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Ikkyu Sojun (1394 - 1481), Zen-Mönch und unehelicher Sohn des Kaisers, Dichter, Tuschemaler, Baumeister, der bei einem Krähenschrei über dem Biwa-See das Erwachen erfuhr, sich aber stets weigerte, solches zu lehren – dieser biografische Roman folgt dem Lebensweg eines außergewöhnlichen Universalgenies im Japan des fünfzehnten Jahrhunderts, beschreibt Ikkyus harte Ausbildung im Zen, begleitet ihn dann auf seinen Wanderschaften, während derer das einfache Volk ihn liebte und schätzte, da er die Ungerechtigkeiten der Zeit und die Überheblichkeit von Adel und Klöstern ohne Furcht anprangerte, dann weiter durch die Wirren der Onin-Kriege, während derer Kyoto in Schutt und Asche gelegt wurde, danach beim Wiederaufbau der gewaltigen Tempelanlage des Daitokuji, die noch heute steht, bis hin zu seiner späten Liebe zur blinden Sängerin Mori, der viele von über tausend in der Sammlung Verrückte Wolke zusammengefassten Gedichte gewidmet sind. Noch heute steht Ikkyu Sojun für einen umfassenden kulturellen Aufbruch, der im Westen allenfalls mit der Renaissance vergleichbar wäre.
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Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2018
... lasst uns darüber hinausgehen, darüber hinaus und auch über das Darüber-Hinaus hinaus ...
Hannya Shingyo
Impressum
© tao.de in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld
1. Auflage 2018
Autor: Reinhard Febel
Foto Umschlag: Creative Commons Zero (CC0)
Gestaltung: Carine Wiebe – Mediengestalterin
Verlag: tao.de in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld
www.tao.de · eMail: [email protected]
Herstellung: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Paperback 978-3-96240-177-1
ISBN Hardcover 978-3-96240-178-8
ISBN eBook 978-3-96240-179-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und sonstige Veröffentlichungen.
Krähenschrei
Die Geschichte von Ikkyu
Der See liegt dunkel im Morgengrauen.
Das Wasser ist reglos. Nur am Ufersaum längt sich langsam das Schilf und kürzt sich wieder. Nebel treibt zwischen die Bäume, quillt durch ihre Kronen und streicht über das Gras.
In einer Astgabel schläft eine Krähe, an das Holz geschmiegt, die Federn tuscheschwarz, aufgeplustert gegen Kälte und Nässe.
Tropfen fallen aus dem grauen Himmel und von Zweigen, Blättern und Zapfen. Auf dem See wachsen Kreise, einander durchdringend, dann wieder verschwimmend. Blasen steigen aus dem sumpfigen Wasser.
Auf einem Stein steht ein Kranich.
Die Krähe spreizt die Flügel. Sie schüttelt sich. Allmählich wird es hell. Farbe des Gefieders und des Waldes trennen sich für den Tag. Das eine Schwarz bleibt schwarz, beginnt, von Tropfen und Licht zu glitzern, wie fein gepinselt, das andere wird zuerst grau, dann grün.
Hier leben keine Menschen. Die wenigen Fischer wohnen weit entfernt, in Dörfern aus bescheidenen Hütten am anderen Ende des Sees, wo diesen nur ein niedriger Bergrücken mit sandigen Durchbrüchen vom Meer trennt. Dort, auf der Landenge, können die Männer nach Belieben im Meer fischen oder auch im See, je nach Jahreszeit und Witterung.
Man isst alles, was die Gewässer hergeben: Muscheln, Algen, natürlich Fische, Meeresschnecken, sogar Seeigel. Reis wird angebaut, auch Gemüse. Dazu hält man sich einige Haustiere. Die Dorfbewohner sind arm. Das Leben ist hart.
In größter Not fängt man neben anderem Getier auch manchmal Krähen, mit schlechtem Gewissen allerdings, denn diese haben etwas Unheimliches. Dazu werfen die Männer des Nachts ihre Netze über die Schlafplätze der Vögel, fassen die Netzöffnung zusammen, tragen den Sack zum See und ertränken ihre Beute.
Wohl oder übel rupft man die Krähen dann und wundert sich über die kleinen weißen Körper unter dem finsteren Rock: da ist ja fast nichts dran! Und das Wenige schmeckt bitter.
Auch sind die schwarzen Federhaufen neben der Feuerstelle den Fischern nicht geheuer: zu luftige Köhlerware, zu nichts nütze – fände man denn auf schwarz gestopften Kissen Schlaf?
Doch selbst wenn: was träumte man dann Schlimmes? Auch ängstigt man sich, wenn ein Windstoß in das Gerupfte fährt, fürchtet, die Federn könnten sich neu zusammensetzen zu einem riesigen, dreibeinigen Vogel, dem Sonnenraben Yatagarasu, – ja, das soll im Norden wirklich geschehen sein –, oder aber, noch schlimmer, der schwarze Funkenflug könnte eine plötzliche und nie mehr endende Nacht entzünden.
Die Krähe schläft abseits vom Schwarm. Ihr eines, zum Stamm hin gewandtes Auge ist geschlossen, das andere geöffnet, stets bereit, Bewegung zu erkennen und aufzufliegen.
Zwar sind Menschen am See nicht zu finden, aber deren Hinterlassenschaft: vor langer Zeit hat jemand im Schilf, halb an Land gezogen, einen Einbaum versteckt. Inzwischen ist er verrottet. Er steht voll Wasser.
Bevor der Tag kommt, schließt der Vogel noch einmal beide Augen.
Da entsteht im Boot Bewegung. Ein Frosch taucht auf, schwimmt mit kräftigen Stößen zum Rand und springt in den See. Die Krähe öffnete die Augen. Sie wendet ihren Kopf dem Klatschen zu.
Bald beruhigt sich das Wasser im Bootsrumpf. Nur ein Rinnsal leckt noch an der Seite herab.
Inzwischen rudert der Frosch ins Offene. Noch immer steht der Kranich unbewegt.
Die Natur ist voll von Farben und Schattierungen, von Hauch und Duft.
Blitzschnell stößt des Kranichs Schnabel zu. Einen Augenblick lang zittert etwas in dem scharfen Werkzeug und verschwindet dann. Ein paar Tropfen fallen von der Schnabelspitze. Der Vogel tut ein paar Schritte. Sein Hals zuckt.
Mittlerweile hat der Himmel seine Farbe verändert, ist aufgehellt, und ein Gelbton verweist auf die Sonne hinter den Wolken. Mit wässriger Tusche sind Baumkronen angedeutet.
Die Krähe erhebt sich. Sie breitet ihre Schwingen aus und fliegt davon.
Im Dunst wird sie kleiner und blass, bis der Morgennebel sie schließlich verschluckt.
»Kraa! Kraa!«
Der Krähe Krächzen klingt wie der Schrei eines Mannes, den man würgt.
Das Früheste, woran sich Sengikumaru erinnern konnte, war Haut.
Genauer gesagt: Haut und Stoff, Duften und Rascheln, feine Gewänder und die weiche, warme Haut der Mutter. Auch ihre Brüste, an denen er sog, wie dies vor nicht allzu langer Zeit der Kaiser höchstpersönlich getan hatte, der damals achtzehnjährige Gokomatsu, dessen Konkubine Mama gewesen war.
Ungewöhnlich weit vermochte der Kleine sich zurückzuversetzen. Oft sah er sich wieder als winziges, hilfloses Wesen, Sengikumaru, der später Shuken werden würde, dann Sojun, dann Ikkyu, und dann letztendlich Toter und Staub.
Doch soweit war es noch nicht.
Sengikumaru Shuken Sojun Ikkyu Staub blickte also zurück. Er erinnerte sich, was die Mutter ihm über seine Herkunft erzählt hatte. Des Kaisers Nebenfrau war Mama gewesen, eine unter mehreren sogar, doch ist die Liebe zweier Menschen ja immer nur eine von vielen Möglichkeiten: das hatte die Mama dem kleinen Sengikumaru recht bald zu erklären versucht. Das Wort Liebe war bei jener Verbindung trotz allem angebracht – dies zu bestätigen, hatte wiederum der Kleine tagaus, tagein von der Mutter erbettelt.
Eine Liebe allerdings, welche die schöne junge Frau nicht allzu weit geführt hatte, schon gar in die Nähe des kaiserlichen Throns, sondern vielmehr, wie es einer Nebenfrau gebührte, in ein Nebenhaus, für ihren Nebenfötus und dann die Nebengeburt, alles so unauffällig wie möglich.
Nein, nichts Persönliches sei die Abschiebung, hatte ein Bediensteter des Hofes erklärt und dabei gelächelt, als überbringe er eine freudige Botschaft.
Nein, der Kaiser selbst äußere sich zu derlei Angelegenheiten grundsätzlich nicht.
Tsubone Iyono, die Hofdame aus Iyo – so hatte man die Konkubine und zukünftige Mutter genannt – war eine Tochter des Beamten Hino, der am Südhof diente.
Seit langem schon war die kaiserliche Dynastie in eine südliche und eine nördliche Linie gespalten. Zwar hatte man sich vor ein paar Jahren darauf geeinigt, dass beide Familien abwechselnd den Kaiser stellen durften – die wirkliche Macht lag sowieso beim jeweiligen shogun, dem Kriegsherrn –, doch blieben die zwei Lager kaiserlicher Anwärter einander feindlich gesinnt.
Gokomatsu, der amtierende Kaiser und werdende Vater, wie auch dessen Hauptfrau, Kaiserin Motoko, gehörten der nördlichen Linie an. Diese war nun einmal mit Machtausüben dran, als der Kleine in einem unglücklicherweise südlichen Schoß empfangen wurde; und – wer wusste das schon? – jedweder Einfluss aus jenem Lager könnte den Lauf der Dinge, die zu tun waren, hemmen.
