, ob er jetzt keine richtige Familie mehr hätte, entschieden geantwortet: »Du hast immer eine richtige Familie. Nur wohnt der Papa eben gerade woanders. Aber solange Papa und ich Ben, Emma und dich so sehr liebhaben, werden wir immer eine richtige Familie sein!«
»Arschloch!«, sagte ich und trank einen Schluck aus meiner Flasche.
»Arschloch!« Melli prostete mir zu. »Du schaffst das, Anne!«, sagte sie ernst und voller Überzeugung.
»Ich weiß«, antwortete ich, ebenso ernst, aber ein bisschen weniger überzeugt.
Wir lagen alle zusammen in meinem großen Bett. Ben, Emma, Theo und ich. Munter redeten die Kinder durcheinander. Emma ärgerte sich über die Zicken in ihrer Klasse, die beim Völkerball immer kreischten und weinten, wenn sie einen Ball abbekamen und nicht richtig werfen konnten. Ben pflichtete ihr bei. Theo hatte in der großen Pause zusammen mit seinem besten Freund Mats wieder Mädchen »spioniert« und in der Fußball‑AG zwei Tore geschossen, und Ben hatte heute im Sportunterricht einen neuen persönlichen Sprintrekord aufgestellt und war noch ganz erfüllt von dem Erlebnis. Ich sah meine großen Zwillinge und den Kleinen an, die aufgeregt und fröhlich auf dem Bett hüpften. »Los, auf die Mama!«, schrie Ben übermütig, und alle drei sprangen mit lautem Geschrei auf mich. Ich unternahm einen Versuch, mich zu wehren, und kitzelte, wen ich erwischen konnte, hatte gegenüber der wilden, laut glucksenden Meute aber nicht den Hauch einer Chance. Auf dem Nachttisch summte mein Handy. Ich befreite mich. Alex. »Arschloch!«, dachte ich und drückte ihn entschieden weg. In diesem Moment hatte er nichts bei uns verloren. »Wer war das?«, fragte Ben. »Ach, niemand Wichtiges«, antwortete ich, hüpfte wieder aufs Bett und rief lachend: »Revanche!«
Die Kinder schliefen friedlich in ihren Zimmern. Ich lag alleine im Bett und dachte über den Tag nach. Sollte er sich doch scheiden lassen, ich hatte eine wunderbare Familie. Meine eigene Familie. Ben, Emma, Theo und ich. Und wir waren eine richtige Familie.
»In diesem Moment hat er nichts bei uns verloren«, hatte ich vorhin gedacht, als die Kinder und ich zusammen getobt hatten. Und es stimmte nur halb, denn Alex hatte nicht nur in diesem Moment nichts mehr bei uns verloren gehabt, er hatte in meinem Leben überhaupt nichts mehr verloren. Und das nicht erst seit heute. Ich machte das Licht aus, drehte mich auf den Bauch und streckte mich weit aus in meinem großen Bett.
Frau Hansen, der Wilke war heute echt fies zu uns. Immer sind es Scharin und ich. Ey, der trägt uns immer gleich ins Klassenbuch ein und …«
»… du hast doch nur gelacht. Guten Morgen, Ayla. Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Zweite Stunde. Ich war gerade erst ins Klassenzimmer meiner neunten Klasse gekommen.
Ayla nickte. »Ja, Mann, ich schwör!«, ergänzte Scharin. »Der Wilke ist voll der …«
»Scharin, ist gut«, fiel ich ihr ins Wort, »ich habe eine ungefähre Ahnung von dem, was du mir mitteilen möchtest. Setzt ihr euch jetzt bitte auch hin.«
»Mann, immer wir …«, schimpften beide vor sich hin und gingen zu ihren Plätzen.
»Ich weiß, immer ihr. Ehrlich, ich kann mir auch nicht erklären, warum Herr Wilke immer euch ins Klassenbuch einträgt. Dabei seid ihr doch nur total gut drauf. Und irgendwie ist es ja wohl auch voll diskriminierend, dass man hier noch nicht mal lachen darf.« Ich grinste.
»Ach Mann, Frau Hansen, Sie sind scheiße!«, sagte Scharin, und ich sah, dass sie leicht schmunzelte.
»Aus deinem Mund klingt das glatt wie ein Kompliment.«
»Frau Hansen, die waren wirklich laut.« Selina. Jede Klasse hat ihren eigenen Klassenstreber. »Die machen das immer extra, um Herrn Wilke zu ärgern. Manchmal geht er dann nämlich einfach.«
Ob Selina das immer extra machte, um mich zu ärgern?
»Selina, halt’s Maul!«, schaltete sich Mert in dieses pädagogisch doch ausgesprochen mustergültige Gespräch ein. Selina guckte beleidigt zur Seite.
»Mert!«, sagte ich streng, wobei ich das Gleiche gedacht hatte. Im Gegensatz zu Mert, fünfzehn, impulsiv, voller Testosteron und, sagen wir, mit einer sehr direkten Art, hatte ich gekonnt meine Professionalität gewahrt. »So Leute, Schluss jetzt mit Herrn Wilke und Chemie. Wir fangen an.« Ein Stöhnen ging durch die Klasse. »Es ist immer wieder schön, wenn ihr euch so auf unsere Geschichtsstunden freut und eure Motivation so groß ist«, sagte ich, holte die vorbereitete Folie aus meiner Tasche und schaltete den Overheadprojektor ein.
