Kooperatives Lernen im Englischunterricht - Andreas Bonnet - E-Book

Kooperatives Lernen im Englischunterricht E-Book

Andreas Bonnet

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Beschreibung

Welchen Nutzen hat Kooperatives Lernen? Auf welche Widerstände stößt es in der Praxis? Welche Rolle spielen Lehrer*innen dabei? Das Buch beantwortet diese Fragen theoretisch und empirisch. Vier Lehrer*innen wurden über drei Jahre begleitet, wie sie ihren Englischunterricht der Klassenstufen 5, 6 und 7 kooperativ gestalteten. Der Unterricht wurde videographiert. In Interviews erzählten und reflektierten die Lehrer*innen ihre Erfahrungen. Die Entwicklung der Sprachkompetenz der Schüler*innen wurde durch C-Tests erhoben. Dabei erwies sich kooperativer Englischunterricht lehrerzentriertem Englischunterricht als mindestens gleichwertig. Die lehrbuchorientierte Routine des Englischunterrichts und die konkurrenzbezogene Leistungsorientierung des Gymnasiums aber brachten die Lehrer*innen in Konflikte, erschwerten Kooperation und verhinderten einen kommunikativen Englischunterricht.

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Andreas Bonnet / Uwe Hericks

Unterrichtsprozesse, Sprachentwicklung und Professionalisierung beim Kooperativen Lernen im Englischunterricht

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8427-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0241-4 (ePub)

Inhalt

Vorwort1. Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen1.1 Auftakt des Projekts1.1.1 Die Perspektive der Lehrer*innen1.1.2 Die Perspektive der Forscher*innen1.2 Die Fragen des Projekts2. Theorierahmen und Forschungsstand2.1 Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens2.2 Der Begriff des Kooperativen Lernens2.2.1 Kooperatives Lernen: Think-Pair-Share2.2.2 Kooperatives Lernen: Basiselemente2.2.3 Begriffskritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik2.3 Theorien zu Kooperativem Lernen2.3.1 Gruppendynamik und Motivation2.3.2 Theoriekritik aus Fremdsprachenforschung und Schulpädagogik2.4 Forschungsstand2.4.1 Befunde der Lernerforschung2.4.2 Befunde der Unterrichtsforschung2.4.3 Befunde der Fremdsprachenforschung2.4.4 Befunde der Lehrerforschung2.5 Zusammenfassung2.5.1 Begriffsverwendung in dieser Studie2.5.2 Kurzresümee des Forschungsstands2.5.3 Forschungsfragen dieser Studie2.5.4 Anlage und Methoden dieser Studie3. Unterrichtsstudie3.1 Theorierahmen: Unterrichtsforschung3.1.1 Unterricht: Sozialität und Pädagogizität3.1.2 Theorierahmen der Unterrichtsstudie3.1.3 Methodologie und Methode der Unterrichtsstudie3.2 Unterricht in der Klasse von Yvonne Kuse3.2.1 Klasse 5: Form-Orientierung und Lehrerdominanz3.2.2 Klasse 6: Ambivalenz von Kooperation und Lehrerzentrierung3.2.3 Klasse 7: Kooperation, Form-Orientierung, Bewertung3.2.4 Entwicklung über den Projektzeitraum3.3 Unterricht in der Klasse von Silke Borg3.3.1 Klasse 5: Gruppenarbeit, (noch) ohne Kooperativität3.3.2 Klasse 6: Form-Orientierung und Kooperation3.3.3 Klasse 7: Produkt-Orientierung und Handlungsgemeinschaft3.3.4 Entwicklung über den Projektzeitraum3.4 Fallvergleich3.4.1 Vergleich: Entwicklungen in den Klassen3.4.2 Zusammenfassung und Ausblick4. Studie zur Sprachkompetenz4.1 Zielsetzung der Teilstudie4.2 Theorierahmen: Sprachkompetenzforschung4.2.1. Der unterliegende Kompetenzbegriff4.2.2 Sprachkompetenz in dieser Studie4.3 Messmethode: C-Test4.3.1 C-Test: Prinzipien und Auswertung4.3.2 Analyse der C-Tests: Klassische Test-Theorie4.3.3 Rasch-Analyse der C-Tests4.4 Ergebnisse4.4.1 Ergebnisse der quantitativen Analyse4.4.2 Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Vorgehen4.4.3 Kriteriumsbasierte Testwertinterpretation: Ergebnisse4.5 Diskussion4.5.1 Sprachkompetenz der Schüler*innen4.5.2 Deskriptive Befunde im Fallvergleich5. Professionsstudie5.1 Theorierahmen: Professionsforschung5.1.1 Der Begriff der Profession5.1.2 Ansätze der Professionsforschung5.1.3 Theorierahmen der Professionsstudie5.1.4 Methodologie und Methode der Professionsstudie5.2 Der Fall Yvonne Kuse5.2.1 Yvonne Kuse zu Projektbeginn5.2.2 Entwicklungslinien im Fall Yvonne Kuse5.2.3 Zusammenfassung des Falls Yvonne Kuse5.3 Der Fall Silke Borg5.3.1 Silke Borg zu Projektbeginn5.3.2 Entwicklungslinien im Fall Silke Borg5.3.3 Zusammenfassung des Falls Silke Borg5.4 Fallvergleich5.4.1 Ausgangssituation5.4.2 Orientierungsrahmen zu Kooperativem Lernen5.4.3 Professionalisierungsprozesse5.4.4 Wechselwirkungen und Zusammenhänge6. Diskussion: Die (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule6.1 Zentrale Befunde der Teilstudien6.1.1 Befunde der Unterrichtsstudie6.1.2 Befunde der Professionsstudie6.1.3 Befunde der Sprachstudie und Wirkungen des Unterrichts6.2 Teilstudienübergreifende Erkenntnisse6.2.1 Die ‚Nulllage‘ des (gymnasialen) Englischunterrichts, ihre Stabilisierung …6.2.2 … und Wege aus ihr heraus6.2.3 Englischunterricht und Kooperatives Lernen7. Wake up and smell the coffeeLiteratur

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert ein Projekt zum Kooperativen Lernen1 im Englischunterricht. Wir haben vier Lehrerinnen und Lehrer des Faches Englisch an einer Hauptschule und einem Gymnasium über insgesamt drei Jahre dabei begleitet, wie sie ihren Unterricht phasenweise auf Kooperatives Lernen umgestellt haben. Im Verlauf des Projekts haben wir die Auswertung unserer Daten mehr und mehr auf zwei Lehrerinnen konzentriert, die sich in mancherlei Hinsicht als stark kontrastierende Fälle herausstellten – und das, obwohl zwischen ihnen auch große Gemeinsamkeiten bestehen. Sie unterrichten beide am selben Gymnasium in parallelen Lerngruppen Englisch und gehören zu den wesentlichen Initiatorinnen unseres Projekts. Wir nennen sie Silke Borg und Yvonne Kuse.

Auf diese Weise entstanden zwei ausführliche Einzelfallstudien über diese Lehrerinnen, ihren Unterricht und ihre Lerngruppen, die in diesem Band aus systematischen und darstellerischen Gründen in Form einer Unterrichts-, einer Sprach- und einer Professionsstudie präsentiert werden.

Wenn schulische Praxis und wissenschaftliche Forschung zusammentreffen, dann begegnen sich zwei Logiken, jene des permanenten Handlungsdrucks und jene der handlungsentlasteten Reflexion. Die Bruchlinien zwischen diesen Logiken sind in unserem Projekt immer wieder zum Vorschein gekommen. Zugleich sind sich aber auch zahlreiche Menschen begegnet: Englischlehrer*innen, Studierende des Lehramts Englisch, Hochschullehrer*innen, Schüler*innen. Sie alle haben intensiv miteinander interagiert, formell und informell. Sie haben miteinander gesprochen und geplant, reflektiert und argumentiert, erzählt und fantasiert. Sie haben einander verstanden oder auch aneinander vorbeigeredet. Vor allem aber haben sie miteinander Neues gelernt und Erfahrungen gesammelt. Dieser Band ist der Versuch, die wissenschaftlichen Befunde des Projekts in systematischer Form zu dokumentieren, so dass sowohl Personen, die an Unterrichtsentwicklung interessiert sind, als auch wissenschaftlich Forschende mit eigenen Projekten daran anknüpfen können.

Darüber hinaus soll der Band von verschiedenen Leser*innen in unterschiedlicher Weise genutzt werden können. Er eröffnet drei Leseoptionen – gewissermaßen drei Klammern. Wer sich für die Ausgangslage und globalen Befunde unseres Projekts interessiert, der erfährt diese durch Lektüre der äußeren Klammer, der Einleitung (Kapitel 1) und dem Schlussteil (Kapitel 7). Beide Kapitel sind in einem narrativen Berichtsstil gehalten; fachdiskursive, methodologische und methodische Aspekte werden in diesen Kapiteln eher zurückhaltend thematisiert.

Wer tiefer in die Thematik einsteigen will, der sollte Kapitel 2 und 6 als mittlere Klammer hinzunehmen. Kapitel 2 präsentiert Theorie und Stand der Forschung zum Kooperativen Lernen sowie die methodische Anlage des Projekts. Diese Aspekte werden in Kapitel 6 wieder aufgenommen. Hier erfolgt eine zusammenfassende Diskussion der drei Teilstudien, in der wir die jeweiligen Einzelbefunde systematisch aufeinander beziehen. Uns hat insbesondere überrascht, wie hintergründig und zugleich wirkmächtig die Institution und Organisation der Schule (in unserem Fall: des Gymnasiums), vor allem ihre fast allgegenwärtige Ausrichtung auf Vergleichbarkeit und Prüfungen, in den Unterricht als den professionellen Kernbereich der Lehrerinnen eingreifen und diese zu Handlungen und Entscheidungen bringen, die ihren erklärten Absichten und Zielen teilweise diametral entgegenlaufen. Das Gymnasium hält auf seiner ‚Schauseite‘ den Gedanken der Bildung hoch, auf seiner ‚Rückseite‘ aber operiert es in den verinnerlichten Routinen der Akteur*innen (Lehrenden wie Lernenden) als ‚Prüfungsschule‘. Das lässt uns am Ende unseres Projekts an der grundsätzlichen Möglichkeit von (fremdsprachlicher) Bildung im Rahmen dieser Schule zweifeln.

