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Diese Kurzgeschichten speisen sich aus dreierlei Quellen: Zum Ersten aus der Gattung der Science-Fiction (hier geht es natürlich um die Begegnung mit anderem Leben in anderen Welten), zum Zweiten aus der fantastischen Erzählung (die sich zum Beispiel im vorgestellten Reich der Azteken abspielen mag) und zum Dritten in der sogenannten »Wirklichkeit« - doch in dieser geschehen ebenfalls ungewöhnliche Dinge: Die taktile Wahrnehmung einer jungen Frau spielt verrückt, der Präsident einer Pazifikinsel nimmt die Bibel eindeutig zu ernst oder ein Amokschütze erhält bei seiner Tätigkeit ungewöhnlichen Beistand. Kurzgeschichten haben mich schon immer fasziniert: Sie führen eine zentrale Idee konzise und vollständig aus, sind sprachlich aus einem Guss, lassen mit wenigen Requisiten und unmittelbar Ort und Zeit der Handlung erstehen, münden in eine unerwartete Pointe und lassen sich in einem Rutsch lesen, weil sie ein steiles Gefälle haben, das nicht von überflüssigen Ausschmückungen gebremst wird. - Ich hoffe, zumindest einiges davon ist mir gelungen.
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2021
Reinhard Febel
Schöpfung Plan B
Fünfzehn Kurzgeschichten
Copyright: © 2021 Reinhard Febel
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Titelbild: © Reinhard Febel
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-35036-6 (Paperback)
978-3-347-35037-3 (Hardcover)
978-3-347-35038-0 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Inhalt
Schöpfung Plan B
Kommunizierende Röhren
Lesen bildet
Hashima
Ein Blinzeln
Der große Romondo
H
Schneller Vorlauf
Brüder im Geiste
Tod im Schlaf
Es gab keine Schwestern und keine Brüder
Die Frau, die sich selbst berührte
Gefallene Engel
Versteck
Wir spielen Ball
Schöpfung Plan B
Der Zöllner, ein Berg von einem Mann, hatte mein mühsam erkämpftes Einreisevisum kaum eines Blickes gewürdigt, seinen Stempel in den Pass geklopft, wie man eine Fliege totschlägt, dabei »Welcome in Paradise« gerufen, aus vollem Hals gelacht und mich durchgewinkt. Als Erstes hatte ich im Hotel eingecheckt, dem einzigen der Insel und gleich am Hafen gelegen wie fast alle Gebäude der, nun ja, Hauptstadt des Eilands und zugleich des kleinsten Staates der Welt, mit einem Moped in zwei Stunden zu umrunden auf der einzigen befestigten Straße, der Corniche, die sich nie mehr als ein paar Meter vom Strand entfernt, einem wunderbaren Palmenstrand übrigens.
Die Corniche nannte man offensichtlich auch Route nationale I – in der Tat war mir ein solches Schild aus blauer Emaille aufgefallen, als ich ebendiese Straße zum Hotel überquerte, und zwar auf einem von zwei Ampeln gesäumten Zebrastreifen. Die Ampeln waren außer Betrieb, ihre Leuchten ausgeschlagen: zwei dreistöckige Vogelhäuser, aber unbewohnt.
An den Laternenpfählen, die hie und da herumstanden, hingen Trauben von Briefkästen: Scheinfirmen, die im Steuerparadies der Insel bestens gediehen; ich hatte davon gelesen. Es dunkelte; in den Tropen ist die Dämmerung kurz. Die Lampen wurden eingeschaltet und gaben gelbes Licht.
Viel Gepäck hatte ich nicht dabei. In diesem Klima braucht man wenig. Meinen Rucksack aus wasserdichter Plane deponierte ich bei der Rezeption. Den Fotokoffer, den ich nie aus den Augen lasse, nahm ich mit und schlenderte wieder zurück zum Pier.
Der eiserne Rumpf des Dampfers ragte vor mir auf wie eine Kulisse, zum Greifen nahe, bis auf etwa Mannshöhe über dem Pier, rot gestrichen wie ein rotes Meer, darüber schwarz wie ein schwarzer Himmel. Die Trennlinie der Farben lief über Rillen und Erhebungen der grob miteinander verschweißten Metallplatten gleich einer ohne Rücksicht auf die Topologie gezogenen Landesgrenze.
Am verbeulten Bug des Schiffes, hoch oben, knapp unterhalb der Reling, stand Jesaja, mit dicker weißer Ölfarbe gemalt, so dick, dass man einzelne erstarrte Tropfen ausmachen konnte. Darunter, in erhabenen Lettern aufgeschweißt, doch inzwischen schwarz übermalt, war noch der ursprüngliche Name des Schiffes zu erkennen: Panthère. Warum man den Dampfer wohl umbenannt hatte? »Eine Laune des Präsidenten«, hatte der Kapitän auf meine Frage geantwortet, mürrisch, die Brauen hoch- und die Mundwinkel herabgezogen.
Die Jesaja war das einzige Schiff des Zwergstaates und auch dessen einzige Verbindung zur Außenwelt, denn für einen Flughafen gab es auf diesem vulkanischen felsigen Flecken im Pazifik keinen Platz.
Auch ich war mit dem Dampfer gekommen und saß nun in der Bar du Port, der einzigen Kneipe an der Hafenpromenade, direkt am Pier und vor dem gewaltigen, schrundigen Rumpf, der mir die Sicht auf das Hafenbecken verstellte. Der Martini war nicht schlecht. Irgendwann hatte ich es mir angewöhnt, nach der Ankunft erst einmal einen Martini zu trinken, sozusagen auf das Wohl meiner Helden – Conrad, Poe, Somerset Maugham, Traven –, mit denen ich Grünschnabel mich dann verbunden fühlte; und nun kam ich nicht mehr davon los.
Ich betrachtete das Schiff. Das Entladen war noch im Gang. Am Heck, einen Steinwurf von mir entfernt, hatte sich eine Tür in des Dampfers Kruste geöffnet und eine Gangway spannte sich mit ziemlichem Gefälle abwärts zum Pier. Ich sah, wie ein Dutzend Rinder, durch Seile miteinander verbunden, an Land geführt wurde. Dieses Bild, an einen Almabtrieb in meinem Heimatland erinnernd, verwunderte mich. Wo sollte sich hier auf dieser Urwaldinsel Weideland finden?
Auch auf dem Tau, das zwischen dem Bug des Dampfers und einem Poller auf dem Pier gespannt war, entdeckte ich Bewegung: Eine Ratte krabbelte aufs Schiff. Das Tau war aus mehreren Einzelsträngen gedreht; die Ratte nahm den einfachsten Weg und arbeitete sich spiralförmig nach oben, kam dabei abwechselnd außer Sicht und erschien wieder. An Land sah ich ein zweites Tier Männchen machen, den Poller beschnuppern und ebenfalls auf das Seil klettern, dann ein drittes und viertes.