Dass die Südfrau Tsubone, mit richtigem Namen Teruko, nun ein nordsüdliches Bankert zur Welt bringen würde, könnte zum Beispiel die mühsam geregelte Thronfolge durcheinanderbringen. Die Frau musste also weg. Obwohl Gokomatsu sie liebte, und das sogar sehr! Doch was hatte ein Kaiser, insbesondere ein so junger, im Machtspiel der Zeit schon zu sagen?
Die Fäden wurden im Hintergrund gezogen. Misstrauen schlug Teruko entgegen, während sich ihre Tage neben dem Kaiser dem Ende zuneigten. Gelästert wurde über sie. Manches davon kam ihr zu Ohren, manches nicht.
»Man kann nie wissen«, flüsterte der eine oder andere, »ob sie nicht einen Dolch im Ärmel versteckt«, oder noch schlimmer: »in welchem Ärmel sie den Dolch versteckt.«
Was für ein Unsinn! In den Ärmeln verbarg sie höchstens parfümierte Tüchlein für ihre Tränen oder ein paar Nüsse.
Der Pavillon, vielmehr: der Palast, in dem Kaiser Gokomatsu seine Nebenfrau schließlich unterbrachte, lag in einer guten Gegend, in Sagano nämlich, einem westlichen Vorort der Hauptstadt. Dort wohnten Staatsbeamte aus vornehmen Familien neben reichen, schönen und begehrten Frauen mitsamt alten Männern und jungen Bediensteten sowie auch einige zu Geld gekommene Händler.
Die Wege zwischen den Anwesen waren von Bäumen überwölbt. Hier und da schoben sich Bambushaine zwischen die einzelnen Grundstücke, die aus parkartigen Flächen, Teichen und Blumenbeeten bestanden. Vögel zwitscherten allerorten.
Immerhin also lebte Teruko standesgemäß.
Ihr Bauch wuchs, während sie von Dienerinnen umsorgt wurde. Mit sechzehn Jahren brachte sie das Kind zur Welt. Es war eine einfache Geburt. Danach fühlte sie sich frisch und erleichtert, und war, obwohl ohne Mann, glücklich.
Sie liebte das Kind sogleich sehr.
Der junge Kaiser hatte es nicht gewagt, Teruko nach der Niederkunft zu besuchen, ließ aber eine Note vorbeibringen, ein hübsches Gedicht, das er selbst geschrieben hatte. Tausend Chrysanthemen kamen darin vor, eine Anspielung auf das kaiserliche Wappen.
So nannte die Mutter ihren Kleinen Sengikumaru, den
Tausend-Chrysanthemen-Bub.
Einige Zeit verging, doch nach einer Weile, als man die Nebenfrau am Hof beinahe vergessen hatte, suchte der Kaiser sie wieder auf.
Die Besuche wurden regelmäßiger. Er kam, wann immer er Lust auf sie hatte.
Teruko nahm es ihm nicht übel. Wer war sie auch schon – und wer hingegen er?
Gokomatsu ließ sich in einer Sänfte vortragen, natürlich inkognito. Dazu verwandte er ein schmuckloses Gerät ohne kaiserliche Insignien und ließ während des Transports die Vorhänge zugezogen. Auch die beiden Träger waren unauffällig gekleidet, so dass man in der Sänfte bestenfalls einen mittleren Beamten oder einen neureichen Onkel vermuten würde.
Während Kaiser Gokomatsu seinen Geschäften mit Teruko nachging, hatten die Diener frei und durften sich in der nächsten Kneipe etwas genehmigen, natürlich, ohne dabei auch nur ein Sterbenswörtchen über ihren Herrn fallen zu lassen.
Leicht fiel den beiden das nicht, insbesondere, nachdem ihnen der Sake zu Kopf gestiegen war. Überdies war die Nachbarschaft neugierig, auch wenn niemand den Mut hatte, rundheraus Fragen zu stellen.
Sterbenswörtchen: dies war durchaus wörtlich zu nehmen, denn ein Fehltritt bedeutete hier die Todesstrafe, die man allenfalls durch Selbsttötung würde abwenden können, und das hieße ja wohl, vom Regen in die Traufe zu kommen.
Angesichts dieser Schattenseite ihrer ansonsten sicheren und gutbezahlten Stellung schwiegen die zwei beim Trinken wie ein Grab. Stets waren sie danach rechtzeitig zur Stelle, um ihren Meister abzuholen. Der Zeitbedarf des Kaisers war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Nie kamen sie zu früh oder zu spät.
Im allgemeinen Durcheinander ließ sich des Kaisers Abtransport dann unauffällig bewerkstelligen. Fortwährend wurde den Reichen etwas angeliefert: Kleidung, Getränke, Fisch, andere verderbliche Lebensmittel, auch fertig Gekochtes; kaum einmal hatten es die Anwohner nötig, ihre Landsitze in Person zu verlassen; sogar die Liebhaber schwebten ja wie von selbst herbei, und von morgens bis abends wimmelten Sänften durcheinander, rote, bunte oder schwarze Kästen mit ihren Trägern, aber auch Männer mit Kiepen, Verkäufer, Wachleute sowie Boten aus allen Himmelsrichtungen.
Natürlich munkelte man trotzdem dies und das, wenn der Fremde in seiner schwarzen Sänfte sich in den Wirrwarr einreihte, die Vorhänge schloss und davongeschwankt wurde, doch andererseits hatten so gut wie jedes Haus und jede Familie Besucher, deren Absichten einem nichts angingen und um die man sich am besten nicht kümmerte.
Das war auch gut so, denn in der Nähe des kaiserlichen Hofes zu leben, hatte Vor-, aber auch Nachteile. Letztere ließen sich beträchtlich vermindern, indem man versuchte, über möglichst viel nicht Bescheid zu wissen.
Ob der Nachbarschaft also klar war, wer da ab und zu einund ausging?
Vielleicht.
Aber dann zeigte man es nicht. Überall wurde Teruko freundlich begrüßt – dies sprach übrigens dafür, dass man es wusste, denn immerhin war sie eine alleinstehende Frau mit Kind. Ihr Personal wurde zuvorkommend bedient. Die Nachbarskinder wurden nicht sogleich weggeschleift, wenn sie mit Sengikumaru spielen wollten.
Einige Jahre vergingen.
Der Kleine wuchs, lernte sprechen und noch allerhand mehr. Bald war er fünf Jahre alt.
Teruko begann, sich einsam zu fühlen. Der Kaiser besuchte sie immer seltener, wohl durch neue Nebenfrauen zu sehr in Anspruch genommen. Oft blieb die junge Frau wochenlang mit ihrem Kind allein und wartete.
»Er kommt«, flüsterte sie dann, wenn es draußen raschelte oder knarrte, und der Kleine sah schon Büsche sich auseinanderbiegen, Tore rucken, am helllichten Tag sich jemand anschleichen. »Ja! Mein Kaiser kommt!« So sagte sie, Tsubone Iyono, die ehemalige Konkubine. Nie hätte sie ihren Kaiser Mann genannt.
Wenn Gokomatsu tatsächlich einmal erschien, dann war es beinahe wie früher: Mutter und Sohn traten an und verbeugten sich. Daraufhin begrüßte der Kaiser nicht nur seine Geliebte, sondern auch den Kleinen, und zwar durchaus freundlich, hob ihn manchmal sogar auf den Arm, setzte ihn jedoch stets rasch wieder ab. Trotz aller Sanftheit fühlte Sengikumaru, dass etwas Fremdes in diesen Handgriffen war.
Er spürte, dass seine Gegenwart den lächelnden Gast unangenehm berührte. Ob dieser vornehme Jüngling wirklich neben Kaiser auch sein Vater war?
Nie wagte es Sengikumaru, ihn zu fragen.
So ging die Kinderzeit dahin. Tag für Tag bewunderte der Kleine seine Mutter, diese schöne und edel gekleidete Frau, trug inzwischen selbst teure Röckchen in bunten Farben, die knisterten, wenn sie frisch vom Schneider kamen. Er klapperte auf Holzsandalen umher und lernte nach und nach die Schriftzeichen: eins, zwei, drei, Sonne, Mond, Vogel, Pferd ...
Sengikumaru begann, sich aus den Zeichen, die er schon malen konnte, Gedichte auszudenken. Oft waren dabei Haut und Stoff Angelpunkte seiner kindlichen und doch wilden Fantasie – das eine Material konnte das andere verhüllen, aber auch entblößen! –, einander ergänzende Stoffe wie udon und nori, die weichen, dicken, freundlichen Nudeln und die grünen Algenplatten, die er mit zerbrechlichen Taschentüchlein verglich: damit konnte man keine Tränen trocknen!
Wie letztere wohl schmeckten? Er bat Mama, zu weinen, um sie kosten zu können – weinte er selbst, vergaß er immer darauf –, doch auf Anhieb ging das anscheinend nicht.
Schon immer hatte Mama viele Tränen vergossen. Sengikumaru erinnerte sich gut; wie gesagt, seine Erinnerungen reichten in allen Dingen außergewöhnlich weit zurück.
Manche behaupten, überlegte er oft, man könne sich sogar an frühere Leben erinnern, wenn man sich nur genügend Mühe gäbe.
Welcher Art Mühe hätte dies wohl zu sein? Sengikumaru kam nicht dahinter. Das bedeutet doch, ich war einst nicht da?, grübelte er. Ich zwar nicht, aber Mama schon? Und noch früher nicht einmal sie? Überhaupt niemand? Oft betastete er sich dann als wie zur Sicherheit: ja, da war etwas Greifbares.
Nachdem Vater Kaiser, wenn er einmal aufgetaucht war, ihn begrüßt, hochgehoben und wieder auf dem Boden abgesetzt hatte, erhielt Sengikumaru noch einen freundschaftlichen Klaps oder ein kleines Geschenk, oder beides. Dann musste er gehen.
