Kork - Sophia Fritz - E-Book

Kork E-Book

Sophia Fritz

0,0

Beschreibung

Sophia hat ihr Studium abgebrochen und kellnert im Bacchus. Martin ist Musiker und schweigsamer Stammgast in der zwielichtigen Weinstube. Beide können ihre dunklen Geheimnisse nur schwer voreinander verbergen. Sie werden allerbeste Tresenfreunde in einem gefährlichen Spiel: Denn der Wein, den sie schwenken, führt entweder in den Himmel oder in die Hölle. Dieses Buch ist der Weisheit letzter Stuss und eine Ode an die Önologie. Darin treten u. a. auf: der Nazi-Onkel Hubert, die hinterfotzige Glühwein-Tante und ein Minister der neuen Bundesregierung als Teufel.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 231

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophia FritzMartin Bechler

Roman

Für fachkundigen Rat bei den Weinempfehlungen bedanken sich die Autor*innen herzlich bei Carsten Henn.

ISBN 978-3-98568-017-7

1. Auflage 2022

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2022

Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Schutzumschlag gedruckt im Letterpress-Verfahren

auf einem Heidelberger Cylinder, Baujahr 1954

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

ERSTENSDie These der Macht

Wenn die Zugvögel aus den Winterquartieren zurückkehren

Wenn man seinen Ex-Freund im Supermarkt trifft

Beim einsetzenden Religionsfrieden

Nach der ersten Therapiestunde

Beim Etikettensaufen

In der Winterzeit 1

In der Winterzeit 2

An Weihnachten

ZWEITENSGötterfunky und Gött* innen

Sich nicht entscheiden können

Beim Aktiencrash

Eigentlich drauf stehen, beim Sex als dreckige Nutte bezeichnet zu werden, und jetzt die eigene Emanzipation überdenken müssen

Greta

Tagesschau

Traum

Kork

Auf Tour

Nach langer Fahrt

Nach Erhalt einer Hiobsbotschaft

Onkel Hubertus

Bei einem Todesfall

Beim Entnazifizieren

Bei Kriegsbeginn und Kapitulation

Beim Blick aus dem Fenster

Beim Hören klassischer Musik

DRITTENSEin Tinnitus vom Urknall

Renovieren

Bei der großen Liebe

Im Nachhinein

Wenn Sie sich nicht entscheiden können

Wenn man nicht gefragt wurde

Beim Grillen

Bei einer Schiffstaufe

Bei einer Alieninvasion

Wenn man nicht geht

Nach der letzten Therapiestunde

Bei Verlust des Arbeitsplatzes

VIERTENSSchusswunden notdürftig verarzten

Auf dem Heimweg kurz vor einer Trennung

Bei der zweiten Hochzeit des Vaters

Wenn man Kinder möchte

Beim Sex 1

Beim Sex 2

Wenn man den Schuss nicht gehört hat

Wenn jemand sagt, ich liebe dich nicht

Wenn ich nicht weiß, wohin mit meiner Wut

Später

Noch später

Noch viel später

Bei Liebeskummer

FÜNFTENSDas Ende einer durchrasierten Zeit

Beim ersten Vollrausch

Bei periodisch eintretender Euphorie

Nach überstandener Pandemie

Bei einsetzender Periode

Wenn der Akku leer ist

SECHSTENSRondò Veneziano in einem puffigen Theater in New Orleans

Wenn Sie sich bei der Datumseingabe der Zeitmaschine mal wieder vertippt haben

Wenn ich zur Hölle darniederfahre

Wenn man den Mindestbestellwert nicht erreicht

Beim Scuba Diven

SIEBTENSAuf der Rückseite etwas wiedererkennen

Bei einem Verlust

Wenn du im Posteingang deines Elite-Partner-Accounts ein Anschreiben von Christian Lindner findest

Bei akuter Vermissung

Danach

Kannst du das spüren

Heiliges Fernweh

Siehst du die Sonne und hörst du den Regen

Stunden um Stunden

Traust du dich fliegen

Greifst du die Tiefe

Wann willst du landen

Wann willst du landen

Und wer wird dann wohl bei dir sein

ERSTENS

Die These der Macht

In meiner Weinstube sitzen die Teilnehmenden einer Studie. »Die These der Macht«, hieß dieses Papier. Über achtunddreißig Seiten lang hatte ich ausgewertet, wie oft man als Thekenkraft die Gäste anlügen konnte und wie lange es dann noch dauerte, bis sie kein Trinkgeld mehr gaben.

