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Man bekommt immer, was man verdient. Am letzten Tag des Jahres wollen Anna und ihre Freund:innen das alte Jahr loswerden. Niemand hat mehr gute Vorsätze, aber alle haben ein schlechtes Gewissen. Sophia Fritz hat einen Roman über bittere Lust und neue Berührungen geschrieben. Wien, heute: In der Silvesternacht wollen Anna und ihre Freund:innen das alte Jahr rituell verabschieden. Dazu sollen sie ihre Tiefpunkte auf therapeutische Steine schreiben und später in die Donau werfen. Doch weil sich mit Drogen und Feuerwerk doch nicht alles betäuben lässt, brechen nach und nach Lügen, Misstrauen und Gewalt hervor. Dann reißt ein ungebetener Gast alles mit, woran sich Anna und ihre Freund:innen festgehalten haben. – Virtuos, scharf und mit viel Humor verfolgt Sophia Fritz das Ringen einer Generation mit sich selbst, die Rebellion durch Achtsamkeit ersetzt und ihr Weltvertrauen irgendwo zwischen den Quellenverweisen im Internet verloren hat. »Ein Roman wie ein Silvesterfeuerwerk: voller Farben, Gefahren und großen Ahs und Ohs.« Monika Peetz, Die Dienstagsfrauen
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Seitenzahl: 334
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Sophia Fritz
ISBN 978-3-98568-007-8eISBN 978-3-98568-008-5
1. Auflage 2021
© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2021
Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport
Unter Verwendung einer Illustration von Daniela Raisich
Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen
Satz: Marco Stölk
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
www.kanon-verlag.de
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
They are really having fun,
drinking glasses of wine
and talking about things
that they like.
Richard Brautigan
Jetzt kommt wieder die Drachenzeit, hatte mein Vater zum Herbst gesagt, als wir vor Jahren die Rundstäbe auf das Seidenpapier geklebt hatten und später, um die Drachen fliegen zu lassen, den Hang hinuntergerannt sind. Mein Vater war der Erste, der sich meine Theaterstücke angesehen hat und danach seine senfgelben Ärmel hochschob und sagte, schau, schon Gänsehaut.
Jetzt kommt wieder die Drachenzeit, hatte mein Vater gemeint, als er monatelang versuchte, in dem Spalt zwischen den beiden Matratzen zu versinken, jetzt sind die Drachen da, wusste ich dann, nur nicht die bunten.
Meine Hand tastete die Kirchenbank entlang, über den kalten Kleiderhaken und dann zum Schoß meiner Mutter, die unsere Finger zusammenpresste. Siehst du, fragte ich meinen Vater, wo du jetzt gerade fehlst. Irgendwann hielt ich es drinnen nicht mehr aus, weil meine Mutter nicht aufhören konnte zu weinen und weil ich mich die ganze Zeit für all die leer gebliebenen Bänke rechtfertigen wollte, aber nicht wusste, vor wem, und weil ich ahnte, dass Alex schon längst vor der Tür saß und mir eine Zigarette anbieten würde. Draußen beobachteten wir, was abbrannte und was übrig blieb. Ich dachte an den senfgelben Ärmel meines Vaters, was meine Sprache unter seiner Haut angerichtet hatte und wo ich sie jetzt suchen gehen sollte.
Eine blasse Hand legte sich auf meinen Arm, und Fede kauerte sich neben mich. Die Haare trug er seit ein paar Monaten kurz und aschblond, und das Piercing an seiner Nase war noch rot, aber er sah nicht härter aus als früher, auch wenn ich ihm das gesagt hatte, er sah aus wie ein schüchterner Junge mit einem Stück Metall im Gesicht. Ihr zieht nach Wien, fragte Fede.
Ja, schniefte ich, Alex und ich haben das letzte Woche zusammen geplant, und wir wussten ja nicht, das kam jetzt alles doch schneller, als erwartet.
Ich habe dich gar nicht gesehen, sagte ich zu und er drückte meinen Arm. Meine Mutter wollte sich lieber etwas weiter nach hinten setzen, um die vorderen Reihen freizulassen, sagte er leise, ich bin da, falls du mich brauchst.
Ich weiß, sagte ich, und trotzdem war mir seine Hand zu schwer, und ich schob sie sanft weg, später, sagte ich.
Klar, sagte Fede, tut mir so leid für deine Mutter und dich, und weil ich darauf nicht antworten konnte, las ich den Aufdruck der Zigarettenschachtel laut vor. Rauchen kann ihre ungeborenen Kinder töten, Alex sagte: Win-Win, Fede lachte, und ich schaute erst weg und rückte dann an Alex’ Seite, schob mein Gesicht in seinen Anorak, atmete in seinen Oberarm und beobachtete seine Nasenspitze. Ich muss mal kurz spazieren gehen, Alex, sagte ich, kommst du mit. Wir hatten September, und ich fühlte mich durchsichtig, die Blätter klebten an den Bäumen, bunt, schwerer als Seidenpapier.
Alex schüttelte nur den Kopf und sah zu Boden. Ich drückte meine Zigarette aus.
Ich weiß nicht, ob es seine Stirnfransen waren und die Lachfalten um seine Augen oder die Orgelmusik und der Aschenbecher, aber plötzlich wollte ich von ihm in die Hand genommen, ausgestreut, eingerollt und inhaliert werden.
Kommst du, fragte ich noch mal, und danach sah ich ihn so lange an, bis er langsam aufstand und sagte, ja.
Wir gingen hinter die Kirche, und er drückte seinen Zigarettenstummel zwischen meine Beine und den Rauch zurück in meine Lunge, er presste seinen Filter zwischen meine Lippen, er wickelte mich ein, er strich mich glatt.
Das war nicht in Ordnung, sagte ich ihm später, als wir den Trauerzug einholten, der gerade auf dem Weg zum ausgehobenen Grab war.
Was, fragte er.
Das, sagte ich und drückte seine Hand.
Als er sie mir entzog und ich sagte, so schlimm wäre das nicht gewesen, da war es schon zu spät.
