Krieg der Klone - John Scalzi - E-Book
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Krieg der Klone E-Book

John Scalzi

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Beschreibung

Die Erfolgstrilogie in einem Band Die ersten drei Romane von John Scalzis Bestsellerserie Krieg der Klone in einem Band: »Krieg der Klone«, »Geisterbrigaden« und »Die letzte Kolonie«. An seinem 75. Geburtstag tut John Perry zwei Dinge: Erst besucht er das Grab seiner Frau. Dann tritt er in die Armee ein. In ferner Zukunft wird der interstellare Krieg gegen Alien-Invasionen mit scheinbar bizarren Mitteln geführt: Für die Verteidigung der Kolonien weit draußen im All werden nur alte Menschen rekrutiert. So wie eben John Perry, der noch einmal einen neuen Anfang machen will. Doch bald erfährt er das wohlgehütete Geheimnis: Das Bewusstsein der Rekruten wird in jüngere Klone ihrer selbst übertragen, die als unerschöpfliches Kanonenfutter in den Kampf geschickt werden ... Für alle Fans von Robert A. Heinlein, Adrian Tchaikovsky; Becky Chambers und James SA Corey . »John Scalzi ist der unterhaltsamste und zugänglichste SF-Autor unserer Zeit.« Joe Hill

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Seitenzahl: 1459

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John Scalzi

Krieg der Klone

Die Trilogie

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Kempen

FISCHER E-Books

Inhalt

Krieg der Klone[Widmung]1. Teil1234562. Teil7891011123. Teil131415161718DanksagungenGeisterbrigaden[Widmung]1. Teil11 (zweiter Teil)23451. Teil (Fortsetzung)672. Teil892. Teil (Fortsetzung)101112131415DanksagungenDie letzte Kolonie[Widmung]12345678910111213141516Danksagungen

Krieg der Klone

Für Regan Avery, den ersten außerordentlichen Leser

Und immer für Kristine und Athena

1. Teil

1

An meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag tat ich zwei Dinge. Ich besuchte das Grab meiner Frau. Dann ging ich zur Armee.

Der Grabbesuch war das weniger dramatische dieser beiden Ereignisse. Kathy liegt auf dem Friedhof Harris Creek, eine knappe Meile von meinem Haus entfernt, in dem wir unsere Kinder großgezogen haben. Sie auf dem Friedhof zu begraben war schwieriger, als es vielleicht hätte sein sollen. Keiner von uns beiden hatte damit gerechnet, eine Bestattung zu benötigen, also hatten wir keine Vorkehrungen getroffen. Es kann ziemlich beschämend sein, mit einem Friedhofsverwalter darüber diskutieren zu müssen, dass die eigene Frau keine Reservierung für ihr Begräbnis gemacht hat. Schließlich hat mein Sohn Charlie, der zufällig Bürgermeister ist, ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und die Grabstelle besorgt. Es hat seine Vorteile, der Vater eines Bürgermeisters zu sein.

Das Grab … einfach und schlicht, mit einer kleinen Tafel statt einem großen Grabstein. Der krasse Gegensatz zu Sandra Cain, die genau neben Kathy liegt. Ihr eher übergroßer Grabstein aus poliertem schwarzem Granit ist mit ihrem Schulabschlussfoto und einem sentimentalen Zitat von Keats verziert, in dem es um Tod und Jugend geht. Typisch Sandy. Kathy hätte sich darüber amüsiert, wenn sie wüsste, dass sie mit ihrem großen dramatischen Grabstein direkt neben ihr parkt. Ihr ganzes Leben lang hat Sandy in einem eifrigen Wettstreit mit Kathy gelegen. Wenn Kathy mit einer Torte zum Kuchenverkauf kam, schleppte Sandy mindestens drei an und kochte in stiller Wut, wenn Kathys Kuchen zuerst verkauft war. Kathy hätte versucht, das Problem zu lösen, indem sie vorsorglich einen von Sandys Kuchen kaufte. Aber es war immer schwer zu sagen, ob die Sache für Sandy dadurch besser wurde.

Ich vermute, Sandys Grabstein ist so etwas wie das letzte Wort in der Angelegenheit, ein Abschluss, der sich nicht mehr übertreffen lässt, weil Kathy ja schon tot war. Andererseits erinnere ich mich nicht, dass irgendwer jemals Sandys Grab besucht hätte. Drei Monate nach ihrem Dahinscheiden verkaufte Steve Cain das Haus und zog nach Arizona, mit einem Lächeln, das so breit war wie die Interstate 10. Einige Zeit später schickte er mir eine Postkarte. Er war dort mit einer Frau zusammengezogen, die vor fünfzig Jahren ein Pornostar gewesen war. Nachdem ich diese Information erhalten hatte, fühlte ich mich eine Woche lang unsauber. Sandys Kinder und Enkel wohnen eine Stadt weiter, aber sie könnten genauso gut nach Arizona gezogen sein, wenn man bedenkt, wie oft sie das Grab besuchen. Seit der Beerdigung wurde Sandys Keats-Zitat vermutlich von niemand mehr gelesen, nur noch von mir, wenn ich auf dem Weg zu meiner Frau daran vorbeikam.

Auf Kathys Schild stehen ihr Name (Katherine Rebecca Perry), ihre Lebensdaten und die Worte GELIEBTE FRAU UND MUTTER. Immer wieder lese ich diese Worte, jedes Mal, wenn ich sie besuche. Ich kann nicht anders, denn diese vier Wörter fassen treffend ein ganzes Leben zusammen. Sie verraten nichts weiter über Kathy, wie sie ihre Tage zubrachte oder welcher Arbeit sie nachging, welche Interessen sie hatte oder wohin sie gerne verreiste. Man erfährt nicht, was ihre Lieblingsfarbe war oder auf welche Weise sie ihr Haar am liebsten trug, welche Partei sie wählte oder was für eine Art Humor sie hatte. Die Worte sagen nichts über sie aus, außer dass sie geliebt wurde. Und so war es. Sie selbst hätte es als völlig ausreichend empfunden.

Diese Besuche sind mir ein Gräuel. Ich verfluche die Tatsache, dass meine Frau nach zweiundvierzig Jahren Ehe gestorben ist, dass sie an jenem Samstagmorgen eben noch in der Küche stand und eine Schüssel mit Waffelteig anrührte, während sie mir von der Putzaktion des Bibliotheksausschusses am Vorabend erzählte, und im nächsten Moment lag sie am Boden, von einem Schlaganfall geschüttelt. Es ist mir ein Gräuel, dass ihre letzten Worte »Wo zum Teufel habe ich die Vanille hingetan?« lauteten.

Ich verfluche die Tatsache, dass aus mir ein alter Mann geworden ist, der auf den Friedhof geht, um bei seiner verstorbenen Frau zu sein. Als ich noch (beträchtlich) jünger war, hatte ich Kathy immer gefragt, was der Sinn des Ganzen sein soll. Ein Haufen aus Knochen und verwesendem Fleisch, der einmal ein Mensch war, ist kein Mensch mehr, sondern nur noch ein Haufen aus Knochen und verwesendem Fleisch. Der Mensch ist nicht mehr da, zum Himmel oder zur Hölle gefahren oder sonst wohin oder gar nicht mehr existent. Genauso gut konnte man ein Stück Rindfleisch besuchen. Wenn man älter geworden ist, sieht man es immer noch genauso. Aber es ist einem egal. Es ist alles, was man noch hat.

Sosehr ich den Friedhof hasse, bin ich trotzdem froh, dass es ihn gibt. Meine Frau fehlt mir. Auf dem Friedhof fällt es mir leichter, den Verlust zu empfinden, an einem Ort, wo sie immer nur tot war, leichter als an all den anderen Stellen, wo sie gelebt hat.

Ich bin nicht lange geblieben. Ich bleibe nie lange. Nur bis ich wieder die Wunde spüre, die nach fast acht Jahren immer noch frisch ist. Außerdem erinnert sie mich daran, dass ich noch andere Dinge zu tun habe, als ein alter Trottel zu sein, der auf einem Friedhof herumsteht. Sobald ich die Wunde wieder spürte, machte ich kehrt und ging, ohne mich noch einmal umzuschauen. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich das Grab meiner Frau besuchte, aber ich wollte nicht zu viel Mühe darauf verwenden, mich daran zu erinnern. Wie gesagt war der Friedhof der Ort, wo sie immer nur tot war. Es bringt nicht allzu viel, sich daran zu erinnern.

Aber im Grunde war es auch nicht besonders dramatisch, zur Armee zu gehen.

Die Stadt, in der ich lebte, war viel zu klein für eine eigene Rekrutierungsstelle. Ich musste nach Greenville fahren, der Bezirkshauptstadt, um mich einzuschreiben. Das Büro war klein und lag an einer unscheinbaren Einkaufsstraße. Links davon gab es ein staatliches Spirituosengeschäft, rechts davon einen Tattoo-Salon. Wenn man diese Läden in der falschen Reihenfolge betrat, konnte man am nächsten Morgen in großen Schwierigkeiten stecken.

Die Einrichtung des Büros war sogar noch unscheinbarer, sofern das überhaupt möglich ist. Sie bestand aus einem Schreibtisch mit einem Computer und einem Drucker, einem Menschen hinter dem Schreibtisch, zwei Stühlen davor und sechs weiteren Sitzgelegenheiten an der Wand. Auf einem kleinen Tisch vor diesen Stühlen lagen Rekrutierungsbroschüren und ältere Ausgaben von Time und Newsweek. Natürlich waren Kathy und ich zehn Jahre vorher schon einmal hier gewesen, doch ich vermutete, dass sich seitdem nichts an der Einrichtung geändert hatte, die Zeitschriften eingeschlossen. Der Mensch schien neu zu sein. Zumindest erinnerte ich mich nicht, dass der Angestellte damals so volles Haar gehabt hatte. Oder Brüste.