»Anne …« Harald Wilke fing mich auf dem Weg ins Lehrerzimmer ab. »Wir müssen mal über das Verhalten deiner Klasse reden.«
Ich wusste, was jetzt kam, und sagte verständnisvoll: »Ich habe deinen Eintrag im Klassenbuch gelesen und werde mit beiden noch mal in Ruhe reden und ihnen deutlich die Konsequenzen aufzeigen, die ihnen bei weiteren Einträgen drohen.«
»Von der Schule geworfen gehören die!«
Von der Schule fliegen für zu lautes Lachen? Harald schien heute noch empfindlicher als sonst zu sein. »Die machen das ganz bewusst und wollen, dass ich mich aufrege!«
Warum musste er sich auch so reizen lassen? »Ich weiß, aber Harald, du kannst auch nicht einfach aus dem Chemieraum stürzen und die Klasse alleine lassen.« Ich setzte auf die Flucht nach vorne, und Harald guckte betreten und erschrocken. »Das weißt du?« Ich nickte leicht.
»Hast du es im Rektorat gemeldet?«
»Nein, natürlich nicht, und die Klasse auch nicht.«
Harald atmete auf.
»Am besten, du rufst heute Abend bei den Eltern an, dass sie über den Eintrag informiert sind. Und ich werde Ayla und Scharin wirklich ganz entschieden ihre Situation verdeutlichen, ja? Aber du musst ebenso versuchen, dich nicht so reizen zu lassen. Du kennst Selina und ihre Mutter. Wenn sie zu Hause erzählt, dass du gegangen bist, ist das Rektorat sofort im Bilde.« Ich guckte verschwörerisch.
Harald nickte und wirkte wieder ruhiger. »Das ist wahrscheinlich die beste Idee«, sagte er.
»Dann haben wir doch eine gute Lösung gefunden«, pflichtete ich ihm schnell bei und huschte an ihm vorbei ins Lehrerzimmer.
Ich brauchte erst einmal einen Kaffee. Wir waren heute Morgen alle zu langsam und darum fast zu spät dran gewesen. Ben, Emma und Theo waren eine Minute vor acht auf den letzten Drücker ins Schulgebäude gerast, und ich hatte es um zehn nach acht mit dem Klingeln zur ersten Stunde ins Klassenzimmer der Zehner geschafft, so dass keine Zeit mehr gewesen war, in Ruhe mit einer Tasse Kaffee im Lehrerzimmer im Schultag anzukommen. Meinen Kaffee in der Hand, setzte ich mich nun an meinen Platz und atmete durch.
Zack! Melli hatte den Kölner Stadtanzeiger vor mir auf den Tisch gepfeffert und guckte mich enthusiastisch an. Ich blickte eher fragend.
»Heute ist Mittwoch«, sagte sie, was meine Verwirrung nicht sonderlich entwirrte.
»Und?«
»Am Mittwoch und am Samstag stehen im Stadtanzeiger immer die Wohnungsinserate.« Sie ließ sich neben mich auf ihren Platz fallen. »Wenn etwas dabei ist, das dir gefällt, solltest du am besten heute noch anrufen.«
Ich fühlte mich überrumpelt. »Melli, das ist lieb … aber so weit bin ich noch nicht …«
Sie sah mich lieb an: »Liebelein, du weißt zwar erst seit gestern, dass du auf Wohnungssuche bist, aber damit kann man nicht früh genug anfangen. Guck dir die Inserate später zu Hause einfach in Ruhe an und überlege dir, was genau und wo du es suchst. Wenn eine Anzeige dabei ist, die dich interessiert, was hast du zu verlieren?«
Es klingelte.
»Ahhh, gerade sitzt man, da muss man wieder los«, fluchte Melli vor sich hin, dann nahm sie ihre Tasche und stand auf. »Wir reden später weiter, ja? Ich muss in die 5b. Die kann man nicht alleine lassen.« Dann war sie aus der Tür.
Vielleicht hatte Melli ja doch recht. Ich blickte wieder auf die Zeitung und trank den letzten Schluck Kaffee, dann steckte ich den Stadtanzeiger in meine Tasche und ging in meine Klasse.
Die aufgeschlagene Zeitung, eine Tasse Kaffee und eine angebrochene Tafel Toblerone, meine beste Freundin, gleich nach Melli, vor mir, saß ich am Esszimmertisch und studierte die Wohnungsanzeigen. Was konnte ich mir vorstellen? Ich nahm einen Schluck Kaffee und überlegte. Jedes Kind sollte schon ein eigenes Zimmer haben, und auch ich wollte nicht auf einem Sofabett im Wohnzimmer hausen. Ideal wäre noch ein kleines Arbeitszimmer. Vielleicht gab es ja auch eine Erdgeschosswohnung mit Garten? Die Wohnung musste in Nippes sein. Einen Schulwechsel wollte ich den Kindern nicht zumuten. Gut, ich suchte also eine Sechs-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Garten in Nippes. Der Blick in die Zeitung zeigte allerdings, dass es keine 6ZKB-Wohnung mit Garten in Nippes gab, dafür gab es zwei kleine Drei-Zimmer-Wohnungen, ein WG‑Zimmer und, Moment, das könnte vielleicht etwas sein, eine 150 Quadratmeter große Fünf-Zimmer-Wohnung in einem kernsanierten Altbau mit Dielenboden und großem Balkon. In einem kernsanierten Altbau mit Dielenboden und großem Balkon wäre ich bestimmt dazu bereit, auf mein Arbeitszimmer zu verzichten. Vielleicht hatte die Wohnung große Flügeltüren und Stuck an der Decke? Der Blick auf die Miete sagte mir dann aber, dass ich mir keine weiteren Gedanken über diese Wohnung machen musste. Frustriert nahm ich ein Stück von der Schokolade.