Jetzt ist wieder Drachenzeit, sagte ich zur Schaufel und zum Sand. Meine Mutter drückte meine Schulter, möchtest du meinen Schal, fragte sie mich, und wir fragten uns am Grab und später in der Gaststätte und dann auf dem Parkplatz noch mal, wann es endlich aufhören würde zu regnen und wann es anfangen würde zu schneien und wann danach der Sommer kommen würde, damit es wieder warm werden würde, oder so etwas Ähnliches.
Du möchtest jetzt sicher alleine sein, sagte Alex später, als wir mit seinem alten Volvo schon in der Garage standen, aber keiner von uns die Tür öffnete, deine Mutter braucht dich doch.
Ja, sagte ich und dachte an meinen Vater.
Dass es das Gegenteil von unserem Schweigen gegeben haben musste, unsere zusammen verbrachten Tage, wie viele Stunden, und wer würde davon jetzt noch wissen wollen.
An was denkst du, fragte Alex.
Ich denke, sagte ich, es war heute, und dabei fiel mir kein Wort mehr ein, also dachte ich an Alex’ Daumen, an die Innenseite. Und an seine Handflächen, unter denen ich ausatmen konnte.
Was, fragte er, und ich blickte nur auf das Garnichts vor der Windschutzscheibe, wie konnte es sein, dass sich die Bilder zwischen uns nicht übersetzten, die aufgeschüttete Erde, der nasse Asphalt, die steifen Kissen, die blauen Adern auf den Handrücken meiner Mutter und die absolute Schwärze.
Kannst du mich nach unten drücken, fragte ich Alex später im Dunkeln, kannst du deine Hand bitte, und er drehte mich auf den Bauch und schob seine Faust an meiner Wirbelsäule entlang, so, fragte er, und ich sagte, fester. Meine Beckenknochen drückten sich in die Matratze.
So, fragte er, und ich sagte, noch mehr, und dann, bleib da, weil ich nicht wusste, wo er noch hingreifen konnte, damit es aufhörte.
Was soll aufhören, fragte er, und ich sagte, probiere es mal so, bis er mit seiner Hand mein Gesicht ins Kissen presste und ich meinte, besser.
Wenn mich meine Mutter anruft, denke ich daran, wie lange ich ihr schon nicht mehr im Garten geholfen habe.
Ich wollte euch nur einen guten Rutsch wünschen und alles Gute fürs nächste Jahr, sagt sie und hört sich entfernt an, als hätte sie das Telefon neben sich auf dem Tisch abgelegt.
Ebenso, sage ich, wünsche ich dir auch.
Sobald ich bei meinen Besuchen auf die Einfahrt rolle, dreht meine Mutter ihre Baumwollbrüste in Richtung Blumenbeet, was sollen wir da noch anpflanzen, fragt sie dann, Hyazinthen, Verbenen oder Immergrün. Ich denke an meine Mutter, wenn ich an fremden Vorgärten im Vorbeigehen Blätter abknicke.
Je seltener ich sie besuche, desto dichter bepflanzt sie den Weg durch ihren Vorgarten, auf dem Klingelschild stehen noch all unsere Namen.
Mich macht immer nervös, wie viel Zeit sie zum Telefonieren hat. Man hört sie und den Raum, in dem sie am liebsten ist, und all die Nebenzimmer.
Wir sind bei Freunden, sage ich, und feiern gleich rein, aber ganz gemütlich, mit Kachelofen.
Geht´s euch gut, fragt meine Mutter lachend. Nach der Beerdigung hat sie angefangen, viel zu lachen, sie lachte immer, wenn sie sagte, das würde ihm jetzt auch gefallen, und jetzt sieht er uns bestimmt gerade von oben zu. Ich lachte dann mit, ja, den Rosmarin mochte er doch, noch mehr als die Cortaderia.
Na ja, lache ich zurück und schmunzle eine Weile in mein Handy, während ich durch Maries Vorgarten in das Küchenfenster schaue. Hinter dem rauchen Marie und Fede, sie reden und stellen Flaschen kalt, die Papierbecher glänzen rot auf der Kücheninsel, bereit und unbefüllt.
Na ja, sage ich noch mal, Alex hat mit mir Schluss gemacht.
Was, fragt meine Mutter, wie?
Einfach so, sage ich, mit einem Gespräch.
Wie, fragt sie, wann?
Vor ein paar Tagen, sage ich, eigentlich Wochen.
Ich drehe mich im Vorgarten um und schaue zurück zu Fede und Marie, die jetzt über ein Schneidebrett gebeugt still stehen. Meine Mutter ist zu Hause zwischen Wollfilz und Stichen, Tauwetter und Jack Wolfskin und vielen, vielen Wegrainen.
Gut, dass Fede gerade bei dir ist, sagt sie, warum hast du es mir nicht früher erzählt?
Fede weiß es nicht, sage ich, eigentlich weiß es niemand.
Anna, beginnt sie, aber lässt sich dann zu lange Zeit.
Ich muss jetzt auflegen, sage ich, es gibt gleich Abendessen.
Raclette, fragt meine Mutter. Fede winkt mir durch das Küchenfenster mit einem Schneidebrett und zwei abgeschnittenen Strohhalmen.
Fast, sage ich, Buffet.
Erzählst du es Fede bitte, ruft sie, ich meine, du weißt schon.
Klar, sage ich, und rutsch gut rüber, mach’s gut, Mama, bald komme ich wieder und helfe dir im Garten.
Meine Mutter lacht, warum willst du mir im Garten helfen, Maus, wir haben doch Winter.
Nachdem ich aufgelegt habe, möchte ich ihr noch etwas schreiben, ein Herz vielleicht. Als ich vor zwei Jahren noch zu Hause lebte, weinte ich abends in Alex Hände und schluchzte, ich halte das nicht mehr aus, sie muss sofort raus.
Wo raus, fragte er, und ich sagte, aus diesem Garten.
Einfach mal raus waren wir beide noch nie. Zu ihrem Geburtstag schenkte ich ihr einen Flug nach Chicago.
Meine Mutter fand Chicago befremdlich, den Flug, die Aussichtsplattformen, die überfüllten Straßen und sogar den Unity Temple.
Der gilt als erstes modernes Gebäude weltweit, sagte ich, das ist doch historisch, jetzt fühl dich doch mal frei.