Die Angestellte war damit beschäftigt, etwas in den Computer zu tippen, und blickte nicht auf, als ich eintrat. »Ich kümmere mich gleich um Sie«, murmelte sie. Es klang eher wie eine Pawlow’sche Reaktion auf das Öffnen der Tür.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich. »Ich sehe, wie voll es hier ist.« Dieser Versuch eines sarkastischen Scherzes wurde vollkommen ignoriert, genauso wie zehn Jahre zuvor. Es freute mich, dass ich immer noch gut in Form war. Ich setzte mich vor den Schreibtisch und wartete, dass die Rekrutierungsmitarbeiterin ihre wichtige Arbeit abschloss.

»Kommen oder gehen Sie?« Auch jetzt blickte sie nicht zu mir auf.

»Wie bitte?«

»Ob Sie kommen oder gehen?«, wiederholte sie. »Kommen Sie, um Ihre Bereitschaft zur Rekrutierung zu unterschreiben, oder gehen Sie, um Ihre Dienstzeit abzuleisten?«

»Ach so. Ich gehe.«

Diese Antwort veranlasste sie schließlich, mich anzusehen, und zwar durch eine ziemlich starke Brille. »Sie sind John Perry«, sagte sie.

»Genau. Wie haben Sie das erraten?«

Sie schaute wieder auf den Computermonitor. »Die meisten Leute, die zur Armee wollen, kommen an ihrem Geburtstag, obwohl sie danach noch dreißig Tage Zeit haben, sich offiziell einschreiben zu lassen. Heute haben wir nur drei Geburtstage. Mary Valory hat bereits angerufen, um zu sagen, dass sie nicht gehen will. Und Sie sehen nicht aus, als wären Sie Cynthia Smith.«

»Das freut mich zu hören.«

»Und da Sie nicht gekommen sind, um sich erstmals registrieren zu lassen«, fuhr sie fort, ohne auf meinen zweiten Versuch eines Scherzes einzugehen, »spricht einiges dafür, dass Sie John Perry sind.«

»Ich könnte einfach nur ein einsamer alter Mann sein, dem nach menschlicher Gesellschaft zumute ist.«

»So etwas passiert hier nur sehr selten«, sagte sie. »Die meisten Leute werden abgeschreckt, wenn sie nebenan die Jugendlichen mit den dämonischen Tattoos sehen.« Endlich schob sie die Tastatur zur Seite und schenkte mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Also gut. Dann weisen Sie sich bitte aus.«

»Aber Sie wissen doch schon, wer ich bin«, gab ich zu bedenken.

»Trotzdem wollen wir sichergehen.« Ihr Gesicht zeigte nicht die leiseste Spur eines Lächelns, als sie das sagte. Offenbar ging es nicht spurlos an einem vorüber, wenn man jeden Tag mit geschwätzigen alten Männern zu tun hatte.

Ich gab ihr meinen Führerschein, meine Geburtsurkunde und meinen Personalausweis. Sie nahm alles an sich, holte einen Handscanner aus einer Schreibtischschublade, schloss ihn an den Computer an und schob ihn zu mir herüber. Ich legte meine Handfläche darauf und wartete, bis der Scanvorgang abgeschlossen war. Sie nahm das Gerät wieder an sich und zog meinen Ausweis durch einen Schlitz an der Seite, um die Daten meines Handabdrucks abzugleichen. »Sie sind John Perry«, sagte sie schließlich.

»Damit wären wir wieder da, wo wir angefangen haben.«

Wieder ging sie nicht auf meine Erwiderung ein. »Als Sie vor zehn Jahren Ihre Bereitschaft zur Rekrutierung abgegeben haben, erhielten Sie Informationen über die Koloniale Verteidigungsarmee und über Ihre Pflichten im Fall eines Eintritts in die KVA.« Ihr Tonfall ließ darauf schließen, dass sie diese Worte seit Jahren mindestens einmal täglich aufsagte. »In der Zwischenzeit wurde Ihnen weiteres Auffrischungsmaterial zugeschickt, um Sie an Ihre Pflichten zu erinnern. Benötigen Sie zum jetzigen Zeitpunkt weitere Informationen oder eine Auffrischung, oder erklären Sie, dass Sie sich Ihrer künftigen Pflichten in vollem Umfang bewusst sind? Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es nicht unter Strafe steht, wenn Sie um eine Auffrischung bitten oder sich entscheiden, der KVA zum jetzigen Zeitpunkt doch nicht beizutreten.«

Ich erinnerte mich an die Einführungsveranstaltung. Der erste Teil hatte aus einer Zusammenkunft älterer Mitbürger bestanden, die im Gemeindezentrum von Greenville auf Klappstühlen saßen, Kaffee tranken und Donuts aßen und dem KVA-Apparatschik zuhörten, der die Geschichte der menschlichen Kolonien herunterleierte. Dann teilte er Pamphlete über das Leben im Dienst der KVA aus, das genauso wie in jeder anderen militärischen Organisation abzulaufen schien. Während der Fragerunde stellten wir fest, dass er gar kein Angehöriger der KVA war, sondern nur eingestellt worden war, um Präsentationen in der Miami-Valley-Region durchzuführen.

Der zweite Teil der Einführungsveranstaltung war eine kurze medizinische Untersuchung. Ein Arzt kam herein, nahm mir Blut ab, tupfte über die Innenseite meiner Wange, um an ein paar Schleimhautzellen ranzukommen, und machte einen Gehirnscan. Offenbar hatte ich den Test bestanden. Seitdem erhielt ich jedes Jahr per Post ein neues Pamphlet – dasselbe, das schon bei der Einführungsveranstaltung ausgeteilt worden war. Ab dem zweiten Jahr warf ich sie in den Müll. Seitdem hatte ich das Pamphlet nicht mehr gelesen.

»Ich habe alles verstanden«, sagte ich.

Sie nickte, holte aus einer Schublade ein Blatt Papier und einen Stift und reichte mir beides. Auf dem Blatt standen mehrere Absätze mit genug Zwischenraum, um sie einzeln unterschreiben zu können. Ich erkannte es sofort wieder. Bereits vor zehn Jahren hatte ich ein recht ähnliches Dokument unterschrieben, die Erklärung, dass ich verstanden hatte, worauf ich mich zehn Jahre später einlassen würde.

»Ich werde Ihnen jetzt jeden Absatz vorlesen«, sagte sie. »Wenn Sie das Vorgelesene verstanden haben und einwilligen, unterschreiben Sie anschließend bitte mit Datum auf der Linie unmittelbar unter dem Absatz. Wenn Sie Fragen haben, stellen Sie sie bitte, nachdem ich den betreffenden Absatz vorgelesen habe. Wenn Sie etwas nicht verstanden haben oder nicht in das einwilligen, was Ihnen vorgelesen und erklärt wurde, unterschreiben Sie bitte nicht. Haben Sie das verstanden?«

»Das habe ich verstanden.«

»Sehr gut«, sagte sie. »Absatz eins: Ich, der Unterzeichnete, habe verstanden und bestätige, dass ich aus freiem Willen und ohne Zwang erkläre, in die Koloniale Verteidigungsarmee eintreten zu wollen für eine Dienstzeit von mindestens zwei Jahren. Zusätzlich verstehe ich, dass die Dienstzeit einseitig von der Kolonialen Verteidigungsarmee in Kriegs- und Krisenzeiten um bis zu acht weitere Jahre verlängert werden kann.«

Diese Verlängerungsklausel war mir nicht neu. Ich hatte die Pamphlete schließlich ein- oder zweimal gelesen. Dennoch fragte ich mich, wie viele Leute sie überlasen oder nicht glaubten, dass sie sich tatsächlich zu insgesamt zehn Jahren verpflichteten. Ich hatte den Eindruck, dass die KVA diese zehn Jahre nicht erwähnen würde, wenn sie nicht tatsächlich nötig wären. Aufgrund der Quarantänegesetze hörten wir nicht viel von den Kolonialkriegen. Aber was wir hörten, musste jedem klarmachen, dass da draußen im Universum keineswegs Frieden herrschte.

Ich unterschrieb.

»Absatz zwei: Ich habe verstanden, dass mein freiwilliger Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee damit verbunden ist, Waffen zu tragen und sie gegen die Feinde der Kolonialen Union einzusetzen, bei denen es sich auch um andere menschliche Streitkräfte handeln könnte. Es ist mir untersagt, während meiner Dienstzeit das Tragen von Waffen zu verweigern oder religiöse oder moralische Einwände gegen militärische Handlungen vorzubringen, um mich dem Dienst zu entziehen.«

Wie viele Leute melden sich freiwillig zum Militärdienst, um ihn anschließend aus moralischen Gründen zu verweigern? Ich unterschrieb.

»Absatz drei: Ich habe verstanden und bestätige, dass ich gewissenhaft und ohne Verzögerung alle Befehle und Anweisungen ausführen werde, die mir von vorgesetzten Offizieren erteilt werden, gemäß dem Uniformcode der Richtlinien der Kolonialen Verteidigungsarmee.«

Ich unterschrieb.