Aber der Kleine war neugierig. Mehr als einmal bekam er mit, was geschah, nachdem das Paar im Empfangsraum eine Tasse Tee getrunken hatte und die Dämmerung sich über das Viertel legte.
Verwunderlich war das nicht, denn die beweglichen Wände aus mit Papier bespannten Holzrahmen waren dünn und beinahe durchsichtig. Manchmal schienen sie sogar wie Membranen zu wirken und dahinter ausgelöste Geräusche zu verstärken anstatt abzuschwächen.
Weniger auch bildeten die dergestalt abgetrennten Räume Zimmer von bleibender, eindeutiger Form – dies gab es nur in den steinernen Burgen sowie den Häusern der Armen, wobei letztere allerdings aus nur einem einzigen Raum bestanden –, sondern deren Wände waren lediglich verschiebbare Hindernisse im Kurs eines Besuchers über den Grundriss der Villa. Je nach Bedarf konnte alles zu allem werden: Schlaf- zu Wohnzimmer, Empfangsraum zu Gästezimmer, Teealkoven zu Kinderzimmer, und das Ganze wieder zurück – ein stets aufs Neue sich wandelndes Labyrinth.
Als man dachte, der Kleine schliefe, und nachdem das Kindermädchen sich zurückgezogen hatte – sofern es nicht gerade selbst mit einem Ohr an der Wand klebte! –, pirschte sich Sengikumaru heran. Inzwischen wusste er, wo der Boden knarrte und wo tragende Balken eingelassen waren, auf denen er, begünstigt durch sein geringes Gewicht, lautlos entlangkrabbeln konnte.
Hatte er die beiden entdeckt, erstarrte er, wagte kaum zu atmen und betrachtete das Paar durch eine Ritze zwischen den Schiebewänden oder zwischen zwei Vorhängen hindurch.
Das Gemisch aus Gliedern und Stoffen, das er sah, machte ihm Angst und zog ihn zugleich an. Mamas Seufzen verhieß nichts Gutes, und doch vermeinte er, sie lächeln zu sehen. Überdies flüsterte sie: »Komm!«, womit aber nicht er gemeint war.
Wenn die zwei Körper unter dem Tuch pulsierten, schoben sich die Stoffmuster zusammen und wieder auseinander. Sie schienen zum Leben zu erwachen. Immer wieder träumte der Tausendlilienbub davon, auch noch viel später. Noch nach Jahrzehnten: wie er um ein kopulierendes Paar herumschwebte, das stöhnte und zuweilen sogar schrie, so dass er sich fürchtete.
Dennoch hatte der Anblick ihm auch gefallen. Wenn er sich richtig erinnerte. Wenn das Ganze nicht nur die Summe vieler verwandter Träume war und er gar nichts gesehen hatte.
O doch. Auch wusste er schon damals, viel früher als die anderen Jungs, dass, wenn die Mutter aus der Umarmung ihres Mannes hervorseufzte, diesen etwas Weißes verließ und nie mehr zu ihm zurückkehrte, sondern in ihr blieb. Da solches ja im Verborgenen der ineinandergesteckten Körper geschah, und er jenes, obwohl er den intimen Begegnungen nachspionierte, nicht mit eigenen Augen gesehen haben konnte, musste ihm Mama wohl schon früh erklärt haben, was da vor sich ging. Oder eine der Dienerinnen?, vielleicht die Hübsche, die gerne lachte und ebenfalls ab und zu Herrenbesuch empfing?
So oder so – auf jeden Fall fragte der Bub viel, fragte und fragte und fragte. Von seiner Warte aus gesehen war die Welt bis zum Horizont mit Rätseln gefüllt.
Eines davon war eben dieser geheimnisvolle weiße Stoff, der die Bäuche der Mädchen dick machte, wenn man Pech hatte, oder wenn man einen Erben wollte – ein Wort, das ihm schon früh begegnet war. Diesen sollten aber besser beide wollen und nicht wie in seinem Fall nur die Mama; ein Erbe, das war übrigens jener, der nach einem Gestorbenen aufzuräumen sowie die jeweiligen Besitze weiterzubesitzen hatte.
Ja, ein Erbe hatte weiterzumachen, weiterzulatschen im Matsch, wenn Krieg war oder wenn es viel regnete, oder im Staub, wenn die Sonne brannte.
Alles in allem kamen Sengikumaru die Gewohnheiten der Erwachsenen eigenartig vor. Keine schönen Aussichten waren es, die sich da auftaten, wenn Mama ihm in der Abenddämmerung Geschichten erzählte oder vorlas.
Immer lauschte er aufmerksam. Doch nach Vergnügen hörte sich das nicht an, was die Großen trieben.
Nein, vor diesem traurigen Ernst des Lebens galt es noch möglichst viel wegzuspielen: er rannte durch Pfützen, ließ sich von Brennnesseln brennen, haschte nach Elstern und Krähen, pflückte Blumen und ordnete sie auf Steinen zum Trocknen an, ließ Regentropfen oder Schneeflocken auf der Zunge landen ...
»Eines Tages«, schluchzte Teruko, »eines Tages muss ich dich fortbringen, wenn nicht gar verstecken, mein kleines Tausendliliendings, ach, mach noch einmal Hoppereiter mit mir!«
Das tat er gern, aber: »Eines Tages?«, wiederholte er ängstlich. »Also sofort? Es ist ja heute ein Tag.«
Sie lächelte. »Noch nicht.« Er war klug.
»Jetzt beschütze ich dich«, sagte Sengikumaru. »Wie der Kaiser – und sogar besser.«
Bald aber war es soweit.
»Von diesem Knirps soll Gefahr ausgehen?«, rief Teruko, »oder etwa von mir, einer schwachen und unverheirateten Frau?«, als man ihn abholte, um ihn in ein Kloster abzuschieben – da war er sechs. Gut erinnerte er sich daran; und bestimmt hatte Mama schon ihren eigenen Rausschmiss aus dem Palast mit ähnlichen Worten begleitet, denn auf den Mund gefallen war sie nicht.
»Aus dem Knirps ...«, hatte der nicht unfreundliche Bedienstete geantwortet, während er ihm übers Haar strich und ihn dann am linken Ohr zog – in seinem Leben geschah dies zum ersten Mal, war sozusagen seine erste Zenstunde –, »... aus dem kleinen Knirps wird ein großer Knirps werden und dann ein Mann. Du, Frau, bist vielleicht schwach, hast aber Familie. Dies auch nicht zu knapp – Südfamilie obendrein!«
Da war nichts zu machen. Die Mutter blieb allein zurück.
Mit sechs Jahren also steckte man den Kleinen in den Ankoku-Tempel.
»Tausend Chrysanthemen? Ach ach ach«, sagte Abt Shukan, als sie einander zum ersten Mal gegenüberstanden, der Knirps und der füllige Oberrobenträger, »ich weiß schon, warum man dich so nennt – mir solls gleich sein, ob da etwas dran ist oder nicht, es geht mich auch nichts an – aber wir sind hier keine Blümchengärtnerei: nein, das passt nun wirklich nicht. Ich nenne dich ... lass mich nachdenken ... Shuken. Shuken, ja, durchaus in Anlehnung an meinen eigenen Namen; später werden wir sehen, ob das eine gute Entscheidung war.«
Der Abt lachte. »Auch ich war einmal ein kleiner Neuer, ein Faulpelz wie du. Aber Chrysanthemen, na so was! Hier wird gearbeitet, sonst nichts! Verstehen wir uns gleich zu Beginn?«
Shuken vormals Sengikumaru verbeugte sich.
»Zwei Zeichen?«, wagte er zu fragen, »wie schreibt man sie denn, und was bedeutet folglich mein neuer Name?«
»Ja, er besteht aus zwei Zeichen.« Abt Shukan nickte. »Wie die entgegengesetzten Seiten einer Münze. Lassen wir sie kreisen und warten ab, was letztendlich oben zu liegen kommt. Wir haben Zeit. Der Schreibweisen gibt es übrigens viele, aber für dich setze ich folgende fest: das erste Zeichen, shu, gleich dem meinigen, soll heißen: Hand – pack dein Leben an!, und das zweite, ken – das weißt du selbst.«
»Ken heißt Hund.«
»Richtig. Ein kleiner Hund, ein spielendes Hündchen, das bist du! Noch. Aber auch: neugierig. Das ist nicht schlecht.
Lass dir zeigen, wie man die Zeichen malt. Kannst du überhaupt schon mit Tusche und Pinsel umgehen?«
Shuken bejahte.
»Ach ach ach?« Der Abt zog anerkennend die Mundwinkel herab und fuhr fort: »Wird dir nichts nützen. Als Neuer schuftest du erst einmal, und zwar so lange, bis du keine gerade Linie mehr aufs Papier bringst! Klar?«
»Klar.«
»Später dann schreiben wir Gedichte.« Der Abt packte den Kleinen am rechten Handgelenk und drehte seine Handfläche nach oben. »Welch zarte Haut! Ach ach ach, sieh einer an: wie die oberste Schicht im Bottich beim Tofumachen! Auch ebenso weiß übrigens – na, da wird uns schon ein Gegenmittel einfallen, nicht wahr? Genug Blumen gepflückt und Mama gebrüllt, genug geredet, nun an die Arbeit!«
Die Audienz war beendet. Mit einer Handbewegung wischte der Abt seinen Novizen aus dem Saal.
»Shu Ken Shu Ken Hand Hund Hand Hund«, murmelte der Kleine im Abgang, während er die zwei Zeichen – er hatte sie bereits gelernt – mit dem rechten Zeigefinger in die linke, halb geöffnete Faust schrieb.