Es klingelte an der Haustür. Ich sah auf die Uhr. Halb vier. Die Kinder würden erst um kurz nach vier aus der Schule nach Hause kommen. Schnell trank ich noch einen Schluck Kaffee, stand auf und öffnete.
»Mutter?!« Ich wusste, dass ich nicht nur entgeistert geklungen hatte, sondern wahrscheinlich ebenso entgeistert guckte.
»Anne? Hast du etwa vergessen, dass ich mich für heute angekündigt hatte?« Meine Mutter gab mir einen Kuss auf die linke und einen Kuss auf die rechte Wange.
»Natürlich nicht. Komm rein.« Natürlich doch! Alle zwei Wochen hatte meine Mutter einen Termin bei ihrer Kosmetikerin bei mir um die Ecke, für den sie extra aus Düsseldorf anreiste. Sonst neigte ich dazu, die anstehenden Besuche meiner Mutter zu verdrängen, bis sie kurz vor der Tür stand. Dieses Mal hatte ich ihren Besuch wirklich vergessen.
Meine Mutter war wie immer perfekt zurechtgemacht. Ihre graublonden kinnlangen Haare waren gekonnt mit einem Haarreifen zurückgehalten, und sie war ausgehfein geschminkt. Sie trug eine edle, weiße Seidenbluse, einen engen, dunkelgrauen Bleistiftrock, feine Schuhe mit Absatz und eine ebenso feine Handtasche. Sie musterte mich mit ihrem gewohnt kritischen Blick. Von oben bis unten. Zurück aus der Schule hatte ich die Wäsche gemacht und Jeans und Bluse gegen Jogginghose und ein weites T‑Shirt getauscht, das, ich sah es, als ich jetzt auch an mir hinunterguckte, einen Kaffeefleck hatte. Mein Blick wanderte weiter. Barfuß stand ich im Flur, und der Nagellack auf dem rechten großen Zeh hatte die Turnschuhe heute Vormittag nicht gut überstanden. Ich wusste, was jetzt kommen würde …
»Dann hättest du dich doch ruhig vernünftig anziehen können. Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du dich so gehen lässt«, bemerkte sie und ging an mir vorbei ins Haus.
Womit wir beim Lieblingsthema meiner Mutter wären. Dieses Mal gleich und sofort und direkt und nicht als feine Spitze verkleidet in irgendeinem ihrer Sätze. Meine Mutter war das komplette Gegenteil von »sich gehen lassen«. Sie war die gelebte Selbstkontrolle. Ich kannte sie nur perfekt konserviert, immer stilvoll gekleidet, frisiert und gestylt, als wäre sie zum Tee beim Bundespräsidenten eingeladen. »Einmal Chefsekretärin, immer Chefsekretärin«, sagte sie immer, oder: »Dein äußeres Erscheinungsbild ist deine Visitenkarte.« Im Sommer würde sie siebzig werden, und ich musste zugeben, dass sie sich sehr gut gehalten hatte. Ich hätte in dem Bleistiftrock bestimmt wie eine Presswurst ausgesehen.
»Magst du es dir schon mal gemütlich machen? Ich setze schnell Teewasser auf«, rief ich ihr resigniert hinterher.
Gerade als ich den Earl-Grey-Tee, den meine Mutter so gerne trank, aufgegossen hatte, hörte ich sie: »Warum liegt denn der Wohnungsteil des Stadtanzeigers auf dem Esszimmertisch?«, fragen. Der Stadtanzeiger … Boah, Anne! Ich war so doof. Auf die große, komplette, finale Beichte hatte ich heute keine Lust. Die Wunden waren noch zu frisch. Fiel mir schnell eine überzeugende Ausrede ein? Ich lehnte meinen Kopf an den Hängeschrank und dachte angestrengt nach.
»Anne? Hast du mich gehört?«
Augen zu und durch.
»Ich suche eine Wohnung«, antwortete ich möglichst beiläufig, öffnete den Hängeschrank und griff nach Keksen.
»Aber warum?« Meine Mutter wirkte irritiert.
Mit einem Tablett, auf dem zwei Teetassen, die Teekanne und ein Schälchen mit Keksen standen, kam ich ins Wohnzimmer. Ich stellte die Sachen auf den Tisch, faltete die Zeitung zusammen und schenkte dampfenden Tee in die beiden Tassen. »Alex will die Scheidung.« Gut. Ich war ruhig geblieben und hatte im Idealfall sogar entspannt geklungen. Ich reichte ihr eine Tasse Tee. »Zucker?«
Meine Mutter wirkte ein wenig blass unter ihrem Rouge, nickte nur, sagte aber nichts, woraufhin ich ihr einen Löffel Zucker in den Tee gab und fortfuhr.