Die Teilnehmenden wissen nicht, dass sie Teilnehmende sind. In einer Weinstube tun immer alle so, als wären ausgerechnet sie in der Lage, auf alle anderen ein wenig distanziert herabzuschauen, nur weil sie auf einmal ein handgeblasenes Glas mit Rotwein in der Hand schwenken und sich lächelnd in den Feierabend seufzen können.

Sie sitzen breitbeinig auf ihren Barhockern und schauen aus dem großen Fenster des Bacchus nach draußen, wo andere Menschen vorbeieilen, dort das Treibholz, hier die Stammgäste mit Jahresringen, Eheringen und Tränensäcken.

Bevor ich vor einem Jahr anfing, im Bacchus zu arbeiten, hatte mich die Besitzerin beim Vorstellungsgespräch gefragt, ob ich mich denn mit Wein auskennen würde.

Klar, hatte ich gesagt. Ich war neu in der Stadt und hatte für eine Wohnung die Zusage bekommen, deren Miete knapp über meiner Schmerzgrenze lag, und für die Kaution hatte ich mein Erspartes aufgebraucht.

Die Chefin hatte den Tresen geputzt, während ich danebenstand. Sie nannte das: Einarbeiten.

Warum kennst du dich mit Wein aus, fragte sie, trinken Studentinnen nicht lieber Bier?

Bacchus, dachte ich, war das nicht ein Gott, und wie hatte der ausgesehen, wahrscheinlich nicht so wie die Besitzerin, Ende sechzig, mit kräftigen Armen und Gummistiefeln für die Spaziergänge mit den Hunden, mit Kippen, deren Schachtel sie sich in die rechte Socke gesteckt hatte. Wenn ich dachte, sie würde sich gerade die Schnürsenkel zubinden, holte sie nur eine Zigarette aus Knöchelhöhe hervor. Ich fang ja erst an zu studieren, sagte ich, und Birgit schwieg und fuhr mit diesem Lappen Kreise, bis ich ihr erzählte, dass mein Vater Winzer sei.

Wirklich, fragte sie.

Nein, dachte ich, aber ich dachte auch daran, dass sie vierzehn Euro die Stunde zahlen würde und ich die Toiletten nicht mit putzen musste.

Ja, sagte ich, ein Winzer in Rheinland-Pfalz, und dann redeten wir über Neustadt an der Weinstraße und darüber, dass ich erst mit Riesling und dann mit Grauburgunder aufgewachsen war und dass der optimale Zeitpunkt des ersten Vollrauschs wohl die eigene Kommunion sei. Bis dahin ahnte man noch nichts dieser ganzen Wucht, mit der das Leben zuschlagen konnte, noch nicht in dem eigenen Selbsthass der Pubertät gefangen und von der Midlife-Crisis der Eltern umklammert, war der Weiße Sonntag ein optimaler Anlass für ein erstes und einzigartiges völlig blauäugiges Blausein. Auch als Elternteil kann man sich da im Nihilismus üben, sagte ich zur Wirtin, die Phase, in der man die Familienfeiern nur noch betrunken ertragen kann, wird so oder so auf alle zukommen, da sollte man die ersten Erfahrungen doch besser zu Hause machen als auf der Beerdigung von Tante Berna in Niederdreisbach, oder?

Wissen Sie, sagte ich, meine Liebe zu Weißwein begann genau dort, als ich als Kommunionskind x-beinig und pausbäckig mit einem paradiesischen Kranz Trockenblumen auf der zerzausten Flechtfrisur auf dem Sofa im Wohnzimmer lag, bis obenhin voll mit Sahnetorte und Grauburgunder, eingewattet, angeheitert und von Gott geliebt.

Und deine Eltern, fragte Birgit. Sie sah mich nicht an, während sie das fragte, und begann nebenher die Kaffeemaschine zu reinigen. Die grauen Haare fielen ihr ins gerötete Gesicht. Das Bacchus war wohl die einzige Gastro der Stadt, die ihre Plörre in 0,1 oder 0,2 ausschenkte und nicht in Achteln, Vierteln oder Halben. Die Hausweine waren okay, und im monatlichen Wechsel wurden ein paar Modeweine der Saison mit auf die Karte genommen.