Der Ankoku war nichts Herausragendes, aber auch keiner der untersten sogenannten shozan-Tempel – was ungefähr die Verstreuten bedeutete –, sondern immerhin den jissetsu – den Besonderen – zugehörig, von diesen allerdings der bescheidenste. Kein Vergleich natürlich mit den gozan – den fünf Gipfeln –, von denen man nur ehrfürchtig und im Flüsterton sprach.
Nein, im Ankoku wurstelte man in den Tag hinein. Der Tempel war arm. Die wichtigsten Holzgebäude, vor allem die Versammlungshalle, hielt man recht und schlecht instand;
der Rest faulte vor sich hin. Das Wetter war meist warm und feucht. Es regnete viel. Im Winter fielen Unmengen von Schnee.
Aber Ankoku-ji, so der vollständige Name, lag günstig. Nahe bei den kaiserlichen Quartieren war er leicht zu überwachen, und schon immer hatte die Obrigkeit ihn als Abschiebeort für unbequeme Personen verwendet.
Zur strategisch günstigen Lage kam, dass sich für diese schäbige Klitsche kein Schutzherr persönlich einsetzte, sei es aus Krieger- oder Adelskaste, oder gar als Gönner auftrat, wie es bei den gozan-Häusern die Regel war. Mit deren Ruhm, wie auch mit deren Ausstoß an zertifizierten Erleuchteten konnte man sich schmücken, nicht aber mit den Taugenichtsen, die den Ankoku in Scharen verließen, und von denen man in der Regel nie wieder etwas hörte. Dies ließ sich nützen: ab und zu konnte man jemanden sogar ganz verschwinden lassen. Niemandem würde es auffallen.
Nicht nur der Tempel übrigens hatte keinen guten Ruf, auch Shukan Zoge, der dicke Abt, kam außer- und innerhalb der Mauern nicht gut weg, obwohl er Gedichte auf Chinesisch, der Sprache der Gelehrten, schreiben konnte. Worüber er nicht wenig stolz war.
»Der und erwacht?«, hatte ein Mönch gespottet. »Diese Schwuchtel? Hat seine Bescheinigung wohl auf dem Markt gekauft, unter dem Ladentisch beim Fischhändler! Würde auch erklären, warum er so muffelt!«
Shuken verstand nicht. Schwuchtel? Bescheinigung? Ja, natürlich wachte man allmorgendlich auf, hier wie überall auf der Welt, doch musste man sich das jetzt auch noch bescheinigen lassen? Wieso dann bescheinigte ihm das keiner? Schlief er? Träumte er?
Doch immerhin, auch wenn die Zustände nicht ideal waren: der Tempel gehörte zur Rinzai-Linie, einer im Prinzip strengen Tradition, die sich direkt auf den vor vielen Jahrhunderten in China gestorbenen Lin Ji – auf Japanisch Rinzai – berief. Nichts für Schlappschwänze; die betreffenden Regeln waren hart: viel Arbeit, wenig Essen, wenig Schlaf. Geistige Anleitung? Fehlanzeige.
Letzteres mochte nicht zur Gänze zutreffen, denn immerhin rezitierte man Sutren und saß zu allen Tages- und Nachtzeiten. Das war eine Sache, die sich zazen nannte.
Man saß.
Dabei fror man, war hungrig oder schlaftrunken – oder alles zusammen.
Shuken war der Jüngste. Die Arbeiten, die er, wie auch alle anderen, zu verrichten hatte, waren vielfältig. Sie wechselten im Turnus, so dass man jede Art von Tätigkeit mindestens einmal im Monat zugewiesen bekam. Stets hieß es, einer Beschäftigung nachzugehen – sei deren Sinn zuweilen auch zweifelhaft –, um auf gar keinen Fall auf den Gedanken zu kommen, geistige Übung allein habe auch nur irgendeine Bedeutung. Das waren die Worte des Abtes.
Binnen weniger Wochen hatte Shuken, teils allein, teil mit Hilfe eines Älteren:
Ein Dutzend Tonkrüge voll Kohl für den kommenden Winter eingelegt.
Ein Dutzend Tonkrüge voll Austern für den darauffolgenden Sommer eingelegt.
Die Latrinen ausgehoben.
Bettelnd alle umliegenden Dreihäuserdörfer durchwandert und trotzdem gehungert.
Einen ganzen Teich Wasser in Eimern herangeschleppt.
Gemüse geschält, gewaschen, geschnitten, geraspelt, zerteilt, gekocht, gebraten und geschmort.
Moos gegossen und danach gestreichelt, wobei er an Mamas Garten gedacht und ein wenig geweint hatte.
Die Kräuterbeete gejätet.
Kies geharkt.
Dreimal einen Mönch dabei beobachtet, wie er sich einen runterholte – einmal sogar mitten im nächtlichen zazen.
Zerbrochene Essensschalen mit Metallbändern zusammengeflickt.
Den Abt massiert: »Solch zarte Händchen, ach ach ach«, hatte der Abt geseufzt.
Den großen Gong gewienert, ihn dabei mit der Faust angeschlagen, leise, und dem nicht enden wollenden Brummen nachgelauscht.
Die Schalen und Leuchten in der Versammlungshalle geputzt.
Alle Holzböden gescheuert – mehrmals.
Alle Roben gewaschen – mehrmals.
Und, wie gesagt, keinerlei Anweisung zu geistiger Bildung bekommen.
Allerdings eine beträchtliche Zahl an Prügeln.
Stillsitzen ist für einen Sechsjährigen nicht leicht.
Nur äußerlich saß Shuken still. In seinem Inneren brodelte es. Wenn er seine Mitmönche betrachtete, einige von ihnen auch noch Kinder wie er, dann spürte Shuken, dass er anders war. Doch inwiefern anders? Was war der Unterschied? Er konnte es nicht beschreiben.
Man saß also und saß, oft im Dunkeln, frühmorgens vor Tagesanbruch – oder auch bis spät in die Nacht.
Saß saß saß saß saß saß saß.
So war es nun einmal. Der Schlaf, diese angeblich unnütz durchträumte Lebenszeit, war mit allen Mitteln in seine letzte Bastion zurückzudrängen. Auf diese Weise, hieß es, wurde man nicht faul – war dann aber den Tag über todmüde. Zur Gänze leuchtete dieses Verfahren dem Jungen nicht ein.
Schlief man während des Sitzens, gab es Prügel. Dafür war jeweils ein älterer Gefährte zuständig. Dieser nahm seine Aufgabe ernst, bemerkte jeden sich rundenden Rücken sofort, eilte zur Stelle und schlug drauf.
So ging es also nicht. Oder besser gesagt, nicht allzu oft. Man musste einteilen und abwägen: wann war man so erschöpft, dass ein Nickerchen die Prügel wert wäre?
Die Augen hatten beim Sitzen halb geöffnet zu bleiben, was ein ständiges Hin und Her zur Folge hatte: fielen sie einem zu, schlief man sogleich ein; um dies zu verhindern, riss man sie wieder sperrangelweit auf ... Dann blickte man wie eine Eule im Halbdunkel umher. Man bekam trockene oder tränende Augen oder gar eine Entzündung.
Doch das interessierte niemanden.
»Wozu sitzen wir denn eigentlich? Ich verstehe den Sinn nicht«, hatte Shuken einmal mit durchaus ernster Absicht gefragt und damit die Stille des zazen durchlöchert. Der Abt hatte gekichert und konnte gar nicht mehr aufhören.
»Versteht den Sinn nicht! Das ist es ja!«, lachte er in die Runde, diesmal ohne das übliche ach ach ach, »ganz genau! Wozu? Dazu! Das hast du ja schnell erfasst, du Knirps! Respekt! Und deine Händchen rauen sich auch allmählich auf. Gut so! Schade zwar für mich, wenn ich an die Massage denke, doch: meine Hochachtung – hahaha! Nun, nichts bedingt nichts! Darauf wollen wir ja hinaus. Nicht?«
Die anderen Mönche grinsten, auch wenn sie nicht wagten, ihre Köpfe zu drehen. Shuken kapierte nichts. Das Nichts? Es schien also noch ein anderes Nichts zu geben als das bloße Nichtvorhandensein.
Nun war er noch verwirrter als zuvor.
Das war des Abtes Wahlspruch: »Nur nichts bedingt ...«
– da pflegte er in die Runde zu blicken – »... nichts«, ertönte es dann im Chor.
»Die bedingte Entstehung, ja ja«, fügte Abt Shukan meist hinzu und wiederholte: »Alles bedingt etwas, nur nichts bedingt ...«
»... nichts.«
Dieses andere Nichts war ein gefundenes Fressen für Shuken, ein erster Hinweis auf ein Rätsel, mit dem zu beschäftigen es sich lohnte. Stundenlang versuchte er, dessen Bedeutung aufzuspüren, es zu begreifen, es auszumessen.
War nichts viel weniger als sehr, sehr wenig? Dann wiederum ganz wenig davon? Und dann nochmals viel weniger als das – und für immer so fort? Solche Gedanken machten ihn schwindeln.
Andererseits gab es so viele Dinge auf der Welt, so viel zu betrachten und zu wissen. Über all das lernte man kaum etwas. Nur Andeutungen fanden sich in den Sutrafragmenten, die die Mönche nachts dem Vorleser nachblökten.