Inzwischen hatte die erste Ratte die Mitte des Taues erreicht, und ich traute zunächst meinen Augen nicht, denn ich sah, wie ihr von oben, vom Deck des Schiffes, ein anderes Tier entgegenkam. Als die Ratten auf gleicher Höhe waren, verharrten sie, jede auf ihrem Strang, berochen einander und ringelten sich dann aneinander vorbei. – Als ob die Besatzung des Dampfers abgelöst würde!
Auch mein Nachbar, ein weiß gekleideter Herr am Nebentisch, hatte die seltsame Begegnung beobachtet. »Auf den Dampfer, das ist gut«, murmelte er, »landeinwärts hingegen, das ist schlecht. Für die Ratten, versteht sich …« Er verstummte, grinste und schüttelte den Kopf.
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
»Nun«, antwortete er, »für jede Ratte gibt es hier zehn Dollar. Tot, versteht sich.«
»Eine Rattenplage?«
»Wie man’s nimmt.« Er nippte an seinem Whisky und schien über etwas Wichtiges nachzudenken. »Was die auswärts reisenden Ratten betrifft«, murmelte er, »könnte man sagen: Sie verlassen das sinkende Land. In Abwandlung der bekannten Redensart. Doch es kommt wohl darauf an, wie man die Angelegenheit betrachtet.«
»Welche Angelegenheit?«
»Das können Sie noch nicht verstehen. Was treibt Sie denn hierher?«
»Ich mache Fotos«, erklärte ich, »suche mir interessante und wenig bekannte Orte aus, fotografiere, was es zu sehen gibt, und verkaufe die Bildserien dann an Zeitschriften, Verlage und so weiter.«
»Interessant. Und davon kann man leben?«
»Nun ja. Mehr schlecht als recht. Aber es ist spannend und macht Spaß.« Ich lachte.
»Sie sind noch jung«, seufzte der Herr. »Wie schön für Sie. Ich dagegen … Wie hat es mich nur hierher verschlagen? Was solls, das Wetter ist ja gut und die Drinks, na ja …«
Mein Gesprächspartner mochte auf die Sechzig zugehen. Er war braun gebrannt, trug einen weißen Anzug sowie ein weißes Hemd und stellte sich als australischer Honorarkonsul vor.
»Seit zehn Jahren schon«, sagte er, »halte ich hier die Stellung. Und wofür? Für wen? Viel gibt es nicht zu tun. Tja, Stichwort Export: Es wird Phosphat abgebaut und verschifft, ja, natürlich mit dem Dampfer; ach, sprechen wir es aus: Sie verhökern versteinerte Vogelkacke. Und manchmal kommt ein Tourist hierher, so wie Sie – pardon, Sie sind ja gar kein Tourist –, und mietet den einzigen Toyota der Insel, also gleich die gesamte Leihwagenflotte, und fährt damit zum einzigen Gipfel, dem erloschenen Vulkan, hinauf und wieder hinunter. Rauf und runter. Schafft man in einer halben Stunde. Oder um die Insel – rundherum. Rundherum. Rundherum …« Mit dem Zeigefinger machte er eine rührende Bewegung über seinem Whiskyglas.
»Anscheinend gibt es auf dieser Insel alles nur einmal: ein Hotel, eine Kneipe, einen Zebrastreifen, einen Toyota, einen Dampfer«, sagte ich.
Der Honorarkonsul lachte. »Das kann man so sagen. Und schlimmer: Unsere Krankenschwester ist gleichzeitig unsere Nutte sowie Messdienerin. Hahaha … Entschuldigen Sie. Das war natürlich ein Scherz.« Er blickte mich treuherzig an und griff nach seinem Glas. »Teilweise zumindest. Doch Spaß beiseite: Was wollen Sie denn hier so fotografieren?«
»Alles Mögliche. Land und Leute, Strände, die Passatwolken am Vulkan, die verfallenen Förderbänder …«
»Jaja, so etwas kommt immer gut …«
»Natürlich auch die Bewohner, spielende Kinder, alte Mütterchen beim Kochen, Fischer beim Fischen«, zählte ich auf.
»Flora und Fauna.«
»Auch. Krebse, Eidechsen, Affen …«
»Eidechsen gibt es nicht mehr, Affen zur Zeit auch nicht.«
»Nicht? Zur Zeit? Was auch immer«, fuhr ich ein wenig irritiert fort, »und dann stelle ich ein Portfolio zusammen, schicke es meiner Agentur und dann sehen wir halt mal, wer anbeißt.«
»Das heißt, Sie werden eine Weile hierbleiben? Schön! Das freut mich. Am meisten fehlt mir hier anregende Gesellschaft. Nun, Sie müssen ja sowieso auf die Rückkehr des Dampfers warten.«
Ich nickte. »Kein Grund zur Eile. Man hat hier doch Internet?«
»Oh ja. Das heißt, wenn es Strom gibt, was wiederum bedeutet, wenn der Dampfer genügend Öl herangeschafft hat und wenn dann der Lastwagen – Sie ahnen es schon: der einzige auf der Insel, haha – die Ölfässer zum Generator transportiert und nicht mit einem Motorschaden liegen bleibt, dieser Generator dann auch funktioniert und die Stromleitungen nicht durch einen Sturm zerrissen sind. Dann ja. Darüber hinaus natürlich vorausgesetzt, dass in Ihrem Hotel nicht die Sicherung durchgebrannt ist und es keinen Ersatz gibt. Letzteres wäre allerdings eine Lappalie, denn man könnte den Stromkreis zum Beispiel mit einer Büroklammer kurzschließen. Ist wahrscheinlich sowieso schon der Fall. Sollten aber diese ebenfalls ausgehen …« Er lachte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir Insulaner übertreiben gern, um unsere Gäste zu erschrecken.«
Ich lächelte.
»Treffen wir uns morgen zum Frühstück?«, fragte er. »Allerdings gibt es nur diese Kneipe hier. Aber der Kaffee ist erträglich. Sie werden sehen.«
»Mit Vergnügen.«
»Land und Leute, hm«, murmelte der Honorarkonsul und überlegte. »Wenn Sie möchten«, fuhr er dann fort, »kann ich Ihnen das Parlament zeigen. Und wenn wir Glück haben, findet eine Debatte statt. Dann hören wir zu. Es ist sehr interessant.«
»Das geht?«
»Das geht. Alle Sitzungen sind öffentlich.«
Diese Idee gefiel mir. »Ich habe gehört«, sagte ich, »dass hier ein strenges, ja fundamentalistisches Christentum praktiziert wird …«
»Kann man so sagen.«
»… und davon würde ich mir gerne ein Bild machen.«
»Das werden Sie. Oh ja. Oh ja.«
Ich verabschiedete mich von meinem neuen Freund und machte mich auf den Weg zum Hotel.
»Schlafen Sie gut!«, rief er mir nach.