Die dritte Leseoption schließlich ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit rekonstruktiver, fachdidaktisch informierter Unterrichts- (Kapitel 3) und Professionsforschung (Kapitel 5), sowie fremdsprachlicher Wirkungsforschung (Kapitel 4). Da es sich dabei um eigenständige Teilstudien handelt, enthalten sie jeweils einen eigenen Theorie- und Methodenteil und dokumentieren die konkrete Auswertung unserer Daten anhand zahlreicher Analysebeispiele.

Die Gesamtanlage der Studie und dieses Buches ist das Gemeinschaftsprojekt eines Fremdsprachenforschers und eines Schulpädagogen. Wir zeichnen auch für die meisten Kapitel in gleichen Anteilen verantwortlich. Ausnahmen sind Kapitel 2 (Stand der Forschung), das von Andreas Bonnet allein verfasst wurde, sowie Kapitel 4 (Sprachstudie), dem wesentlich eine Masterarbeit zugrunde liegt. Kai Glason gehört zu den Studierenden der ersten Stunde, die von Anfang intensiv an den Projektseminaren an der Universität Hamburg mitgewirkt haben. In der Auswertung der Sprachdaten und der Aufbereitung der Befunde wurden wir intensiv von dem empirischen Bildungsforscher Knut Schwippert beraten, der zusammen mit Kai Glason und Andreas Bonnet als gemeinsamer Autor dieses Kapitels fungiert.

Darüber hinaus ist eine ganze Reihe weiterer Personen beteiligt, die nicht als Co-Autor*innen auftauchen, mit wichtigen inhaltlichen Beiträgen aber wesentlich zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Dies sind zuallererst Elisabeth Bracker da Ponte, Helene Decke-Cornill und Christine Gardemann. Vielen herzlichen Dank für eure intensive Beteiligung an Theorieentwicklung, Datenerhebung und Analyse und eure konstruktive Kritik am Manuskript.

Weiterhin danken wir zahlreichen Studierenden der Universitäten Hamburg und Frankfurt sowie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die sich vor allem in der Anfangsphase des Projekts engagiert an der Entwicklung kooperativer Lernmaterialien beteiligt und einige sehr kluge Abschlussarbeiten in diesem Bereich verfasst haben. Stellvertretend für viele andere seien Birte Dorau, Linhsay Mews, Natalie Reiser, Julia Sarai-Schnepel, Sarah Schleckmann, Ole Schmieder, Kathleen Schuppe, Rebecca Stahlschmidt, Cipriana Topliceanu und Anna Winkler genannt. Ihr habt euch im Laufe eures forschenden Lernens zu echten Expert*innen für Kooperatives Lernen, Materialentwicklung und Sprachkompetenz entwickelt, und es war Freude und Privileg, mit euch zusammen zu arbeiten.

Unser Dank gilt nicht zuletzt den Lehrpersonen, die sich auf den Weg gemacht haben, ihren Unterricht zu entwickeln und uns dabei mit Videokamera und Mikrophon Zugang zum Geschehen und vor allem zu ihren Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen gewährt haben. Silke Borg und Yvonne Kuse seien hier besonders hervorgehoben. Ohne ihre Bereitschaft, sich auch potenziell krisenhaften Verläufen der eigenen Berufsbiographie zu stellen, gäbe es dieses Projekt nicht, gäbe es weitergedacht aber überhaupt keine empirisch gehaltvolle Unterrichts- und Professionsforschung.

Für ihre intensive Redaktion der Manuskripte danken wir außerdem Chris-Berit Schultz. Du hast dich nie auf Typos beschränkt, sondern dich mit deinem zielsicheren Radar für begriffliche und argumentative Inkonsistenzen um dieses Buch verdient gemacht. Monika Knaupp danken wir für die sorgfältige Endredaktion und die Fertigstellung des Manuskripts.

Wir wünschen uns Leser*innen, die sich (auch) durch die Lektüre dieses Bandes zu eigenen Unterrichtsentwicklungsversuchen oder empirischen Forschungsarbeiten inspirieren lassen. Wir hoffen darauf, dass dieses Buch sowohl Zustimmung als auch Widerspruch hervorruft und wir darüber mit Ihnen ins Gespräch kommen.

 

Hamburg und Marburg im Oktober 2020

Andreas Bonnet und Uwe Hericks

1.Have a coffee? Wie Schule und Wissenschaft zusammenkamen

Dies ist eine Studie über Kooperatives Lernen. Es ist eine Studie über Englischunterricht. Es ist aber vor allem eine Studie über Lehrer*innen, die ihren eigenen Unterricht weiterentwickeln wollen – und darüber, wie die Schule als Organisation und gesellschaftliche Institution eine derartige Initiative unterstützt oder erschwert. Für dieses Unterfangen sind die Innenperspektive der Lehrer*innen und die Außenperspektive der Forscher*innen in gleicher Weise notwendig. Daher ist es sehr wichtig, dass diese beiden Perspektiven sowie die jeweiligen Ausgangssituationen und Ziele der Lehrer*innen und Forscher*innen transparent werden. Die folgende Einleitung ist daher in zweierlei Weise narrativ. Zum einen erzählt sie in kurzen Zügen die Geschichte des Projekts. Zum anderen greift sie auf einige, erst später rekonstruktiv aus den Interviewdaten zu gewinnende, Befunde vor, um zu illustrieren, auf welche Problemlagen die Lehrer*innen reagiert haben, als sie sich auf den Weg zu Kooperativem Lernen machten. Am Ende der Einleitung wird das Erkenntnisinteresse der Studie formuliert, das später im Theoriekapitel konkretisiert und in Forschungsfragen überführt wird.

1.1Auftakt des Projekts

In diesem ersten Abschnitt des Kapitels wird die Geschichte der ersten Phase des Projekts erzählt. In diesem Teil soll die Ausgangssituation aller Beteiligten1 so plastisch wie möglich dargestellt werden. Es soll deutlich werden, wie der Projektstart verlaufen ist, damit sich ein Bild ergibt, warum die verschiedenen Beteiligten – also vor allem die Lehrer*innen und Forscher*innen – welche Entscheidungen getroffen haben. Das ist besonders notwendig, weil wir folgende Erfahrung gemacht haben: Wo auch immer wir über unser Projekt gegenüber universitären Kolleg*innen berichtet haben, wurde uns die Frage gestellt, warum wir den beteiligten Lehrer*innen keinen Begriff von Kooperativem Lernen vorgegeben haben und wie wir kontrollieren konnten, was diese tatsächlich unterrichteten. Vorgaben und Kontrollen entsprachen nicht unserem Anliegen, waren aber auch innerhalb unserer Forschergruppe immer wieder Thema intensiver Debatten. Überspitzt kann man ja die Frage stellen, woher man denn wissen will, was eigentlich beforscht wird, wenn die Lehrer*innen machen, was sie wollen. Am Ende des Kapitels ist diese Frage hoffentlich einigermaßen zufriedenstellend beantwortet.

1.1.1Die Perspektive der Lehrer*innen

Als erstes sollen aber nun die Lehrer*innen zu Wort kommen. Wie stellt sich der Projektstart aus ihrer Sicht dar? Welche Ziele hatten sie zu Beginn? Was verstanden sie am Anfang unter Kooperativem Lernen? Zuallererst ist das Projekt für sie der Versuch, dem alltäglichen ‚Zirkus‘ ein Ende zu machen. Zirkus aber nicht einfach so, im Sinne der Redensart, alles trubelig und durcheinander. Silke Borg und Yvonne Kuse sind da sehr viel klarer in ihrer Auffassung1: Ihre Auftritte vollziehen sich in zwei verschiedenen Rollen. Vor allem Silke Borg sieht sich oft als „Pausenclown“, der auf der Bühne „herumturnt“, um „Lerninhalte zu vermitteln“. Und beide sind auch im Raubtierkäfig tätig, denn sie sehen sich als „Dompteure“. Das ist insofern schon besser als der Pausenclown, da ein Dompteur wenigstens zum Hauptprogramm gehört und nicht versuchen muss, die Zuschauer*innen zu unterhalten, während sie sich mit Getränken und Popcorn versorgen oder zur Toilette gehen. Aber auch die Dompteurstätigkeit ist extrem anstrengend. In der Manege selbst lauert dauernd die Gefahr, dass ein Raubtier (auch im Rücken des Dompteurs) zum Sprung ansetzt, so dass die Lehrer*innen dauernd unter hoher Anspannung stehen. Zum anderen wollen die Tiere permanent „gefüttert werden“ und machen keine Anstalten, sich selbst um ihr Fressen zu kümmern.

Was genau ist mit diesen Metaphern gemeint? Das Bild des Pausenclowns steht bei beiden Lehrerinnen in Zusammenhang mit einem Gefühl des Ausgesetztseins und der Notwendigkeit, ein Publikum – also die Schüler*innen – dauerhauft begeistern zu müssen. Silke Borg verwendet dazu auch das Bild des „Entertainers“. Dessen Arbeitsplatz ist die „Bühne“ und auf ihn sind die Scheinwerfer des „Rampenlichts“ gerichtet, wodurch er die Menschen im Publikum eigentlich gar nicht einzeln sehen kann. Dieser Aspekt wird bei der näheren Analyse (vgl. Kap. 5) noch zu betrachten sein, denn dieser Effekt wird nicht – wie im Bild des „Entertainers“ impliziert – von außen, sondern eher durch Silke Borgs Unterrichtsbild, und damit von innen, verursacht. Die Aufgabe einer Lehrer*in als „Entertainer“ ist es, die Schüler*innen permanent zu „begeistern“ und „mitzureißen“. Das ist anstrengend, auslaugend und verlangt dauernde Kreativität.

Und der Dompteur? Was hat er mit Unterricht zu tun? Zum einen sehen sich die Lehrer*innen tatsächlich mit Wildheit bis hin zu Gewalt konfrontiert, so wie sie im Bild des Dompteurs mit seinen Raubtieren enthalten sind. Yvonne Kuse beschreibt dazu Situationen, in denen ein Schüler in der Klasse immer wieder „geschlagen, getreten, gespuckt und geschimpft“ hat. Zum anderen drückt sich darin auch eine dauernde Anspannung aus, in der die Lehrer*innen mit einem unkontrollierbaren Ausbruch oder Angriff rechnen. Dies ist das genaue Gegenteil von Autonomie, die ja eigentlich zum Kernbestand professionalisierter Berufe (vgl. Kap. 2.2) gehört. Im Unterricht verlieren Yvonne Kuse und Silke Borg also genau jene Selbstbestimmung, die sie eigentlich für die Ausübung ihres Berufs brauchen.