»Absatz vier: Ich habe verstanden, dass ich durch den freiwilligen Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee in jegliche medizinische, chirurgische oder therapeutische Behandlung einwillige, die von der Kolonialen Verteidigungsarmee als nötig erachtet wird, um meine Kampffähigkeit zu verbessern.«

Jetzt kam es. Der Grund, warum sich zahllose Fünfundsiebzigjährige jedes Jahr freiwillig meldeten.

Vor langer Zeit hatte ich einmal zu meinem Großvater gesagt, dass man, wenn ich in seinem Alter war, eine Möglichkeit gefunden haben würde, die menschliche Lebensspanne dramatisch zu verlängern. Er hatte mich ausgelacht und erklärt, dass er in jungen Jahren dasselbe gedacht hatte. Trotzdem war er ein alter Mann geworden. Genauso wie ich jetzt. Das Problem mit dem Altern ist nicht, dass eine Sache nach der anderen versagt, sondern dass alles auf einmal versagt.

Man kann das Altern nicht aufhalten. Mit Gentherapien, Ersatzorganen und plastischer Chirurgie kann man es eine Weile zurückdrängen, aber irgendwann holt es einen trotzdem ein. Wenn du dir eine neue Lunge einsetzen lässt, macht dir als Nächstes eine Herzklappe Probleme. Wenn du ein neues Herz hast, schwillt deine Leber zu einem aufblasbaren Kinderplanschbecken an. Nachdem man deine Leber ausgetauscht hat, gibt ein Schlaganfall dir den Rest. Das ist die Trumpfkarte des Alterns, denn es gibt immer noch keine Gehirnprothesen.

Die Lebenserwartung ist vor einiger Zeit bis auf nahezu neunzig Jahre angestiegen, und dort ist sie seitdem stehengeblieben. Beinahe hätten wir die magische Schwelle von hundert Jahren überschritten, doch dann scheint Gott dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben zu haben. Die Menschen können länger leben und tun es auch, aber sie verbringen diese zusätzlichen Jahre trotzdem als Greise. Daran hat sich kaum etwas geändert.

Mach dir Folgendes klar: Wenn du fünfundzwanzig, fünfunddreißig, fünfundvierzig oder vielleicht sogar fünfundfünfzig bist, kannst du dir immer noch gute Chancen ausrechnen, etwas im Leben zu erreichen. Wenn du fünfundsechzig bist und dein Körper anfängt, den Geist aufzugeben, klingen diese mysteriösen »medizinischen, chirurgischen oder therapeutischen Behandlungen« plötzlich sehr interessant. Dann bist du fünfundsiebzig, deine Freunde sind gestorben, und man hat dir mindestens ein lebenswichtiges Organ ausgetauscht. Du musst jede Nacht viermal zum Pinkeln aufstehen und schaffst keine Treppe mehr, ohne anschließend aus der Puste zu sein. Und dann sagt man dir, dass du für dein Alter noch ziemlich gut in Form bist.

Allmählich kommt es dir fast wie ein Schnäppchen vor, all das gegen zehn gesunde Jahre im Militärdienst einzutauschen. Vor allem, wenn du dir überlegst, dass du in zehn Jahren fünfundachtzig sein wirst. Dann besteht der einzige Unterschied zwischen einer Rosine und dir darin, dass ihr zwar beide runzlig seid und keine Prostata habt, Letzteres aber für die Rosine nichts Neues ist.

Wie bewerkstelligt es also die KVA, den Alterungsprozess umzukehren? Niemand hier weiß das. Die Wissenschaftler auf der Erde haben keine Erklärung und können die Methode nicht rekonstruieren, obwohl sie es fleißig probiert haben. Die KVA operiert nicht auf der Erde, also kann man keine Veteranen fragen. Aber die KVA rekrutiert ihre Leute auf der Erde, also wissen es auch die Kolonisten nicht, wenn man sie fragen könnte, was man nicht kann. Welche Therapien die KVA auch immer anwenden mag, sie tut dies nicht auf der Erde, sondern nur auf ihrem eigenen Territorium, fern von globalen und nationalen Institutionen. Also kann weder Uncle Sam noch sonst wer etwas ausrichten.

Ab und zu entscheidet eine Regierung, ein Präsident oder ein Diktator, der KVA die Rekrutierungen zu verbieten, wenn sie ihre Geheimnisse nicht offenbart. Die KVA lässt sich nie auf einen Streit ein, sie packt einfach ihre Sachen und verschwindet. Dann unternehmen alle Fünfundsiebzigjährigen plötzlich Auslandsreisen, von denen sie nie zurückkehren. Die KVA gibt keine Erklärungen, keine Rechtfertigungen, keine Hinweise. Wer herausfinden will, wie sie alte Menschen wieder jung macht, muss sich rekrutieren lassen.

Ich unterschrieb.

»Absatz fünf: Ich habe verstanden, dass ich durch den freiwilligen Eintritt in die Koloniale Verteidigungsarmee die Staatsbürgerschaft meiner politischen Nation aufgebe, in diesem Fall die der Vereinigten Staaten von Amerika, genauso wie das Aufenthaltsrecht für den Planeten Erde. Ich habe verstanden, dass meine Staatsbürgerschaft auf die Koloniale Union übertragen wird, im Besonderen auf die Koloniale Verteidigungsarmee. Weiterhin willige ich ein und habe verstanden, dass es mir durch die Beendigung meiner Staatsbürgerschaft und meines planetaren Aufenthaltsrechts untersagt ist, im Anschluss an meine Dienstzeit zur Erde zurückzukehren. Stattdessen wird mir durch die Koloniale Union beziehungsweise die Koloniale Verteidigungsarmee ein neuer Wohnsitz in einer Kolonie zugewiesen.«

Etwas einfacher ausgedrückt: Eine Heimkehr ist ausgeschlossen. Das ist ein fester Bestandteil der Quarantänegesetze, die von der Kolonialen Union und der KVA erlassen wurden. Die offizielle Begründung lautet, dass die Erde vor weiteren xenobiologischen Katastrophen wie der Schrumpelseuche geschützt werden soll. Die Leute auf der Erde waren damals ausnahmslos dafür. Erstaunlich, wie sehr sich ein Planet abzuschotten bereit ist, wenn ein Drittel der männlichen Bevölkerung innerhalb eines Jahres die Zeugungsfähigkeit verliert. Inzwischen ist die Zustimmung hier nicht mehr so groß, weil sich viele auf der Erde langweilen und den Rest des Universums sehen wollen – und weil sie ihren kinderlos gebliebenen Großonkel Walt längst vergessen haben. Aber die KU und die KVA sind die Einzigen, die Raumschiffe mit Skip-Antrieb besitzen und interstellare Reisen unternehmen können. Damit ist alles klar.

(Und damit wird das Einverständnis, sich von der KU in irgendeiner Kolonie ansiedeln zu lassen, im Grunde überflüssig. Da sie als Einzige über Raumschiffe verfügen, kommt man nur dorthin, wohin sie einen bringen. Schließlich kann man nicht selbst mit den Raumschiffen herumfliegen.)

Eine Nebenwirkung der Quarantänegesetze und des Skip-Antriebs ist die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen der Erde und den Kolonien (sowie zwischen den Kolonien). Wenn man innerhalb eines sinnvollen Zeitraums eine Antwort auf eine Nachricht erhalten möchte, kann man diese nur von einem Raumschiff mit Skip-Antrieb befördern lassen. Die KVA ist widerwillig bereit, auf diese Weise Botschaften und Daten für offizielle Institutionen zu transportieren, aber allen anderen bleibt dieses Privileg verwehrt. Man könnte eine Antennenschüssel aufstellen und darauf warten, dass Funksignale von den Kolonien eintreffen, aber Alpha, die der Erde am nächsten liegt, ist dreiundachtzig Lichtjahre von hier entfernt. Damit wird ein angeregtes Zwiegespräch zwischen verschiedenen Planeten ziemlich unmöglich.

Ich habe nie danach gefragt, aber ich kann mir vorstellen, dass dieser Absatz die meisten Leute vor der Rekrutierung zurückschrecken lässt. Natürlich ist es nett, wieder jung zu sein, aber es ist etwas anderes, wenn man allen Menschen, die einem etwas bedeuten, den Rücken zukehren, wenn man alles aufgeben soll, was man in den vergangenen siebeneinhalb Jahrzehnten erlebt hat. Es ist verdammt schwer, sich von seinem ganzen bisherigen Leben zu verabschieden.

Ich unterschrieb.

»Absatz sechs, der letzte«, sagte die Rekrutierungsmitarbeiterin. »Ich habe verstanden und willige ein, dass ich zweiundsiebzig Stunden nach der letzten Unterschrift auf diesem Dokument beziehungsweise zum Zeitpunkt meiner Abholung durch die Koloniale Verteidigungsarmee für tot erklärt werde, im Sinne der Gesetze aller relevanten politischen Institutionen, in diesem Fall des Staates Ohio und der Vereinigten Staaten von Amerika. Mein gesamtes Vermögen wird nach den gesetzlichen Bestimmungen aufgeteilt. Alle juristischen Pflichten, die im Todesfall erlöschen, verlieren in diesem Sinne ihre Gültigkeit. Sämtliche juristischen Titel, ob ehrenhaft oder nicht, sind hiermit nichtig, und all meine Schulden werden im Sinne des Gesetzes gelöscht. Ich habe verstanden, dass mir die Koloniale Verteidigungsarmee im Fall, dass ich noch keine Verfügung über die Verteilung meines Vermögens getroffen habe, auf Antrag juristische Unterstützung gewährt, um entsprechende Verfügungen zu treffen.«

Ich unterschrieb. Jetzt hatte ich nur noch zweiundsiebzig Stunden zu leben. Sozusagen.