»Er zieht zu seiner Freundin nach London. Das Haus können wir uns nicht weiter leisten.«
»Die Stewardess?«, fragte sie.
»Die Stewardess bekommt ein Baby«, antwortete ich.
»Ach Anne, warum hast du es denn so weit kommen lassen?«
»Bitte?!« Meine innere Ruhe war dabei, zu verpuffen.
»Ich meine, wenn du dich ein bisschen mehr um ihn gekümmert hättest. Männer wollen sich mit ihren Frauen schmücken.«
Verpufft. »Das ist jetzt ja wohl die Höhe! Um ihn kümmern?! Der Herr fliegt als Pilot um die Welt, während ich zu Hause alles manage. Hausaufgaben, Fahrten zum Fußballtraining, zur Klavierstunde, zum Schwimmen, zur Rechtschreibförderung, Elternabende, Kindergeburtstagsgeschenke, Kinderarztbesuche, Waschen, Putzen, Einkaufen, Kochen … das mache alles ich, und dazu gehe ich ebenso arbeiten … Und dann soll ich ihn, wenn er von einem weiten Flug nach Hause kommt, perfekt frisiert und zurechtgemacht empfangen und verwöhnen, während die lieben Kinder, frisch gebadet, sauber und wunderbar duftend, friedlich im Bett schlafen? Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!«
Während ich kochte, war meine Mutter die Ruhe selbst.
»Was bist du so verbittert? Männer wollen das.«
»Dann will ich den Mann nicht! Das ist doch ein vollkommen antiquiertes Männerbild! Ich möchte eine gleichberechtigte Partnerin sein und von meinem Mann ernst genommen und geachtet werden, kein Schmuckstück, das das Denken einstellt und dem Ehemann zur Begrüßung am besten nicht nur die Pantoffeln und ein kühles Bier reicht, sondern ihm gleich auch noch einen bläst!«
»Anne, nun werde nicht so vulgär. Ich verstehe deinen Zorn, aber hätte Alex eine Affäre mit dieser Stewardess angefangen, wenn ihm der gleichberechtigte Austausch gereicht hätte?«
Das saß. »Du willst also sagen, dass ich schuld bin?!!« Meine Stimme überschlug sich.
»Kind, ich missbillige Alex’ Verhalten. Ich suche nur die Ursache dafür. Du hast dich gehen lassen. Schau dich doch an. Nur noch Mutter, nicht mehr Frau. Wobei es müßig ist, weiter darüber zu reden, er hat seine Entscheidung ja gefällt.«
Für meine Mutter war das Thema damit beendet. Für mich noch lange nicht.
»Alex und ich kennen uns seit fünfzehn Jahren. Mit der Hochzeit haben wir uns geschworen, ehrlich zueinander zu sein, in guten und in schlechten Zeiten. Wir haben drei Kinder bekommen. Ich habe mich nicht aus der Verantwortung gestohlen und meiner Ehe keine Chance gegeben. Ich habe niemanden einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und bin gegangen. Nicht, dass ich ihm unterstelle, es wäre ihm leichtgefallen, aber es hat mich so sehr verletzt, dass er nicht um uns gekämpft hat oder uns hat gemeinsam kämpfen lassen. Nach all den Jahren, die wir zusammen waren. Ich hatte keine ehrliche Chance. Und das tut weh! Das Scheitern meiner Ehe auf die Kilos zu schieben, die ich in deinen Augen vielleicht zu viel habe, und darauf, dass ich meine Prioritäten anders setze, als Stunden vorm Spiegel zu verbringen, um mir die Haare aufzudrehen, Anti-Falten-Cremes ins Gesicht zu schmieren oder mich so zu schminken, als wäre ich zu einer Gala eingeladen, ist gemein, unpassend und vollkommen unangemessen. Das verbitte ich mir! Ich weiß, dass du das nicht verstehst, Mutter, aber es gibt mehr als nur die perfekte äußere Hülle!«
»Ich bin schon ruhig und sage gar nichts mehr«, sagte sie pikiert und blickte versteinert. »Nur, wie soll das nun gehen, so ohne Mann?«
»Das geht schon ein Jahr so ohne Mann«, schleuderte ich ihr wütend entgegen.
In der Haustür drehte sich ein Schlüssel. Die Kinder. Ich versuchte mich zu fangen, legte die Zeitung zusammen und sagte schnell zu meiner Mutter: »Ben, Emma und Theo wissen es noch nicht, das heißt, dass du bitte all deine Kommentare für dich behältst!«
»Wie du meinst«, bemerkte sie spitz. Ich wusste, dass sie beleidigt war. Sollte sie doch.
»Hallo, Mama!«, rief es aus dem Flur. Zumindest meine Laune hellte sich schlagartig auf. Ich musste nicht länger alleine sein mit dieser miesmäuligen Alten, sondern konnte in fröhliche Gesichter gucken und kichernde Kinder knuddeln. »Hey, ihr Süßen!«
Ben und Theo kamen durch die Tür. »Oh, hallo, Oma Margarethe.«
»Guten Tag, Ben. Guten Tag, Theo«, sagte meine Mutter steif und steckte ihnen förmlich die Hand entgegen, die beide schüttelten. Meine Mutter war keine Knuddeloma. Sie war schon keine Knuddelmama gewesen. Aber ich war das. Glücklich drückte ich meine beiden Herren. »Wo habt ihr Emma gelassen?«, fragte ich. »Die quatscht noch mit Pauline. Mädchenkram«, klärte Theo mich auf, und ich musste grinsen. »Wie war’s in der Schule?« »Gut«, war Bens Antwort, wie üblich. Wenn Emma nicht in seiner Klasse wäre, hätte ich wahrscheinlich gar keine Ahnung, was er den Schultag über so machte oder was in der Schule passierte.