Und die Schüler*innen? Die haben ihre Autonomie auch verloren. Sie lassen sich mit Lernstoff füttern und verhalten sich weitgehend passiv – von den beschriebenen Einzelausbrüchen abgesehen. Die Metapher des Fütterns ist in Bezug auf die Schüler*innen keinesfalls nur harmlos oder niedlich. Gefüttert werden Babys, Greise und Schwerkranke. Im positiven Sinne ist darin enthalten, dass die Lehrer*innen eine große Verantwortung für Ihre Schützlinge übernehmen, dass sie sich um sie kümmern und sich ihnen zuwenden. Das Bild drückt aber auch aus, dass die Schüler*innen von den Lehrer*innen nicht nur als geistig und körperlich unterlegen gesehen werden, sondern dass sie aus Sicht der Lehrer*innen auch keine Selbständigkeit besitzen. Und das was da verabreicht wird, sind auch keine anspruchsvollen Inhalte, sondern „Informationen“. Es gibt also auch nichts zu kauen, sondern es wird Brei geschluckt: memorieren statt denken.

Bemerkenswert ist dabei, dass anscheinend niemand durch äußere Anweisungen zur Dompteurstätigkeit gezwungen wird. Weit und breit ist kein Zirkusdirektor zu sehen, der zum Peitschenschwingen antreibt. Silke Borg sagt vielmehr, dass sie das „Gefühl [hat] ich muss irgendwie Dompteur sein und immer Input geben“. Der Zirkusdirektor ist also schon vor langer Zeit zum inneren Feind geworden. Innere Notwendigkeit statt äußerer Zwang. All dies wird den Lehrer*innen erst im Projekt ansatzweise bewusst. So führt Silke Borg aus, dass die Fütterhaltung der Schüler*innen ihr im Projekt besonders auffalle. Die in dieser Art von Unterricht enthaltene Verachtung der Schüler*innen karikiert sie in einem fiktiven Lehrerstatement: „So, habt ihr verstanden? Ja? Super, weiter zum nächsten Thema, wenn nicht: Pech gehabt, müsst ihr nachlernen und übrigens: Wir schreiben in zwei Wochen ne Arbeit.“

Die von den Lehrer*innen formulierten Einsichten bleiben in gewisser Weise noch äußerlich. Zwar machen Yvonne Kuse und Silke Borg die mögliche Verantwortung der Schule für die Passivität der Schüler*innen explizit. Aber die Einsicht, dass die Schule sich ihre Raubtiere, Dompteure und Pausenclowns selbst macht, wirft natürlich die Frage auf, wie das genau vonstatten geht und welche Rolle Silke Borg und Yvonne Kuse dabei spielen. Denn zwischen den Zeilen deuten sie an2, dass sie auch selbst das präsentierende Lehren, das Verfüttern und Abprüfen von Informationen, das Voranschreiten im Stoff und die dauernde Ergebnissicherung verinnerlicht haben.

Im Laufe des Projekts hat sich dies verändert. Zug um Zug ist den Lehrer*innen deutlicher geworden, in welchen Abhängigkeiten sie stehen, von welchen Überzeugungen und verinnerlichten Zwängen ihr Handeln beeinflusst wird, welche Werte sie verfolgen und an welche Grenzen sie stoßen. Das hat ihnen niemand erklärt, sondern zu diesen Einsichten sind sie selbst gekommen. Und noch eine Geschichte wird dort erzählt. Zusammen mit dem Verständnis ist nämlich auch eine teilweise neue Praxis entstanden. In welchem Verhältnis die beiden Seiten – neues Verständnis und neue Praxis – zueinander stehen, ist erst im Laufe der Zeit deutlich geworden. Dass es eine Herkulesaufgabe ist, wurde aber gleich zu Anfang klar. Es zeigte sich nämlich, dass Yvonne Kuse die von ihr kritisierte gymnasiale Normalität derart tief verinnerlicht hatte, dass sie davon bei ihrer Unterrichtsplanung, trotz explizit anderer Ziele, zunächst nicht abweichen konnte.

Ihren Berichten zufolge hat sich Folgendes mehrfach zugetragen: Nach ihrem Schultag und womöglich noch nach einer Konferenz setzt sich Yvonne Kuse (zum Kummer ihres Mannes) an ihren Schreibtisch und plant die Englischstunde für den folgenden Tag. Die Stunde nimmt Gestalt an, ein Ablaufplan und Material entstehen. Als die Stunde beinahe fertig ist, realisiert Yvonne Kuse, dass sie weder kooperativ noch individualisierend ist. Obwohl dies doch ihre erklärte Absicht war. Sie blickt zur Uhr, sie holt tief Luft, und beginnt von vorn. Sysiphos! Im Laufe des Projekts wird Silke Borg etwas ganz ähnliches widerfahren – allerdings im Unterricht selbst. Aus beidem zusammen werden sich Einsichten zur Frage ergeben, wie das eigene Unterrichtsbild, und somit die eigenen Überzeugungen, mit dem Unterrichtshandeln zusammen hängt, oder eben auch nicht. Auch dazu mehr im Kapitel, das die Entwicklungen der beiden Gymnasial-Lehrerinnen über die gesamten drei Jahre rekonstruiert (Kap. 5).

Die Ziele der Lehrer*innen für das Projekt stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der dargestellten Situation, mit der sie ganz und gar nicht zufrieden sind. Ein zentrales Ziel der beiden Gymnsial-Lehrerinnen ist es daher, ihre Klassenzimmer zu Orten zu machen, an denen Schüler*innen und Lehrer*innen selbstbestimmt aktiv sein können. Yvonne Kuse betont dabei besonders den Aspekt, dass die Schüler*innen Verantwortung übernehmen sollen: sich selbst anleiten, sich selbst prüfen, ihren Lernstand reflektieren. Dazu möchte sie den Schüler*innen die Kontrolle über ihr Arbeitstempo geben. Außerdem möchte sie erreichen, dass die Schüler*innen sich gegenseitig helfen. Silke Borg hat dieselben Ziele und macht deutlich, dass sie ihren Schüler*innen zukünftig das Recht geben möchte, in individualisierten Lernphasen selbst über ihr Arbeitstempo zu bestimmen. Auch sie meint, dass dazu die Schüler*innen selbst prüfen sollen, ob sie die bearbeiteten Inhalte verstanden haben. Dieses Verstehen ist das Kriterium dafür, sich anschließend einen neuen Inhalt vorzunehmen. In Bezug auf ihre eigene Rolle sind sich die Lehrer*innen ebenfalls einig: runter von der Bühne, weg mit Peitsche und Clownskostüm, raus aus dem Rampenlicht. Sie wünschen sich außerdem, nicht länger einziger Bezugspunkt bei Schwierigkeiten aller Art, sondern Moderator*in und Lernhilfe zu sein. Für Silke Borg steht über allem das Ziel, Schüler*innen und Lehrer*innen vom Druck zu befreien, der auf ihnen lastet. Insgesamt könnte man daher zusammenfassend sagen, dass sie sich nicht weniger vom Projekt verspricht, als dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien. Dass die Schule als Urheberin benannt wird, legt nahe, dass der Weg zu dieser Befreiung nur über eine Veränderung der Schule selbst vonstatten gehen kann.

Welche Veränderungen haben die Lehrer*innen dazu im Sinn? Wie stellen sie sich ihren Unterricht zukünftig vor und was ist ihr Konzept von Kooperativem Lernen? Bei beiden Gymnasial-Lehrerinnen ist das beschriebene Ziel ein unmittelbarer Bestandteil des Konzepts. Im Zentrum steht die Übertragung von Verantwortung an die Lernenden. Beide sind sich außerdem darin ähnlich, dass ihre Unterrichtsbilder und auch ihr Unterricht kooperative, individualisierende und instruktivistisch-frontale Elemente enthalten. Explizit nennt Yvonne Kuse ihre Vorstellung „selbstgesteuertes Lernen“, und Silke Borg möchte, dass „eigenständiges und kooperatives Lernen möglich ist“. Darüber hinaus ist aber auch die von beiden Lehrerinnen so beschriebene frontale Normalität des gymnasialen Englischunterrichts präsent; sie betrachten sich als für die Sicherung von Inhalten und das stete Fortschreiten im Unterrichtsstoff zuständig. Bei beiden findet sich außerdem die Überzeugung, dass zu erfolgreichem Lernen im Englischunterricht ein gewisses Maß an frontaler Instruktion gehört.

Unterricht in der Gesamtgruppe spielt daher bei beiden nach wie vor eine wichtige Rolle – allerdings auf unterschiedliche Weise. Bei Yvonne Kuse ist die gesamte Klasse Bestandteil und erster Bezugspunkt ihres Konzepts von Kooperativem Lernen. Deren Miteinander wird durch die Metapher „Klasse als Team“ ausgedrückt. Damit möchte sie sagen, dass Kooperatives Lernen dann gelingt, wenn die Vielzahl der unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler*innen füreinander verfügbar gemacht wird. Dementsprechend nennt sie auch die von ihr angestrebte Form des Unterrichts „selbstgesteuertes Lernen“ und betont damit den Pol der Lernerautonomie viel stärker als den der Kooperation. Gleichzeitig spielt frontal organisierter Unterricht mit der gesamten Klasse für sie eine wichtige Rolle. Silke Borg hingegen spricht von Beginn an davon, dass sie ihren Unterricht in Hinblick auf Vierergruppen organisieren möchte. Diese Gruppen sollen zusammen sitzen und arbeiten. Auch sie aber hält frontale Phasen mit der gesamten Lerngruppe für notwendig und sucht nach einer Sitzordnung, in der beides möglich ist. Diese differenzierten und komplexen Vorstellungen der Lehrer*innen gehen eindeutig über kleine Mikromethoden zur situativen Herstellung von Kooperativität hinaus. Im Theorieteil erfolgt daher eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kooperativen Lernens, um der zu erwartenden Komplexität auch konzeptuell gerecht zu werden.