Mach ich, sagte sie und schaute auf die dünnblättrigen Ahornbäume am Gehsteig.
Hier können wir alles tun, was wir wollen, sagte ich.
Sie verschränkte die Arme, und ihr Mund entknitterte sich nicht, als sie sagte, es ist doch schön, wir sind doch da.
Wir sprachen nicht viel in der Woche, meine Mutter spürte, dass ich böse auf meinen Vater war, weil er mich immer ein bisschen mehr gemocht hatte, wenn er mir Taschengeld in die Hand drücken durfte und weil es sein Geld gewesen war, von dem ich uns den Flug gebucht hatte.
Das war nett von dir, Maus, hatte meine Mutter auf dem Heimflug gesagt, das war was Besonderes.
Stimmt, sagte ich, und danach packte ich meine Sachen und zog mit Alex zusammen nach Wien.
Der Himmel hat Lampenfieber und winkt die Wolken weiter, Marie sieht sie nicht in der Küche im dritten Stock. Sie ist damit beschäftigt, den Bauch nicht mehr einzuziehen und Krümel mit den Fingerkuppen von der Tischplatte aufzupicken, bis sie sich ächzend eine Chisptüte aufreißt, Fede ausführlich von einem Ex-Freund erzählt und sich dabei die nächste Zigarette anzündet.
Ich sehe sie durch das Fenster wie in einem Stummfilm miteinander reden, es gibt den polnischen Abgang, wenn man verschwindet, ohne sich zu verabschieden, aber ich möchte immer irgendwo sein, ohne davor dort ankommen zu müssen.
Leise trete ich in das Treppenhaus und durch die offene Flügeltür zurück in den Flur. Matsch klebt an den Schuhen auf dem Fliesenboden, die Jacken wurden zu einem Haufen in den Eingang gelegt. Einige von ihnen erkenne ich wieder, zwei davon haben mal mir gehört. Marie, Jara und ich tauschen Klamotten aus, die wir online gebraucht kaufen. Die Adds auf Instagram füttern mich immer mit Kurzzeitzielen, mit denen ich dann die nächsten vier bis fünf Werktage überbrücke.
Aus dem Wohnzimmer dröhnt Musik. Ein paar Leute sitzen auf dem Teppich und lehnen sich an die speckigen Ledersessel. Die Möbel sehen aus, als wäre auf jedem schon mal jemand von hinten erwürgt worden, wie Requisiten aus einem Theaterstück von Agatha Christie, das ich mal in London gesehen habe, aber der Titel fällt mir nicht mehr ein.
Heute ist die Nacht, sagt Marie und umarmt mich von hinten. Jedes Mal, wenn mein Gesicht in ihre Schulter und ihre Locken eintaucht, denke ich, dass sie so ähnlich riecht, wie Leonhard Cohen singt. Ein bisschen rauchig und modrig und einen Tick zu dunkel, aber immer so, dass man Marianne verstehen kann, Marianne und Joni und Janis und all die anderen schönen Frauen, die sich in seiner Nähe aufhielten.
Okay, sage ich, und für einen Moment glaube ich es wirklich. Ich glaube es ihr, weil sie mich so grundlegend umarmt und ich ihre Handflächen und ihre Fingerspitzen, ihre Unterarme durch meine Jacke hindurch spüre, die mich bejahen und mich in ihre Küche zurückholen, die beleuchtet ist.
Marie hat eine Tasse, auf der steht Girlboss. Heute hat sie nicht viel dabei, klassisch, sagt sie und strahlt mich an, drei Gramm Koks und eine kleine Kante MDMA, zur Feier des Tages, weil heute die Nacht ist.
Nachdem Marie sich von mir gelöst hat, um ihre Locken in eine andere Richtung zu drehen, sieht Fede mich über den Tisch hinweg an, als wüsste er etwas über die Nacht, von der Marie gesprochen hat, oder über das Herz, das nicht versendet wurde.
Alles gut, möchte ich ihm zunicken, aber er kommt mir mit einem angedeuteten Lächeln zuvor, das ohne Erwartung an mir vorbei weiter durch den Raum schwebt.
Ich atme lange aus, während ich sein Lächeln weiter beobachte. Das macht er immer, möchte ich Marie neben mir stolz sagen, Fede ist jemand, neben dem man es lange aushalten kann, weil man seinen Augen nie eine Antwort schuldet, obwohl sie alles sehen.
Fede ist extra aus Frankfurt hergekommen für heute Abend, wir kennen uns schon seit der Grundschule, sage ich zu Marie. Eigentlich Ferdinand, sagt Fede, hab ich ihr schon erzählt.
Ja, lächelt Marie in Fedes Richtung, alles schon geklärt, fühl dich wie zu Hause, wir haben alles da, außer Raketen.
Mega, nicke ich, dass ihr da auf die Umwelt achtet.
Marie zuckt mit den Schultern, gleich böllern sie wieder, die Schweine, die sollten sich lieber selbst anzünden, dann ginge es der Erde wieder gut.
Eh, sage ich, ich dachte, du bist Pazifistin, wegen Fridays for Future.
Ne, sagt Marie, das ist mir egal, ich bin ja nicht für die Welt, ich bin nur gegen den Klimawandel.
Fede lacht, und ich möchte irgendetwas erwidern und stoße dann doch nur mit ihnen an. Mir fällt auf, dass Fede seinen Nasenring nicht mehr trägt, man sieht nicht mal mehr eine Narbe, seine Nase ist schmal und phasenlos.
Und, fragt Marie in meine Richtung, was gibt es bei dir so. Nichts Neues, sage ich und halte nach Altem Ausschau, über das wir reden können, über die Vor- und Nachteile der Kupferkette, über ihre Schilddrüse und über jede Hausarbeit, an der wir gerade arbeiten.
Weil ich weder ein altes noch ein neues Thema vor mir sehe, schauen wir alle drei vom Küchentisch aus auf den Bildschirm im Wohnzimmer.
Krass, oder, sagt Marie, ich wusste nicht, dass man Lagerfeuer streamen kann.
Ich auch nicht, sage ich, aber immerhin brennt es in Echtzeit runter.