Aus Theo sprudelte es hingegen nur so heraus: »Mama, ich habe Emil Darth Vader abgetauscht, gegen drei normale Karten.« Er hüpfte vor Begeisterung und hielt mir seinen neuen Schatz vor die Nase. »Schau!!!« Theo riss seine blauen Strahleaugen weit auf, »198! 100 Angriff und 98 Verteidigung! Das ist voll die Entwicklung.« Ich hatte wieder mal keine richtige Ahnung davon, was genau er mit Entwicklung meinte. Die Star Wars-Welt war für mich Galaxien entfernt. Ich wusste aber, dass das in seiner Theo-Karten-Welt etwas ganz Wichtiges war, und nickte anerkennend. »Ich geh nach oben und tu ihn in mein Album.« Schon war er auf der Treppe nach oben verschwunden.
Ben setzte sich mit einem Joghurt zu uns an den Tisch. »Ben«, wandte sich meine Mutter an meinen großen Sohn, »hast du in der letzten Zeit Klassenarbeiten zurückbekommen?« »Nein«, war seine knappe Antwort. Ben ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und löffelte seinen Joghurt zu Ende. Am Montag hatte er eine Vier in einem unangekündigten Deutschtest mit nach Hause gebracht, und er kannte seine Großmutter. Ich musste grinsen. Er hatte genauso wenig Lust auf ihre Standardansprache über die Wichtigkeit von guten Noten wie ich auf ihre Standardansprachen über alles, was in meinem Leben anders war als in ihrem. Ich wuschelte durch seine blonden Haare und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Ben stand auf, warf den leeren Joghurtbecher in den Müll und räumte den Löffel in die Spülmaschine. Dann nahm er seinen Ball und sagte: »Ich geh mit Finn auf den Bolzer.« »Musst du gar keine Hausaufgaben machen?«, fragte meine Mutter. Ben schüttelte den Kopf. »Die haben sie in der Schule gemacht«, erklärte ich und wusste nicht, wie oft ich schon versucht hatte, ihr zu vermitteln, dass die drei auf einer Ganztagesschule waren. Egal. »Tschüss, Oma Margarethe«, rief Ben und war schon aus der Tür.
»Mamaaaa!« Emma kam auf mich zugestürmt und umarmte mich. »Oh, hallo, Oma Margarethe.«
»Guten Tag, Emma.« Meine Mutter musterte meine Tochter von oben bis unten. »Ach Kind, du hast doch auch so schöne Kleider.«
»Warum?« Emma hatte sich heute Morgen das 1.-FC-Köln-Trikot angezogen, das sie sich zum Geburtstag gewünscht hatte, dazu eine Jeansshorts und Turnschuhe. Die Haare lockten sich wild auf ihren Schultern. Ihre blauen Augen sahen meine Mutter fragend an.
»Wenn man dich so sieht, meint man, du bist ein Junge.«
Ich war dabei, den Tisch abzuräumen, und verdrehte hinter dem Rücken meiner Mutter die Augen, was Emma zum Grinsen brachte. Sie sah ihre Großmutter herausfordernd an und bemerkte keck: »Ich weiß, dass ich ein Mädchen bin.« Dann nahm sie sich eine Banane aus dem Obstkorb und hüpfte, »Ich geh zu Pauline!«, rufend aus dem Haus.
Meine Mutter sah ihr nach und schüttelte den Kopf. »Sie könnte ein so hübsches Mädchen sein.«
»Sie ist ein so hübsches Mädchen! Mutter, es reicht, wenn du an mir herummäkelst. Verschone meine Kinder!« Das volle Tablett in der Hand, ging ich in die Küche.
Sie war aufgestanden und hinter mir hergekommen. »Wenn ich meine S‑Bahn noch bekommen will, muss ich aufbrechen. Albert lädt mich heute Abend in die Oper ein, und ich möchte mich vorher noch ein wenig ausruhen. Der Nachmittag bei dir war dann doch sehr anstrengend.«
»Soll ich jetzt die Frage stellen, an wem das lag?«
»Und wieder lässt du deinen Frust an mir aus.«
Es hatte keinen Sinn. Eigentlich war ich inzwischen ganz gut darin, meine Mutter auszuhalten und sie einfach reden zu lassen. Aber heute war ich wirklich sauer.
»Du wolltest doch deine S‑Bahn nicht verpassen.«
Ich räumte die Teetassen in die Spülmaschine. Meine Mutter wahrte die Contenance. »Dann sehen wir uns in zwei Wochen.« Küsschen links. Küsschen rechts. Und die Heimsuchung war vorbei.