Das Zimmer war in Ordnung. Ich stellte meinen Rucksack und den Fotokoffer in eine Ecke und tastete neben der Tür nach dem Lichtschalter. Über der Kopfseite des Bettes leuchtete eine Lampe auf und ein Deckenventilator setzte sich in Bewegung, langsam und lautlos; ich spürte keinen Hauch. Ohne es zu bemerken, hatte ich zwei nebeneinander montierte Schalter gleichzeitig gedrückt. Den Ventilator schaltete ich wieder aus. Es war nicht allzu heiß. Das nahe Meer sorgte für kühle und feuchte Luft.
Ich überprüfte die Fliegengitter und ließ sie einrasten, sodass die Fensterscheiben geöffnet bleiben konnten. Dann legte ich mich aufs Bett. Ich blickte zur Lampe über mir: eine nackte Glühbirne unter einem grünen glockenförmigen Glasschirm. Das Übliche. Hotelzimmer konnten mich nicht mehr überraschen.
Oder doch? Die Anzahl von Insekten an der Lichtquelle war unglaublich. – Obwohl ich die Gitter geschlossen hatte. Unzählige Mücken, Käfer, Nachtfalter und andere, kleinere aber auch größere geflügelte Wesen, die ich noch nie gesehen hatte, schwirrten um die Glühbirne herum.
Auf dem Boden legten Käfer ihre Bahnen aus, rasten vorwärts, hielten inne, wenn ich mich bewegte, kehrten bei einer zweiten Bewegung um und verschwanden unter dem Bett. Es waren verschiedene Spezies; die Küchenschaben darunter waren mir bekannt und schreckten mich nicht.
Doch das Schauspiel unter der Zimmerdecke! Es war, als griffe eine Wolke das Licht an. Ständig scherten Hunderte von Punkten aus dem Schwarm aus und regneten von allen Seiten auf den Lampenschirm. Das Knipsen gegen das Glas klang wie Musik auf einer winzigen Harfe. Wirre, wahnsinnige Musik. Flatterte ein Falter mit dem Kopf voraus gegen die Glühbirne, dann zischte es.
Ich betrachtete das Gewimmel mit Neugier und Entsetzen. Woher kam diese unfassbare Menge an Insekten?
Ich stand wieder auf und schaltete das Fernsehgerät ein. Es war ein altes Schwarz-weiß-Modell. Eine Fernbedienung konnte ich nicht entdecken. Als die Mattscheibe aufleuchtete, verlegten einige Insekten augenblicklich ihr Revier und klimperten gegen den Bildschirm. Aus dem Lautsprecher rauschte es, und als Bild gab es nur schwarz-weiß flimmernden Grieß wie nach Sendeschluss. Natürlich – die Insel besaß keine Sendestation. Wozu dann das Gerät? Auf einem Regalbrett an der Wand fand ich einen Stapel Videokassetten für den Rekorder unter dem Fernseher. Ich nahm die oberste: Honolulu Babys. Das Hüllenfoto zeigte ein paar Mädchen in Baströckchen und mit blanken schönen Brüsten sowie davor die Rückansicht eines nackten Mannes.
Nein.
Ich legte mich wieder aufs Bett, öffnete die Nachttischschublade und fand die übliche erbauliche Lektüre: eine Bibel. Eine einzelne Seite geistlicher Text, auf DIN A4 vergrößert und beidseitig laminiert, lag unter dem Buch. Ich zog sie hervor, lehnte mich zurück und las:
Jesaja, Kapitel 65, Vers 17-25:
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken wird, noch sie zu Herzen nehmen; sondern sie werden sich ewiglich freuen und fröhlich sein über dem, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem schaffen zur Wonne und ihr Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk; und soll nicht mehr darin gehört werden die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen nicht mehr dasein Kinder, die nur etliche Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen; sondern die Knaben sollen hundert Jahre alt sterben und die Sünder hundert Jahre alt verflucht werden. Sie werden Häuser bauen und bewohnen; sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein andrer bewohne, und nicht pflanzen, was ein andrer esse. Denn die Tage meines Volkes werden sein wie die Tage eines Baumes; und das Werk ihrer Hände wird alt werden bei meinen Auserwählten. Sie sollen nicht umsonst arbeiten noch unzeitige Geburt gebären; denn sie sind der Same der Gesegneten des HERRN und ihre Nachkommen mit ihnen. Und soll geschehen, ehe sie rufen, will ich antworten, wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Lammsollen weiden zugleich, der Löwe wird Stroh essen wie ein Rind, und die Schlange soll Erde essen. Sie werden nicht schaden noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.
***
»Na? Haben Sie gut geschlafen?«, rief der Konsul mir zu, als ich am nächsten Morgen im Bistro auftauchte, schlaftrunken und zerstochen.
Ich erwähnte das Insektenproblem. Im Dunkeln war das Schwirren und Knacken zwar verstummt, dafür aber hatten mich Moskitos gequält – trotz der geschlossenen Fliegengitter.
»Tja«, lachte er, »unsere lieben Ratten … Letztendlich wären sie doch zu etwas nutze gewesen, nicht wahr? Ihnen schmeckt alles, was da kreucht und fleucht, von der Made bis zur Fliege. Was solls, zu spät; lassen Sie uns erst mal frühstücken.«
Ich bestellte Kaffee und zwei Croissants.
Die Sonne schien. Es war ein herrlicher Tag. Das Schiff war verschwunden. Die Sicht aufs Meer war frei. In der Ferne, jenseits der Atolls, glänzte der offene Pazifik. An der Durchfahrt durch das Riff brachen sich die Wellen. Aus einem Kofferradio auf der Theke plärrte Musik.
Der Konsul aß ein englisches Frühstück: eine große Portion Rührei, Schinken, sausages und gebackene Bohnen. »Sie sind nicht zufällig Vegetarier?«, fragte er und betrachtete misstrauisch meine Croissants.
Ich verneinte.
»Hm«, machte er mit vollen Backen.
Ich ließ den Blick über den Hafen schweifen. Mit dem Dampfer war auch alle Geschäftigkeit vom Pier verschwunden. Nur ein einzelner Hafenarbeiter trottete die Mole entlang, mit einem einachsigen Wagen auf Gummireifen, den er wie eine Schubkarre vor sich her schob. Er kam näher. Auf der Ladefläche sah ich einen Haufen haariger buckliger Dinge, die ich zunächst für Filzpantoffel hielt, aber dann erkannte ich, dass es tote Ratten waren. Daneben lag ein Gewirr von Seilen, doch schwarz und glänzend, wie mit Fett eingerieben. Die Windungen dieses riesenhaften Knäuels rutschten beim Schaukeln der Karre widerstandslos hin und her.
»Machen sie also auch den Schlangen den Garaus«, murmelte mein Freund und schüttelte den Kopf.
Der Mann mit seiner Fuhre toter Tiere hatte uns passiert und das Ende des Piers erreicht. Ich sah, wie er seine Karre meerwärts drehte, die Holzgriffe in die Höhe wuchtete, dadurch die Front absenkte und seine Fracht ins Hafenbecken schüttete.
»Das ist ja widerwärtig!«, rief ich.