Damit sind Ausgangssituation, Ziele und Vorstellungen der Lehrer*innen erörtert. Das Projekt kann also beginnen. Der erste Akt, der eigentliche Projektbeginn, erfolgt im Winter 2007. Silke Borg als Initiatorin an ihrer Schule knüpft an die positiven Erfahrungen mit einer zuvor existierenden Gruppe zur Unterrichtsentwicklung in der gymnasialen Oberstufe an und macht sich Gedanken dazu, wie dies auf die Mittelstufe übertragen werden könnte. Thomas Gaber, Lehrer einer Hauptschule, beschäftigt die Frage, wie er seine Schüler*innen für die bildungsadministrativ vorgesehene neue Kompetenzprüfung in Klasse 9 zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fit machen könnte, in der die Schüler*innen in vorgebenen Rollen (z. B. als Tourist, der sich über die Sehenswürdigkeiten einer Stadt informiert) auf Englisch kommunizieren müssen. Über die jeweils involvierten Hochschullehrer*innen einer Universität und einer Pädagogischen Hochschule kommt es rasch zu einer Vernetzung der zunächst unabhängig voneinander begonnenen Projekte. Alle Seiten erkennen schnell, dass sie von ähnlichen Fragen umgetrieben werden und beschließen, daraus ein Projekt der Unterrichtsentwicklung und Forschung zu machen. Es läge sicherlich nahe, Aktionsforschung zu betreiben. Es wäre auch möglich, es in die fachdidaktische Entwicklungsforschung einzubringen. Beide Ansätze aber würden das Lehr-Lern-Geschehen selbst und damit die systemische Mikroebene (Fend 2006) in den Vordergrund rücken. Alle Beteiligten sind sich jedoch einig, dass damit keine Brille für die Wechselwirkungen der Unterrichtsentwicklung mit den schulischen Strukturen und für die Entwicklung der Lehrer*innen vorhanden gewesen wäre. Und darum geht es allen am allermeisten.

Zu Beginn des Projekts greifen die Lehrer*innen jeweils auf Vorerfahrungen mit Unterrichtsentwicklung zurück, denn an ihren Schulen hatte es bereits punktuelle Entwicklungsvorhaben gegeben, z. B. zur Entwicklung jahrgangsbezogener Curricula. Nach intensiven Gesprächen über diversen Tassen Tee und Kaffee werden Lehrer*innen und Forscher*innen sich einig, dass im Zentrum des Projekts die Entwicklung von Unterrichtsmaterial für das Fach Englisch stehen müsse. Auch kommt man schnell überein, dass es sinnvoll wäre, zunächst eine Pilotphase in Klasse 5 von wenigen Wochen Dauer zu planen und danach zu überlegen, ob das Ganze tragfähig sei. Die Lehrer*innen würden den didaktisch-methodischen Rahmen stecken und ihre Wünsche äußern. Die Hochschullehrer*innen würden diese Vorstellungen im Rahmen von Seminaren zu Kooperativem Lernen aus Sicht der Englischdidaktik bzw. Schulpädagogik gemeinsam mit ihren Studierenden in Material in Form von Arbeitsblättern umsetzen, die die Lehrer*innen dann in ihrem Unterricht verwenden oder noch verändern könnten. Organisatorisch ist die Sache also schnell in trockenen Tüchern.

Aber wie steht es um die Inhalte? Es wird rasch klar, dass Silke Borg durch Gespräche mit einer befreundeten Lehrerin ein Konzept von Individualisierung im Kopf hat. Besonders fasziniert ist sie von der Idee, dass die Schüler*innen in diesem Konzept selbst bestimmen dürfen, wann sie sich Leistungskontrollen unterziehen wollen. Thomas Gaber möchte mit Hinblick auf die Kompetenzprüfung vor allem, dass die Schüler*innen in seinem Unterricht höhere eigenständige Sprechanteile in der Fremdsprache erhalten. Die Forscher*innen hingegen haben stärker kooperative Vorstellungen im Kopf: Also Gruppenarbeit als routinisierte Arbeitsform in verschiedener Gestalt von Think-Pair-Share bis Projektarbeit. Schon hier ist aber vollkommen klar, dass die am Projekt beteiligten Lehrer*innen ihren Weg letztlich selbst finden und gehen sollen. Es kommt allen darauf an, zu einem für die Lerngruppen und die Schule im Alltag umsetzbaren Konzept zu gelangen und nicht ein methodisches Raumschiff zu landen. Am Ende der zahlreichen Gespräche kommen alle überein, das Projekt anzugehen. Thomas Gaber wird seinen Kollegen Christoph Schiers, Silke Borg ihre Kolleginnen Yvonne Kuse und Anke Rolffs anfragen, ob sie sich am Projekt beteiligen wollen. Die Forscher*innen würden nach weiteren Mitstreiter*innen an der Universität bzw. Hochschule suchen. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass beide Seiten Lernende sein werden, denn die Forscher*innen nahmen den Impuls der Lehrer*innen auf, auch Individualisierung zu berücksichtigen und fanden in der Forschungsliteratur einen engen Zusammenhang zwischen beiden Formen wieder (vgl. Kap. 2.2).

Der zweite Akt findet in der Schule statt. An dem am Projekt beteiligten Gymnasium hat Anke Rolffs in der Zwischenzeit deutlich gemacht, dass sie inhaltlich zwar interessiert sei, in ihren letzten beiden Berufsjahren jedoch nicht mehr aktiv mitmachen wolle. Gern wolle sie aber auf dem Laufenden gehalten werden. Silke Borgs Kollegin Yvonne Kuse bekundet hingegen großes Interesse, sich zu beteiligen, und ist vom ersten Treffen in der Schule an dabei. In Bezug darauf sagt sie später, dass sie sich vor Beginn der Gespräche noch wie eine „Seiteneinsteigerin“ vorgekommen wäre. Die Art und Weise, wie sie dann im Interview über diese Gesprächsrunden spricht, lässt aber erkennen, dass sie sich hier bereits als vollwertiges Mitglied der Projektgruppe wahrgenommen hat. So spricht sie von Silke Borg und sich selbst als „wir“, und die universitären Vertreter*innen sind aus ihrer Sicht „die andere Seite“. In diesen Gesprächen werden gemäß der Vorüberlegungen nicht einzelne Stunden abgesprochen, sondern die Lehrer*innen äußern ihre Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich des zu entwickelnden Unterrichtsmaterials. Die eigentliche Materialerstellung erfolgt dann im Rahmen eines Seminars zu „Kooperativem Lernen und Individualisierung“ an der Universität. Der in Tabelle 1 dargestellte Zeitplan dokumentiert die Arbeitsschritte in der gymnasialen Teilgruppe des Projekts.

Zeitraum

Projektabschnitt

Sommer 2007

Vorüberlegungen

Herbst 2007

Gemeinsame Gespräche zur Festlegung der Grundsätze

Materialerstellung im Seminar

Februar 2008

Zweiwöchiger Pilotunterricht, Hospitationen

Frühjahr 2008

Reflexion der Pilotphase und Vereinbarung über Fortführung

Lehrerinnen führen Unterricht eigenständig weiter

Diskussion und Revision der Grundsätze

Sommer 2008

Materialerstellung für erstes Halbjahr 6 in Universität

Herbst 2008

Unterricht mit neuem Material in Klasse 6 (1. Halbjahr)

Materialerstellung für zweites Halbjahr 6 in Universität

Frühjahr 2009

Unterricht mit neuem Material in Klasse 6 (2. Halbjahr)

Materialerstellung für erstes Halbjahr 7 in Universität

Herbst 2009

Unterricht mit neuem Material in Klasse 7 (1. Halbjahr)

Materialerstellung für zweites Halbjahr 7 in Universität

Frühjahr 2009

Unterricht mit neuem Material in Klasse 7 (2. Halbjahr)

Tab. 1:

Übersicht über Materialerstellung und Erteilung des Unterrichts. Exemplarisch für beide beteiligten Schulen ist der Verlauf an dem am Projekt beteiligten Gymnasium dargestellt.

In der zweiten, hauptschulbezogenen Teilgruppe beginnt das Projekt damit, dass sich Thomas Gaber und Christoph Schiers vom Schulleiter als Klassenlehrer im neuen fünften Jahrgang einsetzen lassen. Die Schulleitung ist also von Anfang an in das Projekt involviert und unterstützt es durch eine gezielte schulorganisatorische Maßnahme. Das Unterrichtsmaterial für die kooperativen Lernphasen wird im Rahmen eines schulpädagogischen Forschungsseminars im Wintersemester 2008/09 erstellt. Drei durch persönliche Ansprache gewonnene, sehr engagierte Anglistikstudentinnen erproben und begleiten den Einsatz des Materials, indem sie das Forschungsseminar mit dem obligatorischen Fachpraktikum Englisch verbinden. Das Projekt wurde demnach auch durch die Hochschule, insbesondere durch deren englische Abteilung, organisatorisch und curricular unterstützt.

Insgesamt ergibt sich daraus ein Bild, in dem Lehrer*innen und universitäre Akteure durch punktuellen Austausch sich gegenseitig ihre Vorstellungen erläutern, die Lehrer*innen dann aber erst wieder das fertige Material zu Gesicht bekommen, um es für ihren Unterricht anzupassen. Und das tun sie im dritten Akt dann auch reichlich. In diesem Akt findet innerhalb der verabredeten Pilotphase der neu gestaltete Unterricht statt. Und schon die erste an den Hochschulen geplante Stunde wird von den Lehrer*innen verworfen. Dies zeigt, dass sie das Material nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen verwenden. Es ist daher anzunehmen, dass der über die folgenden drei Jahre sich tatsächlich ereignende Unterricht in Hinblick auf Kooperatives Lernen und Individualisierung die unterschiedlichen Orientierungen sowohl der schulischen als auch der universitären Seite enthält und dass die Lehrer*innen nur jene Planungen umsetzen, die sie auch für sinnvoll halten. In der Umsetzung an der Hauptschule zeigt sich insbesondere, dass die erstellten Materialien von ihrem sprachlichen und methodischen Anspruchsniveau stellenweise deutlich zu komplex angelegt sind. Während Thomas Gaber dieser Problematik mit einer offenen, experimentellen Haltung begegnet und die Materialien gemeinsam mit den Studierenden sukzessive anpasst und modifiziert, zieht sich Christoph Schiers in der Folgezeit mehr und mehr aus dem Projekt zurück. Trotz dieser partiellen Zurücknahme seines Engagements bleibt er aber weiterhin Teil der gesamten Projektgruppe. Dass sich die Studie am Ende auf das gymnasiale Teilprojekt fokussiert, liegt nicht an Entscheidungen der beiden Hauptschul-Lehrer, sondern daran, dass die beiden Gymnasial-Lehrerinnen in auffallender Weise voneinander verschieden an das Kooperative Lernen herangegangen sind. Außerdem haben sich die beiden im Laufe der Professionsstudie – und damit in ihrem Sprechen über Unterricht – in einem umfassenderen Sinne als stark kontrastierende Fälle erwiesen.

