Krieger im Schatten - J. R. Ward - E-Book

Krieger im Schatten E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

In der legendären Bruderschaft der BLACK DAGGER ist nichts, wie es einmal war. Um den Krieg gegen die Schatten zu verhindern, mussten alte Allianzen gelöst und neue geschlossen werden. Doch nun sind die Gegner der Vampire gefährlicher denn je. Während sich die BLACK DAGGER zum Kampf rüsten, ahnen sie nicht, dass ein Krieger aus ihrer Mitte mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat: Rhage. Und plötzlich ist seine leidenschaftliche und tiefe Liebe zu Mary in Gefahr …

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Seitenzahl: 401

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Das Buch

In der legendären Bruderschaft der BLACK DAGGER ist nichts wie es einmal war. Um den Krieg gegen die Schatten zu verhindern, mussten alte Allianzen verschoben und neue geschlossen werden. Doch nun ist auch die Gesellschaft der Lesser zurückgekehrt, und sie ist gefährlicher denn je. Während sich die BLACK DAGGER rund um den blinden Vampirkönig Wrath zum Gegenschlag rüsten, ahnen sie nicht, dass ein Krieger aus ihrer Mitte mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hat: Eigentlich hat Rhage alles, was sich ein Mann nur wünschen kann. Er ist nicht nur von strahlender Schönheit und unbesiegbarer Kraft, sondern auch einer der gefährlichsten Kämpfer der Bruderschaft. Er wird von seinen Brüdern ebenso wertgeschätzt und geliebt wie von seiner bezaubernden Shellan Mary – und doch fühlt Rhage eine seltsame Leere in sich. Eine Leere, die sein ganzes Leben zu überschatten droht. Und plötzlich ist seine leidenschaftliche und scheinbar so unerschütterliche Liebe zu Mary in Gefahr ...

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie unter:

www.jrward.com

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

J.R.Ward

Ein BLACK DAGGER-Roman

Titel der Originalausgabe:THE BEAST (Part 1)
Aus dem Amerikanischenvon Corinna Vierkant
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe 11/2016Redaktion: Bettina SpanglerCopyright © 2016 by Love Conquers All, Inc.Copyright © 2016 der deutschen Ausgabeund der Übersetzung byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Animagic, BielefeldAutorenfoto © by John RottSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18769-9V003
www.heyne.de

Gewidmet:

Euch allen dreien.

Das sagt alles.

Danksagung

Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger!

Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod, Kara Welsh und Leslie Gelbman. Danke auch an alle Mitarbeiter von NAL – diese Bücher sind echte Teamarbeit!

Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.

Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, die mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.

Ach ja, und meinem WriterAssistant Naamah. Gratulation zu deiner Beförderung!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

Ahstrux nohtrum– Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Die Auserwählten– Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig bis gar keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.

Bannung– Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Die Bruderschaft der Black Dagger– Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Blutsklave– Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Chrih– Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Doggen– Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Dhunhd– Hölle.

Ehros– Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Exhile Dhoble– Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Gesellschaft der Lesser– Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Glymera– Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Gruft– Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Hellren– Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Hohe Familie– König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Hüter– Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Jungfrau der Schrift– Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Leahdyre– Eine mächtige und einflussreiche Person.

Lesser– Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Lewlhen– Geschenk.

Lheage– Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Lhenihan– ein mystisches Biest bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Lielan– Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Lys– Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Mahmen– Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Mhis– Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Nalla oder Nallum– Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Novizin– Eine Jungfrau.

Omega– Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Phearsom– Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Princeps– Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Pyrokant– Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Rahlman– Retter.

Rythos– Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schleier– Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Shellan– Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Symphath– Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Trahyner– Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Transition– Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Triebigkeit– Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Vampir– Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Vergeltung– Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Wanderer– Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Whard– Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Zwiestreit– Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Brownswick-Schule für Mädchen, Caldwell, New York

Es kribbelte wie tausend Ameisen.

Rhage trat von einem Bein aufs andere. Es fühlte sich an, als finge sein Blut schön langsam an zu sieden, und die aufsteigenden Bläschen kitzelten überall unter der Haut. Und damit nicht genug. Ständig zogen sich unkontrolliert irgendwelche Muskeln zusammen, sodass seine Finger zuckten, die Knie einknickten oder sich die Schultern spannten, als wollte er einen Tennisschläger schwingen.