Der Konsul nickte. »Also auch die Schlangen«, wiederholte er.
Ich bat ihn, seinen Kommentar ein wenig zu erläutern.
»Woran wird man hier noch alles herumdoktern?«, sagte er, als sei dies eine Antwort, sprang auf und drehte das Radio ab. »Es geht nicht nur um Ratten oder Schlangen. Was hören Sie?«, fragte er und wedelte mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Luft.
»Nichts«, antwortete ich.
»Sehen Sie. Nichts.«
»Und?«
»Keine Vögel.«
»Ich höre auch keine Löwen. Und keine röhrenden Hirsche«, gab ich zu bedenken.
»Seien Sie nicht albern, mein Freund. Dies ist ein tropisches Eiland. Es müsste hier von Vögeln nur so wimmeln! Von Papageien, Schwalben, Paradiesvögeln – was weiß ich. Die Luft müsste erzittern vor Gezwitscher, Geschrei und Gesang!«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Aber hier«, fuhr er fort, »gibt es keine Vögel … mehr.«
»Mehr?« Ich verstand nicht.
»Keine Vögel mehr«, wiederholte er seufzend und verstummte.
Ich lauschte. Es war still.
»Wovon ernähren sich unsere gefiederten Freunde denn normalerweise?«, knurrte er, wie beleidigt über meine Begriffsstutzigkeit.
Eine kühle Brise wehte vom Meer über die Hafenmole und das ölige Wasser. Über mir hörte ich Seevögel schreien. Eine Möwe segelte herab und ließ sich auf einem Poller nieder.
»Und was ist das?«, sagte ich.
»Das zählt nicht. Dagegen können sie nichts tun«, antwortete der Konsul.
»Sie? Wer?«
»Die Möwen kommen und gehen, wie es ihnen passt. Leider aber werden sie wohl kaum unsere Insekten wegputzen. Sie ernähren sich von Fisch, was natürlich ebenso verwerflich ist, aber …«
»Verwerflich?«, unterbrach ich ihn, »dieses Wort ist hier doch wohl unangebracht?«
»Keineswegs«, seufzte der Konsul. »Kommen Sie, gehen wir ins Parlament. Hören wir ein wenig zu, dann werden Sie das alles besser verstehen.«
Wir gingen durch eine Gasse zwischen zwei Lagerhäusern, leicht bergan, und überquerten die Route Nationale …
»Eine Zeit lang hatten die Franzosen die Insel beansprucht, doch dann kamen die Engländer«, erklärte der Konsul mit Blick auf das Straßenschild.
Dann standen wir auch schon im Regierungsviertel, das aus einigen blechernen Baracken bestand, weiß gestrichen und mit roten, ebenfalls aus Wellblech gefertigten Dächern versehen.
Der Konsul ging auf den größten der einstöckigen Pavillons zu und zeigte grinsend auf das über dem Eingang angenagelte Blechschild: Parliament. Zwei sehr korpulente, hemdsärmelige Herren hielten vor der Tür Wache.
»Der Präsident ist schon da«, raunte der Konsul mir zu und deutete auf die Limousine, die vor dem Gebäude parkte: ein dicker schwarzer Mercedes neuester Bauart.
»Wohin kann man denn hier damit hinfahren?«, wunderte ich mich.
»Zum Strand beispielsweise. Fünf Minuten gegen den Uhrzeigersinn.« Der Konsul zeigte nach rechts. »Unser Präsident badet gern.«
»Viele Kilometer werden so nicht zusammenkommen.«
»Wohl nicht. Wäre auf jeden Fall ein Schnäppchen, der Schlitten.«
Auf den Kotflügeln der Staatskarosse waren Standarten montiert; ohne Fahrtwind hingen die Wimpel halb eingerollt herab. Ein Chauffeur wienerte die Motorhaube.
Mein Freund war hier offensichtlich bekannt. Die zwei Sumoringer lächelten ihm zu, traten zur Seite und hielten die Türflügel auf.
»Business relation of mine«, sagte der Konsul, deutete mit dem Daumen über seine Schulter und trat ein.
Ich folgte ihm.
»No fotos. Top secret!«, rief einer der Wächter mir zu, als er meine Kamera bemerkte.
Ich nickte.
Wir begaben uns in die Abgeordnetenkammer, den einzigen Raum der Wellblechbude, und setzten uns auf die Zuhörerbank. Dort waren wir das einzige Publikum.
Vor uns, etwas erhöht, an einem ovalen Holztisch, saß das Parlament: ein halbes Dutzend schwergewichtiger Männer, und in ihrer Mitte, wiederum etwas erhöht, der Präsident. Er war ein dicker teigiger Mann, eine Art große alte Mama, im falschen Geschlecht feststeckend. Sein Mund war wie in Schmerz verzogen, als schmecke er ständig Bitteres oder lächle tapfer durch unstillbares Leid hindurch.
Ächzend erhob er sich aus seinem Sessel. Die Gespräche verstummten, er schwenkte ein winziges Glöckchen, wobei es schien, als zerdrücke er es zwischen den Fingern, und lehnte sich dann seufzend in seinem Sessel zurück.
Ein alter Mann – wohl der Vorsitzende – erhob sich, zog ein zerfleddertes abgegriffenes Blatt aus der Innentasche seines Jacketts, entfaltete es, wobei es beinahe auseinanderfiel, und las mit zittriger Stimme: »Und es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais …«
»Jesaja, Kapitel elf, Vers eins bis neun«, flüsterte der Konsul. »Die Sitzungen beginnen immer mit einem Bibelzitat – meistens übrigens mit diesem.«
Schon wieder Jesaja. Ich dachte an die abendliche Lektüre und den Dampfer.
»… und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen, auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten, nach dem seine Augen sehen, noch Urteil sprechen, nach dem seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande und wird mit dem Stabe seines Mundes die Erde schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und der Glaube der Gurt seiner Hüften. Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen …«
»Jä, jä«, murmelten die Abgeordneten und es klang wie aus einer Debatte des englischen Unterhauses.
»… und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, dass ihre Jungen beieinanderliegen; und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen.«
»Jä, jä, jä.«
»Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken. Man wird niemand Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge …«
»… ganzen heiligen Berge«, echote der Präsident mit geschlossenen Augen in seinem Sessel, die Arme und Hände entspannt auf den Lehnen ruhend wie bei einem Experiment. »Der Berg ist hier. Es ist unsere Insel.«
»Jä, jä.«
»… denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.« Der Alte setzte sich wieder.
Ich sah fragend zum Konsul.