Meine Eltern haben nichts davon mitbekommen, sie waren nur froh, ein Fest veranstaltet zu haben, auf dem niemand nach drei Gläsern Wein versucht hatte, die Vor- und Nachteile der großen Koalition zu erklären.

Bist du sicher, fragte die Ladenbesitzerin und lachte verraucht. Über der Siebträgermaschine hing ein Blechschild, dessen Aufschrift mit einem schwarzen Edding in IN VINO CARITAS abgeändert worden war.

Wegen meinen Eltern, fragte ich, aber sie winkte ab und sagte, ist gut, Mädchen, du kannst Montag anfangen.

Erst später habe ich verstanden, dass sie meine Lügen durchschaut haben musste und mich sowieso eingestellt hätte, Birgit hatte einfach eine junge Kellnerin gesucht und ich einen Laden, der in einer Seitenstraße lag.

Mit der Studie habe ich erst angefangen, als ich schon eine Weile lang im Bacchus gearbeitet habe. Ich fand es in Ordnung, niemandem davon zu erzählen, weil ich Psychologie studierte und weil ich immer dieses dankbare Gesicht machte, wenn manche älteren Gäste mir zuzwinkerten und dann besonders viel Trinkgeld gaben.

Wenn ich an einem Abend dreißig Gäste hatte, stellte ich dreißig Diagnosen an und servierte ihnen nicht das, was sie wollten, sondern das, was sie brauchten.

Jeder hilft da, wo er kann, dachte ich, und andere arbeiten ja auch in einem Ehrenamt. Das Meiste sah ich den Menschen einfach an. Müdigkeit zum Beispiel oder Liebeskummer. Ich konnte erkennen, wer von beiden am Tisch gerade mit dem anderen Schluss gemacht hatte und wie lange es ungefähr her gewesen war, dass der eine mit seiner Affäre geschlafen hatte.

Du spinnst, hatte mein Ex-Freund gesagt, als ich ihm im Supermarkt von meiner Gabe erzählte. Wir wollten gerade Wein für einen Abend mit Freunden besorgen, und ich meinte, es müsse ein Rioja sein, weil Anna am Telefon so klang, als würde sie bald verlassen werden.

Ich weiß es wirklich, beteuerte ich mit der Flasche Rioja in der Hand, ich weiß, was los ist, und ich weiß, was man dann trinken muss.

So was weiß niemand, meinte David, du bist übergriffig, aber als er eines Tages heimkam und ich meinte, letzten Donnerstag mit Marlene, da hat er auch nicht widersprechen können.

Nach der Trennung hatte ich immerhin Zeit für meine Bachelorarbeit, was bedeutete, dass ich eine steile These aufstellte und eine Strichliste hinter dem Tresen führte. Die meisten Gäste kamen nicht darauf, dass ich sie belog. Das war nur konsequent. Wenn jemand mit zweiundfünfzig Jahren behauptete, er würde seine Partnerin immer noch lieben und seinen Job in Ordnung finden und er hätte ausschließlich Erfolg an der Börse, dann glaubte er auch, dass er einen Barolo von einem Grenache unterscheiden könne, und dann musste man ihm nur einen Grenache einschenken und abwarten.

Und, frage ich dann, schmeckt es. Die meisten Gäste kamen aus der oberen Mittelschicht, manche vom Theater nebenan, manche von der Unikneipe, viele kannte ich mit Namen.

Hervorragend, sagte der Gast, er hieß Michael, das ist der 2017er aus Piemont?

Genau, sagte ich.

Ich machte das so lange, bis ich meinem Professor angetrunken meinen Zwischenstand per Mail schickte und er mich am nächsten Morgen in seine offene Sprechstunde bat. Er saß da mit überkreuzten Armen, die er auch dann nicht löste, als ich meinte, von allen zweihundertsiebzig Gästen, die ich bis jetzt betrogen hatte, ist nur einer draufgekommen.

Nur einer, fragte er.

Ja, sagte ich, Martin.

Es ist mir egal, wer Martin ist, sagte mein Professor, und dann wiederholte er das noch zweiundvierzig Minuten lang, wie egal ihm Martin war und wie wichtig ihm stattdessen Statistik sei und dass ich nicht einfach Studien fälschen, in Zeiten von Fake News Studien erfinden könnte, das sei doch hier nicht Sozialwissenschaft in der Oberstufe, und ich hätte ja noch nicht mal den richtigen Zeilenabstand gewählt.