Im Unterricht dieser ersten Pilotphase finden sich alle oben genannten Elemente der Unterrichtsbilder der beiden Gymnasial-Lehrerinnen wieder. Kooperatives Lernen spielt vor allem als Partnerarbeit eine wichtige Rolle und in den Unterrichtsschilderungen lassen sich eingeführte kooperative Arbeitsformen wie das Lerntempoduett entdecken – ohne dass die Lehrer*innen selbst die entsprechenden Fachbegriffe verwenden würden. Individualisierung wiederum wird von den Lehrer*innen eigenständig betrieben, indem zum Beispiel Silke Borg eigene Wochenpläne erstellt, nach denen die Lernenden immer dann arbeiten, wenn sie die kooperativen Aufgaben erledigt haben. Yvonne Kuses Orientierung an der Gesamtgruppe im Rahmen ihres Konzepts von „Klasse als Team“ zeigt sich deutlich darin, dass sie sogar in der im Rahmen der Pilotphase videographierten Stunde über lange Strecken mit der gesamten Gruppe frontal im Plenum arbeitet. Und Silke Borg hat für die Pilotphase eine Lösung für ihr Problem einer flexiblen Sitzordnung gefunden, die Gruppen- und Plenumsarbeit gleichermaßen unterstützt: Jeweils zwei Tische sind zu einem V-förmigen Keil mit offener Seite zur Tafel aufgestellt. Für den frontalen Rahmen sind sie aufgeklappt, für die kooperativen Phasen werden sie zusammen geschoben.

Während die Lehrer*innen also einerseits ihre eigenen Vorstellungen umsetzen, sind sie andererseits sehr wohl zum Experimentieren bereit und lassen sich auf universitäre Vorschläge in einem für sie plausiblen Maß ein. Dabei werden zum Beispiel die instruktivistischen Elemente ihrer Unterrichtstheorien in Frage gestellt. So erlebt Yvonne Kuse, dass die Schüler*innen in kooperativen Settings in Bezug auf die Erstellung von Präsentationen und der Aneignung der englischen Formen für Uhrzeiten eigenständig arbeiten. Von beidem ist sie nachhaltig beeindruckt und nennt ihre Erfahrung einen „eyeopener“. Sie sagt auch sehr klar, dass sie vor der Stunde große Sorge gehabt hätte, ob das Arrangement funktionieren würde. Sie begründet dies ganz offen damit, dass sie es ihren Schüler*innen nicht zugetraut hätte, das Thema in nur einer Stunde – mehr war dafür nicht vorgesehen – zu erledigen. Es gelingt. Sie ist überrascht und beeindruckt. Und sie zieht die Schlussfolgerung, dass sie die Schüler*innen viel öfter allein arbeiten lassen müsste. Beeindruckt und überrascht sind auch die Forscher*innen. Sie wollen keine Planer*innen und Erklärer*innen sein, sondern begleiten und rekonstruieren. Aufgrund der von den Lehrer*innen buchstäblich von der ersten Stunde an gezeigten Eigenständigkeit fassen die Forscher*innen Vertrauen, dass die Rollenverteilung funktionieren könnte. Sie merken aber auch, dass dies eine große Herausforderung darstellen wird.

1.1.2Die Perspektive der Forscher*innen1

Die beteiligten Forscher*innen hatten sich bisher mit unterschiedlichen Forschungsbereichen beschäftigt, z. B. mit Bilingualem Unterricht und mit der Professionalisierung von Lehrer*innen. In diesen Bereichen hatten für sie auch kooperative Arbeitsformen immer eine Rolle gespielt. Ob nun die Bearbeitung von literarischen Texten und Filmen in Gruppenarbeit, die kooperative Durchführung von Experimenten im englischsprachigen Chemieunterricht oder die Anforderung an Lehrer*innen in der Berufseingangsphase, möglichst viel kooperative Methoden einzusetzen – in all diesen Bereichen waren die Forscher*innen in den letzten Jahren in zunehmendem Maße mit kooperativen Unterrichtsformen konfrontiert worden. Und dabei hatten sich Fragen angesammelt: Was genau geschieht in derartigen Gruppenarbeiten eigentlich? Was bringen sie für den sprachlichen Kompetenzerwerb der Schüler*innen? Welche Rolle spielen soziale Fähigkeiten dabei? Die Forscher*innen wussten aber auch, unter anderem aus der eigenen Tätigkeit als Lehrer, wie schwierig es sein kann, unter Alltagsbedingungen den eigenen Unterricht zu entwickeln. Sie kannten die Freude, gemeinsam mit Kolleg*innen gutes Material zu erarbeiten, die Frische, die dies in den eigenen Unterricht bringt. Sie erinnerten sich aber ebenso gut daran, wie neue Ideen in Konferenzen zerredet wurden, wie die Lust auf Neues im Laufe endloser Korrekturen und Alltagskonflikte stirbt und wie steigender Verwaltungs- und Organisationsaufwand kostbare Zeit frisst. Und deshalb wollten sie auch bei den Lehrer*innen genau hinschauen: Welche Vorstellungen, Hoffnungen, Ziele und Ängste haben sie? Wie gestalten und erleben sie die Veränderung ihres Unterrichts? Auf welche Schwierigkeiten treffen sie und welche Lösungen finden sie? Also: Wie gelingt ihnen die Entwicklung des eigenen Unterrichts unter normalen Alltagsbedingungen?

Um diese Normalität so weit wie möglich zu gewährleisten, erschien es den Forscher*innen notwendig, eine schwierige Balance zu halten. Einerseits sollten die Lehrer*innen Anregungen und Vorschläge zur Umsetzung Kooperativen Lernens in ihrem Unterricht erhalten. Andererseits war schon in den Vorgesprächen deutlich geworden, dass Silke Borg und Yvonne Kuse, Thomas Gaber und Christohp Schiers ganz eigene Überlegungen für die Weiterentwicklung ihres Unterrichts angestellt hatten, die nicht nur kooperativ, sondern auch sehr individualisierend waren. Daher sollten die Lehrer*innen didaktisch und methodisch sowohl das erste als auch das letzte Wort haben. Es erschien den Forscher*innen weiterhin notwendig, ihrerseits theoretisches Wissen nur dann einzubringen, wenn die Lehrer*innen eine damit zu beantwortende Frage formulierten. Die Forscher*innen verpflichteten sich selbst dazu, nicht von sich aus einzugreifen, auf Probleme hinzuweisen oder Lösungen anzubieten. Sie wollten soweit möglich Begleiter*innen sein und den Weg, den die Lehrer*innen mit ihren Lerngruppen beschritten, konsequent mitgehen. Die Entlastung für die Lehrer*innen bestand darin, dass auf der Basis der von ihnen geäußerten Ideen und Vorstellungen (s. u.) in Uni und PH Arbeitsblätter und Stundenvorschläge für sie erstellt wurden. Dieses Material konnten die Lehrer*innen dann entsprechend ihrer Bedürfnisse verändern und in ihrem Unterricht verwenden – oder eben auch nicht. Uni und PH stellten also das bereit, was ansonsten von unterrichtspraktisch ausgerichteten Zeitschriften oder Materialverlagen geliefert wird. Mit dem wichtigen Unterschied, dass das Material auf der Basis der Vorstellungen der Lehrer*innen erstellt wurde.

Diese Vorgehensweise brachte verschiedene Probleme mit sich. Das erste bestand in der Rückkopplung zwischen Materialgestalter*innen und Lehrer*innen. Aufgrund des großen Materialumfangs, der zeitlichen Belastung der Lehrer*innen und der räumlichen Distanz zwischen Lehrer*innen und Studierenden entstand keine kontinuierliche, z. B. wöchentliche Rückkopplung. Stattdessen traf sich eine Gruppe von vier Materialentwickler*innen mit den Lehrer*innen ca. ein halbes Jahr vor dem zu erteilenden Unterricht, ließ sich die Vorstellungen der Lehrer*innen erläutern und diskutierte mit ihnen darüber, mit welchen Unterrichtsmethoden diese Vorstellungen in Bezug auf die im Buch vorgesehenen Units umsetzbar erschienen. Die Diskussion wurde auf Video aufgenommen, damit auch die übrigen Materialiengestalter*innen einen möglichst umfassenden Einblick in die Ideen und den Gang der Diskussion erhielten. Dann wurde das Material erstellt und den Lehrer*innen zur Nutzung übergeben. Eine Schwierigkeit wurde dabei nie zufriedenstellend überwunden. Die Materialerstellung hatte einen notwendigen Vorlauf von drei bis sechs Monaten. Die Lehrer*innen hatten in diesen Perioden nie ausreichend Zeit, um sich schon vertieft mit den Entwürfen zu beschäftigen, da sie mit ihren jeweils aktuellen Aufgaben mehr als ausgelastet waren. So erwies es sich erst im Unterrichten selbst, wie tauglich die Gesamtplanung und Materialien tatsächlich waren. Durch die elektronisch erstellten Vorlagen konnten die Lehrer*innen in dieser Phase allerdings auch kurzfristig Änderungen an den Materialien vornehmen, wodurch sich diese an ihre Bedürfnisse und Vorstellungen anpassen ließen.

Dieser Ablauf der Materialentwicklung ergab sich erst im Laufe des Projekts. Zu Beginn wurden sogenannte Unit-Books erstellt – jeweils ein Din-A-4-Heft für jede*n Schüler*in mit gedruckten Arbeitsblättern zur jeweiligen Unit. Das verwendete Bild- und Textmaterial griff Themen der Unit auf, stammte aber nicht aus dem Lehrwerk. Dazu gab es Stundenblätter mit vollständigen Planungen für 45 bzw. 90 Minuten. Dies erwies sich als nicht praktikabel. Lehrer*innen und Schüler*innen klagten über zu viel Material und die Lehrer*innen hielten eine stärkere Einbindung des Lehrwerks für notwendig. Zum einen, weil sie gewährleisten wollten, dass die Schüler*innen den vorgesehenen grammatischen Phänomenen und dem Wortschatz begegneten, zum anderen deshalb, weil die Anschaffung des Workbooks für nicht wenige Familien mit, für ihr Einkommen, relativ hohen Kosten verbunden war. Für sie wäre es eine Zumutung gewesen, wenn das nun umsonst gewesen sein sollte. Im zweiten Schritt wurden daher die Unit-Books nur noch elektronisch geliefert, so dass die Lehrer*innen die Arbeitsblätter selbst umgestalten und auswählen konnten. Außerdem wurden in den Materialien die Texte und Bilder aus dem Lehrbuch verwendet. An der Planung kompletter Stunden wurde allerdings festgehalten. Auch dieses Vorgehen war aus Sicht der Lehrer*innen, die zugleich Klassenlehrer*innen waren, noch zu unflexibel: Die regelmäßig für Klassengeschäfte aufzuwendende Zeit brachte die Unterrichtsplanung immer wieder durcheinander. Im letzten Durchgang – also in Klasse 7 – wurden daher keine vollständigen Stunden mehr geplant. Vielmehr erhielten die Lehrer*innen elektronische Arbeitsblätter mit Aufgaben von ca. 20–30 Minuten bzw. 60–70 Minuten Dauer. Diese Aufgaben konnten sie mit Warm-ups und eigenen Stundenein- und -ausstiegen sowie anderen Aktivitäten kombinieren. Die Arbeitsblätter enthielten zumeist nur Aufgaben und ggf. Zusatzmaterial. Auf das von der Aufgabe verwendete Text- und Bildmaterial des Lehr- oder Arbeitsbuchs wurde nun nur noch mit Seitenangaben verwiesen. Zusätzlich gab es Methodenblätter, mit denen die Schüler*innen in neue Unterrichtsmethoden eingeführt wurden.