»Das Motto«, sagte dieser. »Bald, wenn man zur Sache kommt, wird Ihnen alles klar werden. Doch zunächst geht es immer um Alltägliches.«
Er hatte recht. Unter anderem kamen die defekten Ampeln zur Sprache: Man beschloss, mit dem Dampfer Ersatz für die Spezialbirnen kommen zu lassen, damit das wieder seine Ordnung hätte. Des Weiteren standen einige Straßenreparaturen an, Gewinne aus dem – wie sich der Konsul ausgedrückt hatte – Vogelkackeabbau mussten investiert werden und der Dampfer brauchte einen neuen Anstrich. Nun, Letzteres konnte ich bestätigen. Diverse weitere Anliegen wurden abgewickelt, allesamt Dinge lächerlicher Unwichtigkeit für eine Staatsregierung, so zum Beispiel ein Antrag auf neue Dachpappe für das Außenministerium – gleich um die Ecke –, einen Bootssteg an des Präsidenten Lieblingsstrand und einen Hot-Dog-Verkaufsstand an der Mole.
»Nur noch ein klein wenig Geduld«, flüsterte der Konsul, »das Vorgeplänkel ist gleich zu Ende. Wirklich interessiert die Männer nur eines, und das kommt gleich.«
So war es.
»Also gut. Das hätten wir.« Der Präsident schüttelte das Glöckchen. »Nun zu unserer wahren Aufgabe, zu unserem großen Plan. Diesbezüglich ad eins: Einbürgerungen.«
Ein Herr erhob sich und knipste ein Blatt aus seinem Ordner.
»Des Präsidenten Sachverständiger für den Umbau der Fauna«, raunte mir der Konsul zu.
»Wie bitte?« Ich verstand nicht.
»Der Dschelada wäre eine Option«, begann der Sachverständige. »Eine Affenart aus Äthiopien. Sie lebt in den Simien-Bergen, frisst nur Gras – die einzigen Affen, die sich so ernähren! –, verbringen das ganze Leben am Boden und …«
»Mit dem nächsten Dampfer will ich einen Käfig voll von ihnen haben«, sagte der Präsident und klingelte mit dem Glöckchen.
»Jä, jä.«
Ein Protokollant an einem Nebentisch schrieb mit.
Der Präsident blickte in die Runde. »Was noch? Wie gehen wir weiter vor?«, fragte er.
»Meine Mitarbeiter haben eine Liste von Herbivoren zusammengestellt«, sagte der Sachverständige und wedelte mit seinem Blatt.
»Herbivoren«, flüsterte der Konsul mir zu, »oder auch Phytophagen, sind Pflanzenfresser – im Gegensatz zu Karnivoren.«
»… und ich darf mit den Säugetieren beginnen: Antilope, Biber … wie bitte?«
»In alphabetischer Reihenfolge«, flüsterte sein Nachbar ihm zu.
»… in alphabetischer Reihenfolge, jawohl: Bison, Büffel, Carabao – ein Wasserbüffel, hauptsächlich auf den Philippinen und Guam heimisch …«
»Auf Inseln, das ist gut«, unterbrach ihn der Präsident.
»… Chinchilla – ein kleines Nagetier aus Südamerika –, dann … nun, über den Dschelada haben wir schon gesprochen … Elefant, Fruchtfledermaus, Giraffe, Gorilla, Hirsch, Kamel, Känguru, Kaninchen, Koala, Lama, Meerschweinchen, Nashorn, Nilpferd, Okapi, Panda, Pferd, Rentier, Rind, Saola – das vietnamesische Waldrind, eigentlich eine Antilopenart –, Schaf, Tamaraw – eine kleine Büffelart von den Philippinen –, Tapir, Wisent, Wombat – ein in Australien lebendes Beuteltier –, Yak, Zebra und Ziege.«
»Da müsste doch einiges für uns dabei sein«, sagte der Präsident. »Der kleine Büffel zum Beispiel.«
»Jä, jä, jä.«
»Auch andere Klassen der Fauna beinhalten natürlich reichlich Herbivoren«, fuhr der Sachverständige fort. »Zum Beispiel: Biene, Blattlaus, Fliege, Heuschrecke, Iguana – der grüne Leguan –, Käfer, Schildkröte, Schmetterling, Schnecke, Streifenwanze, Würmer und andere. Ja, selbst unter den Vögeln finden sich einige wenige Arten, die sich ausschließlich von Pflanzen ernähren: die Gans, der Hyazinthmacao – eine Papageienart aus Südamerika –, der Kakapo – aus Neuseeland stammend, übrigens der einzige flugunfähige Papagei –, sowie der Scharlachmacao, auch Ara genannt – ein großer, bunter Papagei, ebenfalls aus Südamerika. Ein sehr interessanter Fall im Vogelreich, den ich besonders zur Einbürgerung empfehlen möchte, ist übrigens der Hoatzin. Mit ihm hat der Herr tatsächlich etwas Ungewöhnliches geschaffen. Der Hoatzin – auch Schopfhuhn oder Stinkvogel genannt – lebt in Südamerika. Er ist ein Wiederkäuer. Die Verdauung findet nicht im Magen statt, sondern im Kropf und in der unteren Speiseröhre. Dieser Bereich ist so voluminös, dass er den Magen um ein Fünfzigfaches an Größe übertrifft. Der Name Stinkvogel bezieht sich auf den Geruch, der dem Vogel nachgesagt wird. In Guyana ist der Hoatzin deshalb als Stinkfasan bekannt. Der Geruch soll an frischen Kuhdung erinnern und entsteht durch die Verdauungsprozesse.«
»Nun ja, nun ja. Ich weiß nicht recht«, murmelte der Präsident.
»Wir haben keine Vögel mehr«, gab der Sachverständige zu bedenken.
»Gut«, sagte der Präsident und seufzte. »Ich werde darüber nachdenken. Nun zu Punkt zwei: Auslöschungen. Was steht an?«
»Katzen«, antwortete ein Abgeordneter. »Die Vögel haben wir ja beseitigt. Und die Hunde.«
In der Tat: Ich konnte mich nicht an Hundegebell erinnern.
»Katzen sind ab sofort frei«, sagte der Präsident und bimmelte.
»Was werden sie tun?«, fragte ich den Konsul.
»Sie fangen und aufessen«, flüsterte er mir zu. »Nach und nach. Inzwischen verstehen Sie doch, was hier gespielt wird, nicht wahr? Man rottet die Fleischfresser aus.«
Ich nickte. Mir war nicht wohl bei alledem, ja, mich schauderte. »Aber wieso?«, fragte ich und kam mir sogleich dümmlich vor.
»Das Gute im Menschen. Oder nennen Sie es Wahnsinn«, erwiderte der Konsul achselzuckend.
Mich erfasste ein Schwindel.
»… und wenn wir die Tierwelt schließlich in unserem Sinne gesäubert haben«, sagte der Präsident, »dann werden wir uns auch noch um diejenigen Bürger kümmern müssen, die dem Fleischgenuss nicht freiwillig entsagen können.«
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte ich dem Konsul zu. »Ganz und gar nicht.«
»Mir etwa?« Er rollte die Augen.
»Gibt es noch weitere Vorschläge? Anregungen? Fragen?«, sagte der Präsident. »Wenn nicht, dann …«
»Was ist mit den Moskitos?«, fragte ein Abgeordneter und kratzte sich.