Das sind doch keine Fakten, sagte er.

No Facts, just vibes, sagte ich, und er schwieg so lange, bis ich sagte, ist in Ordnung, ich lösche sofort wieder alles.

Und dann, fragte er.

Und dann, sagte ich, mache ich ein ernstes Thema, dann mache ich Studien zu Dingen, die man wirklich auswerten kann.

Er ließ mich gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen, ich glaube, er ließ mich nur gehen, weil er dachte, ich würde nächsten Dienstag wiederkommen, um mir weitere Vorwürfe anzuhören, nächsten Dienstag und nächsten Donnerstag und den Montag darauf, aber ich kam nie wieder zurück in die Uni, ich machte Doppelschichten und schenkte weiter im Bacchus die richtigen Weine aus.

Martin hatte es gemerkt, als ich wieder mal einem Gast einen Nero d’Avola statt einem Chianti servierte. Ich hatte so getan, als hätte ich ihn nicht gehört. Martin wurde meistens so gegen halb neun direkt an den Tresen gespült und ankerte dann auf dem zweiten Barhocker von rechts bis weit nach Mitternacht.

Wenn er das Bacchus betrat, dann immer ganz, mit offenem Gesicht und lauter Stimme und großen Schritten, als hätte er nie Angst, drinnen wem zu begegnen, den er von draußen nicht hatte sehen können. Die meisten anderen kamen leise rein und schauten dann erst später so aus, als wären sie erleichtert, wirklich niemandem eine Rechtfertigung schuldig zu sein. Stets trug Martin eine schwarze A4-Kladde bei sich, der er sich meist unmittelbar nach Ankunft widmete, mal eilig etwas hineinkritzelnd, mal behutsam die Seiten prüfend, bevor er, oft erst nach ein, zwei Stunden, mit wachen Blicken begann, am Leben seiner unmittelbaren Umgebung teilzunehmen.

Und wieso so rum, hatte Martin mich gefragt, weil er mich von seinem Hocker aus beobachten konnte, der Chianti ist doch der teurere.

Red flag, hatte meine Freundin Anna mal über Männer gesagt, die sich allein betrinken und dann am Tresen das Gespräch mit der Kellnerin suchen.

Du sitzt da wie ein König, sagte ich und dachte wirklich in diesem Moment, dass da ein roter Teppich unter seinen Füßen fehlte. Eigentlich passte er gar nicht in eine Stadt, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihm zwei Zimmer reichten, dass jemand wie Martin die Tram benutzte und bei Netto in der Schlange stehen musste um neunzehn Uhr.

Es gibt da Unterschiede, hatte ich Anna gesagt, dem Typen, von dem ich rede, ist es immer ganz besonders wichtig, gar nichts zu wollen. Martin hatte eine Art, Läden zu betreten, als wäre er eigentlich auf der Suche nach was anderem und müsste heute noch weit reisen, als würde er sagen, er müsse gleich weiter. Ich will heute gar nichts, sagte Martin dann, wenn er sich mit abwinkender Handbewegung auf seinen Barhocker niederließ, aber nur, weil er wusste, dass ich ihm trotzdem ein Glas Barbera einschenken würde.

Warum will er nicht needy sein, fragte Anna.

Keine Ahnung, sagte ich und hatte eine Ahnung, die ich für mich behielt.

Er wollte den Nero, log ich und füllte ein frisches Glas bis zur Trennlinie auf.

Wollte er nicht, sagte Martin, aber ich bin in solchen Belangen auch kein Demokrat.

Wie meinst du das, fragte ich, und er murmelte väterlich, dass es sicher klüger wäre, wenn man den Leuten ad hoc nicht selbst die Entscheidung überlassen würde, womit sie sich das Stammhirn wattieren. Das ist wie bei der Wahl des Lebenspartners, sagte er, meistens kommt nur Scheiße dabei raus.

Ach was, sagte ich und dachte an Marlene und David und an den Malbec, den ich danach gekauft hatte, und daddelte Freebird von Lynyrd Skynyrd in die Spotify-Playlist. Martin sagte, dass er das Leiern der MC-Kassetten von früher vermisse. Das würde das Ganze wenigstens einen Funken glaubhafter klingen lassen, denn er habe denen das nie abgenommen mit dem Vogel und dessen vermeintlicher Freiheit. Außerdem sei es so ziemlich das Letzte, sich von Redneck-Arschgeigen aus den Südstaaten irgendetwas von Freiheit vorschmeicheln zu lassen. Martin sagte dann lange nichts und studierte die Raufasertapete links neben der Kellertür.