Erschöpft ließ ich mich aufs Sofa fallen. Meine Mutter … Jetzt ehrlich, ich musste mir um die seelische Gesundheit meiner Kinder keine weiteren Gedanken machen, ich hatte es bisher schließlich auch geschafft, meine Mutter zu überleben, ohne beim Psychiater zu landen, obwohl ich mich manchmal selbst darüber wunderte.
Meine Eltern hatten sich bei Ford in der Kantine kennengelernt. Meine Mutter war nach ihrer Zeit als Lehrmädchen übernommen worden und arbeitete im Büro. Mein Vater war Schichtleiter in der Werkstatt. Ich weiß bis heute nicht, wie beide sich ineinander hatten verlieben können. Vielleicht waren es die Gegensätze, die sich bekanntlich ja anziehen sollen. Wobei ich der Meinung war, dass bei allen Gegensätzen, ein kleiner gemeinsamer Nenner da sein musste, um überhaupt eine gemeinsame Chance zu haben. Auf der einen Seite mein Vater, zufrieden mit seinem Leben, seinem Job, ausgeglichen und fröhlich. Auf der anderen Seite meine Mutter, nie zufrieden, ehrgeizig, alles besserwissend. Das hatte einfach nicht gut gehen können.
Nach der Scheidung war ich bei meinem Vater geblieben. Vor elf Jahren war er gestorben. Ein Herzinfarkt. Von jetzt auf gleich. Mitten in meinem Staatsexamen. Auch heute noch vermisste ich ihn und sein liebes Wesen. Ich war ein Papa-Kind gewesen und hatte nie ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter gehabt. Auch vor dem Tod meines Vaters war sie wenig herzlich gewesen und hatte immer etwas an mir auszusetzen gehabt. Nach seinem Tod hatte ich das Gefühl, ihr gar nichts recht machen zu können. Ich hatte viel darüber nachgedacht, warum meine Mutter mir gegenüber so war, wie sie war, und war mir sicher, dass es ihr wehtat, so viel von meinem Vater und seinem Wesen in mir zu sehen. Seit fünf Jahren war sie nun im Ruhestand, und ich fand, dass sie noch selbstbezogener und gnadenloser geworden war. Ich schob das auf den Altersstarrsinn und darauf, dass sie das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, frustrierte. Wie dem auch sei, Margarethe Frey ungefiltert war nicht leicht zu ertragen, und ich fragte mich, wie es ihr Albert mit ihr aushielt. Wobei er ihr ähnlich war. Vielleicht war das das Geheimnis ihrer Beziehung. Albert, ich meine Prof. Dr. Albert Feldmann, Richter a. D., und meine Mutter hatten sich beim Tanztee in einem feinen Kölner Café kennengelernt und waren seit fünfzehn Jahren ein Paar.
»Mama?« Theo riss mich aus meinen Gedanken. »Guck mal, ich habe alle Karten einsortiert.« Er hielt sein Star Wars-Album in den Händen. »Kann ich ein Eis?«
»Klar, Theo-Bär, aber nur, wenn du mich vorher einmal ganz fest drückst.«
Lachend kam mein kleiner Mann auf mich zu, umarmte mich und drückte mich so fest, wie er konnte.
Ich saß in meinem Arbeitszimmer und bereitete den Unterricht für morgen vor. Die Kinder waren eben erst eingeschlafen, und ich genoss die Ruhe. Der Tag hatte mich geschafft. Nur noch die Geschichtsstunde in meiner Klasse, und ich konnte auch ins Bett. Hannes, der Referendar an meiner Schule, hatte mich heute Morgen gefragt, ob er mit in die Stunde kommen könnte. Mein Handy piepste. Alex. Der fast Exmann. Seit ich gestern aus dem Restaurant gestürmt war, hatte er mehrfach angerufen und einige Nachrichten geschrieben. Ich hatte ihn immer weggedrückt oder nicht abgenommen. Seine Nachrichten hatte ich aber gelesen, und ich wusste, dass er ein schlechtes Gewissen hatte und sich Sorgen machte, was ja wohl auch das Mindeste war.
Anne, bitte ruf mich an, auch wenn Du mich nicht sprechen willst, was ich verstanden habe und verstehen kann. Wann soll ich Freitag die Kinder abholen? Dein Alex
Dein Alex?! Das konnte er sich sonst wohin schreiben! Arschloch! Leider würde dieses Arschloch am Freitag vor der Tür stehen und die Kinder holen … Die Wochenenden, die die Kinder in diesem Monat bei ihm in Frankfurt waren, hatten wir schon vor ein paar Wochen ausgemacht. In zwei Monaten, im Juni, standen bei ihm einige lange Flüge an, so dass bis dahin an fast jedem Wochenende Frankfurt im Familienkalender stand. Auch wenn ich nicht das geringste Bedürfnis verspürte, ihn am Freitag zu sehen, geschweige denn mit ihm zu reden, würde ich wohl oder übel zurückrufen und mit ihm sprechen müssen.
»Anne, endlich!« Alex klang erleichtert, »bist du gestern gut zu Hause angekommen?«
»Um mich musst du dir keine Sorgen machen«, bemerkte ich kühl.
»Es tut mir leid …« Ich kannte Alex. Er meinte es ernst.
»Du kannst die Kinder wie immer gegen fünf abholen.« Ich hatte keine Lust auf ein richtiges Gespräch und hielt mich an das Organisatorische.
»Hast du es ihnen erzählt?«, fragte er zögernd.