»Was passiert, wenn ich die Erde nicht in den nächsten zweiundsiebzig Stunden verlassen habe?« Ich gab der Angestellten das Dokument zurück.

»Nichts«, sagte sie, während sie es wieder an sich nahm. »Nur dass Ihr gesamtes Vermögen, da Sie im Sinne des Gesetzes tot sind, gemäß Ihrem Testament aufgeteilt wird. Ihre Kranken- und Lebensversicherungen erlöschen oder werden an Ihre Erben ausgezahlt, und Sie stehen nicht mehr unter dem Schutz der hiesigen Gesetze, ganz gleich, ob es um Verleumdung oder Mord geht.«

»Also könnte mich einfach jemand erschießen, ohne dass es zu Strafmaßnahmen kommt?«

»Nicht ganz. Wenn jemand Sie ermorden sollte, während Sie im Sinne des Gesetzes tot sind, würde der Täter hier in Ohio vermutlich wegen Leichenschändung belangt werden.«

»Faszinierend«, sagte ich.

»Allerdings«, fuhr sie in ihrem irritierend sachlichen Tonfall fort, »kommt es normalerweise nicht so weit. Bis zum Ablauf der zweiundsiebzig Stunden können Sie jederzeit Ihre Einwilligung zur Rekrutierung zurücknehmen. Rufen Sie mich einfach hier an. Wenn ich nicht da bin, wird ein automatischer Anrufbeantworter Ihren Namen aufnehmen. Nachdem wir bestätigt haben, dass Sie tatsächlich Ihre Rekrutierung widerrufen haben, werden Sie von allen weiteren Verpflichtungen entbunden. Denken Sie jedoch daran, dass ein solcher Widerruf Sie unumstößlich von einer künftigen Rekrutierung ausschließt. Eine solche Entscheidung wäre endgültig.«

»Verstanden«, sagte ich. »Müssen Sie mich jetzt vereidigen?«

»Nein. Ich muss nur diesen Antrag weiterleiten und Ihnen Ihr Ticket aushändigen.« Sie wandte sich wieder dem Computer zu, tippte in den nächsten Minuten verschiedene Sachen und drückte schließlich die Enter-Taste. »Der Computer erstellt nun Ihr Ticket. Es dauert noch etwa eine Minute.«

»Gut«, sagte ich. »Darf ich Ihnen eine weitere Frage stellen?«

»Ich bin verheiratet.«

»Das wollte ich gar nicht fragen«, sagte ich. »Bekommen Sie wirklich so viele Heiratsanträge?«

»Jede Menge. Allmählich nervt es.«

»Das tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie schon einmal wirklich einem Angehörigen der KVA begegnet sind.«

»Sie meinen, abgesehen von Rekrutierungswilligen?«

Ich nickte.

»Nein«, sagte sie. »Die KVA hat eine Firma mit der Abwicklung der Rekrutierungen beauftragt, aber keiner von uns ist ein Mitglied der KVA. Ich glaube, nicht einmal der Geschäftsführer gehört dazu. Wir erhalten das nötige Material und die Informationen nicht direkt von der KVA, sondern von der Botschaft der Kolonialen Union. Ich glaube nicht, dass Angehörige der Streitkräfte jemals einen Fuß auf die Erde setzen.«

»Stört es Sie gar nicht, für eine Organisation zu arbeiten, mit der Sie nie direkten Kontakt hatten?«

»Nein. Die Arbeit ist in Ordnung, und die Bezahlung ist überraschend gut, wenn man bedenkt, wie wenig Geld man in die Einrichtung dieses Büros gesteckt hat. Aber Sie wollen Mitglied einer Organisation werden, mit der Sie nie direkten Kontakt hatten. Stört Sie das gar nicht?«

»Nein. Ich bin alt, meine Frau ist tot, und es gibt für mich kaum noch einen Grund, warum ich hierbleiben sollte. Werden Sie eintreten, wenn die Zeit gekommen ist?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es stört mich nicht, alt zu werden.«

»Das habe ich auch gedacht, als ich jung war«, sagte ich. »Es ist die Tatsache, jetzt alt zu sein, die mich stört.«

Der Drucker des Computers gab ein leises Summen von sich und spuckte etwas von der Größe einer Visitenkarte aus. Sie gab es an mich weiter. »Das ist Ihr Ticket. Es identifiziert Sie als John Perry und als Rekruten der KVA. Verlieren Sie es nicht. Ihr Shuttle startet genau vor diesem Büro, um Sie zum Flughafen von Dayton zu bringen, und zwar in drei Tagen um acht Uhr dreißig. Wir empfehlen Ihnen, früh genug hier zu sein. Sie dürfen nur ein Stück Handgepäck mitnehmen, also überlegen Sie sich bitte sehr genau, was Sie einpacken. Von Dayton werden Sie um elf Uhr nach Chicago fliegen und von dort um vierzehn Uhr mit dem Delta nach Nairobi. Aufgrund der Zeitverschiebung werden Sie um Mitternacht in Nairobi eintreffen. Dort wird ein Vertreter der KVA Sie in Empfang nehmen. Dann haben Sie die Möglichkeit, die Zwei-Uhr-Bohnenstange zur Kolonialstation zu nehmen oder sich ein wenig auszuruhen und die Neun-Uhr-Bohnenstange zu nehmen. Ab da sind Sie in den Händen der KVA.«

Ich nahm das Ticket. »Was mache ich, wenn einer dieser Flüge verspätet landet?«

»Keiner dieser Flüge ist in den fünf Jahren, die ich hier arbeite, jemals verspätet eingetroffen.«

»Toll!«, sagte ich. »Ich wette, sogar die Züge der KVA treffen stets pünktlich ein.«

Sie sah mich verständnislos an.

»Ich will Ihnen erklären, was ich damit meine«, sagte ich. »Ich habe mehrfach versucht, Scherze zu machen, seit ich dieses Büro betreten habe.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Tut mir leid. Mein Sinn für Humor wurde mir bereits im Kindesalter operativ entfernt.«

»Oh«, sagte ich.

»Das war ein Scherz.« Sie stand auf und reichte mir die Hand.

»Oh.« Ich stand auf und nahm ihre Hand.

»Herzlichen Glückwunsch zur Rekrutierung«, sagte sie. »Alles Gute da draußen zwischen den Sternen. Das meine ich übrigens ernst.«

»Vielen Dank.«

Sie nickte, setzte sich und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu. Ich war entlassen.

Auf dem Weg nach draußen sah ich eine ältere Frau, die über den Parkplatz auf das Rekrutierungsbüro zulief. Ich fing sie ab. »Cynthia Smith?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Wie haben Sie das erraten?«

»Ich wollte Ihnen nur zum Geburtstag gratulieren.« Ich zeigte in den Himmel. »Vielleicht sehen wir uns da oben wieder.«

Sie lächelte, als sie verstanden hatte. Endlich hatte ich es geschafft, an diesem Tag jemanden zum Lächeln zu bringen. Es ging aufwärts.

2

Nairobi startete und fiel unter uns zurück. Wir traten an den Rand, als würden wir in einem Expressaufzug stehen (wobei die Bohnenstange genau das ist), und sahen zu, wie die Erde davonschoss.

»Von hier oben sehen sie wie Ameisen aus!«, gluckste Leon Deak neben mir. »Wie schwarze Ameisen!«

Ich verspürte den starken Drang, ein Fenster einzuschlagen und Leon nach draußen zu schubsen. Leider gab es kein Fenster, das man hätte einschlagen können. Die Wände der Bohnenstange bestanden aus dem gleichen diamantharten Material wie die gesamte Kabine. Sie waren transparent, damit die Reisenden einen guten Rundumblick hatten. Die Kabine war luftdicht abgeschlossen, was sich in ein paar Minuten als äußerst praktisch erweisen würde, wenn wir so hoch hinaufgestiegen waren, dass ein eingeschlagenes Fenster zur explosiven Dekompression mit anschließendem Erstickungstod geführt hätte.

Also blieb Leon das Schicksal erspart, plötzlich und unerwartet die Rückreise zur Erde anzutreten. Was bedauerlich war. Leon hatte sich in Chicago wie eine dicke, mit Fett und Bier vollgesogene Zecke an mich gehängt. Es erstaunte mich, wie jemand, dessen Blut offensichtlich zur Hälfte aus Schweinefett bestand, das Alter von fünfundsiebzig Jahren hatte erreichen können. Ich verbrachte einen Teil des Fluges nach Nairobi damit zuzuhören, wie er furzte und sich über die ethnische Zusammensetzung der Kolonien ausließ. Die Fürze waren noch der angenehmste Teil des Monologs. Nie zuvor war ich so versessen darauf gewesen, Kopfhörer zu kaufen, um das Unterhaltungsprogramm verfolgen zu können.