Du bist ein kleines faschistoides Arschloch, sagte er dann, ohne jegliche Vorwarnung. Der Weinstein stapelte sich in seinem bauchigen Glas, weil ich seit Stunden nur mehr nachschenkte, aber nicht mehr spülte.

Du bestimmst, was deine ahnungslosen Halbwissenden hier zu saufen haben, die können sich nicht, oder zumindest kaum, dagegen wehren. Ein kleines faschistoides Arschloch bist du.

Stimmt, feixte ich und schüttelte die Steine aus seinem leeren Glas. Da ist wohl ein Loch drin. Uns beiden kam nicht mehr als ein leises Lachen über die Lippen, und wieder waren wir gedanklich einen weiteren Millimeter aufeinander zugeschlichen.

Am Ende des Abends schloss ich die Tür von innen und löschte das Licht des Eingangsschildes, und wir tranken auf die Vögel im Allgemeinen und die Freiheit im Besonderen und, als wir endlich noch betrunkener wurden, schließlich auch auf die südfernen Winterquartiere. Dazu googelten wir die Längen- und Breitengrade.

Wir machten schlechte Witze über unseren Breitengrad, und plötzlich hob Martin an zu einem nicht enden wollenden Monolog über die feierliche Begrüßung der rückkehrenden Zugvögel. Er sagte, dass man sich dafür aus reinem Anstand einfach mal die paar Wochen Zeit nehmen sollte, weil man so was eben ganz oder gar nicht macht, und ich war mir schon bald nicht mehr sicher, welcher von den zahllosen Piepmatzen, die er wie der Chefornitologe der Wangeooger Vogelwacht herunterbetete, wohl wirklich existierte, bis es mir auch einfach egal war und wir trunkselig unseren Slogan Ganz oder gar nicht, ganz oder gar nicht am Heer der ungespülten Gläser auf dem Tresen skandierten.

Hau jetzt ab, blaffte ich ihn an und wir wischten uns gegenseitig die Lachtränen aus den prallen Gesichtern. Wir hatten beide keine Ahnung, wie wir den anbrechenden Tag überstehen sollten, aber eines wussten wir genau: Wenn wir die Mundschenke der Welt wären, würde jene ab eben dieser Sekunde eine deutlich bessere sein.

Das mit den Vögeln, sagte ich ihm, als er am Ende der Straße um die Ecke bog, schreib das auf.

Sophias Worte legten sich zunächst quer in meinem Kopf und drehten dann doch auf meinem heute etwas längeren Heimweg ihre Runden. Zu Hause angekommen, öffnete ich die Kladde und schrieb auf eine zufällig leer gebliebene Seite zwischen zwei verworfene Songskizzen Folgendes:

Wenn die Zugvögel aus den Winterquartieren zurückkehren*

Glitzerschwein Rosé. Mein durchweg gut gelaunter Begleiter, den Weg in einen formidablen Frühlingsbeginn zu bestreiten oder einen ernst zu nehmenden Gelegenheitsalkoholismus einzuläuten. Die Tage im mittleren Europa oder dem, was es mal war, werden merklich länger, und mit Sehnsucht erwarten wir die Regentschaft des Spaghettiträgers in den Fußgängerzonen und die wonneproppelnden Wochen der ersten zaghaften Flirts im Eiscafé. In Kürze flattern die wiederkehrenden Zugvögel wieder dem nahenden Frühlingsbeginn den nötigen Sauerstoff zu, und zu einem solch feierlichen Moment gehört natürlich auch immer ein ebenso feierlicher Wein mit Leuchtpotenzial und Drehmoment. Die dicht gestaffelten Rückkehrtermine der meilenfressenden Flattergeister laden zum periodischen wie episodischen Trinken ein (Cheerio, Miss Sophie), und daher eignet sich zur Beobachtung dieses bodenständigen Naturerlebnisses kaum ein Wein besser als ebenjener leichtfüßige Betrüger in ulkigen Schweinsfarben. Denn Vogelart für Vogelart möchte einzeln und ehrenhaft begrüßt und kein auch noch so tüddeliger Fliederhans benachteiligt oder achtlos übersehen werden.