»Vierundachtzigtausend Regeln hat der Erhabene aufgestellt ...«
»Wieso«, platzte es da aus ihm heraus, nachdem er vergeblich versucht hatte, sich diese Zahl vorzustellen, »wieso, Meister Abt, sind es gerade vierundachtzigtausend? Und nicht vierundachtzigtausend und eine? Wer hat diese Regeln überhaupt gezählt? Gehört das Sandalenausziehen im Tempel auch dazu? Und das Reinigen mit dem Scheißstab? Was sind die übrigen dreiundachtzigtausendneun...« – er rechnete kurz – » ...neunhundertachtundneunzig?«
»Du fragst zu viel. Ach ach ach.«
»Muss ich das Erwachen schaffen, das kensho? Ist das auch eine dieser Regeln? Die wichtigste? Was ist das überhaupt? Ich schlafe doch gerade gar nicht? Meine Mama hat das auch nicht gemacht, und mein Papa ...«
Der Abt sprang auf, eilte blitzschnell herbei, gab Shuken einen Klaps und presste ihm die Hand auf den Mund. »Hier sprichst du niemals über deinen Papa. Niemals. Du hast keinen. Ist das klar?«
»Aber jeder ... jeder ist aus einer Umarmung von Mutter und Vater ...«
»Halt den Mund!«
Shuken schwieg, saß und machte sich weiter Gedanken. Gedanken machen – war dies nicht eigentlich wörtlich zu nehmen? Erzeugte man diese nicht tatsächlich selbst? Ja, so kam es ihm vor – und doch: nein, denn andererseits schienen sie von irgendwoher zu kommen.
Aber woher? Man müsste jemanden fragen, der das weiß. »Meister Shukan Zoge, woher ...«
»Eines Tages wird dir noch jemand den Finger abschneiden«, seufzte der Abt, als Shuken wieder einmal den Zeigefinger gehoben und die Sutrenrezitation durcheinandergebracht hatte.
Der weiß ja nicht gerade viel, dachte Shuken. Aber trotz alledem: allmählich saß er gerne.
Was ihm daran gefiel, wusste er nicht. Wenn man sich zum Sitzen traf, kam sich Shuken zwischen den Erwachsenen vor wie ein Hügel in einer Bergkette, ein Pass, über den man leicht hätte steigen können.
O doch, er wusste, was ihm daran gefiel. Dies: er befragte sich selbst.
Vielleicht hatte der Abt verstanden, dass Shuken kein Kind war wie die anderen, und ihn deswegen zu den Älteren gesteckt? Oder hatte er ihn von den übrigen Kleinen nur weggesetzt, damit er keine Spielkameraden für seine Späße finden konnte? Oft war es schwer, die Ruhe im Tempel aufrechtzuerhalten, denn trotz aller Anstrengungen gab es immer etwas zu lachen: manchmal zum Beispiel schliefen bis auf den Wächter alle Mönche der Reihe nach im Sitzen ein und schnarchten dann in anschwellendem Chor. Bis der Mann mit dem Stock kam.
Manchmal auch, wenn der Abt, der sich gerne ab und zu ein Päuschen gönnte, nicht zugegen war, machte die ganze Bande Unsinn, erzählte sich lustige Geschichten und trieb auch Schlimmeres: »Ach ach ach«, äffte ein Mönchlein einmal den Abt nach, während es sich selbst zu Höhepunkt rieb, »ach ach ach ...«
Alle im Saal grinsten und stimmten mit ein – bis auf Shuken. Er ekelte sich, obwohl er nicht recht verstand, was da vor sich ging.
Das war ja schlimmer, als den Kaiser bei Mama zu belauschen.
Aber er nahm die Aufgabe des Sitzens ernst. Ernster als die anderen. Manchmal weinte er dabei leise vor sich hin, aber nicht aus Schmerz, obwohl die gekreuzten Beine ihm Qual bereiteten. Stunden dauerte es, bis sie nachgaben und seine Haltung sich entspannen konnte – trotzdem waren sie am nächsten Tag genauso widerspenstig wie zuvor. Nein, nicht aus Schmerz weinte er, sondern aus Einsamkeit. Wenn einer der Mönche zappelte, erinnerte ihn das Rascheln seines Gewandes an die Mutter. Shuken vermisste sie, vergoss Tränen, wollte aber zugleich ihr Held sein, ihr Samurai. Ja, wie gerne hätte er sie vor irgendetwas gerettet! Aus den Klauen eines Drachen vielleicht, ihre Haare schon angesengt. Oder von einem sinkenden Schiff.
Oder aus einem brennenden Haus – ja, aus einem brennenden Haus! Das stellte er sich gerne vor.
Doch hieß dies denn, dass er ihr derlei Unglück wünschte? Aber nein!
Aber woher kam dann die Lust, wenn er solches dachte? So grübelte er hin.
Oft also, während er saß, war seine geliebte Mutter und Prinzessin anwesend und lächelte ihm zu; dann betrachtete er ihr Gesicht, um es niemals zu vergessen, sprach zu ihr, indem seine Lippen lautlos Mama wiederholten, immer wieder, wie ein mantra.
Noch wusste er nicht, was das war, doch führte er das seine bereits richtig aus, mit der erforderlichen Inbrunst und Beharrlichkeit, ganz so wie die Spinner von der Schule desReinen Landes, die Tag für Tag den Namen des Erhabenen rezitierten – ach, was heißt Tag für Tag; Jahr für Jahr! Sekunde für Sekunde! – und sich davon dies und das versprachen, insbesondere natürlich das endgültige Erwachen.
Ach, erwachen – oder in Mamas Schoß einschlafen! Der Erhabene oder Mama, was war wichtiger? Dass er ein innig geliebtes und zugleich ungeliebtes Kind war, hatte Shuken vormals Sengikumaru früh verstanden: geliebt von der Mutter, aber ungeliebt von dem diffusen Drumherum, in welchem auch der Vater aufging, kaum greifbar, und letztendlich eine Phantasiegestalt blieb.
Oder liebte diese den Sohn doch? Genauso wie Mama? Warum zeigte sie es dann nicht? War solches vielleicht eine Selbstverständlichkeit, die der Kleine nur nicht wahrnahm? Dann hatte er ja selbst Schuld, war vielleicht gar gefühllos?
Auch hierüber grübelte er lange Zeit.
Im Ankoku-ji gab es keine Frauen, nicht einmal Dienerinnen, keine Hausfreundinnen, keine Mamas. Hatte Shukens Welt zuvor nur aus Frauen bestanden, den selten und wie aus dem Nichts auftauchenden Kaiser ausgenommen, so enthielt sie nun ausschließlich Männer. Kein Wunder, dass er sich manchmal wie etwas Fremdes empfand, wie ein drittes Geschlecht, das weder da noch dort dazugehörte, jemand, dessen Ort ein immerwährendes Außerhalb ist – ein Gefühl, das er zeitlebens nicht mehr loswerden sollte.
Was taten die Männer eigentlich mit ihrem weißen Stoff? Das hatte mit den nächtlichen Flüsterchören zu tun.
»Ich will nach Hause zu meiner Mama!«, heulte Shuken eines Nachts, als ihn wieder einmal eine unerklärliche Furcht ergriff.
»Deine Mama ist eine Konkubine! Eine Kon-ku-bi-ne! Kon-ku-bi-ne!« Die Mönchlein sprangen von ihren Pritschen, hüpften um ihn herum, lachten, lüpften seine Kutte und zupften ihn am Schwanz. »Kaiserssohn! Bastard! Kaiserssohn! Bastard!«
Danach lag er wach. Hielt sich die Ohren zu und versuchte, von Mama zu träumen.
»Ach ach ach«, wisperte es im Schlafsaal von da und dort.
Man schlief eng, was bei der Kälte ein Vorteil war. Shuken drehte sich zur Seite, weg von dem neben ihm Ächzenden.
Etwas Hartes stieß ihn gegen den Hintern.
Auf einmal war Shuken sieben.
Auf einmal war Shuken acht.
Auf einmal war Shuken neun – und zehn.
Da erschien ein Trupp dunkelgekleideter Männer im Kloster und nahm ihn mit. Nicht einmal der Abt wusste, wohin und was das zu bedeuten hatte.
»Wir waren niemals hier, aber wir bringen ihn zurück«, sagten die Männer.
Ashikaga Yoshinori, der zukünftige Shogun, Sohn des berühmten Yoshimitsu und Enkel des noch berühmteren Yoshiakira, saß auf einem Podest, die Beine gekreuzt und in ein weites, vielfach umgeschlagenes, goldfarbenes Gewand gehüllt, so dass er breiter als hoch erschien. Er war ebenfalls zehn. Shuken verbeugte sich tief.
»Weißt du, warum ich dich in meinen Palast bringen ließ?«, fragte Yoshinori mit heller, aber rauer Stimme.
»Nein.« Shuken verbeugte sich nochmals, so tief, dass seine Stirn beinahe den Boden berührte.
»Du brauchst dich nicht immer zu verbeugen, das macht mich unruhig«, sagte sein Gegenüber. »Bist überdies noch ein Kind. Da lasse ich andere Regeln gelten.«
»Jawohl«, sagte Shuken.
»Zwar bin ich einer der jüngsten Anwärter auf das Shogunat je«, fuhr sein Gegenüber fort, sich dabei für einen Knaben ungewöhnlich gewählt ausdrückend, während Shuken unverbeugt verharrte, »doch mein Vater bereitet mich schon jetzt auf dieses Amt vor. In nicht allzu langer Zeit werde ich meinem Verwandten Yoshimochi, dem derzeitigen Shogun, wie du wohl weißt, nachfolgen – auch er, wie gesagt, einer aus unserer Familie der großen und mächtigen Ashikagas. Viele Aufgaben werde ich haben. Todesurteile unterzeichnen zum Beispiel: darauf freue ich mich nicht besonders, obwohl ... gruselig wird es wohl sein! Kriegsfragen? O ja! Diese probe ich schon mit meinen Figuren. Da!«
Er zeigte auf eine Kiste, die von geschnitzten und bemalten Kriegerfiguren überquoll. Daneben stand ein Spielzeugdrache auf Rollen, ebenfalls bemalt und mit einer Schnur am Maul.