Ich hatte gehofft, ihn abzuhängen, indem ich Nairobi mit der ersten Bohnenstange verließ. Er schien mir jemand zu sein, der eine längere Ruhepause benötigte, nachdem er den ganzen Tag lang Gase abgesondert hatte. Pech gehabt. Die Vorstellung, weitere sechs Stunden mit Leon und seinen Fürzen verbringen zu müssen, war unerträglich. Wenn die Kabine Fenster gehabt hätte und es mir nicht möglich gewesen wäre, Leon hinauszuschubsen, wäre ich vielleicht selber gesprungen. Stattdessen entschuldigte ich mich bei Leon, indem ich zu ihm das Einzige sagte, womit man ihn sich vom Leibe halten konnte. Ich behauptete, dass ich ein dringendes Bedürfnis zu erledigen hätte. Leon grunzte sein Einverständnis. Ich spazierte gegen den Uhrzeigersinn davon, in die allgemeine Richtung der Toiletten, in Wirklichkeit jedoch, um nach einem Platz zu suchen, wo Leon mich nicht wiederfinden würde.

Das war nicht gerade einfach. Die Kabine hatte die Form eines Donuts mit einem Durchmesser von etwa dreißig Metern. Das »Loch« des Donuts, wo die Kabine an der Bohnenstange hinauffuhr, war etwa sechs Meter breit, was kaum dick genug für ein Kabel zu sein schien, das mehrere tausend Kilometer lang war. Der übrige Raum wurde von bequemen Nischen und Sofas eingenommen, auf denen man sitzen und plaudern konnte, sowie kleinen Bereichen, in denen die Reisenden Unterhaltungsprogramme verfolgen, sich mit Spielen die Zeit vertreiben oder essen konnten. Und natürlich gab es jede Menge durchsichtiger Wände, um hinauszuschauen, entweder runter zur Erde, rüber zu den anderen Stangen und Kabinen oder rauf zur Kolonialstation.

Insgesamt wirkte die Kabine wie das Foyer eines angenehmen Mittelklassehotels, das sich plötzlich auf den Weg in den geostationären Orbit gemacht hatte. Das Problem war jedoch, dass es durch den offenen Aufbau der Kabine schwierig war, sich zu verstecken. Der Transport war keineswegs ausgebucht, so dass es nicht genug Passagiere gab, um in der Menge untertauchen zu können. Also beschloss ich, an einem Tresen auf der Innenseite der Kabine etwas zu trinken, ungefähr gegenüber der Stelle, wo Leon stand. Hier hatte ich die besten Chancen, ihm länger aus dem Weg gehen zu können.

Dank Leons Widerwärtigkeit war es keine angenehme Erfahrung gewesen, die Erde körperlich zu verlassen, aber mich emotional von ihr zu verabschieden war überraschend einfach gewesen. Ein Jahr vor der Abreise hatte ich den Entschluss gefasst, dass ich definitiv in die KVA eintreten wollte. Danach war es nur noch darum gegangen, Vorkehrungen zu treffen und Lebewohl zu sagen. Als Kathy und ich vor zehn Jahren entschieden hatten, zur Armee zu gehen, hatten wir unser Haus auf Charlies Namen eintragen lassen, damit unser Sohn es ohne gerichtliche Testamentsbestätigung in Besitz nehmen konnte. Ansonsten besaßen Kathy und ich nichts, das von größerem Wert war, nur den Krimskrams, den man im Laufe eines Lebens anhäuft. Die meisten hübschen Sachen hatte ich während des vergangenen Jahres an Freunde und Verwandte verteilt. Charlie würde sich später um den Rest kümmern.

Der Abschied von den Menschen fiel mir auch nicht wesentlich schwerer. Die Leute reagierten mit unterschiedlich stark ausgeprägter Überraschung oder Trauer. Immerhin weiß jeder, dass man nicht mehr zurückkommt, wenn man in die Koloniale Verteidigungsarmee eintritt. Aber es ist nicht ganz dasselbe wie Sterben. Sie wissen, dass man immer noch irgendwo da draußen ist, dass man weiterlebt, und vielleicht sieht man sich sogar wieder, wenn sie nach einiger Zeit nachkommen. So ungefähr stelle ich es mir vor, wenn die Menschen vor Jahrhunderten erlebten, wie jemand einen Planwagen packte und nach Westen zog. Beim Abschied wurde geweint, doch schon bald ging das Leben weiter.

Jedenfalls habe ich den Leuten ein ganzes Jahr im Voraus gesagt, dass ich gehen würde. Das ist sehr viel Zeit, um zu sagen, was man noch zu sagen hat, um alles zu regeln und mit jemandem Frieden zu schließen. Im Laufe dieses Jahres hatte ich mehrere längere Gespräche mit alten Freunden und Verwandten. Ich stocherte ein letztes Mal in alten Wunden herum, und in fast allen Fällen ging es gut aus. Ein paarmal bat ich um Vergebung für Dinge, die ich eigentlich gar nicht bereute, und in einem Fall landete ich mit einer Frau im Bett, mit der ich normalerweise nie ins Bett gegangen wäre. Aber man tut, was man kann, um mit den Leuten zu einem Abschluss zu kommen. Sie fühlen sich danach besser, und man selber vergibt sich dadurch nichts. Ich entschuldige mich lieber für etwas, das mir gar nicht so viel bedeutet, damit mir jemand auf der Erde alles Gute wünscht. Wenn man dagegen störrisch bleibt, gibt es jemanden, der hofft, dass mir irgendein Alien das Gehirn ausschlürft. Das ist vielleicht so etwas wie eine karmische Versicherung.

Charlie hat mir die größten Sorgen gemacht. Wie bei vielen Vätern und Söhnen hatten wir unsere Meinungsverschiedenheiten. Als Vater war ich nicht besonders aufmerksam, und als Sohn war er nicht besonders eigenständig. Bis in die Dreißiger war er mehr oder weniger durchs Leben getaumelt. Als er zum ersten Mal erfuhr, dass Kathy und ich uns rekrutieren lassen wollten, ist er uns fast an die Gurgel gesprungen. Er erinnerte uns daran, dass wir damals gegen den Subkontinentalen Krieg protestiert hatten, dass wir ihm ständig eingeschärft hatten, dass Gewalt keine Lösung war. Er rief uns ins Gedächtnis, dass wir ihn einmal für einen Monat zum Hausarrest verdonnert hatten, weil er mit Billy Young einen Schießstand besucht hatte. Wir beide fanden es etwas seltsam, dass ein Mann von fünfunddreißig Jahren so ein Argument vorbrachte.

Mit Kathys Tod endeten die meisten unserer Reibereien, weil wir beide erkannten, dass fast alle unsere Streitpunkte einfach zu unwichtig waren. Ich war Witwer und er Junggeselle, und eine Zeitlang hatten wir beide nur noch uns. Wenig später lernte er Lisa kennen und heiratete sie, und etwa ein Jahr später wurde er Vater und noch in derselben hektischen Nacht zum Bürgermeister wiedergewählt. Charlie war ein Spätentwickler, aber er machte eine gute Entwicklung durch. Auch wir hatten ein langes Gespräch, in dem ich mich für einige Sachen entschuldigte (und es ehrlich meinte), und gleichzeitig sagte ich ihm, wie stolz ich auf das war, was er geleistet hatte. Dann saßen wir jeder mit einem Bier auf der Veranda und sahen zu, wie mein Enkel Adam mit einem T-Ball im Garten spielte, während wir für einen sehr angenehmen längeren Zeitraum über nichts von Bedeutung sprachen. Als ich ging, verabschiedeten wir uns freundlich und liebevoll, genau so, wie es zwischen Vätern und Söhnen sein sollte.

Ich stand am Tresen, hielt mich an meiner Coke fest und dachte an Charlie und seine Familie, als ich Leons grummelnde Stimme hörte, gefolgt von der Antwort einer anderen Stimme, die leise, prägnant und weiblich klang. Unwillkürlich blickte ich mich um. Leon war es offensichtlich gelungen, sich an eine bedauernswerte Frau zu hängen, der er zweifellos seine neueste idiotische Theorie aufdrängte, die sein strohdummes Kleinhirn in diesem Moment ausbrütete. Meine Ritterlichkeit triumphierte über meinen Drang, mich zu verstecken. Ich ging hinüber, um mich einzumischen.

»Ich will damit nur sagen«, erklärte Leon gerade, »dass es nicht gerade fair ist, dass Sie und ich und jeder andere Amerikaner warten müssen, bis wir scheißalt geworden sind, um unsere Chance zu bekommen, während all diese kleinen Hindus auf nagelneue Welten verfrachtet werden, so schnell sie sich vermehren können. Was verdammt schnell passiert. Das ist einfach nicht fair. Oder kommt Ihnen das etwa fair vor?«

»Nein, das kommt mir nicht besonders fair vor«, erwiderte die Frau. »Aber die Hindus finden es wahrscheinlich auch nicht besonders fair, dass wir Neu-Delhi und Mumbai von der Oberfläche dieses Planeten getilgt haben.«

»Genau darauf will ich hinaus!«, rief Leon. »Wir haben die Scheißkerle mit Atombomben plattgemacht! Wir haben diesen Krieg gewonnen, und was haben wir jetzt davon? Sie haben verloren, aber sie kolonisieren das Universum, und wir können nur dann gehen, wenn wir uns einziehen lassen, um sie zu beschützen! Entschuldigen Sie, dass ich das sage, aber heißt es nicht in der Bibel ›Die Schwachen werden die Erde besitzen‹? Ich finde, dass es ein verdammtes Zeichen für Schwäche ist, wenn man einen Krieg verliert.«

»Ich glaube nicht, dass sich das Zitat so interpretieren lässt, Leon«, sagte ich, während ich zu den beiden trat.

»John! Da ist jemand, der weiß, wovon ich rede«, sagte Leon und grinste mich an.