Ich erinnere mich dabei an einen legendären Abend in der Berliner Kneipe Narkosestübchen, in der die altbekannte Tradition gepflegt wird, Sissi, die letzte Kaiserin, mit Videobeamer an die abgeranzten Wände zu werfen und jedes Mal einen Korn zu trinken, wenn irgendjemand »Euer Majestät« sagt – also gar zu oft. Um den 14. März herum verdichtet sich die Gefahr, wenn sich Hausrotschwanz, Zilpzalp und der aller Orten beliebte Weißstorch binnen weniger Stunden um die kalendarische Landebahn prügeln, und schon stehen wir wieder, begleitet von Fanfarengebrüll, am Fahnenmast und prosten den Reisenden gen Himmel zu. Bei einigen Hundert zu erwartenden Vogelarten wird im Tagesrhythmus so manche Flasche Glitzerschwein über die Wupper und artverwandte regionale Fließgewässer gehen. Gleiches gilt für die Rückkehrer-Terrortage am 15.–17. April, wenn sich neben vielen anderen Arten Gartenrotschwanz, die Mehlschwalbe, die lustige Mönchsgrasmücke wieder im gesalbten Schoß der Währungsunion einfinden. Grauschnäpper, Neuntöter, Pirol – Cheerio, Miss … hicks! Das letzte rote Pferd am Après-Ski-Pilz ist gesungen, der letzte Lumumba in die Rabatten gereihert, die Bude ist schon zitronenduftig durchgefeudelt und der ganze verschissene Winter nun endlich vorbei.

*Weinempfehlung: Glitzerschwein Rosé, Pfälzer Landwein (Deutschland)

Kombinierbar mit: Lumumba, Kirschblüten, Streusalz

Wenn man seinen Ex-Freund im Supermarkt trifft*

Es gibt Tage, da braucht man einen kalten Weißwein, um ins Fühlen zu kommen. Und es gibt Tage, da braucht man einen kontrastlosen Wein, der so gefühlssynchron schmeckt, wie Time After Time klingt, wenn man gerade seinen Hund beerdigt, dunkelbeerig und filmnoirig wie Wellen in Schwarz-Weiß, die auf einer Kinoleinwand in Nahaufnahme satt an den Beckenrand klatschen.

Es gibt Weine, die man spontan kaufen sollte, und es gibt Weine, die sollte man zu Hause haben, damit man vor dem ersten Schluck nicht noch an seine EC-Karten-PIN denken oder die Kassiererin anlächeln muss, damit man vor dem Weinregal nicht noch seinen Ex-Freund trifft, der einen erst nicht bemerkt und dann überrascht ruft, na, du auch hier.

Damit man dann nicht Ja sagen muss und: was für ein Zufall, und damit der andere nicht fragen kann, geht es dir gut, oder hörst du immer noch Time After Time auf Dauerschleife. An den Wein sollte man vorher denken, bevor man um siebzehn Uhr dreißig im Supermarkt steht und den Kopf schüttelt und sagt, ich weiß gar nicht mehr, ob ich das Lied noch gespeichert habe und auf welcher Playlist das drauf sein sollte, und überhaupt sind meine Kopfhörer kaputt gegangen.

An den Wein sollte man denken, bevor man dann zusammen auf das ganze Sortiment starrt und plötzlich nicht mehr weiß, womit man sich überhaupt betrinken wollte und warum. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich wollte, sagte ich in dem Moment.

Was suchst du denn, fragte mich David.

Ich weiß es nicht mehr, wiederholte ich und ergänzte, etwas, das mich an uns erinnert. Das war nicht besonders geistreich, aber vor dem Regal fragte ich mich nur noch, ob es heute nicht doch ein Bordsteinrosé vom Spät tun würde, ob jetzt nicht schon alles egal genug war, um eine Flasche einfach hier und jetzt aufzuschrauben.

Also nicht lieblich, meinte er und sah konzentriert auf das Regal.

Nein, erwiderte ich, eher sehr, sehr trocken. Mir fiel der Name nicht ein, aber ich wusste noch, dass das einer war, der so schmeckte wie der Moment, in dem wir uns kennenlernten, und zwar als mein Großvater gestorben war und er als Krankenpfleger Nachtdienst hatte und wir uns später zusammen darüber ausließen, dass sich der leitende Arzt in diesem Augenblick am Sterbebett umgedreht hatte und meinte, das war doch ein tipptopp Tod, oder.

Ich weiß es wieder, sagte ich dann, Kleiner Schwarzer.