Zum millionsten Mal ließ er den Blick über das verwucherte Brachland schweifen, in dem er Position bezogen hatte. Zu Zeiten, da das Mädcheninternat noch in Betrieb war, war diese Anlage sicher von einem gepflegten Rasen überzogen gewesen, sorgfältig gemäht von Frühling bis Sommer, von Laub befreit im Herbst und eine verschneite Bilderbuchlandschaft im Winter. Jetzt glich sie einem Rugbyfeld aus der Hölle, überwuchert von knorrigem Gestrüpp, das einem Kerl mehr als ästhetische Schäden in niederen Körperregionen bescheren konnte. Hier und da sprossen karge Bäumchen wie missratene Stiefkinder von Ahorn und Eiche empor, und das lange Gras hatte sich im späten Oktober braun verfärbt und würde einen zu Fall bringen, sollte man versuchen, einen Sprint hinzulegen.

Genauso heruntergekommen waren die Backsteingebäude, die einst die Schlaf- und Unterrichtsräume für privilegierte Töchter der Oberschicht beherbergt hatten, seit man sich nicht mehr um sie kümmerte: Die Fensterscheiben waren zerbrochen, die Türen eingefallen, Fensterläden hingen schief in den Angeln und öffneten und schlossen sich im kalten Wind, als könnten sich die Geister nicht entscheiden, ob sie gesehen oder nur gehört werden wollten.

Es erinnerte an die Kulisse von »Der Club der toten Dichter« – vorausgesetzt, das Team hätte nach der letzten Klappe 1988 zusammengepackt und niemand mehr einen Finger gerührt.

Doch die Gebäude standen nicht leer.

Rhage atmete ein und musste den Würgereflex unterdrücken, der Klimmzüge an seinem Gaumenzäpfchen vollführte. In den ehemaligen Schlaf- und Unterrichtsräumen versteckten sich so viele Lesser, dass man unmöglich einzelne Noten aus dem infernalischen Gestank herausfiltern konnte. Scheiße, es war, als würde man den Kopf über einen Eimer voller Fischabfälle halten und einatmen, als wäre mit einer Sauerstoffknappheit zu rechnen.

Nur dass irgendjemand Talkum über die Fischköpfe und den Glibber gekippt hatte.

Zur süßen Abrundung.

Wieder regte es sich unter seiner Haut, und er mahnte seinen Dämon, sich noch etwas zu gedulden. Ja, verdammt, er würde ihn bald von der Kette lassen. Er würde keine Sekunde versuchen, ihn zurückzuhalten – nicht dass ihm das je gelungen wäre. Es war nicht immer weise, der Bestie freien Lauf zu lassen, doch heute Nacht kam sie ihrem Angriffsplan gelegen. Immerhin standen der Bruderschaft der Black Dagger fünfzig oder hundert oder hundertfünfzig Lesser gegenüber, also selbst für ihre Verhältnisse eine ganze Menge, da konnten sie seine zweifelhafte göttliche Gabe ganz gut gebrauchen.

Seine Bestie war der Überraschungsgast auf dieser Party. Vor über hundert Jahren hatte ihm die Jungfrau der Schrift einen Hemmschuh verpasst, eine verhaltensregulierende Maßnahme, die so lästig, so fies, so drastisch war, dass sie ihn tatsächlich davor bewahrt hatte, zu einem kompletten Arschloch zu mutieren. Denn wenn Rhage es versäumte, überschüssige Energien abzubauen und seine aufbrausenden Gefühle in Zaum zu halten, brach die Hölle los.

Buchstäblich.

Aber immerhin war es ihm in den letzten hundert Jahren gelungen, keinen seiner engsten Freunde zu verspeisen oder sie unter der Schlagzeile »Jurassic Park – Alles ist wahr!« in die Nachrichten zu bringen.

Doch angesichts der feindlichen Übermacht auf diesem abgelegenen Terrain wäre es ein Glück, wenn sein lila Schuppenmonster mit den messerscharfen Zähnen und dem unersättlichen Appetit so richtig in Fahrt geriet. Wobei es natürlich galt, ausschließlich Lesser zu verspeisen.

Nein, keine Brüder als Vorspeise in Form von Frühlingsrollen, keine Menschen als Tapas oder zum Dessert, wenn es irgendwie ging.