Beim Betrachten wird mir erst warm und dann kalt, ich denke an die Gänsehaut meines Vaters und den Aschenbecher und an Maries Finger, die ihren Zigarettenstummel auf einem Unterteller ausdampfen.
Ich mag Marie, weil sie nicht so tut, als würde sie gerne lesen, weil sie sogar mit den Augen rollt, wenn jemand laut davon erzählt, was ihn am Zauberberg so gefesselt hat. Ich weiß nicht, wann Marie und ich das letzte Mal von einem Buch gefesselt waren.
Nicht mal von Worten lassen wir uns berühren, damit etwas Spuren hinterlässt, muss es uns am Kiefer packen, in den ersten drei Sekunden explodieren oder sehr persönliche Fragen stellen. Marie lässt sich nie auf die Langatmigkeit ein, dafür ist sie die Einzige, die wirklich immer pünktlich kommt. Nach meiner Augenoperation zum Beispiel stand sie breitbeinig an der Rezeption und rief, beeilst du dich bitte mit dem Aufwachen, ich stehe auf dem Behindertenparkplatz.
Weißt du noch, sage ich, aber da klingelt es, und Marie tanzt zur Haustüre.
Ist das Alex, fragt mich Fede.
Nein, sage ich, Alex hat Magen-Darm.
Ich winke Jara zu, die mit Marie und Lukas im Arm durch den Flur ins Wohnzimmer wankt.
Der Arme, sagt Fede und schaut mich mitfühlend an.
Ja, sage ich zu Fede, aber es geht ihm sicher bald wieder besser.
Jara strahlt in die Küche, Anna, sagt sie und umarmt mich fest. Wie immer denke ich, dass Jara und Lukas sich ähnlich sehen, ähnlich groß und ähnlich blond und dünn, als wären sie schon längst eine Familie und keine On-off-Beziehung.
Jara lächelt laut, das tut sie meistens, wenn sie Räume betritt, und den hier kennt sie gut, hier haben Marie und sie schon zusammen mit Puppen gespielt, Muffins gebacken und Rührschüsseln ausgeleckt.
Jara behält ihren dicken cremefarbenen Wollmantel trotzdem in der Hand und weiß nicht recht, wohin damit, dabei könnte sie den einfach zwischen den Wasserkocher und den ausladenden Brotkorb knüllen, ohne dass er aussehen würde wie ein Fremdkörper. Alles hier ist bauchig, der runde Tisch, das Spülbecken im Erker, der Ausblick nach draußen ins Dunkle, und die gelben Kerzenstumpfe auf der Fensterbank sind es auch. Hier kann man sich auf den Terracottaboden fläzen oder als Kind vom Wohnzimmer aus auf den Knien reinschlittern, weil man ein Pferd in der linken Hand hat, das mitgaloppieren muss.
Gebt die mal mir, sagt Marie und greift nach Jaras Mantel und Lukas’ Jacke, nur, um beide im Flur auf den großen Haufen zu schmeißen.
Marie schmeißt Sachen aus Überzeugung, weil Maries Vater einmal nach einem Streit mit Maries Mutter die Putzfrau abbestellte. Maries Mutter war nie reich, Maries Vater schon, Marie hat sein Doppelkinn geerbt, und Jara ist so geworden, wie sich Maries Vater das von seiner Tochter gewünscht hatte. Ihre Haare sind gerade geschnitten, gespült und besprayt, und der breite Gürtel hält ihre Hüfte schmal.
Lukas ist irgendwann zu Jara hinzugekommen, und ich mit Alex zu ihrem Studium. Marie hatte nie jemand Festes bei sich, nur manchmal ihren Bruder, von dem sie sich beschützen lässt.
Hey Anna, sagt Lukas und umarmt mich flüchtig, jetzt nur noch in einem braunen Wollpullover, den Marie bestimmt langweilig findet, wo hast du Alex gelassen.
Alex hat leider Magen-Darm, sagt Fede zu Lukas, der sich neben uns auf einen Barhocker zur Kücheninsel setzt, und ich bin übrigens Ferdinand.
Lukas, darf ich vorstellen, mein bester Freund Fede, wir kennen uns schon seit der Grundschule.
Freut mich, sagt Lukas, seine Halsschlagader pocht Aftershave in meine Richtung, was mich schon immer frustriert, ist, dass er viel attraktiver riecht, als er aussieht.
Die Leute fragen hier nach Alexundmir, weil wir von Anfang an zusammen waren und gleich klarmachten, dass wir auch nicht vorhatten, uns jemals wieder zu trennen. Wir sind im selben Dorf aufgewachsen, wir hatten dieselben Hausaufgaben und denselben Abschlussball, und ein Bild von uns beiden war in der Abizeitung bei der Umfrage, wer aus der Stufe als Erstes heiraten wird.
Wir sind im gleichen Grundriss aufgewachsen, hatte ich in der Therapie einmal gesagt, und weil meine Therapeutin nur nickte und nichts verstand, sagte ich noch mal: Wir hatten den gleichen Grundriss.
Im letzten Jahr hatten wir Marie, Jara und Lukas öfter zu uns eingeladen. Ich mochte es, so lange zu kochen, bis alle am Tisch sagten, das ist ja Wahnsinn, und an ihren Rhabarbersaftschorlen nippten. Und ich mochte es, dann lässig abzuwinken und zu sagen, ach, die ist auch selbst gemacht, ich hab hier einen neuen Entsafter.
Alex war anders, er nahm immer das zu sich, was er irgendwo fand, Pizzareste, Kaffee, Reiswaffeln oder Aspirin. Du hast das Konzept von Frühstück nicht ganz verstanden, sagte ich einmal zu ihm, als er morgens die Käsefonduereste auskratzte. Er schüttelte nur den Kopf und fragte, bist du jetzt auch so jemand, der frisch in den Tag starten will.
Im März sagte Alex, er wolle jetzt einen Cut machen. Ich mache jetzt einen Cut, sagte er, brach seine Ausbildung bei der Bank ab und begann eine neue in einem Seniorenheim im elften Bezirk. Ich machte mir Sorgen.