Der Präsident schüttelte sein Haupt. »Sie saugen Blut, aber sie töten nicht.«
»Blut ist ihre Milch«, sagte ein anderer. »Vergleichbar dem Lamm. Der Herr hat es so eingerichtet.«
»Jä, jä.«
»So ist es.« Der Präsident hob den Zeigefinger seiner dicken Hand. »Wir dürfen die große Aufgabe nicht dazu missbrauchen, unser eigenes Leben zu erleichtern.«
Er langte nach dem Glöckchen und beendete die Sitzung.
Schweigend saßen wir wieder in unserem Lieblingsbistro – eine Wahl, die uns nicht schwergefallen war – und starrten auf das ölige Spiel der Wellen vor dem Pier. Die Sonne stand tief und ließ ein orangefarbenes Zickzackband auf den Ozean flattern, draußen, jenseits des Flachwassers und vom Horizont her.
»Tropische Sonnenuntergänge. Eine Farbenpracht sondergleichen«, sagte der Konsul, hob sein Whiskyglas und verglich dessen Farbenspiel mit jenem am Himmel.
In einiger Entfernung ruderte ein Katamaran vorbei, das dreieckige Segel gesetzt und schon schwarz vor Dämmerung.
Was haben die dort draußen vor?, fragte ich mich. Doch nicht fischen …
»Noch essen sie Fleisch und Fisch«, sagte der Konsul, als habe er meine Gedanken gelesen, »aber nur als Übergangslösung sozusagen – das Notwendige mit dem Angenehmen verbindend –, denn natürlich schmeckt auch ihnen Tierisches nach wie vor. Fischverzehr soll allerdings in nächster Zeit per Dekret verboten werden, denn den Ozean leer essen, das geht nun wirklich nicht, und Fleisch … ach, das klärt sich Schritt für Schritt und erfordert Hingabe. Nach den Vögeln und Ratten haben sie die Hunde ausgerottet. Ja, verspeist. Schauen Sie nicht so: In Kambodscha oder Vietnam ist das eine ganz normale Diät.«
»Darum geht es doch nicht«, entgegnete ich ärgerlich.
Er pflichtete mir sogleich bei: »Nein, selbstverständlich nicht. Aufessen oder anderswie beseitigen – das ist egal. Vielmehr ist die – wenn ich so sagen darf – Philosophie, die hinter diesem monströsen Plan steht, das Bemerkenswerte. Nämlich folgende: Gott der Herr hat uns Menschen die Vernunft gegeben, dies aber durchaus zu einem bestimmten Zweck …«
»Sagen sie.«
»Sagen sie. Nur uns. Und zwar dafür: Wir müssen die Sache richten. Was in der Bibel steht, ist ein Auftrag. Nicht leicht zu verstehen, da gleichnishaft formuliert, aber früher wusste man es eben nicht besser. Niemals werden Löwen von sich aus Gras fressen, nicht wahr? Also müssen wir für die richtige Ordnung sorgen. Für den Präsidenten und seine Männer liegt das auf der Hand. Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht. Was soll ich dazu sagen? Warum hat Gott es nicht gleich selbst gerichtet?«
Stimmt – so seh ich’s auch, sagten die Bewegungen des Konsuls. »Was wissen wir schon? Und wie dem auch sei: Bedenken Sie die Konsequenz«, fuhr er fort, »die allerdings nur von theoretischer Art ist, denn wie viel Bedeutung hat schon eine Insel von wenigen Quadratkilometern? Es sei denn, die Bewegung griffe auf die übrige Welt über. Und dies kommt mir nun doch unwahrscheinlich vor.«
»Wir wollen es nicht hoffen.«
»Alle Nahrungsketten«, nahm der Konsul seinen Gedankengang wieder auf, »fahren auf diesem Eiland gegen dieselbe Wand – gegen die undurchdringliche, grüne, geheimnisvolle Wand des pflanzlichen Reiches. Das heißt, anders gesagt, es wird hier gar keine Nahrungsketten mehr geben – ist Ihnen das überhaupt zur Gänze klar? Die gesamte Fauna frisst, die gesamte Flora wird gefressen. Dies ist die von der Natur letztendlich angestrebte Ordnung, sagen sie. Folglich müssen alle fleischfressenden Spezies ausgerottet werden. Dass darüber nicht schon früher nachgedacht wurde …«
»Fleischfressende Pflanzen«, gab ich zu bedenken. »Die könnten ein Problem aufwerfen.«
»Machen Sie keine Witze«, schimpfte der Konsul, musste aber dann doch grinsen. »Die gibts hier glücklicherweise nicht.«
»Also: Die Fauna frisst, die Flora wird gefressen«, sagte ich. »Ob die Natur das aushält?«
»Vielleicht ist der nächste Jesus dann ein Baum. Hahaha!«, lachte der Konsul und fuhr fort: »Nun also frisst man die Katzen auf. Na, dann guten Appetit. Allerdings könnte man sich hierbei Folgendes fragen: Ist die Tatsache, jene als Braten zu sich zu nehmen und auf diese Weise verschwinden zu machen, nicht ein Widerspruch zum friedlichen Gesamtplan dieser Herren – und angeblich sogar des Herrn selbst? Nein, das glaube ich nicht. Denn dieser Speiseplan ist ja nur vorübergehend – eigentlich beinahe eine Art Opfer; und man soll ja auch nichts verkommen lassen, nicht wahr? Das hat mir schon meine Mutter gepredigt.«
»Sie sind zynisch«, sagte ich.
»Das bin ich nicht. Ich berichte nur, was ist. Oder was man isst. Hahaha! Und sehen Sie«, fuhr er fort, »in einer Beziehung hat der Präsident ja durchaus den Finger auf die Wunde gelegt.«
Ich verstand ungefähr, was er meinte.
»Es ist doch in der Tat ein Problem – und nicht nur ein philosophisches«, erklärte er, »dass das Böse offensichtlich nicht nur im Menschen angelegt ist, wie es uns die Priester weismachen wollen, sondern vielmehr in der Schöpfung selbst – also außerhalb unserer eigenen Natur – und nicht nur über die sogenannte Erbsünde transportiert wird. Da stellt sich doch schon die Frage: Ist dieses – das Böse – also vom Schöpfer gewollt?«
»Sieht ganz so aus«, sagte ich.
Der Konsul goss sich noch einen Drink ein, hob das Glas gegen die untergehende Sonne, betrachtete wieder die golden funkelnde Flüssigkeit und grinste: »Rein vegetarisch – köstlich! Zum Wohl.« Er leerte das Glas in einem Zug.
»Das Paradies macht durstig«, sagte ich.
»Oh ja. Und in diesem irren Spiel«, lachte er, und sein Gesichtsausdruck wurde wild, »sind nun endlich einmal wir die Guten …«
»… und nicht die Natur«, führte ich seinen Gedanken fort.