»Nein.«
Er schwieg.
»Ich finde, dass es an dir ist, sie über die neue Situation aufzuklären.«
»Und wenn wir es ihnen gemeinsam sagen …?«, meinte Alex unsicher.
Mein »Nein!« klang entschieden, schneidend und kalt. Genau so war es gemeint. »Du hast die Entscheidung getroffen. Allein. Nun wirst du deine Entscheidung mit allen Konsequenzen auch unseren Kindern mitteilen.«
Alex atmete tief ein und aus. »In Ordnung«, sagte er schließlich, »ich bin um fünf da.«
»Bis dann.« Ich legte auf. Kein Stich mehr. Kein krampfendes Herz. Nur Wut. Und diese Wut fühlte sich gut an.
Es war kurz vor fünf, und Alex würde gleich kommen. »Habt ihr alles dabei, was ihr mitnehmen wollt?« Ich hatte inzwischen Routine darin, ihre Sachen für die Wochenenden in Frankfurt zu packen, aber besonders den Jungs fiel im letzten Moment immer etwas ein, das dringend mitmusste. Drei blonde Kinderköpfe nickten. »Theo, was ist mit deinem Star Wars-Album?« Erschrocken riss er seine Augen auf und flitzte an mir vorbei die Treppe hinauf. »Ich find’s nicht. Mamaaaa …« Ich atmete durch und ging hinterher. Wie immer. »Theo, wo hast du es denn als Letztes gehabt?« »Hier.« Er stand mitten in seinem Zimmer, das ein einziges Chaos war und in dem Lego-Steine, Fußballsammelkarten, Comics und viel mehr auf dem Boden lagen, aber kein Star Wars-Album. »Das kann ja nun nicht richtig sein, dann wäre es ja noch immer da. Denk doch noch mal scharf nach.« Ich schaute hinter dem Bett, weil ich mich zu erinnern meinte, dass er gestern Abend seine Star Wars-Karten im Bett sortiert hatte. Nichts. Jedenfalls kein Star Wars-Album, aber eine leere Tüte Gummibärchen. »Theo, wie soll man in diesem Chaos denn was finden?« Ich wurde langsam ärgerlich, und Theo wurde langsam hektisch: »Aber ich muss Papa doch unbedingt die Darth-Vader-Karte zeigen! Mama, echt.«
»Ich hab’s!« Emma stand in der Tür und hielt das Album in den Händen. Theo hüpfte freudestrahlend auf sie zu, und ich hätte meine Tochter knutschen können. Während ihre Brüder gut im Suchen waren, irgendetwas suchten sie schließlich immer, war Emma gut im Finden. »Du hast es vorm Klo liegen lassen«, sagte sie. »Mensch, Theo«, entfuhr es mir, doch wie er fröhlich die Treppe hinunterhüpfte, konnte ich ihm nicht wirklich wütend sein. Ich nahm Emma in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf den Wuschelkopf. »Danke, Süße. Was wäre ich nur ohne dich, alleine mit diesen beiden Chaoten?« Emma grinste keck und sagte dann altklug: »Wir Mädels müssen doch zusammenhalten.«
Das Klingeln riss mich aus meinem kleinen Mutter-Tochter-Moment. »Ich mach auf!«, rief Ben. »Papa!!!!«, hörte ich die Jungs glücklich rufen. Schnell drückte Emma mir einen Kuss auf die Wange, rannte die Treppe hinunter und fiel ihrem Vater um den Hals, wo ihre beiden Brüder schon lachend hingen. Mir war nicht nach lachen. Gar nicht. Den ganzen Tag hatte ich es einigermaßen geschafft, den Gedanken, Alex heute wiederzusehen, zu verdrängen. Nun stand mein Ehemann, sprich baldiger Exmann, behangen mit unseren Kindern im Flur. Jegliche Verdrängungsstrategie half nicht weiter. Es würde nichts bringen, hier einfach sitzen zu bleiben und zu hoffen, gleich würde der Wecker klingeln und ich hätte alles nur geträumt. Genauso wenig würde ich morgens aufwachen und die Figur eines Supermodels haben. Die Figur hatte Naomi. Und die hatte auch meinen Ehemann, sprich Exmann. Ich atmete tief ein und ging langsam nach unten.