Alex fand die Demenz erfrischend, zumindest nachdem er bei der Bank gearbeitet hatte und der Einzige war, der am achten Januar fragte, ob das ein Witz sei, dass die Sternsinger die Eingangstür gesegnet hätten, und eine Kollegin nur fragte, nein, wieso denn?
Du hättest den doch in der Flasche lassen können, sagte Alex, als er sich nach seinem ersten Arbeitstag im Pflegeheim auf den Küchenstuhl fallen ließ und mir seine rote Tupperbox zuschob, in die ich am morgen Champagner gegossen hatte.
Ja, sagte ich, aber dann wäre ich keine gute Ehefrau gewesen. Alex hatte gelacht, wir beide dachten zu dem Zeitpunkt über das Heiraten nach. Ich dachte daran, meinen Namen abzulegen. Alex dachte daran, dass man den Ring von einer Hand, die Arthrose hat, nicht noch mal abbekommt.
Ich erinnere mich nicht mehr an den restlichen Abend, nur dass Alex betrunken, glücklich und erschöpft seinen Kopf auf seinen dünnen Unterarmen ablegte und ich den Alkoholgeruch aus dem Plastik wusch. Und dass er sagte, das liebe ich an dir, dass mir alles mit dir in Erinnerung bleibt.
Kennt ihr euch alle, fragt Fede, was Marie und Jara bestätigen.
Du wirst alle mögen, sage ich zu ihm. Fede meint, er ist nicht gut darin, Leute zu mögen, er ist gut im Tanzen, und er möchte sich gerne noch verlieben, am besten in den nächsten vier Stunden, dafür würde er gerne betrunken sein.
Uh, sagt Marie und klatscht in die Hände, wer kommt da infrage, Jara, was meinst du. Gute Frage, sagt Jara, bis Mitternacht, das ist ambitioniert.
Während die anderen ins Gespräch vertieft sind, schickt meine Mutter mir ein Bild von Alex’ altem Pullover, soll ich den weggeben?
Meine Mutter zoomt gerne in Sachen rein. Als Profilbild hat sie manchmal eine Blüte und manchmal einen Sonnenuntergang. Einmal habe ich ihr eine Postkarte aus Wien geschickt, mit lieben Grüßen, schrieb ich drauf. Ich hatte nichts gefunden, was ihr gefallen hätte, keinen Magneten von Freud und kein Bild von Paul Klee, also hatte ich ihr die Postkarte von Dürer geschickt, und sie hatte mir ein verwackeltes Bild von der Karte geschickt, als sie ankam, und geschrieben, schöner Hase.
Was machst du in meinem Zimmer? Schreibe ich zurück.
Ich kippe Lukas Averna Sour in ein Wasserglas. Ich dachte, das trinkt man wie Schnaps, meint er, irgendwie weniger.
Wieso, frage ich, es schmeckt doch gut, ich habe das erst hier kennengelernt, weil Alex meinte, dass er den perfekten Zitronenanteil rausbekommen hat.
Wie geht es ihm denn, fragt Lukas, na ja, mir ist es zu bitter.
Ausmisten, schreibt meine Mutter und schickt mir ein Bild von meinem offenen Kleiderschrank.
Neben dem roten Pullover liegen ein BH mit Glitzerpailletten und ein paar Röhrenjeans, in die ich nicht mehr reinpasse.
Was ist noch von ihm? Sie schickt mir ein Video, in dem sie mit der linken Hand über die Wäschestapel fährt. Das Sammelsurium an alten Kleidern sieht aus wie eine Mischung aus JAKO-O und Hunkemöller.
Die Tangas nicht, schreibe ich zurück.
Ist das deine Mum, fragt Fede.
Ja, sage ich, warum hat sie keine Freunde, mit denen sie jetzt Raclette isst oder so?
Sag mal liebe Grüße, sagt Fede, bevor er mit beiden Händen anfängt, seine Worte zu unterstreichen. Alle tun immer so, als wäre Verlieben ein Glücksspiel, dabei ist es reine Übungssache. Ihr werdet schon sehen, sagt er, ich finde noch jemanden, und ihr werdet es gleich bemerken, so, wie man es in den Filmen immer bemerkt, dass nach ungefähr fünfzehn Minuten jemand reinkommt, der circa genau gleich schön aussieht, und das ist dann der Eine für mich.
Okay, sagt Marie und betrachtet ihn, Erik könnte gehen, was wäre denn dein Traumtyp?
Ach, Traumtyp, sagt Fede und zieht die Nase hoch, Hauptsache unter vierzig und austherapiert.
Das da, schreibe ich meiner Mutter und schicke ihr einen Screenshot von einem übergroßen grauen Hemd, das kann weg.
Gut, schreibt sie, was noch?
Ich gehe das Video langsam durch, wische über die Shirts und Pullover und Hosen, manche von mir und manche von Alex, zwei von Fede. Ich mache das um ihretwillen, weil meine Mutter es auch wichtig findet, jedes Frühjahr die Äste zurückzuschneiden. Von den Ästen hat meine Mutter viel gelernt, vom Wegschneiden und Aussortieren.
Haushaltsauflösung, hatte meine Mutter vor sich hingemurmelt, kurz nach der Beerdigung und kurz vor Chicago, wir lösen jetzt den Haushalt auf, und dann ist Schluss.
In Wirklichkeit ließ sich gar nichts auflösen, sondern nur ausräumen und umschichten, ein immerdauerndes Wiederfinden von Bildern, Briefen und Schlüsselanhängern mitten im Vergessenwollen.
Meine Tante hatte an der Tür geklingelt, wie es sonst bei uns nur noch der Postbote tat. Du darfst dich jetzt nicht selbst aufgeben, hatte sie gesagt und meine Mutter betrachtet, als wäre sie ein Paket, das nicht ausreichend frankiert worden war, und meine Mutter hatte den Kopf geschüttelt, an welcher Packstation hätte sie sich denn aufgeben sollen, und welchem Adressaten hätte man das zumuten wollen, natürlich nicht, hatte sie gesagt, da musst du dir keinen Kopf machen.