»Worum geht es also?«, nahm der junge Herr den Faden wieder auf. »Seit einer Zeit macht mein Vater sich Gedanken über den Kaiser und dessen Nachfolge. Das sind wichtige Angelegenheiten. Wir wollen nicht, dass irgendjemand auf die Idee kommt, man solle dich zum Kaiser ernennen, nur weil du ein Nebenfrauenkind des Gokomatsu bist. Verstehst du davon überhaupt schon etwas?«
»Jawohl«, sagte Shuken, erstarrte in bereits angesetzter Verbeugung und versuchte, sich wieder zu strecken, ohne dass Yoshinori es bemerkte.
»Man erzählt, du seiest begabt. Ein kluger Bub. Fleißig. Wollest wirklich vieles wissen. Also gut. Wir sind ehrlich zu dir: je mehr man deine Fähigkeiten fördert – so sagen unsere Berater –, desto weniger wirst du das Bedürfnis verspüren, den Thron zu besteigen. Kaiser zu sein ist sowieso kein Spaß! Sieh Gokomatsu an, deinen leiblichen ... aber kein Wort davon, lassen wir das! Was hat der schon zu sagen? Nichts. Ich hingegen, beziehungsweise derzeit noch mein Verwandter Yoshimochi …«
»Jawohl«, sagte Shuken. Er spannte den Rücken an, um dem Verbeugereflex zu widerstehen.
»Denn ganz verschwinden lassen« – hier stieß Yoshinori mit einem unsichtbaren Dolch in die Luft und wühlte kreuzweise in ebenso unsichtbaren Eingeweiden umher –, »das geht bei dir nicht mehr. Dazu ist es zu spät. Man kennt dich. Du hast den Bauern gescheite Witze erzählt. Sie halten dich für etwas Besonderes.«
Shukens Seitenblick auf die Spielzeugkiste und den Drachen entging dem Shogunlehrling nicht. Er sprang auf, seine Erklärung unterbrechend.
»Zwölf bewegliche Rippen«, sagte er, während er den Drachen antippte, »er kann sich ringeln wie ein Wurm. Auch die Wirbel sind drehbar, komm, sieh her, da: Holzstifte! Ja, komm näher, hab keine Angst! Er beißt nicht. Ich auch nicht. Wenn du dort ziehst – nein, hier, Dummkopf! –, dann schlägt er mit den Flügeln. Er läuft auf Rollen. Den Rachen öffnet man so: ... Dann streckt er die Zunge heraus; ja, man kann sogar – schau her, in der Nase befindet sich ein Geheimfach – Räucherwerk hineinlegen und anzünden, dann qualmt er durch die Nüstern, aber das zeige ich dir ein andermal, wenn wir zusammen spielen ... nun, falls es dazu kommt, dass du mich wiedersiehst. Solcherart Spielzeug habe ich.«
Noch nie hatte Shuken dergleichen gesehen, und was Spielen ist, hatte er längst vergessen. Die Augen des Drachen waren aus Glas. Eiskalt blickten sie zu ihm herüber. Ihn schauderte.
Mit behenden, eingeübten Bewegungen, als liefe die Zeit einen Augenblick lang rückwärts, nahm Yoshinori seinen Platz auf dem Podest wieder ein, war wieder der mächtige Herr und fuhr fort: »Folglich, denn, wie gesagt, du bist bereits bekannt, und die Armen bedenken bei euren Bettelgängen am liebsten dich, ...«
»Ich tue gar nichts Besonderes«, sagte Shuken.
»... also folglich – das wünscht übrigens auch Gokomatsu, der Kaiser selbst – werden wir deine Entwicklung nicht behindern, sondern sogar unterstützen. Du wirst in der jissetsu-Kategorie aufsteigen, ja, vielleicht sogar bald in ein gozan-Haus geschickt werden, der jüngste, dem bisher diese Ehre zuteil würde. Halte deine Sachen gepackt und sei bereit! Zu gegebener Zeit werden wir dich holen.«
»Jawohl«, sagte Shuken. Er kam zu dem Schluss, nun wäre es möglicherweise doch angebracht, sich wieder einmal zu verbeugen. Was er auch tat.
Der kleine Ashikaga bemerkte es nicht. Erneut wechselte er das Thema. »Nun zeige ich dir noch etwas«, sagte er, offensichtlich ebenso stolz auf sein Spielzeug wie auf seine mächtige Familie. »Sieh dir das an!«
Er griff in die Holzkiste, wühlte mit jeder Hand eine Traube Krieger heraus und bildete vor sich auf dem Boden zwei Häufchen.
»Links Feind – rechts Freund«, sagte er. »Jetzt pass auf.« Yoshinori nahm einen Freund in die Rechte. Die Figur war fein bemalt, blickte grimmig und hielt ein kleines Holzschwert. Mit diesem fuhr der Junge an den Hals eines Feindes, den er inzwischen in der Linken hatte, legte es an, wie wenn man durch Hebelwirkung eine klemmende Schatulle zu öffnen versucht, und knipste den Kopf, der mit einem Stift im Hals verankert war, vom Körper. Das Haupt kullerte zu Boden und blieb zu Ikkyus Füßen liegen.
»Na? Schon einmal so etwas gesehen?«, grinste Yoshinori.
Sojun hob das Köpfchen auf. Auch der Halsquerschnitt war sorgfältig bemalt: ein äußerer heller Ring stand für die Haut, das Innere war blutrot bis auf ein weißes Oval in der Mitte, das die Wirbelsäule darstellen sollte.
Sojun sagte nichts.
»Vielleicht«, sinnierte der zukünftige Shogun, »vielleicht kann man Todesurteilen ja doch etwas abgewinnen.«
Er steckte den Kopf wieder auf den Rumpf.
»Das ist aber noch nicht alles«, sagte er. Vom Grund der Kiste brachte er etwas Schwarzlackiertes zutage. Es war ein Vogel, ebenfalls aus Holz, in Seitenansicht ausgesägt, bestehend aus mit Federmustern bemalter Vorder- und Rückseite, zwischen denen ein dickes, aber fein ziseliertes Rad lief. Dessen Speichen waren drei Füße, deren Krallen jeweils auf dem äußeren Kranz ruhten.
Yoshimochi zog die Krähe an einer am Schnabel befestigten Schnur durch den Audienzraum. Nacheinander kamen die Beine aus der Brust und verschwanden wieder. Nur zwei waren jeweils gleichzeitig zu sehen.
»Yatagarasu«, flüsterte Shuken.
»Die dreibeinige Krähe.« Yoshinori nickte.
»Lass ... lasst mich auch mal.«
»Hast du keine Angst?«
»Nein«, log Shuken. Yoshinori gab ihm die Schnur. »Siehst du, der Vogel fällt nicht um«, erklärte er. »Sein Schwerpunkt liegt tief.« Er zeigte auf die Eisenbänder, die als Gewichte unten an die Seiten genagelt waren.
Mit einem Kopfnicken kam Yatagarasu zum Stehen.
»Einmal«, sagte Shuken, »hoch im Norden, erschien Yatagarasu einem ganzen Dorf. Riesengroß war sie, erhob sich vor aller Augen in die Luft und zerstob zu einer Wolke, die zu einem Krähenschwarm wurde, dessen einzelne Vögel wiederum wuchsen und wuchsen ... und immer so weiter: seitdem ist das Dorf verflucht. Überall findet man dreibeinige Spuren, und das Holz der Bäume ist schon vor dem Köhlern schwarz.«
»Du kannst gut erzählen.« Der junge Ashikaga setzte sich wieder. »Ich liebe Geistergeschichten. Noch eine!«
»Noch eine?« Shuken überlegte. »Mich gruselt es immer«, sagte er dann, »wenn wir dem Abt das dritte Gesetz nachsprechen müssen.«
»Das dritte Gesetz?«
»Die ersten zwei sind harmlos. Die versteht jedes Kind.
Zuerst das mujo: alles ist vergänglich, nichts von ewigem Bestand. Dann das ku: nichts kann einem für immer zufriedenstellen. Beides trifft eindeutig zu. Das ist leicht einzusehen ...«
»Versteht jedes Kind?«, murmelte Yoshinori kopfschüttelnd.
»Doch das dritte, das muga sich vorzustellen, das macht mir Angst: alle Erscheinungen, heißt es, sind ohne eigentlichen Kern.«
»Na und? Wir sind doch keine Kirschen!«
»Versteht doch, was das bedeutet: selbst Ihr, der Ihr doch einmal Shogun sein werdet und kein armer Mönch seid wie ich, selbst Ihr – verzeiht – seid nicht wirklich vorhanden. Niemand ist es. Gesetzt den Fall, es ist wahr, was in den Sutren steht. Und wolltet Ihr dies bezweifeln?«
»Natürlich nicht.«
»Manchmal träume ich davon. Dann bin ich auf einem Schiff, das aus keinem Hafen kommt, nirgends hinfährt und doch ewig segelt. Ich beginne zu weinen, suche in der Bilge nach meiner Mama, finde sie nicht und wache auf.«
»Das war nicht gruselig. Das war Unsinn«, murrte Yoshinori. »Du hast vielleicht keinen Kern – ich schon. Ich bin ein Ashikaga.«
»Jawohl«, sagte Shuken und verbeugte sich. »Vergebt mir. Ich habe mich in Euch getäuscht.«
»Das will ich hoffen.«
Shuken spürte die Verstimmung, die auf einmal im Raum schwebte, hatte er doch wieder einmal seinen Mund nicht halten können. Er sann auf eine andere Geschichte: »Gruselig ist aber ohne Zweifel die Erzählung von Amakitsune, dem Himmelsfuchs, der …«
»Ein andermal.« Missmutig kam Yoshinori zum letzten Punkt der Audienz. Gleichzeitig dachte er darüber nach, was es wohl bedeuten mochte, kernlos zu sein. »Einen Wunsch hatten wir dir freigestellt, nicht wahr?», sagte er. »Wir haben gute Absichten und beweisen diese.«
»Ja!« Shukens Herz schlug wild.