Aha, sagte David.

So heißt der Wein, meinte ich, und dann gingen wir plötzlich beide mit den Zeigefingern durch das Regal, weil wir nichts Besseres mit ihnen anzustellen wussten, bis er beiläufig fragte, sag mal, hast du mich damals eigentlich auch betrogen.

Nein, sagte ich dann gleich zweimal, weil es sich beim ersten Mal irgendwie nicht überzeugend anhörte.

Aha, sagte David, wich einem Einkaufswagen aus, der an uns vorbeigeschoben wurde, und drückte mir zwei Flaschen in die Hand.

Danke, meinte ich.

Keine Ursache.

Können wir das noch mal machen, wollte ich fragen, weil sich unsere Finger bei der Übergabe gerade nicht berührt hatten.

Also, sagte ich stattdessen, habe ich wirklich nicht.

Na dann, sagte er, ist ja alles gut. Ich bin mir sicher, er hätte auch bei einer anderen Flasche gefragt, aber weil dieser Wein so eine dunkelrote Farbe hat und weil er Kleiner Schwarzer heißt, musste ich an den Tag denken, an dem ein neuer Mitarbeiter im Lehrstuhl angefangen hatte und eine Kommilitonin mir zuraunte, ich finde, bei dem würde sich Hochschlafen gar nicht wie Arbeit anfühlen. Und dass der Professor zwei Monate später drei neue Mitarbeiterinnen einstellte und meine Kommilitonin sie mit den Augen abscannte und später sagte, siehst du, der arbeitet auch mit dem Schwanz. Und dass der Professor das hörte und brüllte, wenn ich mit dem Schwanz arbeiten würde, wären meine Autos größer. Und dass sich ansonsten nichts veränderte, dass nur der Professor mich ab dann manchmal angrinste, ich öfter an seinen Toyota dachte und ein Stipendium der Studienstiftung bekam.

Betrügen war das nicht, dachte ich, aber ich erinnerte mich auch an eine Freundin, die einmal meinte, sie schlafe überhaupt nur noch mit ihrem Mann, weil es sich so befriedigend anfühlte, einen Orgasmus wirklich so gut vorzutäuschen, dass er nichts davon merkte. Und weil das eben kein Weißwein war, bei dem ich anfing, meine Liebe zu beteuern, und weil das auch nicht der billigste Rote war, bei dem ich denken konnte, jetzt ist eh schon egal, vielleicht will er ja mitkommen, und weil überhaupt David sich zuerst umdrehte und sagte, na ja gut, ich muss los, ich bekomme grad einen Anruf rein, ging ich mit beiden Flaschen zum Ausgang und erinnerte mich an meine EC-Karten-PIN. Beim Zahlen lächelte ich die Kassiererin an und dachte auf dem Heimweg, Scheiße, was war das denn jetzt.

Später beim Trinken fiel mir wieder die alte Frau im Seniorenheim ein, die immer eine Büchertasche mit sich herumtrug, auf der stand, die dagehören nicht zu mir, und dass nie jemand sie besuchen kam. Und dass die meisten Filme davon handeln, wie jemand einen alten Menschen noch einmal aus dem Heim entführt und ihm eine letzte Reise ans Meer schenkt. In dem Film würde die Frau mit der Büchertasche dann ihre Jugendliebe wiedertreffen und ihre Verbitterung noch einmal ablegen können und am Ende zwar sterben, aber endlich im Kreis ihrer Lieben angekommen sein. Ich hatte noch nie den Drang verspürt, irgendjemanden aus dem Heim zu entführen, stattdessen stand ich, wenn ich meine Oma dort besuchte, immer noch ein bisschen länger als nötig im Windfang rum.

Dein Opa war dir ähnlich, hatte meine Oma mir nach seiner Beerdigung gesagt.

Bist du sicher, hatte ich gefragt, aber ohne ihr wirklich zuzuhören. Leute sagen viele Dinge nach Beerdigungen, sie sagen auch, jetzt geht es ihm besser, und es hatte doch alles genau so kommen müssen.

Ganz sicher, sagte meine Oma. Sie trinkt keinen Wein mehr, seit sie allein ist. Ich tu mir das nicht mehr an, sagt sie, ich bleibe jetzt bei Eierlikör. Sie rührt sich den selber zusammen, mit Puderzucker und Rum, einer Packung Kondensmilch und acht Eigelb. Wenn ich sie besuchen komme fragt sie immer als Erstes, ob alles läuft, und, fragt sie, läuft alles.