Mit dem im letzten Durchgang etablierten Vorgehen war eine im Ganzen alltagstaugliche Form gefunden, die sich als sparsam und flexibel handhabbar erwies. Die abschließenden Rückmeldungen der Lehrer*innen ergaben, dass sie die erstellten Materialien auch nach Projektende weiterhin einsetzten. Die fast vollständige Entlastung der Lehrer*innen von der Materialerstellung, von der die Beteiligten geträumt hatten, ließ sich nicht realisieren.

Das zweite Problem war eher ein Dilemma, für das es keine schnelle Antwort gab: Ist die bis auf die Materialerstellung ausschließlich beobachtende Rolle der Forscher*innen forschungsethisch überhaupt vertretbar? Ist es richtig, mit dem eigenen Wissen hinter dem Berg zu halten, sogar dort zu schweigen, wo man ein Problem sah, für das man eine Lösung zu haben glaubte? Im Laufe der dazu geführten Diskussionen stellten sich daher zwei Fragen. Zum einen ist es ja Grundbestand vieler Lerntheorien, dass Menschen Erkenntnisse nur dann zur Kenntnis nehmen, wenn diese auf Probleme antworten, die sie selbst sehen. Es ist also durchaus fraglich, ob die Lehrer*innen sich ein von den Forscher*innen formuliertes Problem überhaupt zu eigen gemacht hätten bzw. ob es für sie relevant gewesen wäre. Dies erschien umso unwahrscheinlicher, als schon eine vertieftere Arbeit an der Unterrichtsplanung aus Zeitgründen nicht stattfinden konnte. Darüber hinaus ist es zweitens fraglich, ob denn die Forscher*innen überhaupt passende Antworten gehabt hätten, ob ihr abstraktes Wissen sich überhaupt mit dem Erfahrungswissen der Lehrer*innen verbunden hätte. Trotz dieser nicht von der Hand zu weisenden Argumente blieb es jedoch die latente Sorge der Forscher*innen, die Lehrer*innen nicht genug zu unterstützen.

Auch das dritte Problem hat eher den Charakter eines unauflöslichen Dilemmas. Wo auch immer die Forscher*innen ihr Projekt vorstellten, wurden ihnen zwei Fragen gestellt. Die erste lautete: Wie konnten sie sicherstellen, dass es sich bei dem Unterricht wirklich um Kooperatives Lernen handelte? Diese Frage war noch relativ leicht zu beantworten, denn eine solche Sicherstellung hatten die Forscher*innen nie beabsichtigt. Hingegen interessierte sie von Anfang an, welche Form von Unterricht die Lehrer*innen gestalteten, um die von ihnen wahrgenommenen Defizite zu beheben. Schon bei der Diskussion der allerersten Idee war ja klar geworden, dass die Lehrer*innen zumindestens auch Individualisierung im Kopf hatten. Außerdem war die Frage vom Subjekt her falsch gestellt. Die Forscher*innen waren gar nicht in der Position, etwas sicherstellen zu können – und wollten das auch nicht. Die zweite Frage war deutlich problematischer: Woher wollten sie dann wissen, was sie da eigentlich beforschten? Und wie könnten sie am Ende sagen, welcher Effekt die Konsequenz aus welchem Charakteristikum des Unterrichts war? Die Antwort dazu blieb stets vorläufig und konnte auch die eigenen Zweifel nie ganz beruhigen. Was den Unterricht anging, so konnte der nicht einfach auf der Basis des bereitgestellten Materials beschrieben werden. Vielmehr mussten die Forscher*innen in einer eigenen Teilstudie (Kap. 3) rekonstruieren, welche Form von Unterricht tatsächlich zustande gekommen war. Außerdem haben die Lehrer*innen in den Interviews viel aus ihrem Unterricht erzählt und über ihn reflektiert. Diese verschiedenen Informationen werden im Diskussionsteil (Kap. 6) zusammengeführt, um ein verdichtetes Bild des Unterrichts der Lerngruppen zu zeichnen. Noch besser wäre es gewesen, die Schüler*innen selbst zu fragen und auch aus ihrer Perspektive zu hören, welche Unterrichtserfahrungen sie mit welchen Wirkungen in Verbindung bringen. Dieses aber hat sich aufgrund zeitlicher und finanzieller Beschränkungen als nicht realisierbar erwiesen.

Und das vierte Problem? Das Ziel war es, die Einführung von Kooperativem Lernen unter Normalbedingungen zu begleiten. Das wirft die Frage auf, was eigentlich normal ist. Für die Schule und andere Bildungsinstitutionen ist diese harmlose Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Auf Schulen scheinen derzeit zwei völlig unterschiedliche Kräfte einzuwirken. Zum einen bringen zentralisierende Maßnahmen wie Zentralabitur oder Vergleichsarbeiten Vereinheitlichungen und Standardisierungen mit sich. Zum anderen ist spätestens seit in Deutschland der Wettbewerbsföderalismus ausgerufen ist und Schulautonomie den Schulen erlaubt, ihren nicht selbst verschuldeten Mangel selbst zu verwalten, eine Bewegung zum Finden regionaler oder sogar lokaler Lösungen im Gange. Spätestens damit aber gibt es keine allgemein gültige schulische Normalität mehr. Selbst innerhalb einer Schule kann die Art, wie Kolleg*innen miteinander sprechen und arbeiten, von Fachgruppe zu Fachgruppe sehr unterschiedlich sein. Dementsprechend muss das, was an einer gegebenen Schule normal ist, erst einmal rekonstruiert werden. Da dies auf der Basis von Interviews geschieht, wird die Normalität durch die Brille der Lehrer*innen betrachtet. Diese Sicht ist insofern angemessen, da sie für die Arbeit der Lehrer*innen die entscheidende ist. Und es ist eben diese Normalität der alltäglichen Rahmenbedingungen, die die Forscher*innen durch möglichst wenig Intervention möglichst wenig verändern wollten.

Noch ein Problem? Nein, eher noch eine Herausforderung, die sich stellt, weil die Forscher*innen auch Hochschullehrer*innen sind, weil sie möchten, dass das Projekt nicht nur Forschungsergebnisse liefert, sondern auch Studierende in ihren Professionalisierungsprozessen unterstützt; weil sie darin eine große Chance sehen, forschendes Lernen an der Universität zu verwirklichen. Deshalb hatten sie das Ziel, möglichst viele Studierende am Projekt zu beteiligen. Die Studierenden sollten Einblicke in die schulische Realität als etwas zu Gestaltendes erhalten und an der Gestaltung mitwirken. Sowohl die Materialerstellung als auch die Konstruktion und Auswertung von Tests fanden daher im Rahmen von Seminaren oder in einer Forschergruppe statt, zu deren Mitgliedern auch viele Studierende gehörten. Die Rückmeldung von den Studierenden und die Eindrücke der Forscher*innen hinsichtlich der Lern- und Bildungseffekte aller Beteiligten waren sehr positiv. Eine große – teilweise bis zum Schluss ungelöste – Herausforderung bestand aber darin, dass die Forschergruppe aus verschiedenen Gründen über den Projektzeitraum ständigen Wechseln unterlag, was es schwierig machte, das erarbeitete Know-how reibungslos an nachfolgende Mitwirkende weiterzugeben.

1.2Die Fragen des Projekts

Welche Fragen ergeben sich nun aus dieser Beschreibung der Situation vor Beginn des Projekts? Da sind erstens die Lehrer*innen. Das Projekt wurde von ihnen angestoßen und bearbeitete ein von ihnen selbst wahrgenommenes Problem, das sie mit von ihnen selbst formulierten Mitteln lösen wollten. In dieser Studie interessiert, welche Entwicklungen die Lehrer*innen dabei durchlaufen haben. Wie entwickeln sich ihre Unterrichtsbilder? Wie gestalten sie ihre Beziehung zu den Schüler*innen? Wie verändert sich ihre Wahrnehmung dessen, was in ihrer Schule normal ist? Wie gehen sie mit den Bedenken um, die sie in Bezug auf mögliche Reaktionen ihrer Kolleg*innen haben? Absolut beeindruckend ist dabei, welche Anstrengungen (z. B. doppelte Unterrichtsplanung) Kolleg*innen wie Yvonne Kuse auf sich nehmen, um sich von der herrschenden Normalität zu lösen. Beinahe beängstigend wirkt andererseits, wie stark der Einfluss dieser Normalität ist. In dieser Perspektive werden die Lehrer*innen als handelnde Individuen betrachtet mit ihren Überzeugungen, ihren Wissensbeständen, ihrer jeweiligen (Berufs-)Biographie. Mit mindestens gleicher Dringlichkeit stellt diese Studie die Frage nach den Strukturen, in denen die Lehrer*innen handeln, an deren Grenzen sie stoßen und auf die sie wiederum mit ihrer agency einwirken.

Abb. 1:

Die unterschiedlichen Bereiche, in denen diese Untersuchung Fragen stellt.