Die Frau drehte sich zu mir um. »Sie kennen diesen Herrn?«, fragte sie mich mit einem Unterton, der andeutete, dass ich nicht vertrauenswürdig war, wenn ich diese Frage bejahte.

»Wir sind uns auf dem Flug nach Nairobi begegnet«, antwortete ich und hob eine Augenbraue, um anzudeuten, dass ich mir diesen Reisegefährten nicht freiwillig ausgesucht hatte. »Ich bin John Perry.«

»Jesse Gonzales«, stellte sie sich vor.

»Angenehm.« Ich wandte mich wieder Leon zu. »Leon, Sie haben das Zitat falsch verstanden. In Wirklichkeit stammt es aus der Bergpredigt und lautet: ›Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.‹ Das soll eine Belohnung sein und keine Strafe.«

Leon blinzelte, dann schnaufte er. »Trotzdem, wir haben sie besiegt. Wir haben ihnen in die kleinen braunen Ärsche getreten. Wir sollten das Universum kolonisieren, nicht sie.«

Ich öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Jesse war schneller. »›Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich‹«, sagte sie zu Leon, während sie mich von der Seite ansah.

Leon starrte uns eine Minute lang mit offenem Mund an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! In der Bibel steht nichts davon, dass wir auf der Erde verfaulen sollen, während sich die braunen Horden, die nicht einmal an Jesus glauben, gelobt sei sein Name, in der Galaxis ausbreiten! Und es steht bestimmt nicht geschrieben, dass wir die kleinen Mistkerle beschützen sollen, während sie es tun. Mein Sohn war in diesem Krieg. Irgendeiner von den Ärschen hat ihm die Eier weggeschossen! Seine Eier! Sie haben verdient, was sie bekommen haben, diese Scheißkerle. Erwarten Sie nicht von mir, dass ich glücklich bin, dass ich sie jetzt da oben in den Kolonien beschützen soll.«

Jesse zwinkerte mir zu. »Möchten Sie darauf antworten?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nur zu!«

»›Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen‹«, zitierte ich. »›Segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.‹«

Leon wurde krebsrot. »Jetzt sind Sie beide völlig durchgeknallt«, sagte er und stapfte so schnell davon, wie seine Fettmassen es ihm erlaubten.

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte ich. »Und diesmal meine ich es wirklich so.«

»Sie haben eine Menge Bibelzitate auf Lager«, sagte Jesse. »Waren Sie in Ihrem früheren Leben mal Prediger?«

»Nein. Aber ich habe in einer Stadt mit zweitausend Einwohnern und fünfzehn Kirchen gelebt. Da war es hilfreich, wenn man sich in dieser Sprache verständlich machen konnte. Und man muss gar nicht sehr religiös sein, um der Bergpredigt etwas abgewinnen zu können. Mit welcher Ausrede können Sie aufwarten?«

»Religionsunterricht an einer katholischen Schule«, sagte sie. »In der zehnten Klasse habe ich einen Wettbewerb im Auswendiglernen gewonnen. Es ist erstaunlich, was ein menschliches Gehirn sechzig Jahre lang speichern kann, selbst wenn ich mich heutzutage kaum noch erinnere, wo ich meinen Wagen geparkt habe, wenn ich vom Einkaufen wiederkomme.«

»Wie dem auch sei, ich möchte mich für Leon entschuldigen. Ich kenne ihn nur flüchtig, aber für mich steht fest, dass er ein Idiot ist.«

»›Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet‹«, erwiderte Jesse mit einem Schulterzucken. »Aber er sagt nur das, was viele Leute denken. Ich finde es dumm und falsch, aber das bedeutet nicht, dass ich kein Verständnis dafür hätte. Es wäre schön gewesen, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, zu den Kolonien zu reisen, als mein ganzes Leben lang zu warten und in den Militärdienst eintreten zu müssen. Wenn ich die Chance gehabt hätte, in jüngeren Jahren in die Kolonien auszuwandern, hätte ich sie sofort ergriffen.«

»Also sind Sie nicht hier, weil Sie Soldatenabenteuer erleben wollen?«

»Natürlich nicht«, entgegnete Jesse mit leichter Verachtung. »Sind Sie eingetreten, weil sie ganz wild darauf sind, einen Krieg mitzuerleben?«

»Nein.«

Sie nickte. »Bei mir ist es genauso. So ist es bei fast allen. Ihr Freund Leon hat sich jedenfalls nicht rekrutieren lassen, um Soldat zu werden. Schließlich kann er die Leute nicht ausstehen, die er beschützen soll. Fast alle machen es, weil sie nicht alt sein wollen und noch nicht zum Sterben bereit sind. Sie machen es, weil das Leben auf der Erde ab einem bestimmten Alter nicht mehr interessant ist. Oder sie machen es, weil sie noch ein paar andere Welten sehen wollen, bevor sie sterben. Deshalb bin ich dabei. Ich möchte weder kämpfen noch wieder jung sein. Ich will nur sehen, wie es ist, woanders zu sein.«

Sie schaute aus dem Fenster. »Natürlich klingt es komisch, wenn ich höre, wie ich das sage. Können Sie sich vorstellen, dass ich bis gestern mein ganzes Leben lang nicht einziges Mal den Staat Texas verlassen habe?«

»Das ist gar nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte ich. »Texas ist ein ziemlich großer Staat.«

Sie lächelte. »Danke für Ihr Verständnis. Außerdem finde ich es gar nicht so schlimm. Es ist nur komisch. Als Kind habe ich alle Romane über die Jungen Kolonisten gelesen und die Filme gesehen. Ich habe davon geträumt, Arkturus-Rinder zu züchten und auf der Kolonie Gamma Primus gegen böse Landwürmer zu kämpfen. Dann wurde ich älter und erkannte, dass die Kolonisten aus Indien, Kasachstan und Norwegen kamen, aus Ländern, die ihre Bevölkerung nicht mehr versorgen können. Ich erkannte, dass ich nicht auswandern durfte, weil ich in Amerika geboren bin. Und dass es in Wirklichkeit gar keine Arkturus-Rinder oder Landwürmer gibt! Ich war sehr enttäuscht, als mir all dies im Alter von zwölf Jahren klarwurde.«

Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Ich bin in San Antonio aufgewachsen und dann ›hinausgegangen‹, um an der University of Texas zu studieren. Anschließend nahm ich einen Job an, wieder in San Antonio. Irgendwann habe ich geheiratet, und wir machten Urlaub an der Golfküste. Unseren dreißigsten Hochzeitstag wollten mein Mann und ich in Italien verbringen, aber dazu ist es nie gekommen.«

»Was ist passiert?«

Sie lachte. »Seine Sekretärin ist passiert. Schließlich sind die beiden in den Flitterwochen nach Italien geflogen. Ich blieb zu Hause. Andererseits haben sie sich in Venedig eine schwere Muschelvergiftung zugezogen, also war es vielleicht ganz gut, dass ich nie in Italien war. Aber danach wollte ich sowieso nicht mehr verreisen. Ich wusste, dass ich mich rekrutieren lasse, sobald es ging. Ich habe es getan, und hier bin ich. Obwohl ich mir jetzt wünsche, ich hätte weitere Reisen unternommen. Ich bin mit dem Delta von Dallas nach Nairobi geflogen. Das hat mir riesigen Spaß gemacht. Ich wünschte, ich hätte es mehr als nur einmal in meinem Leben getan. Ganz zu schweigen von dem hier!« Sie zeigte auf das Fenster und die Kabel der Bohnenstange. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal auf diese Weise reisen würde. Ich meine, was hält dieses Kabel eigentlich aufrecht?«

»Der Glaube«, sagte ich. »Man glaubt fest daran, dass es nicht herunterfällt, und dann passiert es auch nicht. Versuchen Sie nicht, zu genau darüber nachzudenken, sonst könnten wir alle in Schwierigkeiten geraten.«

»Ich glaube nur daran, dass ich gerne etwas essen würde«, sagte Jesse. »Begleiten Sie mich?«

»Der Glaube«, sagte Harry Wilson und lachte. »Vielleicht ist es wirklich der Glaube, der dieses Kabel aufrecht hält. Jedenfalls tut es nicht die Physik.«

Harry Wilson hatte sich an den Tisch in der Nische gesetzt, an dem Jesse und ich aßen. »Ihr beide seht aus, als würdet ihr euch kennen, und damit habt ihr den meisten hier schon einiges voraus«, sagte er, als er sich uns näherte. Wir forderten ihn auf, uns Gesellschaft zu leisten, was er dankbar annahm. Er hatte zwanzig Jahre lang an einer Highschool in Bloomington, Indiana, Physik unterrichtet, erzählte er, und die Bohnenstange hatte ihn schon immer fasziniert.

»Was soll das heißen, dass es die Physik nicht tut?«, fragte Jesse. »Glaub mir, so etwas will ich im Augenblick nicht hören.«

Harry lächelte. »Entschuldigung. Ich möchte es etwas genauer ausdrücken. Natürlich hat die Physik etwas damit zu tun, dass die Bohnenstange funktioniert. Aber es handelt sich nicht um Physik im landläufigen Sinne. Hier spielt sich eine Menge ab, was auf den ersten Blick unmöglich erscheint.«

»Irgendwie klingt das wie der Anfang einer Physikstunde«, sagte ich.