Ja, Oma, sage ich, läuft alles super. Dann erzähle ich ihr von meinem Psychologie-Studium, als wäre sie ein Mann im Anzug Mitte fünfzig auf einem Stehempfang. Dann ist ja gut, sagt sie im gleichen Tonfall, in dem es der Anzugträger auch tun würde, und drückt mir feierlich eine frisch befüllte Flasche Eierlikör in die Hand.

Ich trinke den lieber direkt bei dir, habe ich ihr das letzte Mal gesagt. Im Gegensatz zu Kokain und trockenem Weißwein auf Stehempfängen half Eierlikör in der Seniorenresidenz St. Katharina wirklich gegen die Einsamkeit.

Nur für den Vorrat, sagte meine Oma und brachte mir noch eine zweite Flasche. Inzwischen lagere ich eine ganze Kiste auf meinem Balkon in der Altstadt, neben dem übervollen Aschenbecher und einem Korbsessel mit altem Schaffell. Auf dem Korbsessel trinke ich Rotwein und starre die Flaschen Eierlikör an und denke über Davids neue Jacke nach, bis mein Handy klingelt und meine Chefin mich fragt, ob ich doch einspringen kann.

Jetzt gleich, frage ich und rufe super, bevor sie antworten kann.

Wirklich, fragt sie, als ich mir euphorisch Rotwein auf die Hose kippe, weil ich zu schnell aufstehe.

Ja, sage ich, meinen Rotwein in der Hand, eigentlich genau der richtige für diesen Moment, weil er so schmeckt, wie ein zurückhaltender Therapeut nickt, einer, der sonst nichts sagt, bis man am Ende der Stunde selbst draufkommt, vom Balkon aufsteht und sich an der Wohnungstür noch einmal umsieht und ruft, ich glaube, ich muss hier mal aufräumen, nicht im Sinne von Schubladen sortieren, sondern im Sinne von Sachen aus dem Fenster schmeißen.

An der Tür zum Bacchus muss man einen dunklen Handknauf drehen. Drinnen ist die Luft stickig von den warmen Gesprächen. Heute ist Dienstag, das heißt, dass Alex in der Küche Gemüse-Semmeltaler mit Tomaten-Paprika-Pesto zubereitet. Ich bin betrunken und winke nur Martin, der schon vorne am Tresen sitzt und in seine Kladde starrt. Findest du das auch toll, frage ich ihn, während ich im Eingang zur Küche meinen Vorgänger ablöse, dass die Tür hier so einen Widerstand hat, wenn man reinmöchte, aber drinnen ist man dann sicher.

Sicher vor was, fragt Martin, aber ich winke ab.

Ich mochte es, wenn Sophia mit zerschredderten Aggregaten den Dienst im Bacchus antrat, denn dann gab es die wenigen Ausnahmen, in denen sie schon kurz nach Dienstbeginn anfing, heimlich mit mir zu trinken. Eine kleine Thermosflasche mit Strohhalm diente dann als Camouflage. Fingen wir so an, war davon auszugehen, dass sich der Abend lang, vielschichtig und einvernehmlich entweder positiv-verlogen oder eben entwaffnend ehrlich gestalten würde. Schnell entwickelten wir geheime Codici und kleine lasterhafte Gesten, mit denen wir uns unbemerkt über diesen oder jenen Gast belustigten und so die Zeit überbrückten, bis wir endlich allein waren. Und als am folgenden Abend der letzte Gast charmant vor die Tür gebeten wurde und die Eingangstür ins Schloss gefallen war, beendete ich ihre zahlreichen Flashbacks auf Ex-Freunde, Ex-Freundinnen, Durchgangsliebeleien und Gelegenheitsaffären mit den mutigen Worten: Nimm’s mir bitte nicht übel, Prinzessin, aber für heute bin ich ganz gut bedient mit deinen Loveboat Diaries. Können wir mal wieder’n bisschen Quark reden, wie wir die Welt retten oder den Aliens den Quantenantrieb ohne Mehrwertsteuer aus dem Kreuz leiern?

Du hast recht, sagte sie, warf ihre Schürze auf den Haufen dreckiger Tischdecken am Treppenabsatz zum Wirtschaftskeller und griff wahllos ins Regal der aktuellen Monatsweine.