Zweitens sind da die Ergebnisse des Unterrichts. Alle Beteiligten sind sehr interessiert daran zu erfahren, welche Wirkungen der Unterricht erzielte. Zum einen in Bezug auf den fremdsprachlichen Ertrag, zum anderen in Bezug auf die Entwicklungen die Schüler*innen im Bereich sozialer Kompetenzen. Die Teilstudie zur Sprachkompetenz ist allerdings nicht als Prozess-Produkt-Studie auf der Suche nach eindeutigen Zusammenhängen zwischen strukturellen bzw. inhaltlichen Elementen des Unterrichts und daraus resultierenden Effekten gedacht. Noch weniger wird im Bereich der sozialen Kompetenzen versucht, allgemeingültige Aussagen zu formulieren. Vielmehr geht es in beiden Bereichen darum, die Auswirkungen des Unterrichts entdeckend in den Blick zu nehmen, um auf sich zeigende Phänomene aufmerksam zu werden. Zunächst einmal kann man auf der Basis des Forschungsstands (vgl. Kap. 2.4) davon ausgehen, dass kooperativer Englischunterricht Effekte im sprachlichen und sozialen Bereich haben wird. Die Sprachtests und die Analyse der Unterrichtsaufzeichnungen, insbesondere der Kleingruppeninteraktionen, dienen dazu, diese Erwartung mit der sich entfaltenden Praxis abzugleichen.

Drittens interessiert natürlich der (Englisch-)Unterricht selbst. Aufgrund der Zurückhaltung der Forscher*innen hinsichtlich möglicher Vorgaben für die Lehrer*innen, war es besonders wichtig, den Unterricht selbst in den Blick zu nehmen. Es war anzunehmen, dass dieser Unterricht sich vor allem auf drei Ebenen entfalten würde. Erstens brachten die Lehrer*innen eine von ihnen als bisherige Normalität beschriebene Orientierung auf Lehrerzentrierung und Instruktion zum Ausdruck: Lehrer*innen sollen den Unterricht lenken, und sie sollen die Inhalte erklären. Davon, und das ist die zweite Ebene, wollten die Lehrer*innen sich lösen und stärker individualisierende Elemente einbringen. Das würde dazu führen, dass die Schüler*innen verstärkt allein, zumindest aber stärker eigenverantwortlich arbeiten würden. Darüber hinaus gab es auf der dritten Ebene bei den Lehrer*innen aber auch ein starkes Element von Kooperativem Lernen. Das wiederum würde mehr Arbeit in Gruppen und ebenfalls mehr Verantwortung für sich selbst und die Mitschüler*innen bedeuten. Es geht hier aber nicht nur um Schule, sondern auch um Fachunterricht in einer modernen Fremdsprache. Daher ist es im primären Interesse der Studie, die fachliche Seite des Unterrichts zu rekonstruieren. Daher wird darauf geschaut, was im Unterricht thematisiert wird, also welche Inhalte den Unterricht prägen. Es wird aber auch darauf geschaut, gemäß welcher Prinzipien diese Inhalte inszeniert werden. Dabei werden im Zuge der Rekonstruktion bei entsprechender Passung auch fachdidaktische Begriffe wie der Gegensatz zwischen Form- und Mitteilungsorientierung oder das Konzept der (Schein-)Authentizität zum Einsatz kommen.

Die Vielschichtigkeit des Kooperativen Lernens ist in dieser Einleitung schon mehrfach zur Sprache gekommen. Daraus resultiert die Notwendigkeit, sich intensiv mit Kooperativität als Konzept und als Begriff auseinanderzusetzen. Zunächst vermuteten die Forscher*innen (im Rückblick wirkt diese Vorstellung reichlich egozentrisch und naiv), dass diese Vielschichtigkeit daraus resultierte, dass die Lehrer*innen anfangs eben (noch) keine klare Vorstellung von Kooperativem Lernen hatten. Von dieser Fehlvorstellung wurden die Forscher*innen alsbald kuriert. Erstens zeigte sich in der theoretischen und praktischen Literatur eine derartige Vielzahl von Konzeptualisierungen Kooperativen Lernens, dass die Lehrer*innen des Projekts mit ihren Konzepten nicht allein standen. Zweitens verdeutlichten die Unterrichtsrekonstruktionen, dass sicher geglaubte Eindeutigkeiten sich als gar nicht so sicher erwiesen. So zeigte die Analyse der ersten Unterrichtsstunden von Yvonne Kuse, dass man sehr wohl positive Abhängigkeit herstellen kann, ohne den Unterricht in Kleingruppen zu organisieren. Allgemein gesprochen: Man kann die Basiselemente Kooperativen Lernens mindestens teilweise auch ohne Gruppenarbeit umsetzen. Ist das dann kooperativ, weil positive Abhängigkeit und individuelle Verantwortlichkeit bestehen? Oder ist es nicht kooperativ, weil zu wenig face-to-face-Interaktion gegeben ist? Dieses Nachdenken auf Universitätsseite hat die Lehrer*innen natürlich nicht davon abgehalten, ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Die Forscher*innen, glücklich den rekonstruierten Unterricht nun auf den Begriff bringen zu können, staunten daher nicht schlecht, als sie für die Aufzeichnungen in Klasse 7 schon wieder neue Begriffe brauchten, denn Yvonne Kuse hatte ihren Unterricht anscheinend radikal umgekrempelt. Zumindest auf der Oberfläche war das so. Bei tieferer Bohrung zeigte sich aber, dass sie mit den Mitteln des Kooperativen Lernens nur neue Inszenierungsmöglichkeiten ihrer auch im dritten Jahr einigermaßen stabilen pädagogischen und didaktischen Überzeugungen gefunden hatte. Dies wiederum macht deutlich, dass die Konzepte der Lehrer*innen als Arbeitstheorien mit impliziten und expliziten Wissensanteilen aufgefasst werden können, mit denen sie ihre Praxis konzeptualisieren, die sich mit ihrer Praxis entwickeln und sich aus einerseits stabilen und andererseits veränderbaren Anteilen zusammensetzen.

Mit der letztgenannten Arbeit am Begriff beginnt das folgende Theoriekapitel. Darin wird der Begriff der Kooperativität diskutiert und der relevante Forschungsstand präsentiert. Außerdem wird ein Überblick über die Teilstudien und deren Wechselwirkungen gegeben.

2.Theorierahmen und Forschungsstand

In der Einleitung wurde das Erkenntnisinteresse benannt, dem dieses Projekt nachgehen wollte. Dies ist bisher so gut es ging aus der Sicht der Beteiligten geschehen. Um diese Fragen wissenschaftlich bearbeiten zu können, sind drei Schritte notwendig. Erstens: Existierende Theorien und Modelle zum Kooperativen Lernen (KL) mit ihren Begriffen und methodischen Werkzeugen diskutieren. Zweitens: Den bisherigen Forschungsstand erheben und auf dieser Basis die Fragen präzisieren. Drittens: Einen für diese Untersuchung sinnvollen Ansatz konstruieren und in einen Forschungsplan umsetzen. Im folgenden Teil werden daher nacheinander der Begriff des KL, dazu existierende theoretische Ansätze und empirische Befunde zu dessen schülerseitigen Wirkungen diskutiert. Darauf folgt ein Blick auf die Rolle der Lehrer*innen beim KL. Abschließend wird der Standpunkt der vorliegenden Untersuchung in diesen vier Bereichen bestimmt. Das Kapitel schließt mit einer Präzisierung der Forschungsfragen.

2.1Eine kurze Geschichte Kooperativen Lernens

Schulentwicklung und insbesondere Expansionen des Bildungssystems sind meist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kann Bildung zu Emanzipation und sozialem Aufstieg bislang unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen sowie zur Verbreitung demokratischer Werte beitragen. Andererseits bilden Schulsysteme die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen ab und verstetigen bestehende Hierarchien. Während sowohl Comenius’ Credo „Alle alles zu lehren“ und auch die Humboldtschen Reformen in Preußen das pädagogische Ziel hatten, durch Bildung die Lebensverhältnisse des Einzelnen zu verbessern, zeigen u.a. Foucaults Analysen (z. B. 1994 [1976]), wie der Ausbau des Schulsystems mit der Schaffung einer Haltung der Gouvernementalität dazu führt, dass aus durch Androhung äußerlicher Züchtigung beherrschten Untertanen durch verinnerlichte Verhaltensimperative sich selbst disziplinierende Bürger*innen werden. Bis in die 1960er Jahre hinein war in den westlichen Industriestaaten außerdem die Unterscheidung zwischen einer elitär-akademischen Gymnasialbildung für wenige und einer grundständigen, auf das Arbeitsleben vorbereitenden Volksschulbildung für die breite Masse zementiert. Gesellschaftliche Hierarchien verstetigten sich schon allein dadurch, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht über die Mittel für einen kostspieligen gymnasialen Bildungsgang ihrer Kinder verfügte. Im Volksschulbereich und auch in den Bildungsinitiativen der Arbeiterbewegung in den industriellen Zentren war Bildung aufgrund der zu bewältigenden Schülerzahlen außerdem stets Frontalunterricht, um mit begrenzten Mitteln möglichst viele Kinder zu erreichen.

Nach im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgebrachten Zweifeln an der bestehenden Schulpraxis, kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Phänomene zusammen, die diese Praxis grundlegend kritisierten. Zum einen stellten Pädagog*innen aus unterschiedlichen Richtungen in Frage, dass das auf frontale Instruktion im geistigen Gleichschritt ausgerichtete Schulsystem funktional ist. So kritisiert Dewey (z. B. 2008 [1916]) in seinen bildungstheoretischen Überlegungen, dass das existierende System seiner Aufgabe nicht gerecht werde, die für die Fortentwicklung des Gemeinwesens notwendigen Wissensbestände sowie demokratische Normen und Handlungsweisen angemessen weiterzugeben. Die Reformpädagogik entwickelte daher in dieser Zeit in unterschiedlichen Ländern alternative Schul- und Unterrichtsformen, die unter Nutzung von Konzepten wie Erfahrungslernen, Ganzheitlichkeit oder auch Naturnähe das hauptsächlich autoritär strukturierte Schulwesen ihrer Zeit zu verändern suchten. Zum zweiten lenkten politische Massenbewegungen und die von ihnen entwickelte gesellschaftliche Dynamik, wie die Revolutionen und Systemwechsel nach dem ersten Weltkrieg oder auch der aufziehende Faschismus in Italien oder Deutschland, das Interesse auf das Verhalten von Menschen in Gruppen. Soziologen wie Mannheim (z. B. 1995 [1929]) fragten sich, in welcher Weise die, im Verlauf ihrer Biographie in sozialen Gruppen, von Menschen erworbenen Wissensbestände ihr Handeln beeinflussen. Psychologen wie Allport (1924) untersuchten, wie das situative Handeln von Menschen davon abhängt, ob sie allein sind oder in einer Gruppe agieren. Zum dritten versucht die entstehende Lernforschung zu verstehen, welche Rolle Interaktion als Anlass von Perturbationen zur Auslösung kognitiver Konflikte (z. B. Piaget 1953 [1936]) bzw. als Quelle eines unterstützenden scaffoldings beim kollaborativen Erwerb von Wissen (z. B. Vygotsky 1988 [1934]) spielt.