»Hallo, Anne.« Alex stand auf. Er wirkte genauso hilflos, wie ich mich fühlte. »Hallo, Alex.« Ich blieb auf der untersten Stufe stehen und nickte ihm zu. Er versuchte, zu lächeln. Ich blickte zur Seite, und mein Blick traf Emmas, die mich seltsam ansah. »Die Tasche ist fertig gepackt, und Theo brennt darauf, dir seinen neuen Schatz zu zeigen«, sagte ich schnell. »Jaaaa, Papa, weißt du, ich habe die wertvollste Star Wars-Karte. Darth Vader. Der hat 198!!!« Alex hob anerkennend die Augenbraue. »Wie viel im Angriff und wie viel in der Verteidigung?«, fragte er, und Theo kriegte sich vor Begeisterung gar nicht wieder ein. Alex nahm die Tasche. »Ich bring sie am Sonntag wie immer gegen achtzehn Uhr zurück, ja?« Ich nickte. »Tschüss Mama!« Meine drei stürmten auf mich zu, um sich zu verabschieden. Es war jedes Mal nicht leicht und tat weh, sie für das Wochenende gehen zu lassen, doch heute fiel es mir entsetzlich schwer. Ben, Emma und Theo umarmten mich, und ich hielt sie einen Moment länger und fester als sonst. Alex war schon aus der Tür, und die Jungs stürmten sich gegenseitig kabbelnd hinterher. »Ich hab dich so lieb, Mama«, flüsterte Emma in mein Ohr, »wir halten zusammen.« Sie lächelte mich aufmunternd an. Dann gab sie mir einen Kuss und lief hinter ihren Brüdern her. Ich winkte nicht. Ich schloss die Haustür. Tränen liefen über mein Gesicht, und nichts ließ sich mehr nach hinten schieben oder verdrängen. Es traf mich mit voller Wucht. Ich war ihre Mutter und wollte sie beschützen, ihnen das Unbeschwerte mit all meiner Kraft erhalten. Ich wollte nicht, dass es ihnen wehtat, und wusste doch, dass es so sein würde und ich es nicht verhindern konnte. Ich konnte nichts tun.
Es hatte geklopft, und ich hörte jemanden durch die Terrassentür ins Wohnzimmer kommen. »Anne?« Ich weiß nicht, wie lange ich hinter der Haustür gesessen und geweint hatte. Nun stand ich auf und versuchte, mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Anne? Ich will nicht stören, ich hab nur eine Fra …« Karen, meine Nachbarin, hatte mich entdeckt, und ich unternahm den zaghaften Versuch, zu lächeln, was nicht so richtig gelingen wollte. »Du meine Güte, was ist denn los?«, rief sie besorgt und nahm mich in den Arm.
»Und ihr könnt das Haus wirklich nicht halten?«, fragte Karen ernst. Ich schüttelte den Kopf. Wir saßen, zwei Gläser Rotwein vor uns, am Esszimmertisch, und ich hatte ihr alles erzählt. »Es war im letzten Jahr mit den zwei Wohnungen schon oft knapp.« Sie lächelte mich aufmunternd an: »Wenn du willst, kann ich mich in der Praxis umhören und Tobi bitten, im Revier zu fragen. Und beim Umzug kannst du natürlich auch auf uns zählen.« Seit sieben Jahren wohnten wir nun schon nebeneinander, und aus der guten Nachbarschaft war eine enge Freundschaft geworden.
Ich sah mich um. »Weißt du, irgendwie freue ich mich sogar ein bisschen darauf, aus diesem Haus mit all den Familienerinnerungen auszuziehen. Aber für die Kinder ist es ihr Zuhause.«
»Ben, Emma und Theo sind da zu Hause, wo du zu Hause bist. Ich bin mir sicher, dass sie gut mit der neuen Situation klarkommen werden. Das haben sie im letzten Jahr schon so toll gemacht. Du hast starke Kinder. Und du bist eine starke Mama. Hey, du hast das letzte Jahr geschafft. Gut geschafft. Das, was jetzt kommt, schafft ihr vier auch. Das weiß ich.«
»Was mache ich nur, wenn ihr nicht mehr neben uns wohnt? Oder neben Lena und Mark? Die Kinder müssen nur aus dem Haus, um bei ihren besten Freunden zu klingeln. Und was wird aus unserem spontanen Wein am Abend?«
»Ganz gleich, wo du eine Wohnung findest, die Kinder werden weiter beste Freunde bleiben, und wir werden weiter unseren spontanen Wein am Abend trinken. Und darauf trinken wir!« Sie hob das Glas. »Auf das Neue, was kommt, und das Alte, was bleibt!«
»Nein. Auf das Alte, was bleibt, und das Neue, was kommt!«, sagte ich und hob ebenfalls mein Glas.
»Wie auch immer.« Karen lachte. »So gefällst du mir jedenfalls schon viel besser.« Unsere Gläser klangen.
»Und weißt du, was wir jetzt machen?« Karen stellte ihr Glas auf den Tisch und war ganz aufgeregt. »Wir gehen aus!«
»Wir? Jetzt?«
»Wir! Jetzt! Ich war schon ewig nicht mehr aus! Und du hast kinderfrei. Komm, wie klingeln bei Lena, und dann ziehen wir verwegen um die Häuser!« Karen strahlte begeistert.
»Ich weiß nicht …«, meinte ich zögernd.
»Ach was. Es bringt doch auch nichts, nachdenklich hier rumzusitzen. Wir machen uns jetzt hübsch, und dann geht es los.«
Irgendwie war ihre Laune ansteckend. »Also gut!«, sagte ich.
»Wunderbar. Ich frag Lena. Wir treffen uns in einer halben Stunde vor der Haustür. Ausgehfein.« Karen war schon fast wieder durch die Terrassentür verschwunden.
»Karen?!«, rief ich hinter ihr her.
»Ja?«
»Was wolltest du vorhin eigentlich fragen?«
»Ob Ben und Emma ihren Wochenplan mit nach Hause genommen haben. Finn ist in der Woche nicht fertig geworden und hat seinen natürlich in der Schule vergessen. Aber das ist nicht so wichtig. Auf, Frau Hansen, mach, dass du ins Badezimmer kommst!« Und weg war sie. Dreißig Minuten. Ich sollte mich besser beeilen.