Letztere nicht aus Zuneigung, sondern um die Diskretion zu wahren. Schließlich wusste jeder, dass diese schwanzlosen Ratten nie allein unterwegs waren. Sie hatten immer mindestens ein halbes Dutzend ihrer nachtblinden, evolutionär unterlegenen Buddies dabei, und jeder von ihnen besaß ein gottverdammtes Handy. YouTube war ein Albtraum, wenn man versuchte, einen verborgenen Krieg gegen die Untoten zu führen. Fast zweitausend Jahre lang hatte niemand außer den Beteiligten etwas von dem Kampf zwischen den Vampiren und Omegas Gesellschaft der Lesser mitbekommen. Dass sich die Menschen nicht auf ihre Kernkompetenzen Umweltzerstörung und gegenseitige Bevormundung beschränken wollten, war nur einer der Gründe, warum er sie so hasste.

Verdammtes Internet.

Um sich etwas abzulenken und nicht vorzeitig zu explodieren, zoomte Rhage auf einen Vampir, der sich zehn Meter von ihm entfernt versteckt hielt. Assail, Sohn von Scheißegal, trug Bestattungsunternehmer-Schwarz, das dunkle Dracula-Haar bedurfte keiner Tarnung, sein Gesicht war sündhaft schön und tief gezeichnet von Mordlust. Man musste ihn einfach respektieren. Der Drogenhändler hatte eine Hundertachtzig-Grad-Wende hingelegt und unterstützte sie heute. Er hatte sein Versprechen eingelöst und seine Geschäfte mit der Gesellschaft der Lesser aufgekündigt, indem er Wrath den Kopf des Haupt-Lessers zu Füßen gelegt hatte. In einem Pappkarton.

Außerdem hatte er ihnen verraten, wo sich das Hauptquartier der Lesser befand.

Und hier standen sie also hodentief im Gestrüpp und beobachteten den Countdown auf ihren Uhren, die V synchronisiert hatte.

Denn das hier war keine kopflose Hau-Ruck-Aktion gegen den Feind. Nach einer Reihe von Nächten – und Tagen, dank Nervensäge Lassiter, der bei Tageslicht auskundschaften konnte – stand nun ein generalstabsmäßig geplanter Angriff bevor, ausgetüftelt bis ins Detail und bereit zur Durchführung. Alle waren in Position: Z und Phury, Butch und V, Tohr und John Matthew, Qhuinn und Blay sowie Assail und seine zwei Cousins Beiß und Reiß.

Denn wen kümmerten ihre Namen, solange sie bewaffnet auf dem Schlachtfeld erschienen und ordentlich Munition dabei hatten.

Die medizinischen Fachkräfte der Bruderschaft standen ebenfalls bereit, Manny in seiner mobilen Krankenstation, ungefähr eine Meile entfernt, und Jane und Ehlena in einem Lieferwagen irgendwo im Umkreis von zwei Meilen.

Rhage sah auf die Uhr. Sechs Minuten und ein paar Zerquetschte bis 00:00.

Wieder fing sein linkes Auge an zu zucken. Er fluchte. Wie zum Donner sollte er das so lange aushalten?

Er bleckte die Fänge und atmete durch die Nase aus, sodass sich zwei Dampfstöße aus kondensierter Atemluft bildeten wie bei einem wütenden Stier.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so aufgeladen gewesen war. Doch über die Gründe wollte er lieber nicht nachdenken. Insgesamt mied er Gedanken über die Ursachen jetzt schon ziemlich lang.

Seit sich etwas zwischen ihn und Mary geschoben hatte und er das Gefühl hatte …

»Rhage.«

Das Flüstern war so leise, dass er sich mit einem hektischen Schulterblick vergewisserte, ob sein Unterbewusstsein das Wort an ihn gerichtet hatte. Irrtum. Es war Vishous. Doch bei seinem Blick hätte Rhage die Persönlichkeitsspaltung beinahe vorgezogen. Die Diamantaugen seines Bruders blitzten grässlich unheilvoll, und die Tattoos um seine Schläfe verstärkten den finsteren Eindruck.

Das Ziegenbärtchen war neutral – solange man es keiner Stilkritik unterzog, denn es war ein Schlag ins Gesicht für jeden Ästheten.

Rhage schüttelte den Kopf. »Solltest du nicht langsam auf Position …«

»Ich habe diese Nacht gesehen.«

Scheiße, nein, dachte Rhage. Das kannst du mir nicht antun, Bruder.