»Also erfülle ich ihn dir. Diener! Hier ist sie.«
Teruko, die Mutter erschien, von zwei Hofdamen begleitet, den Blick gesenkt und leichtfüßig wie früher, als wäre keine Zeit vergangen.
»Mama!«, rief Shuken. Er vergaß Yoshinori, eilte ihr entgegen und ließ sich umarmen.
»Du gehst mir schon bis an die Brust. So lange ist es her. Mein Sengikumaru!« Sie weinte.
»Mittlerweile: Shuken«, sagte er. »Kleiner neugieriger Hund. Aber ich bin noch derselbe.«
Yoshinori wurde ungeduldig: »Nun werdet los, Frau Tsubone Iyo, was ihr noch loswerden wollt. Beziehungsweise: sollt! Ich muss gehen.«
»Tu, was sie wünschen, mein Chrysanthemenbub«, sagte sie nach einer Verbeugung vor dem jungen Herrn.
»Ich tue, was du wünschst«, antwortete Shuken.
»Bilde dich«, fuhr sie fort, »ja, für mich. Werde ein guter oder gar ein besonderer Mönch – und nicht Kaiser. Du wärest in Gefahr, und ich hätte Angst um dich. Durchdringe die Lehre des Rinzai, verstehe sie ganz, so dass du eines Tages das Erwachen mit den Patriarchen teilen kannst. Dann, wenn ich alt bin, zeigst du deiner Mutter den Weg. Auch dein Vater möchte ...«
»Halt!«, fuhr Yoshinori dazwischen. »Kein Wort!«
Teruko und Shuken verbeugten sich gleichzeitig, tief und stumm.
»Gut gesprochen«, nickte der junge Ashikaga Teruko zu und wandte sich an Shuken: »Merke dir deiner Mutter Worte. Dann kann dir nichts geschehen. Beschäftige dich mit kernlosem Obst sowie dem Himmelsfuchs. Erfinde Gruselgeschichten. Geht nun, Mutter und Sohn. Euch, Teruko bringt man zurück nach Sagano. Dich aber, Shuken, …« Er unterbrach sich und deutete der Mutter gegenüber eine Verbeugung an, denn sie wurde von den Hofdamen bereits hinausgeführt. »... dich – vorerst zumindest – zurück in den Ankoku-ji.«
Ein letztes Mal verbeugte sich auch der kleine Mönch – das musste sein –, nicht, ohne einen Seitenblick auf die Spielzeugkiste zu werfen. Dann lächelte er dem jungen Herrn zu.
»Das ist meine Mutter«, sagte er stolz.
»Sie ist schön«, gab Yoshinori zu. »Nun aber fort mit dir!«
Also hielt Shuken seine Sachen gepackt und war bereit. Doch der Alltag in Ankoku blieb derselbe. Nichts Besonderes geschah.
Jahre vergingen.
Dennoch, obwohl man ihn anscheinend vergessen hatte, erweiterte sich Shukens Horizont nach und nach.
Wie angekündigt, brachte ihm Abt Shukan bei, Gedichte zu schreiben. Shuken stürzte sich mit Begeisterung in die neue Aufgabe, beschloss sogleich, jeden Tag einen Vierzeiler zu schreiben. Dies behielt er einige Monate lang bei. Nach und nach begriff er das Konzept der Vieldeutigkeit, das in die Schrift eingebaut war, wie auch in die Sprache selbst. Es öffnete den Gedichten Raum hinter Papier und Tusche: so wurden sie transparent und dreidimensional. Räume, die nicht jedermann betreten geschweige denn schaffen konnte.
Im Lauf der Zeit tauchten aus der Menge bloßer Schreibarbeiten die ersten guten Gedichte auf. Eines davon lobte Abt Shukan sogar, und man begann, es auch außerhalb des Tempels zu rezitieren. Das Gedicht gefiel. Es ging darin um eine verlassene Geliebte, um eine Zweitfrau, die in ihrem Pavillon einsam weint und sich nach dem Fürst verzehrt, während die Wege zu ihr zuwachsen, zuerst knie-, dann lendenhoch.
»Na, wenn du da nicht deine Mama im Sinn gehabt hast! Dazu eine Anspielung auf die Lenden und damit den Ort des Begehrens: gar nicht übel!«, hatte der Abt gesagt.
War man ein wissensdurstiger Mönch und nicht nur ein von der Familie entsorgter Taugenichts, dann konnte man sich trotz des täglichen Sitzens und der harten Arbeit vielseitig bilden. Anregungen gab es genug. Hatte man frei und waren die Pflichten getan, dann durfte man das Klostergelände auch außerhalb der Bettelgänge verlassen, andere Tempel aufsuchen, Lehrreden berühmter oder berüchtigter Äbte hören, sich an einem Gesprächswettstreit oder einer Dichterrunde beteiligen und vieles mehr.
Shuken war wissensdurstig. Alles, was ihm begegnete, sog er in sich auf. Überall mischte er sich ein. Seine scharfzüngigen Kommentare beeindruckten vielerorts. Insbesondere das einfache Volk amüsierte sich, wenn dieser kleine, schlagfertige Bursche auftauchte und sich mit den Älteren anlegte, ja, sich gar über diese oder jene der vierundachtzigtausend Regeln lustig machte.
Wir dürfen das nicht, hieß es dann, aber der Kleine, der weiß Bescheid, der hats gelernt. Oder: Anscheinend ist doch nicht alles auf der Welt so fest gefügt, wie es die Oberen uns erzählen.
Den Armen ging es schlecht, und fast alle einfachen Leute, Handwerker, Arbeiter, Bauern oder Fischer waren arm. Die Zeiten waren schwer. Ständig lagen irgendwelche Fürsten miteinander im Streit, sammelten Kämpfer um sich und bekriegten einander.
Diese Krieger, sofern es sich nicht um ehrbare Samurai handelte, nahmen sich von den Bauern, was sie brauchten und was ihnen gefiel, seien es Sakefässer, Schweine, Mädchen oder getrockneter Fisch. Wilde Trupps trampelten durch die Reisfelder. Ochsen und Esel schleppten sie davon.
Die Landleute mussten sich Geld leihen, um säen zu können. Wenn sie dazu überhaupt noch Lust hatten und nicht in die Berge flohen. Viele waren auf Wanderschaft, was oft bedeutete: nur weg! – das Ziel war gleichgültig. Verhungern konnte man überall. Und tat das auch.
War die Natur denn ebenso böse wie der Mensch? Stellte man Shuken diese Frage, dann wusste er keine Antwort. Was ist Natur?, fragte er sich dann – bist das nicht auch du selbst? Ist sie folglich in dir? Also damit auch das Böse?
Das war keine befriedigende Erklärung, denn niemand, mit dem er sprach, wollte das Leiden. Wo also kam es her?
Missernten waren so häufig geworden, dass sie beinahe den Normalzustand darstellten. Ritten keine Soldaten durch die Felder, dann traten die Flüsse über die Ufer, so dass die Schösslinge verfaulten.
Vom Reis, dem Hauptnahrungsmittel, gab es immer zu wenig. Ein unglückseliger Kreislauf hatte sich in Gang gesetzt: den größten Teil der Ernte mussten die Bauern an das Shogunat abführen, um ihre Steuern zu begleichen, in Naturalien nämlich, da sie kein Geld hatten. Reiche Händler kauften dann diesen Reis am Hof auf, denn soviel vermochte man dort gar nicht zu essen. Dies wiederum kam der Obrigkeit zupass, konnte sie sich doch durch die zusätzlichen Einnahmen mit Kriegsgerät und Luxusgütern eindecken – natürlich bei denselben Händlern. Damit nicht genug: jene verkauften den Reis wieder an die Armen zurück, den Hunger zwischen den Ernten nutzend, und dies natürlich zu Wucherpreisen.
Händler, Geldverleiher, Beamte sowie andere Gewinnler mit Verbindungen zum Hof wurden reich wie nie zuvor. Allen anderen ging es schlecht und schlechter. Hungersnöte und Aufstände kündigten sich an. Manche Bauern murrten nicht nur, sondern suchten sich einen Kriegsherrn und griffen zu den Waffen, was bei der verworrenen Lage ineinander verschränkter Feindseligkeiten ein leichtes war.
Die fruchtbaren Ebenen zwischen den Bergrücken waren eng. In diesen Wannen, größtenteils für den Reisanbau geflutet, wurde immer wieder gekämpft. Die meisten Wege aus diesen Gebieten heraus verloren sich, allmählich schmaler werdend, im Gebirge. Einsiedler hausten dort. Um derart überleben zu können, brauchte man allerdings Wissen und Hilfe.
Wissen: welche Pflanze konnte in den Bergen wachsen? Wann musste man säen? Wo pflückte man am besten wilde Beeren, Nüsse und Pilze? Was davon war giftig, was nicht?
Hilfe: selbst eine Einsiedelei ließ sich nicht mehr ohne Schwierigkeiten gründen, denn alles irgendwie Bewohnbare war besetzt – wer überließ einem noch ein Stückchen Erde, und gar eines mit einer verfallenen Hütte darauf?
So war ein Marsch über Land kein Spaziergang, sondern Unterricht in den unbegrenzten Möglichkeiten des Leidens, darüberhinaus mitunter auch gefährlich. Trug man etwas Wertvolles bei sich, war es klug, sich mit anderen zusammenzutun und nicht allein zu gehen.
Wanderte man in der Mönchskutte – andere Kleidung besaß Shuken nicht –, wurde man als Bettler angesehen. Ihm missfiel das. An den erbärmlichsten Hütten marschierte er schnell vorbei, sozusagen möglichst unbemerkt bettelnd, um den Regeln zwar Genüge zu tun, aber niemanden zu schädigen. Die Bauern mussten ja geben, würden die Götter sie doch anderenfalls bestrafen, und Unglück bräche über sie herein.