»Ich habe jahrelang Jugendliche unterrichtet«, sagte Harry und zog einen kleinen Notizblock und einen Stift hervor. »Aber keine Sorge, es ist völlig schmerzlos. Schaut mal her.« Harry zeichnete einen Kreis auf die untere Hälfte des Blatts. »Das ist die Erde. Und das …« Darüber zeichnete er einen kleineren Kreis. »… ist die Kolonialstation. Sie befindet sich im geosynchronen Orbit, was bedeutet, dass sie auf die Erdrotation bezogen ihre Position nicht verändert. Sie hängt immer genau über Nairobi. Könnt ihr mir so weit folgen?«

Wir nickten.

»Gut. Hier geht es darum, dass man die Kolonialstation mit der Erde verbindet, und zwar durch die ›Bohnenstange‹, ein Bündel aus Kabeln, wie ihr sie durch die Fenster sehen könnt, und mehrere Aufzugskabinen wie diese hier, die daran rauf- und runterfahren.« Harry zog zwischen den zwei Kreisen eine Linie, die das Kabel darstellte, und fügte ein kleines Rechteck hinzu, das unsere Kabine symbolisierte. »Der Trick an der Sache ist, dass die Aufzüge an den Kabeln nicht auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt werden müssen, um in den Erdorbit zu gelangen, anders als bei der Nutzlast einer Rakete. Das ist gut für uns, weil wir während der Fahrt nicht das Gefühl haben, ein Elefant hätte uns einen Fuß auf den Brustkorb gestellt. Ganz einfache Sache.

Das Seltsame daran ist nur, dass diese Bohnenstange nicht den grundlegenden physikalischen Voraussetzungen einer klassischen Bohnenstange zwischen Erde und Weltraum entspricht. Zum einen …« Harry zeichnete eine weitere Linie ein, die vom kleinen Kreis bis zum Rand des Blattes führte. »… dürfte sich die Kolonialstation nicht am Ende der Bohnenstange befinden. Aus Gründen, die etwas mit dem Gleichgewicht der Massen und orbitaler Dynamik zu tun haben, müsste es ein zusätzliches Kabel geben, das mehrere zehntausend Kilometer über die Station hinausreicht. Ohne dieses Gegengewicht müsste eine Bohnenstange sehr instabil und gefährlich sein.«

»Und du willst darauf hinaus, dass diese es nicht ist«, sagte ich.

»Sie ist nicht nur nicht instabil, sondern wahrscheinlich die sicherste Methode, die jemals erfunden wurde, in den Weltraum zu gelangen,«, sagte Harry. »Die Bohnenstange ist seit über einem Jahrhundert ständig in Betrieb. Für die Kolonisten gibt es keinen anderen Startpunkt. Es hat nie einen Unfall aufgrund von Instabilität oder Materialverschleiß gegeben, was immer mit Instabilitäten zusammenhängen würde. Vor vierzig Jahren gab es den berühmten Bombenanschlag, aber das war Sabotage, die nichts mit der physikalischen Struktur der Bohnenstange zu tun hat. Sie selbst ist bewundernswert stabil, und zwar seit ihrer Errichtung. Doch nach den Grundgesetzen der Physik dürfte sie es eigentlich nicht sein.«

»Was ist also das Geheimnis der Bohnenstange?«, wollte Jesse wissen.

Wieder lächelte Harry. »Das ist die große Frage.«

»Heißt das, du weißt es nicht?«, sagte Jesse.

»Ich weiß es nicht«, gab Harry zu. »Aber das sollte kein Grund zur Besorgnis sein, da ich lediglich Physiklehrer an einer Highschool war. Doch soweit mir bekannt ist, gibt es praktisch niemanden, der eine Vorstellung hat, wie das Ding funktioniert. Hier auf der Erde, meine ich. In der Kolonialen Union sieht es offenbar anders aus.«

»Wie kann das sein?«, rief ich. »Sie steht doch schon seit über hundert Jahren hier. Und niemand hat sich dafür interessiert, wie sie tatsächlich funktioniert?«

»Das habe ich nicht gesagt«, gab Harry zurück. »Natürlich hat man versucht, es herauszufinden. Und es war in all diesen Jahren keineswegs ein Geheimnis. Als die Bohnenstange errichtet wurde, gab es viele Anfragen von Regierungen und der Presse, die alles darüber wissen wollten. Die KU hat darauf im Wesentlichen mit ›Findet es selbst raus‹ geantwortet. Damit war die Sache für sie erledigt. Seitdem haben sich Physiker mit dem Ding beschäftigt. Es wird als ›Das Bohnenstangenproblem‹ bezeichnet.«

»Kein sehr origineller Titel«, sagte ich.

»Physiker sparen sich ihre Phantasie für andere Sachen auf«, sagte Harry glucksend. »Jedenfalls wurde es nicht gelöst, hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste ist der Umstand, dass die Sache sehr kompliziert ist. Ich habe schon auf die Massenverteilung hingewiesen, aber es gibt noch andere Schwierigkeiten mit der Kabeldicke, mit Schwingungen, die durch Stürme und andere atmosphärische Phänomene verursacht werden, und es spielt sogar die Frage eine Rolle, ob die Kabel spitz zulaufen sollen. In der realen Welt ist jede dieser Fragen für sich genommen schon schwer genug zu lösen. Sie alle auf einmal zu beantworten ist so gut wie unmöglich.«

»Was ist der zweite Grund?«, fragte Jesse.

»Der zweite Grund ist der, dass es gar keinen Grund dafür gibt. Selbst wenn wir genau wüssten, wie man so ein Ding baut, könnten wir es uns gar nicht leisten.« Harry lehnte sich zurück. »Kurz bevor ich als Lehrer anfing, habe ich für die Hoch- und Tiefbauabteilung von General Electric gearbeitet. Damals haben wir an der subatlantischen Eisenbahnstrecke gearbeitet, und eine meiner Aufgaben bestand darin, alte Pläne und Bauvorschläge zu prüfen, um zu sehen, ob sich die Techniken irgendwie auf das Subatlantik-Projekt anwenden ließen. Es war so etwas wie der verzweifelte Versuch, irgendwie die Kosten zu drücken.«

»Ist General Electric nicht an diesem Projekt pleitegegangen?«, fragte ich.

»Jetzt weißt du, warum sie versucht haben, die Kosten zu drücken. Und warum ich Lehrer geworden bin. Danach konnte sich General Electric meine Dienste nicht mehr leisten. Oder die anderer Leute. Jedenfalls bin ich diese alten Pläne durchgegangen, von denen einige als geheim klassifiziert waren, und in einem davon ging es um eine Bohnenstange. General Electric war von der US-Regierung beauftragt worden, ein unabhängiges Gutachten über die Machbarkeit einer Bohnenstange in der westlichen Hemisphäre zu erstellen. Man wollte im Amazonasgebiet ein Loch mit dem Durchmesser von Delaware roden und das Ding genau auf den Äquator stellen.

General Electric gelangte zur Auffassung, dass man den Plan möglichst schnell vergessen sollte. Die Auswertung besagte, dass selbst unter der Annahme einiger technischer Weiterentwicklungen – zu denen es größtenteils bis heute nicht gekommen ist und die nicht annähernd dem Standard entsprechen, der bei dieser Bohnenstange verwirklicht wurde – das Budget für das Projekt ungefähr das Dreifache des jährlichen Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten verschlingen würde. Unter der Voraussetzung, dass man den Kostenrahmen einhalten würde, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passiert wäre. Das Ganze ist nun zwanzig Jahre her, und der Bericht, den ich gelesen habe, war zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre alt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kosten seitdem erheblich niedriger geworden sind. Also gibt es keine neuen Bohnenstangen, zumal es preiswertere Methoden gibt, Menschen und Material in den Orbit zu befördern. Wesentlich preiswertere.«

Harry beugte sich wieder vor. »Was uns zu zwei naheliegenden Fragen führt. Wie hat es die Koloniale Union geschafft, dieses technische Monstrum zu verwirklichen, und warum hat man überhaupt diese Mühe auf sich genommen?«

»Offensichtlich ist die Koloniale Union technisch fortgeschrittener als wir hier auf der Erde«, sagte Jesse.

»Offensichtlich«, sagte Harry. »Aber warum? Die Kolonisten sind auch nur Menschen. Obendrein rekrutieren sie sich in erster Linie aus verarmten Ländern, die ein Bevölkerungsproblem haben, was bedeutet, dass die Kolonisten nicht besonders gut ausgebildet sein können. Wenn sie ihre neue Heimat erreicht haben, kann man davon ausgehen, dass sie mehr Zeit darauf verwenden, am Leben zu bleiben, als kreative Techniken zum Bau von Bohnenstangen zu entwickeln. Und die Technik, die die interstellare Kolonisierung überhaupt erst ermöglicht hat, ist der Skip-Antrieb, der hier auf der Erde erfunden wurde. Und der wurde seit mehr als hundert Jahren kaum verbessert. Also gibt es eigentlich keinen Grund, warum die Kolonisten technisch höher entwickelt sein sollten als wir.«

Plötzlich klickte etwas in meinem Kopf. »Es sei denn, sie schummeln.«

Harry grinste. »Genau das habe ich mir auch gedacht.«

Jesse sah mich und dann Harry an. »Ich kann euch beiden nicht mehr folgen.«

»Sie schummeln«, sagte ich. »Hier auf der Erde schmoren wir im eigenen Saft. Wir können nur von uns selbst lernen. Wir forschen und verfeinern ständig unsere Technik, aber nur sehr langsam, weil wir die ganze Arbeit selber machen müssen. Aber da oben …«

»Da oben treffen die Menschen auf andere intelligente Spezies«, erklärte Harry. »Einige von denen müssen technisch weiter fortgeschritten sein als wir. Entweder erwerben wir die Kenntnisse durch ehrenhaften Handel, oder wir studieren sie, bis wir herausfinden, wie es funktioniert. Es ist viel leichter, wenn man schon etwas hat, mit dem man arbeiten kann, als Dinge aus dem Nichts zu entwickeln.«

»Das ist die Schummelei daran«, sagte ich. »Die KU hat aus dem Schulheft eines Klassennachbarn abgeschrieben.«

»Und warum lässt die Koloniale Union uns dann nicht an diesen Erkenntnissen teilhaben?«, fragte Jesse. »Welchen Sinn hat es, alles für sich zu behalten?«

»Vielleicht halten sie sich an den Grundsatz: Was wir nicht wissen, tut uns auch nicht weh«, sagte ich.