Ich hatte im Nebenzimmer weiter gepackt, während meine Tante ihren selbst gebackenen Kuchen im Esszimmer aufschnitt. Aus dieser Zeit habe ich nichts mitgenommen, außer dass es nicht Selbstaufgabe, sondern Selbstauflösung, und nicht Haushaltsauflösung, sondern Haushaltsaufgabe hätte heißen sollen, dann hätte ich gewusst, was da auf mich zukam.
Das und das, schreibe ich meiner Mutter, aber ich schicke ihr keine Bilder von Alex’ Hoodies, sondern von meinen neonfarbenen Bustiers.
Dann nehme ich einen großen Schluck von irgendeinem Weißwein. Ich weiß, wenn Fede an den Einen denkt, dann denkt er an Fabi aus der zwölften und Lennard, der schon mit der Schule fertig war, an Mark, aber Mark war verheiratet, und manchmal denkt er noch an Joni.
Wenn ich an den Einen denke, dann denke ich daran, auf wie viele Arten Alex an einem Juweliergeschäft vorbeilaufen konnte. Und dass er letztes Jahr auf Rügen meinte, dass ich mich sowieso nie für ein Kleid entscheiden könnte, dass ich zwei bis drei Kleider auswählen sollte, um sie im Verlauf des Abends an- und wieder ausziehen zu können. Und dass es am Tag unserer Hochzeit eine überteuerte Location mit einem billigen Hinterhof geben sollte, dass Alex und ich dann nach dem Sektempfang dahin verschwinden würden, mit seiner Flasche und seinem Schaum in meinem Mund, mit allem, allem außer Tischdeko.
Ein paar Wochen bevor ich mit Alex zusammengekommen war, hatte ich angefangen, diesen Körper, den ich nur von außen kannte, zu rasieren. Ich trug Selbstbräuner auf und schaute Pornos. Der Aufkärungsunterricht lag hinter uns, ich wusste was über Befruchtung und Kondome und dass man danach schwanger und krank werden kann. Sex, das war Offenheit und Selbstaufgabe, das fiel mir leicht, weil ich schon lange nicht mehr bei mir war, sondern immer nur versucht hatte, die Version von mir zu sein, die meine Eltern mir verziehen. Ich packte Alex und nahm ihn mit, und seine Mutter war mir dankbar. Sie sagte, der ist so lethargisch, der braucht jemanden, der sich mal um ihn kümmert.
Zu unserem Einmonatigen schenkte Alex mir seinen roten Pullover. Ich trug ihn wie eine Daseinsberechtigung. Mein Kopf war müde und mein Körper in einer Beziehung mit den weißen Sicherheitslinien am Bahnsteig. Seitdem gibt es meine Brüste, meine Haut und meine schwachen Stunden, mein genug an Körpern, mein Sharen, mein Teilen, mein Austeilen und Einstecken, meine Absagen und meine Erinnerungen. Jeden Monat blute ich, und jeden Monat schreibe ich jemandem, der kein Vater wird.
Die kannst du weggeben, schreibe ich zurück, aber nicht den roten Pullover.
Weißt du denn, ob Elin heute noch kommt, frage ich in Maries Richtung. Marie hebt ihre Nase nicht vom Schneidebrettchen, um zu antworten, sie hält lediglich einen Zeigefinger hoch, damit ich auf ihre Antwort warte. Ich weiß, dass sie sich dieses Jahr die Wangen unterspritzen ließ, um ihren Vater aus ihrem Gesicht zu löschen. Keine Ahnung, sagt Marie, kann schon gut sein, ich habe sie eingeladen, aber jetzt in den letzten Wochen nichts mehr von ihr gehört.
Letzte Woche hatten Elin und Alex Fotos von einem gemeinsamen Ausflug auf ihren Social-Media-Kanälen geteilt, Alex zuerst und sie drei Stunden später. Auf dem Foto hatte ich lange versucht, etwas an Elin nicht schön zu finden, aber der einzige Satz, der mir dazu einfiel, war, du siehst so aus, als hättest du zu viele Zähne, und den verwarf ich gleich wieder.
Die anderen müssen das Bild von Elin und Alex auch gesehen haben, aber niemand hat mich darauf angesprochen. Vielleicht, weil sie es normal finden, dass man sich auf der Arbeit auch mal gut versteht.
Auf das Pflegeheim war Alex über Marie gekommen. Elin arbeitet dort, hatte sie gesagt, das ist eine gute Freundin von mir, die frag ich mal. Und zwei Wochen nach dem Einstellungsgespräch sagte Marie mir, weißt du, eigentlich gehört meinem Vater der Laden, meinem Vater gehört hier ziemlich viel.
Alex hat Magen-Darm, wiederholt Lukas und schenkt mir nach, und da bleibst du nicht bei ihm?
Ich durfte nicht, sage ich, er hat es mir verboten.
Bevor Lukas darauf antworten kann, deute ich auf das Stofftier aus Polyester, das er fest in der rechten Hand hält. Ist das eine Schildkröte oder eine Biene, frage ich ihn.
Das gehört Jara, sagt er und stopft ihr das Tier in die Hosentasche. Jara kichert und streichelt es, kaum größer als ihre Handfläche.
Marie schraubt eine Flasche Wein auf, ihre Armbänder klirren an den Gläsern. Schön sieht sie aus, wegen dem teuren Echtgold und den nervös abgekauten Nägeln und dem abblätternden roten Lack, auf uns, sagt sie, und alle stoßen an.
Das gehört Lukas, sagt Jara und hebt das Bienentier hoch, vorher waren wir auf dem Prater und hatten Glück, Lukas hat es rausgeholt, mit diesen Greifarmen, mit denen man sonst nie irgendetwas erwischen kann.
Einmal hat Samir so ein Teil aufgebrochen, wirft Marie ein, aber so was würde ich nie machen, alles, was ich mitgehen lasse, sind so Pfeffermühlen aus großen Burgerketten, also nur aus denen, die sich das leisten können.
Das wollten wir auch machen, sage ich, als wir nach Wien gezogen sind, aber es ging nicht.