»Ganz genau. Und mehr als das: Wir werden sogar gebraucht.«
»Denn wir, die Menschen, sind dazu ausersehen, die Feinjustierung der Schöpfung vorzunehmen.«
»So ist es. Das macht doch Laune, was? Prost!«
Die schmale Rabatte zwischen Pier und Bistroterrasse bot einen traurigen Anblick. Blumen und Gewächse, vormals hübsch und ordentlich gepflanzt, waren verwelkt und verfault. Das Erdreich zwischen den Strünken und Überresten hatte man umgegraben, sodass die einzelnen Brocken mit ihrer speckigen Seite nach oben zeigten. Auch Reste von Wurzelwerk ragten in die Luft. Da sah ich, wie eine der Erdschollen zitterte, sich ruckartig hob und dann zur Seite kippte. Sie gab das Kopfende eines gewaltigen Wurmes frei, der in die Luft schwänzelte. Es schien, als schnuppere er oder blicke sich um. Zwischen zwei Brocken sah ich ein weiteres Exemplar sich ringeln und wieder verschwinden.
»Ich denke, das System gerät aus dem Gleichgewicht«, kommentierte der Konsul. »Gewisse Lebensformen vermehren sich nun, da sie keine natürlichen Feinde mehr haben, rapide und unkontrolliert, ja, beginnen möglicherweise bereits, sich zu verändern. Evolution nennt man das. Mal sehen, wohin das führt.«
»Mir graut«, murmelte ich.
»Das da sind nur Würmer«, sagte er. »Sehr große allerdings.«
Ich wandte mich ab, blickte hinaus aufs Meer und entdeckte weit draußen eine Familie Delfine. Wie fröhlich und ausgelassen erschienen mir ihre Sprünge! Wie friedlich – und doch ist ihr Beruf: Töten.
Kommunizierende Röhren
»Au! Du tust mir weh!«, schimpfte Jennifer.
»Halt still!« Die Mutter rupfte mit der Bürste durch das verfilzte Haar ihrer Tochter, das, nachdem sie den Zopf aufgelöst hatte, auf einer Seite herabhing wie ein Wasserfall und Jennifers Gesicht bis auf die Nase verbarg. »Kannst du denn nicht einmal so lieb sein wie deine Schwester?«
Brigitta, die Schwester, sah den beiden zu und grinste.
Endlich war Jennifers blonder Schopf geglättet und in einzelne Strähnen zerteilt, auf denen sich nun die Lockenwellen abbildeten, jedes einzelne Haar im Dienst der gesamten Struktur.
Als Nächstes trennte die Mutter die Haarfläche in drei gleiche Teile, als müsse drei Läusevölkern je ein gerechter Anteil zugewiesen werden, und begann, den langen und dicken Zopf auf Jennifers linker Seite wieder zu flechten. »Niemals«, rief sie dabei, »niemals dürft ihr beide zugleich euren Zopf auflösen. Habt ihr gehört?«
»Jaja«, maulten die Zwillinge.
Das sagte sie immer.
»Jennifer links«, leierte Brigitta, »und …«
»… Brigitta rechts«, ergänzte Jennifer.
»Und wenn ich dir den Zopf abschneide, Jenni, schnipp schnapp?«, rief Brigitta plötzlich, während sie der Mutter ins Flechtwerk an der Zwillingsschwester Kopf fuhr. »Vielleicht sogar im Schlaf?«
»Dann tu ich’s auch bei dir – im selben Schlaf«, antwortete Jennifer träge. Dieser Spaß war schon x-mal gemacht und nicht mehr lustig.
»Untersteht euch!«, sagte die Mutter. »Wie sollte ich euch dann auseinanderhalten?«
»Du bist i-hich! Ich bin du-hu!«, trällerte Brigitta, während sie um ein vermeersches Motiv herumhopste: die Zopfflechterin. »Auseinanderhalten? Ach, ganz einfach«, sagte sie dann und deutete auf Jennifer, deren Zopf nun wieder gebunden war – prall, wie mit etwas gefüllt und genau so lang wie jener der Schwester …
»Jetzt du, Brigitta, komm kämmen!«, rief die Mutter dazwischen.
»Ganz einfach: Sie ist doof und ich nicht.«
»Du bist gemein«, heulte Jennifer und holte mit beiden Armen zu einem Schubs aus, doch ihre Schwester entzog sich.
»Kinder!«, schimpfte die Mutter, »vertragt euch! Ich hab euch doch beide lieb«, während sie einen Arm um Brigitta legte.
»Beide lieb«, wiederholte diese triumphierend, als habe der Satz in Wirklichkeit eine ganz andere Bedeutung.
»Und jetzt ist Schluss«, rief die Mutter, drückte Brigitta auf den Stuhl und machte sich nun an ihrem, dem rechts angesetzten Zopf zu schaffen.
Jennifer saß auf dem Boden, blickte nicht zu den beiden auf, und ihr kleiner Zeigefinger wühlte in den Maschen des Teppichs.
»Wie kann man so verschieden sein und so gleich aussehen«, stöhnte die Mutter. »Manchmal denke ich ja«, lachte sie dann, »ihr habt sogar genau gleich viele Haare.«
»Hunderttausende sind’s bei mir. Legion«, sagte Brigitta, sich wie immer gewählt ausdrückend.
»Wo hast du denn das wieder gelesen, Kind?«, fragte die Mutter.
»Ach, irgendwo«, lachte Brigitta und hielt still.
»Viele«, stimmte Jennifer zu.
»Aber ich hab mehr«, sagte Brigitta.
»Nein, ich!«
»Na ja, dieses eine vielleicht«, rief Brigitta, griff ihrer Zwillingsschwester blitzschnell in den Schopf und riss ihr ein Haar aus.
»Au!«
»Und jetzt ist es weg, das überzählige, und wir sind wirklich gleich – von außen zumindest. Genau gleich.«
Jennifer fiel nichts ein, das sie hätte entgegnen können, als hemme sie wieder einmal eine fremde Kraft beim Denken, und fing an zu weinen. Doch in ihrem Inneren, mit noch spärlichem Wort- und Gedankenschatz, begann sich etwas zu formen. Eine Wut? Ein Plan? Ein Entschluss?
Natürlich würde die Mutter die beiden auch ohne Zopf auseinanderhalten können, jedenfalls meistens, und zwar anhand ihrer in der Tat sehr unterschiedlichen geistigen und sprachlichen Fähigkeiten. Dies aber widerstrebte ihr eigentlich, wollte sie doch, wie alle Mütter, ihre Kinder genau gleich begabt wissen und genau gleich stark lieben. Beides aber traf nicht zu. Brigitta war hochintelligent, ja brillant, überschäumend vor Ideen, viel zu weit für ihr Alter, gesprächig und witzig. Jennifer dagegen war nichts von alledem. Erstere schrieb schon fließend, dachte sich Briefe aus, Einkaufslisten oder kleine Geschichten von Bären und Robotern, füllte Heft auf Heft, ohne zu klecksen, während Jennifer immer noch einzelne Buchstaben nachfuhr, mit Mühe, deren Rundungen in das gestrichelte Liniennetz ihres Arbeitsheftes einzupassen suchte, dabei die Zunge wie einen Joystick mitführend. Dies alles allerdings, wie man so sagt, mit links, denn sie war Linkshänderin. Waren die Zwillinge also aktiv, und zwar eine geistige Tätigkeit betreffend, und tollten nicht etwa auf dem Spielplatz herum, dann war es ein Leichtes, sie auseinanderzuhalten.