»Oder es steckt etwas ganz anderes dahinter«, sagte Harry und zeigte auf das Fenster, wo die Kabel der Bohnenstange vorbeiglitten. »Diese Bohnenstange wurde nämlich nicht gebaut, weil sie die einfachste Methode ist, um Menschen zur Kolonialstation zu befördern. Sondern weil sie eine der schwierigsten, der teuersten, technisch komplexesten und politisch bedrohlichsten Methoden ist, es zu tun. Ihre bloße Anwesenheit soll uns ständig daran erinnern, dass die KU uns buchstäblich um Lichtjahre voraus ist.«

»Ich habe sie nie als bedrohlich empfunden«, sagte Jesse. »Ich habe mir überhaupt kaum Gedanken darüber gemacht.«

»Die Botschaft ist auch nicht an dich gerichtet«, sagte Harry. »Wenn du jedoch Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wärst, würdest du anders darüber denken. Schließlich hält uns die KU hier auf der Erde fest. Sie erlaubt uns Raumfahrt nur zum Zweck der Kolonisierung oder Rekrutierung. Die Politiker stehen ständig unter Druck, sich der KU zu beugen und ihren Leuten den Zugang zu den Sternen zu ermöglichen. Aber die Bohnenstange ist wie ein großes Mahnmal. Es sagt: ›Solange ihr das hier nicht nachbauen könnt, dürft ihr nicht einmal daran denken, uns querzukommen.‹ Und die Bohnenstange ist die einzige Technik, die die KU uns zu zeigen bereit ist. Stellt euch nur einmal vor, was sie uns alles nicht zeigen will. Ich kann euch garantieren, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ständig daran denkt. Das ist der Grund, warum er und alle anderen Regierungschefs dieses Planeten vor der KU kuschen.«

»All das erweckt in mir nicht gerade freundschaftliche Gefühle für die Koloniale Union«, sagte Jesse.

»Es muss gar nicht gegen uns gerichtet sein«, sagte Harry. »Vielleicht will die KU die Erde nur beschützen. Das Universum ist verdammt groß. Vielleicht wohnen wir nicht gerade im angenehmsten Viertel.«

»Warst du schon immer so paranoid, Harry?«, fragte ich. »Oder hat es sich erst entwickelt, als du älter wurdest?«

»Was glaubst du wohl, wie ich es geschafft habe, fünfundsiebzig zu werden?«, erwiderte Harry grinsend. »Jedenfalls habe ich kein Problem damit, dass die KU technisch höher entwickelt ist. Davon werde ich in Kürze profitieren.« Er hob einen Arm. »Schaut euch das hier an. Die Haut ist schlaff und runzlig, und die Muskeln machen nicht mehr richtig mit. Die KU wird irgendwas mit diesem Arm – und dem Rest von mir – anstellen und alles wieder kampftauglich machen. Und wisst ihr, wie sie das anstellt?«

»Nein«, sagte ich.

Jesse schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es auch nicht.« Harry ließ den Arm einfach auf den Tisch zurückfallen. »Ich habe keine Ahnung, wie sie das machen wollen. Obendrein kann ich mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie sie es machen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir von der KU auf einem kindlichen Entwicklungsstand gehalten werden. Falls man es mir jetzt erklären würde, wäre das genauso, als wollte man jemandem, der nie ein komplexeres Transportmittel als eine Pferdekutsche gesehen hat, das Funktionsprinzip der Bohnenstange erklären. Dennoch muss es funktionieren. Wie sonst hätte man das Universum mit einer Legion von Greisen erobern können? Nichts für ungut«, fügte er hastig hinzu.

»Kein Problem«, sagte Jesse lächelnd.

»Verehrtes Publikum«, sagte Harry und sah uns beide an, »wir glauben vielleicht, dass wir eine gewisse Vorstellung haben, was uns erwartet, aber ich bin der Ansicht, dass wir nicht den leisesten Schimmer haben. Das können wir aus der bloßen Existenz dieser Bohnenstange schließen. Sie ist größer und fremdartiger als alles, was wir kennen, und sie stellt nur die erste Etappe unserer Reise dar. Was als Nächstes kommt, wird noch größer und fremdartiger sein. Macht euch darauf gefasst, so gut ihr könnt.«

»Wie dramatisch!«, sagte Jesse ironisch. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mich nach einer solchen Offenbarung auf irgendetwas gefasst machen soll.«

»Aber ich«, sagte ich und schob mich seitlich aus der Sitznische heraus. »Ich werde pinkeln gehen. Wenn das Universum größer und fremdartiger ist, als ich mir vorstellen kann, ist es besser, es mit einer leeren Blase zu erleben.«

»Das ist die wahre Pfadfindermentalität«, sagte Harry.

»Nur dass ein Pfadfinder nicht so oft pinkeln muss wie ich«, erwiderte ich.

»Nach sechzig Jahren wird es jedem Pfadfinder so gehen«, sagte Harry.

3

»Ich weiß nicht, wie es euch geht«, sagte Jesse zu Harry und mir, »aber ich muss zugeben, dass ich mir das Leben in der Armee etwas anders vorgestellt habe.«

»Ist doch gar nicht so schlecht«, sagte ich. »Hier, nimm noch einen Donut.«

»Ich brauche nicht noch mehr Donuts«, sagte sie und nahm sich trotzdem einen. »Ich brauche etwas Schlaf.«

Ich wusste, was sie meinte. Mehr als achtzehn Stunden waren vergangen, seit ich von zu Hause aufgebrochen war, und fast die ganze Zeit war ich auf Reisen gewesen. Ich hätte nichts gegen ein Nickerchen einzuwenden gehabt. Stattdessen saß ich in der riesigen Kantine eines interstellaren Kreuzers, wo man Kaffee und Donuts für die insgesamt etwa eintausend Rekruten aufgetischt hatte. Während wir darauf warteten, dass jemand kam und uns sagte, was wir als Nächstes tun sollten. Zumindest das entsprach ziemlich genau meiner Vorstellung vom Leben als Soldat.

Gleich nach der Ankunft begannen die Hetzerei und die Warterei. Sobald wir die Kabine der Bohnenstange verlassen hatten, wurden wir von zwei Apparatschiks der Kolonialen Union begrüßt. Sie teilten uns mit, dass wir die letzten Rekruten waren, die man für ein Schiff erwartete, das bald starten würde. Also sollten wir ihnen bitte so schnell wie möglich folgen, damit der Zeitplan eingehalten werden konnte. Einer der beiden übernahm die Führung, und seine Kollegin bildete die Nachhut. So konnten sie auf sehr effektive und etwas demütigende Weise mehrere Dutzend ältere Mitbürger quer durch die Station zu unserem Schiff scheuchen, der KVASHenry Hudson.

Jesse und Harry waren offensichtlich von der Hetzerei genauso enttäuscht wie ich. Die Kolonialstation war gewaltig, mit einem Durchmesser von über einer Meile (1800 Meter, um genau zu sein, und ich hatte den Verdacht, dass ich mich nach fünfundsiebzig Jahren wohl doch an das metrische System würde gewöhnen müssen). Sie diente als einziger Umschlaghafen für Rekruten und Kolonisten gleichermaßen. Durchgetrieben zu werden, ohne anhalten zu können, um sich alles anzuschauen, war genauso, als würde ein Fünfjähriger von gestressten Eltern zur Weihnachtszeit durch einen Spielzeugladen gehetzt werden. Ich hätte mich am liebsten zu Boden geworfen und einen Schreianfall bekommen, um meinen Willen durchzusetzen. Bedauerlicherweise war ich schon zu alt (beziehungsweise noch nicht alt genug), als dass diese Strategie Erfolg versprochen hätte.

Trotzdem bekam ich auf dem Gewaltmarsch einen verlockenden Appetithappen zu sehen. Während unsere Apparatschiks uns zur Eile antrieben, hetzten wir an einer riesigen Halle vorbei, die mit Pakistanis oder indischen Moslems vollgestopft war. Die meisten warteten geduldig, bis sie ein Shuttle besteigen konnten, das sie zu einem gewaltigen Kolonistenschiff brachte, das in einiger Entfernung durch ein Fenster zu sehen war. Andere stritten sich mit Vertretern der KU in akzentgefärbtem Englisch über dieses oder jenes. Manche trösteten ihre Kinder, die sich schrecklich langweilten, oder kramten in ihrem Gepäck nach etwas Essbarem. In einer Ecke kniete eine Gruppe Männer auf einem Teppich, um zu beten. Ich fragte mich kurz, wie sie in dreiundzwanzigtausend Meilen Höhe bestimmt hatten, wo Mekka lag, dann wurden wir weitergetrieben, so dass ich sie aus den Augen verlor.