Was ging nicht, fragt Marie, das geht doch einfach. Ich weiß, sage ich, aber wir haben das nicht über uns gebracht. Ich erzähle ihnen die Geschichte, als Alex und ich uns in einer Kneipe anstarrten und die Pfeffermühle jedes Mal wieder aus der Jutetasche holten, bevor wir das Restaurant verließen. Einmal haben wir es dann doch geschafft, sage ich zu den anderen. Aber wir haben uns damit so unwohl gefühlt, dass wir anfingen, bei jedem weiteren Besuch etwas mitzubringen, einen Sticker oder ein Lesezeichen, einen Aschenbecher, und dann sind wir in den Urlaub nach Rügen gefahren. Als wir wiederkamen, hatte die Bar zugemacht, und unsere Sachen waren fort.
Das passt zu euch, sagt Jara, und Fede lacht und sagt, ihr habt euch gar nicht verändert.
Lukas lässt sich nicht beirren und deutet auf das Stofftier und sagt, das habe ich für dich da rausgeholt. Jara legt das Tier neben sich auf die Kücheninsel, gleich neben das Koks, meine Taschen sind zu klein, sagt sie, aber hier liegt es doch gut.
Jetzt hebt Marie das Tier hoch, was ist das denn, fragt sie noch mal, das sieht aus wie der Inbegriff von Umweltverschmutzung.
Ein Bienentier, sagt Lukas, wir dürfen es nur nicht vergessen, ich hab noch nie was gewonnen. Ist gut, sage ich und streiche dem Tier über den Kopf, ich denke dran, dass Jara es später wieder mitnimmt. Ich wollte Jara einen Gefallen tun, aber jetzt nickt Lukas mir dankbar zu, als wäre seine Freundin nicht achtsam mit ihm umgegangen, obwohl sie so eine ist, die bei Unwetter vom Fahrrad steigt, um einen Regenwurm mit zwei Stöckchen vom Beton zu heben.
Schön, dass du da bist, sagt Jara und prostet Fede zu.
Jara nimmt Orte behutsam ein, mit ihrer schwarzen High-Waist-Jeans und ihren spitzen Knien und ihren silbernen Ringen an jedem Finger. Unglaublich, wie lange wir uns jetzt schon nicht mehr gesehen haben, sagt sie zu mir.
Ja, sage ich, die Zeit rennt.
Die Zeit rennt uns immer davon, sagt Lukas mit erhobenem Zeigefinger, Jara küsst ihn auf die Wange, als hätte er damit etwas Wichtiges gesagt.
Du hast mir gefehlt, sage ich und lehne meinen Kopf für einen Moment an Jaras weiche Schulter.
Du mir auch, sagt Jara, warum hast du dich nicht gemeldet, ich war doch da.
Ich leider nicht, erwidere ich. Oft hatte ich eine Nachricht begonnen, aber kein einziges Mal wusste ich, wie ich erklären sollte, was in den letzten Monaten passiert war, mit welcher Erzählung ich anfangen konnte, damit das Ende kein schlechtes Licht auf mich warf.
Jara, schrieb ich ihr vor drei Wochen, ich war einkaufen, und auf der Milchpackung steht, dass da viel Liebe drin ist, warum kann ich das nicht von mir
Jara, begann ich einige Tage später erneut, ich habe eine Wette mit dem Schnee am Laufen, wer von uns beiden länger liegen
Jara, versuchte ich es letzte Nacht, warum gibt es nur die Nervenenden, warum hat noch keiner Nervenanfänge
Dann schloss ich den Chat und löschte vorsichtshalber die gesamte App. Dass es mir die letzten Wochen nicht gut ging, wäre für Jara keine Entschuldigung gewesen, mich nicht zu melden. Wenn es ihr schlecht geht, dann weint sie sich bei Freunden aus, wenn es mir schlecht geht, dann lache ich mir Fremde an. Weil es Jara im letzten Jahr oft schlecht ging, durfte sie in unserer Wohnung oft machen, was sie wollte, und sie machte es meistens konsequenter als ich.
Einmal kamen wir nach einem Wochenende nach Hause, und sie saß am Küchentisch. Lukas hatte sich schon wieder von ihr getrennt. Wir haben elf Uhr morgens, sagte ich zu ihr und deutete auf den gefüllten Aschenbecher und auf die Brandlöcher und den Alkohol, was soll das da sein, und Jara schaute auf den Tisch und murmelte, Brunch.
Aber heute musst du mir alles erzählen, fordert Jara mich sachte auf, was bei dir so los war in den letzten Wochen. Ich hebe meinen Kopf von ihrer Schulter und nehme einen großen Schluck aus meinem Glas.
Eh nichts, sage ich.
In den letzten Tagen habe ich mir überlegt, wie ich Elin ansprechen soll, wenn sie heute Abend auch kommt.
Hey Elin, würde ich sagen, du kennst doch Alex, oder.
Elin hat Alex vor zwei Jahren eingearbeitet. Sie hat ihm die Bewohner und die anderen Pfleger vorgestellt, das ist Adolf, sagte sie beispielsweise, der ist aus dem Krieg nicht mehr heimgekommen, und das ist unser neuester Stationsleiter Murat, wir werden oft zu dritt Schicht machen.
Wenn ich im letzten Jahr nach Elin gefragt hatte, war Alex mir immer ausgewichen und hatte mir stattdessen von den Bewohnern erzählt. Von Adolf, der im Krieg geblieben war, und dass er sich manchmal, wenn der alte Mann schlief, auf den Sessel neben dem Bett setzte und für ein paar Minuten so tat, als wäre er mit ihm dort geblieben.
Wenn Elin heute Abend kommt, frage ich sie, wo Alex ist. Dann gehe ich zu ihm und verspreche ihm, dass das nur ein Ausrutscher war und ich es sowieso schon längst beendet habe. Und dann vergrabe ich mein Gesicht in seiner Achselhöhle und lasse lange nichts anderes zu, bis Alex seine Hand in meine Haare schiebt und sagt, ist okay, Anna, ich habe dir schon längst alles verziehen.
Marie, ruft Jara, kann ich dir denn noch irgendwie bei den Vorbereitungen helfen? Marie dreht sich zu uns um. Nie ist sie da, wenn man sie anspricht, immer muss sie sich zuerst umdrehen oder sammeln oder einmal kurz blinzeln, bevor sie antwortet.