Noch mehr Unglück? Das konnte sich Shuken kaum vorstellen und fühlte sich ob solcher Ängste unangenehm berührt.
Aberglaube! Diesen Unsinn verbreitete seine Zunft also – gar nur, um selbst daraus Nutzen zu ziehen? Als ob es auf dem Land nicht schon genug Unheil gäbe! Und – was die Bettelei betraf – hatte ein Weiser nicht einst behauptet, ein Tag ohne Arbeit sei ein Tag ohne Essen?
Wie gesagt: manche hatten Geld, sehr viel Geld sogar und gaben es auch aus. Das Nachtleben blühte. Sake wurde zum Volksgetränk. Shuken lernte die ersten Schänken seines Lebens kennen und in deren Hinterzimmern die ersten Mädchen.
Auch sah er am Wegrand zum ersten Mal Leichen. Die Buckel, in schlechten Stoff gehüllt, plötzlich in einem Graben auftauchend, verwirrten ihn. Das war der Tod? So?
Er stellte sich vor, die Gestalten schliefen, dachte dabei an sein eigenes Ende und machte, wenn ihn die Furcht übermannte, die allbekannten, vom Erhabenen selbst gelehrten Übungen zur Vergegenwärtigung der Endlichkeit: sah sich als Kranker, dann als Toter, danach als Skelett und schließlich als Häufchen Staub, ja, stellte sich sogar vor, wie man ihn wegkehrte. Die Arbeit mit dem Besen hat große Bedeutung in einem Kloster, war mehr als Reinigung, versorgte einem mit Bewegung, mit dem beruhigenden, rhythmischen Rauschen des Reisigs – sch sch sch –, mit Raum zum Sinnieren.
Einer seiner Märsche führte Shuken in den Saikon-ji, den Tempel, in dem Meister Keno lehrte.
Keno, das bedeutete: armer alter Mann, ein Name, den der Meister sich selbst gegeben hatte, nachdem er, spät im Leben erst, die Befreiung erfahren hatte, und anstelle des Ehrennamens, den wiederum sein Meister für ihn ausgesucht hatte.
»Nicht dafür, dass ich erwacht bin, will ich ein Zeugnis«, hatte er gesagt, » – woher wollt ihr das überhaupt so genau wissen? –, sondern dafür, dass ich ein schlapper alter Mann bin. Das sieht man doch wenigstens!« Dann hatte er sich auf Wanderschaft begeben, ohne sich umzublicken.
Shuken war diese Geschichte zu Ohren gekommen. Er wusste: zu diesem Mann musste er – was man tut, ohne sich umzublicken, ist etwas Besonderes.
»Ach ach ach! Du wählst den Weg bergab«, hatte Abt Shukan gejammert, als ihm Shuken seinen Wunsch eröffnete. »Kenos Gammelklause ist doch gar nichts, nicht einmal shozan! Vom Gaul – ja, ich weiß schon, dass ich kein Rennpferd bin – steigst du auf einen Esel um! Was wird aus unseren Gedichten? Ach ach ach! Na gut, ich frage an bei Hof.«
Die Erlaubnis kam. In Yoshimochis Clan war man sogar erfreut darüber, dass der kaiserliche Bastard nun sein Verschwinden selbst in die Hand nahm und in die Obhut eines Meisters wechseln wollte, der keinerlei Verbindungen zur Obrigkeit hatte und dergleichen auch nicht anstrebte.
So waren es alle zufrieden – letztendlich selbst Abt Shukan, den Shuken als Dichter längst überflügelt hatte, was sich allmählich herumsprach und dem Ruf des Dicken nicht zuträglich war. »Sagen wir so: die Münze steht auf der Kante«, gab dieser Shuken zum Abschied mit. »Ein besonderer Fall. Ach ach ach – trotz allem: schade, dass du gehst!«
Auf einmal war Shuken siebzehn. Die dunkelgekleideten Männer vom Palast kamen und nahmen ihn mit.
Keno hatte nichts zu melden, als man ihm den neuen Schüler durch das Tor schubste.
Meister Kenos Kloster lag im Osten der Hauptstadt am Ufer des Biwa-Sees.
Um die zugige Sitzhalle in der Mitte der Anlage herum gruppierten sich ein paar Holzschuppen, in denen gekocht, eingelegtes Gemüse gelagert und gewaschen wurde. Das zum See hin flach abfallende Ufer war je nach Jahreszeit bepflanzt mit Bohnen, Wurzeln oder Kräutern. Auch Beerensträucher wuchsen dort sowie Bambus und einige Bäume, darunter ein alter Kirschbaum. Ein Steg, an dem ein morscher Kahn vertäut war, führte zwei, drei Schritte in den See. Das Waschwasser wurde in Bottichen herangeschafft. Die Notdurft verrichtete man auf einem Balken, der abseits über einer gegrabenen Rinne ruhte.
»Bei Regen«, spottete der Meister, »pissen die Götter, während ihr auf die Ameisen pisst, auf euch herab.«
»Auf wen pissen dann die Ameisen?«, war Shuken herausgerutscht, und der Meister hatte ihm mit dem Stock gedroht.
»Oder umgekehrt: stehen auch die Götter ab und zu im Regen eines Obergottes?« Shuken war schlagfertig.
»Dein Geschmack, Dichterzwerg«, hatte der Meister gegrinst, »ist noch schlechter als der meinige.«
Man hatte keine eigene Kammer. Zum Schlafen rollte man seine Matte aus und lag mit allen anderen aufgereiht auf dem Holzboden der Halle. Nur der Meister besaß, seitlich angebaut, ein eigenes Quartier. Dort fanden die dokusan, die Einzelgespräche statt.
Wenn es denn welche gab. Und wenn es welche gab, falls dann nicht auch dabei nur geschwiegen wurde. Keno liebte die Stille. Nie schwatzte er drauflos, wie es Abt Shukan getan hatte.
Bald verstand Shuken, dass für Meister Keno Schweigen und Reden eins waren, Perlen von zweierlei Art und Färbung zwar, doch beide auf dieselbe, niemals zu vollendende Kette der Zeit gefädelt.
Sie waren wenige Mönche und von besonderer Art, hatten sich aus eigenem Entschluss hier zusammengefunden und lasen ihrem Meister alles von den Lippen ab, auch das Schweigen.
Waren die Schiebetüren der Halle geöffnet – das kam oft vor, auch bei Regen und Kälte – und saß man dann günstig, konnte man einen Blick auf den See erhaschen.
Wann immer es möglich war, versuchte Shuken, sich eine solche Position zu ergattern. Dann hatte er ein Objekt der Konzentration vor sich: mit halbgeöffneten Augen betrachtete er die Wasserlinie, bis sie in seine Augen schnitt wie ein gespannter Faden; ja, beschien die Sonne das Wasser und war es windstill, dann blitzte sie gleich Schwertstahl, und es schmerzte.
Der Meister war groß und gedrungen wie ein Bär. Wenn er sich beim gemeinschaftlichen Sitzen über einen Schüler beugte, zum Schlag mit dem Holzstock ausholend, schien es dunkel im Raum zu werden. Dann dachte Shuken an die Bergriesen aus Mamas Geschichten, fantasierte einen dicken Bart in des Meisters Gesicht und machte unwillkürlich den Nacken starr.
Saß der Meister selbst, war er wie Stein oder Holz, Wurzel eines riesigen, abgehackten Baumes, die ein Dutzend Männer nicht aus dem Boden würden reißen können.
Die erste Unterweisung ließ auf sich warten, aber dann kam sie.
»Du da«, brummte Keno eines Morgens nach dem ersten Sitzen und deutete mit dem Kinn auf ihn. Schon war der Meister federleichten Schrittes in seine Kammer verschwunden. Shuken tastete sich in der Finsternis hinterher, die Sonne noch unter dem Horizont.
Eine Kerze brannte in der Mitte des Raumes. Wie war sie so schnell angezündet worden? Neben ihr saß Keno und sagte: »Verbeugen, das gassho, muss sehr wohl sein, ...« – hatte Shuken es denn je vergessen? – »... und dabei gibt es viel zu üben, ebenso viel wie beim Waschen der Reisschale. Ist dir übrigens aufgefallen, dass die Haltung beim Arschabwischen einer Verbeugung gleicht? Ja, Form ist Leere, doch ist sie deswegen nicht unwichtig. Weshalb wohl dienen unsere Gliedmaßen zum Greifen? Hast du aber jemals schon Leere ergriffen? Sagte ich ein Wort mehr, wäre ich ein Schwätzer. Schlimmer, das bin ich schon jetzt.«
Er endete so abrupt, wie er begonnen hatte.
»Jawohl. Nein«, stammelte Shuken, nicht wissend, was er etworten sollte.
»Dauernd glotzt du auf den See«, fuhr der Meister fort, nachdem er sein Gegenüber eine Weile betrachtet hatte. »Ist irgendetwas Besonderes darin? Was siehst du denn dort?«
Jetzt nur nicht versagen, dachte Shuken. »Ich sehe die Wasserlinie glitzern«, begann er, »vertiefe mich in ihren Anblick, versenke mich, bis auf einmal meine Augen der See sind, und der See meine Augen, diese durchsichtigen Kugeln, halb mit Wasser gefüllt, wobei die Seeoberfläche wie ein Eichstrich ...«
Er verstummte. Keno zeigte keine Reaktion, als warte er auf die Pointe.
»Im See Wasser ... in den Augen Tränen, das sind ähnliche Zeichen und ähnliche Dinge«, stotterte Sojun.
Der Meister schüttelte behäbig den Kopf. »Du Schwafler. Wir dichten hier nicht. Genug für heute. Nichts kapierst du. Gar nichts.«