Doch leider hatte diese Sache einen Haken, denn manchmal schwiegen die Mädchen stunden- oder gar tagelang, versanken in einer für andere unzugänglichen Welt und kippten aus dem alltäglichen Kinderuniversum heraus, kopfüber wie Taucher beim Sprung ins Meer. Dann hockten sie in einer Ecke des Zimmers oder unter dem Tisch und sprachen kein Wort, bis der Vormittag in den Nachmittag überging, und noch länger, strichen einander über die goldenen Zöpfe, bis diese vor Fett glänzten, und senkten die Häupter wie zwei Loreleys oder Rapunzeln. Gleich zwei reizvolle Aufstiege in zwei verschiedene Turmgemächer lockten da. Was würde nur geschehen, wenn die Sache mit den Jungs losginge!
Aber so weit war es noch nicht.
Die zwei Mädchen saßen am Boden und spielten mit einem Berg von Bausteinen, die man auf verschiedene Weise ineinanderstecken konnte. Brigitta ließ Türme und Mauern einer Burg emporwachsen, während Jennifer einen Satz Plastikritter und -fräulein aus ihrer Verschweißung befreite und dann auf dem Teppich vor der Burg umherführte.
»Ich will auch einen Turm dranbauen«, sagte sie mit aller Kraft, denn wieder spürte sie etwas Unerklärliches, das sie hemmte und ihre Worte dehnte, als spräche sie in ein Gelee, das die Luft ersetzt hatte, draußen im Raum wie auch in Mund und Lunge.
Brigitta schüttelte den Kopf. »Der fiele doch sowieso gleich wieder in sich zusammen«, plapperte sie, sah an Jennifer vorbei und klemmte weiter Stein an Stein: »Schau, wie schön ich das mache! So was kannst du nicht.«
»Kann ich doch.«
»Kannst du nicht, Jenni. Und weißt du auch, warum?«
»Warum?«
»Es verhält sich so«, erklärte Brigitta: »Als wir noch zusammengewachsen waren, an dieser einen kleinen Stelle – du weißt schon, Mama hat es uns erzählt, igitt! –, da wurde alles, was in uns drin ist, immer wieder hin- und hergeschüttelt, so wie die Sachen in Mamas Handtasche, verstehst du? Einmal war die ganze Intelligenz bei mir drüben und dann wieder bei dir. Danach ist vielleicht alle Dummheit für eine Weile auf meine Seite gerutscht – aber dann wieder zurück. Zum Glück. Ach, das reimt sich ja … und genau in dem Moment, als der Doktor uns dann auseinandergeschnitten hat, tja, da hast du einfach Pech gehabt, hast nur die schlechten Sachen abgekriegt, die Tempotaschentücher und Handschuhe und alten Fahrkarten, vielleicht noch den kaputten Schirm – und ich den roten Lippenstift und die Geldbörse! Und die gebe ich nicht wieder her. Haha!«
Jennifer brauchte eine Weile, um das Bild zu verstehen. Sie fasste sich an die Stelle am Hinterkopf, dorthin, wo man die Säuglinge einst getrennt hatte – bei ihr links hinter dem Zopf, bei Brigitta rechts. Sie spürte nichts. Dort soll die Handtasche entzweigeschnitten worden sein? »Vielleicht sind wir ja doch noch verbunden«, sagte Jennifer langsam und mehr zu sich als zu ihrer Schwester.
»So’n Quatsch«, lachte die kluge Brigitta, während in der ach so unverrückbaren Wirklichkeit etwas vorging.
Aber was?
Ein wichtiger Klebstoff – so schien es Jennifer –, der die Dinge an ihrem angestammten Platz halten sollte, wurde mürbe und begann zu bröckeln wie schlechter Mörtel in einer Wand. In der Wand eines Gefängnisses, grübelte sie. – Meines Gefängnisses. Sie erhob sich, trat dabei die Burg um, ohne es zu bemerken, und ging weg.
Brigitta quengelte, doch Jenni reagierte nicht, lief durch die Küche und die Stufen in den rückwärtigen Garten hinab, ohne zu wissen, wo sie war oder was sie tat, setzte sich auf die Schaukel, die am großen Apfelbaum aufgehängt war, und verharrte wie festgefroren. Das Schaukelbrett bewegte sich nicht, und die Seile blieben starr wie aus einem Guss mit dem Ast.
Brigitta im Kinderzimmer baute die Burg wieder auf und schwatzte belangloses Zeug.
Jennifer hörte nicht hin.
Stille.
Sie blickte in sich hinein.
Ein Raum. Kein wirklicher, sondern etwas Imaginäres. (Natürlich verwendete sie nicht dieses komplizierte Wort.) Unbeholfen näherte sie sich dem Dunkel, stieg irgendwohin hinab, dorthin, wo alles zusammenhing.
Eine Räumlichkeit unter ihr … und ihr – unter beiden. Ja, eine Art Keller, eine Vorratskammer, in der die Kräfte verstaut waren, finster wie eine … Handtasche von innen, doch viel, viel größer – unendlich groß … Nein, das Wort groß war falsch … ein geheimer Raum – aber mit Luken, mit zwei Luken, und wenn man durch die andere nach oben krabbelte, dann war man …
»Kommst du jetzt endlich weiterspielen?«, rief Brigitta.
Doch Jenni antwortete nicht.
Brigitta mochte klug sein und ihre Zwillingsschwester dumm, ja, die Lehrerin hatte in einer Unterredung mit der Mutter sogar Jennifers Eignung für eine normale Schule, wie sie sich ausdrückte, infrage gestellt, doch ganz so einfach lagen die Dinge nicht. Da gab es noch einen weiteren Faktor, der schwer zu beschreiben war. Das beste Wort dafür war vielleicht: Gewicht. Oder Beharrungsvermögen. Oder Trägheit – letzteres im physikalischen Sinne. Denn was waren schon Brigittas Geschichtchen, die so hübsch demonstrierten, wie gut sie schreiben konnte? Die Einkaufslisten und Wunschzettel (eine Puppe mit richtigem Busen und beweglichen Beinen, ein weißes Hündchen, Schokolade, eine Riesenpackung Kekse, ein Pusl – ja, so buchstabiert – aus hunderttausend Teilchen mit einem Reh, Zwergen und Fliegenpilzen drauf)? Oder die Briefe? (Liebe Mama, ich sitze gerade auf meinem Stuhl und schreibe dir diesen schönen Brief. Er ist ganz lang, denn das kann ich auch schon, aber meine Schwester kann das nicht. Viele Grüße, aber nicht an