Nein, lächelt sie, ich habe alles im Griff.
Wo sind denn deine Eltern heute, frage ich und winde mich aus Jaras Umarmung. Ich habe das Gefühl, Maries Mutter zu kennen, weil die große Küche genau so eingerichtet ist, wie ich das von Maries Küche erwartet hatte. Teuer und ein bisschen schlampig und weil es ihr Humor ist, der da auf Postkarten an der Kühlschranktür hängt. Skifahren, sagt Marie, glaube ich.
Sie strahlt stumm vor sich hin, und mir fällt ein, dass Marie ihr Gras immer in einer alten Bonbonschachtel aufbewahrt, auf der steht pflanzliche Naturkraft für Ihre Stimme.
Marie hat mit zwölf Ritalin verschrieben bekommen.
Ich bin ihnen dankbar, sagte Marie, weil ich ohne Ritalin nie auf Modafinil gekommen wäre, das ist besser, auf Moda kannst du neun Stunden lang durcharbeiten. Marie arbeitet durch, sie arbeitet neben dem Studium als Moderatorin und wird bald befördert.
Ich glaube, die meisten kommen noch, sagt Marie jetzt, aber erst, wenn sie fertig sind mit ihrem Raclette und mit dem Dinner for One.
Und, fragt Lukas, während er sein Handy mit der Bluetooth-Box verbindet, was ist der Plan für heute Abend? Marie fährt herum und streicht sich aufgeregt durch die Locken, der Plan, sagt sie, ist, jetzt zu trinken und später auf die Dachterrasse zu gehen, es kommen noch ein paar, wenn sie nicht doch alle spontan weggeflogen sind.
Na ja, sagt Lukas und nimmt sich eine Handvoll Erdnüsse vom Tisch, ist ja immer noch nicht so cool mit Reisen gerade.
Marie zuckt die Schultern. Die hoffen an Silvester immer, dass einer noch kommt und sie daraus rettet, dass einer sie woanders eingeplant hat. Die halten sich immer eine Möglichkeit offen, bis alles ab zwanzig Uhr so läuft, wie es läuft, wenn nichts geplant ist, und dann gibt es Sekt.
Nice, sagt Jara, Lukas hat noch was vorbereitet. Lukas nickt, es gibt einen Programmpunkt, der kommt gleich, ihr werdet sehen.
Könnte ich Elins Nummer haben, frage ich Marie. Wenn ich die Hände frei habe, sagt Marie und leckt sich Himbeersaft vom Finger, oder frag mal Alex, der hat die auf jeden Fall.
Elin ist eine Arbeitskollegin von Alex, sage ich zu Fedes Lächeln, das sich daraufhin vertieft.
Das ist ja schön, sagt er, dann freue ich mich darauf, sie kennenzulernen. Fede nippt an Lukas’ Averna Sour-Glas und kann meine Gedanken nicht lesen. Sein Blick fehlt mir. Ich möchte ihn fragen, ob er das ernst meint mit dem Verlieben und was er von meinem Plan mit Elin hält und ob er aufgehen wird heute Abend.
Aber schön, dass so viele kommen werden, oder, fragt Marie und bemerkt meine Anspannung nicht, weil gerade etwas anfängt, ihr wehzutun, wirklich schön.
Ich beobachte meine Freunde im Raum, wirklich schön, antworte ich, und Fede sieht mich an. Ich muss mal kurz wohin, sagt er und verlässt die Küche.
Marie ist mir ähnlicher als Jara, weil sie ständig so beschäftigt damit ist, sich Schmerz nicht anmerken zu lassen, dass sie gar nicht dazu kommt, nach dem der anderen zu fragen. In Maries Nähe bin ich gerne, weil es nie auf einen zukommt, das Reden über die Löcher.
Ich habe euch was mitgebracht, ruft Fede aus dem Flur und streckt uns, als er wiederkommt, ein Glas Frankfurter Würstchen entgegen.
Aus Frankfurt.
Wow, sage ich und lache, Frankfurter, lustig, danke.
Frankfurter Würstchen, gibt’s die noch, ruft Marie.
Was, fragt Jara, du bist doch Veganerin.
Aber noch nicht so lange, meine ich.
Du bist Veganerin, fragt Fede und schaut mich verwirrt an, machst du da jetzt auch mit?
Ich glaube, räuspert sich Lukas neben mir, hier isst niemand Würstchen.
Ich dachte, das wäre witzig, Fede fährt sich mit einer Hand durch die Haare, mit der anderen hält er das Würstchenglas fest. Für das gibt es in Maries Küche keinen Ablageort, hier legt man nur Sachen aus dem Alnatura ab, Avocados und Lachs mit Haut und, wenn Discounter, dann Rügenwalder Mühlen-Wurst.
Krass, sagt Marie, die hab ich seit meiner Kindheit nicht mehr gegessen.
Ich glaube, sagt Lukas, nicht mal da hab ich so was runtergekriegt.
Die schmecken eigentlich ganz gut, sagt Fede, die gab’s bei uns immer, ich dachte halt, Frankfurt.
Ne klar, sage ich, aber Marie verdreht nur die Augen, steck die mal lieber wieder ein, bevor mein Bruder kommt, wenn du keinen Vortrag hören willst.
Samir kommt, frage ich Marie, seit wann das.
Seit grade, sagt Marie, hat er mir geschrieben. Nirgendwo fällt etwas runter, nichts zerbricht am Boden, nur ich atme zweimal tief ein und beobachte Fedes Hände, die sich unsicher an dem Würstchendeckel festhalten. Spitzenqualität, 5 Würstchen im zarten Saitling, komm Fede, sage ich, ich zeig dir mal das Wohnzimmer.
Bist du jetzt wirklich vegan, fragt Fede, während ich ihn an den Menschen auf dem Teppich vorbei in Richtung der Sofas leite. Er setzt sich auf das glatte Leder, das Glas mit den Würstchen fest zwischen beiden Händen wie eine Andachtskerze, sind das etwa alle Veganer, fragt er irritiert.
Ja, sage ich, aber nur manchmal, bei Würstchen kann ich doch nicht widerstehen.