Es sind die im Anschluss an diese Entwicklungen entstehenden Ansätze der Forschung zur Gruppendynamik (z. B. May/Doob 1937; Deutsch 1949), die erstmals den unterschiedlichen Einfluss kompetitiver und kooperativer Zielstrukturen auf menschliches Handeln herausarbeiten, die als Geburtsstunde des KL, so wie wir es heute kennen, betrachtet werden (vgl. Gillies 2015; Johnson/Johnson 1994). Gillies/Ashman (2003, 5) sehen dieses Interesse in den 1950er Jahren durch eine intensive Hinwendung zum Individuum in der psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung abflauen. Erst in den 1970er Jahren sei dieses wieder stärker geworden, weil mehrere Untersuchungen zum peer-tutoring in den USA zeigten, dass die Interaktion von Lernenden miteinander zu erheblichen Lernzuwächsen führen kann. Die im Anschluss daran zahlreich durchgeführten Untersuchungen zu kollaborativen Lernformen sind dann in den 1980er Jahren in mehreren großen Meta-Studien zusammengefasst worden:

The studies and reviews by Johnson et al. (1983), Johnson and Johnson (1985), Slavin (1989) and Sharan (1980) confirm co-operative learning as an effective teaching strategy that can be used to enhance achievement and socialization among students and contribute to enhance achievement towards learning and working with others, including developing a better understanding of children from diverse cultural backgrounds (Gillies/Ashman 2003, 8).

Die Forschung wendet sich in der Folge verstärkt der Frage zu, durch welche Variablen, z. B. Vorwissen oder auch Art und Weise der kooperativen Interaktion die Effekte des KL beeinflusst werden. In Deutschland wird die Diskussion von KL im Anschluss an die erste PISA-Untersuchung enorm intensiviert. Gemeinsam mit Individualisierung als sogenannte „Neue Unterrichtsformen“ – die sie nun wirklich nicht waren (s.o.) – betrachtet und bezeichnet (vgl. Rabenstein/Reh 2007), wurde KL als wirksames Mittel der Unterrichtsentwicklung propagiert und als Herzstück zahlreicher Reformvorhaben implementiert (z. B. Brüning/Saum 2009). Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht, für den sowohl praxisorientierte Handbücher (z. B. Wysocki 2010; Grieser-Kindel/Henseler/Möller 2006, 2009), als auch zahlreiche Unterrichtsvorschläge in Aufsatzform (vgl. Kap. 2.3) vorliegen.

Mittlerweile hat sich der Hype gelegt, und selbst dort, wo es beinahe flächendeckend einzuführen versucht wurde, hat es nicht den Anschein, als sei die Schule neu erfunden worden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass auch KL mit grundlegenden Zielkonflikten und Spannungsverhältnissen konfrontiert wird, die für Schule konstitutiv zu sein scheinen. Zugespitzt lassen sich vielleicht folgende drei Positionen ausmachen. (1) Von der gesamtgesellschaftlichen Notwendigkeit her denkende Ansätze mit einer umfassenden Bildungs- und Demokratieorientierung (z. B. Dewey 2008 [1916]) gehen davon aus, dass die Schule als community jene Werte lebt, durch die Schüler*innen zu partizipationsfähigen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft werden. Dies hat sich auch in der strukturfunktionalistischen Schultheorie fortgeschrieben (Fend 2008, 79) und diese Position ist in der Fremdsprachenforschung als emanzipatives Verständnis von Lernerautonomie (z. B. Benson 2001) präsent. Kooperativität zielt darin nicht nur auf eine Optimierung individueller Lernprozesse, sondern auf Emanzipation der Einzelnen und Festigung demokratischer Strukturen des Kollektivs. (2) Auf das Individuum fokussierte Ansätze stellen das lernende Individuum ins Zentrum und fragen nach den dieses individuelle Lernen optimierenden Faktoren ohne dabei die Wirkungen dieser Lernprozesse für die Gesellschaft zu thematisieren. (3) In einer neoliberalen Ausdeutung schließlich werden die neuen Unterrichtsformen als Mittel dazu gesehen, zukünftigen Arbeitnehmer*innen die in einer postindustriellen Wirtschaft notwendigen Schlüsselqualifikationen mit auf den Weg zu geben (vgl. z. B. die kritische Analyse bei Rabenstein 2007). Dadurch sollen die Chancen des Individuums im Kampf um Arbeitsplätze und die Chancen eines Landes im Kampf um Anteile am globalen Wirtschaftsaufkommen optimiert werden. Emanzipation und Demokratieorientierung sind hier nur insofern legitime Ziele, als sie dem Durchsetzen wirtschaftlicher Interessen dienen.

Dies ist der Stand der Diskussion, auf dem die Darstellung des aktuellen Theorie- und Forschungsstands ansetzt (vgl. Kap. 2.4). Die angedeuteten Spannungsverhältnisse werden sich durch die gesamte Untersuchung ziehen. Sie werden im theoretischen Teil (2.3) vertieft und auch wesentlich in den Perspektiven der Lehrer*innen wiederzufinden sein. Um all dies aber differenziert ausarbeiten zu können, ist zunächst Begriffsarbeit notwendig.

2.2Der Begriff des Kooperativen Lernens

Was ist KL eigentlich? Ist es nicht einfach Gruppenarbeit und damit auch schon lange bekannt? Schließlich geht es auch hier darum, dass Kleingruppen von Schüler*innen zusammenarbeiten. Ist daher KL vielleicht nur ein weiteres Plastikwort (Pörksen 1988), ein weiteres Produkt globaler Sloganisierung (Schmenk 2008), das inhaltsleer und mit überdehntem Bedeutungshof seine Bahnen durch die fachdidaktische und schulpädagogische Fachliteratur zieht? Auch wenn die folgende Darstellung zeigen wird, dass es in der Tat zahlreiche und durchaus unterschiedliche Auffassungen von KL gibt, so lässt sich doch ein Begriffskern herauspräparieren, mit dem weiterzuarbeiten sich lohnt.

2.2.1Kooperatives Lernen: Think-Pair-Share

Im ersten Zugriff wird KL häufig über die Sozialform definiert. Dabei wird nur das als KL bezeichnet, was sich von der Urform Think-Pair-Share ableitet. Diese Arbeitsform gliedert sich in drei Phasen: (1.: Think) Die Lernenden erschließen sich einen Inhalt oder bearbeiten eine Aufgabe zunächst in Einzelarbeit. (2.: Pair) Nun gleichen sie ihr Ergebnis mit einem/einer Partner*in ab, korrigieren sich gegenseitig oder bearbeiten eine über den ersten Schritt hinausgehende Aufgabe. (3.: Share) Abschließend werden die zustande gekommenen Ergebnisse der gesamten Klasse oder einer Kleingruppe mitgeteilt und dort ggf. weitergeführt.

Diese Definition von KL ist insofern problematisch, als sie unterstellt, dass das Vorgehen nach dem Schema Think-Pair-Share, das ja zunächst lediglich eine Sozialform darstellt, auch zu kooperativem Arbeiten führt. Zahlreiche Studien (vgl. z. B. Naujok 2000; Bonnet 2004; Krummheuer 2007) zeigen aber, dass in der gleichen Sozialform auf sehr verschiedene Arten und Weisen miteinander gesprochen und gearbeitet werden kann. Dabei ist das gesamte Spektrum von echter Ko-Konstruktion, über Helfen und Nebeneinanderher-Arbeiten bis zu offenem Konflikt möglich. Auf der Basis seiner umfassenden Studien zu Interaktion im Mathematikunterricht kommt Götz Krummheuer (2007) daher zu dem Ergebnis, dass insbesondere soziale Prozesse wie der Einfluss der Schüler*innen aufeinander die Arbeit in Gruppen ebenso stark bestimmen wie die inhaltlichen und methodischen Aspekte der Aufgabenstellung. Er folgert daher:

Hoffnungen, über bestimmte Aufgabentypen, wie sie etwa in den Diskussionen zu den Ergebnissen aus TIMSS und PISA häufig zu hören sind, oder über die Vorgaben von Gruppenstrukturen die Ergebnisse zu optimieren, halte ich für illusorisch (Krummheuer 2007, 83).

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine rekonstruktive Aufgabenstudie im Französischunterricht (Tesch 2010), die zeigt, dass selbst in einem aufgabenorientierten Unterricht die jeweils realisierten inhaltlichen und sozialen Anforderungen konkreter unterrichtlicher Lernsituationen weniger durch die Aufgaben selbst – also das Material – bestimmt werden. Vielmehr werden die Aufgaben von den Schüler*innen und Lehrer*innen an jene Struktur angepasst, die für ihre unterrichtliche Praxis charakteristisch ist. Pointiert gesagt: Die Aufgaben verändern nicht den Unterricht, sondern der Unterricht verändert die Aufgaben.

2.2.2Kooperatives Lernen: Basiselemente

Um kooperativen Unterricht differenziert beschreiben zu können, muss daher zunächst geklärt werden, was unter Kooperativität verstanden werden soll. Dazu finden sich in der Literatur (z. B. Johnson/Johnson 2015; Gillies 2007) die sogenannten Basiselemente. Kooperativität ist danach charakterisiert durch:

direkte Interaktion

das Verfolgen gemeinsamer Ziele

positive Abhängigkeit

individuelle Verantwortlichkeit

gegenseitige Unterstützung

Erwerb und angemessener Einsatz von Sozialkompetenzen

Reflexion der Gruppenprozesse

In diesem Verständnis findet KL potenziell also immer dann statt, wenn Lernende miteinander in direkte Interaktion treten. Das allein genügt aber noch nicht. Diese Interaktion ist nur dann kooperativ, wenn darin auch auf gemeinsame Ziele hingearbeitet wird. Außerdem muss das gemeinsame Arbeiten so beschaffen sein, dass jede*r Interaktionspartner*in einen unverzichtbaren Anteil zum Erreichen der Ziele beisteuert und für diesen Anteil auch Verantwortung übernimmt. Das Miteinander der Teilnehmer*innen muss dabei einander unterstützend sein und der Einsatz sozialer Kompetenzen sollte erkennbar werden, mindestens durch Reflexion auf Probleme, die durch fehlende soziale Fähigkeiten entstanden sind. Besonderes Augenmerk wird auf die förderliche Interaktion („promotive interaction“) gelegt, die Johnson/Johnson (1994, 48