Er wandte sich ab. »Erspar mir die Vincent-Price-Nummer, okay? Oder möchtest du dich als Off-Stimme für Kino-Trailer bewerben …«

»Rhage.«

»Da hättest du nämlich eine große Zukunft. ›In einer Welt … in der wir alle lernen müssen … den Mund zu halten und unsere Arbeit zu tun …‹«

»Rhage.«

Rhage wollte seinem Blick ausweichen, doch V stellte sich vor ihn und durchbohrte ihn mit Augen, in denen Atompilze aufstiegen. »Du musst nach Hause. Jetzt.«

Rhage öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Öffnete ihn erneut … und musste sich ermahnen, nicht zu laut zu werden. »Hör zu, jetzt ist nicht der Moment für deinen Hokuspokus …«

Vishous packte ihn beim Arm und drückte zu. »Geh heim. Jetzt. Das ist kein Spaß.«

Ein eiskalter Schauder überzog Rhage und senkte seine Körpertemperatur – doch er schüttelte den Kopf. »Verpiss dich, Vishous. Wirklich.«

Er hatte überhaupt keine Lust auf weitere Zaubertricks der Jungfrau der Schrift. Er …

»Du wirst heute Nacht sterben, kapierst du das nicht?«

Rhages Herz hörte auf zu schlagen. Er sah in das vertraute Gesicht seines Bruders, die Tätowierungen, die zusammengepressten Lippen, die markanten schwarzen Brauen, all das überstrahlt von einer Intelligenz, die er normalerweise mit rasiermesserscharfem Sarkasmus servierte.

»Deine Mutter hat mir ihr Wort gegeben«, sagte Rhage. Moment, diskutierte er hier allen Ernstes darüber, den Löffel abzugeben? »Sie hat versprochen, dass Mary zu mir in den Schleier kommen kann, wenn ich sterbe. Deine Mutter sagte …«

»Scheiß auf meine Mutter. Geh heim.«

Rhage musste den Blick abwenden, andernfalls wäre sein Kopf explodiert. »Ich lasse meine Brüder nicht im Stich. Kommt nicht infrage. Schließlich könntest du dich irren.«

Ja, genau wie neulich, Achtzehnhundertirgendwas. Oder war es Siebzehnhundert gewesen?

Noch nie?

Trotzdem fuhr er V über den Mund. »Außerdem laufe ich nicht vor dem Schleier weg. Wenn ich anfange, so zu denken, bin ich als Kämpfer geliefert.« Er hielt Vishous den Mund zu, damit er ihn nicht wieder unterbrach. »Und der dritte Grund: Wenn ich heute Nacht nicht kämpfe, überstehe ich den Tag nicht, eingesperrt im Haus. Dann erscheint mein lila Freund zu sämtlichen Tagesmahlzeiten, wie fändest du das?«

Tja, und dann gab es noch einen vierten Grund. Doch der war so übel, so unerträglich, dass er ihn sofort wieder verbannte, als er aufblitzte.

»Rhage …«

»Mir kann nichts passieren. Ich hab’s unter Kontrolle …«

»Nein, hast du nicht!«, zischte V.

»Okay, in Ordnung«, presste Rhage hervor und beugte sich auf Vishous zu. »Selbst wenn ich sterbe: Deine Mutter hat Mary den ultimativen Segen zugesprochen. Wenn ich in den Schleier eintrete, treffen wir uns einfach dort. Ich muss nicht fürchten, je von ihr getrennt zu werden. Alles wird gut. Wen interessiert es also, wenn ich abkratze?«

Jetzt beugte sich auch V vor. »Und was ist mit deinen Brüdern, du Arschloch? Meinst du, uns wäre das egal? Na, herzlichen Dank.«

Rhage sah auf die Uhr. Noch zwei Minuten.

Sie erschienen ihm wie zweitausend Jahre.

»Du vertraust meiner Mutter«, höhnte V. »In einer so entscheidenden Angelegenheit? Ich hätte dich nicht für so leichtgläubig gehalten.«

»Sie hat mir einen verdammten T-Rex aufgehalst! War das vielleicht keine glaubwürdige Aktion?«

Plötzlich erklang aus allen Richtungen Vogelgezwitscher. Hätten sie es nicht besser gewusst, hätten sie es für ein paar Käuzchen gehalten, die ihre A-cappella-Nummer einübten.

Verdammt, sie waren viel zu laut.

»Lass mich in Frieden, V«, zischte Rhage. »Wenn du so schlau bist, solltest du dich um dein eigenes Leben kümmern.«

Und bevor er innerlich auf Kampfmodus schaltete und nichts mehr zählte außer Aggression, galt sein letzter bewusster Gedanke Mary.

Er dachte an das letzte Mal, als sie allein gewesen waren, wie es sein Ritual vor jedem Kampf war, sein geistiger Glücksbringer, und an diesem Abend sah er sie im Schlafzimmer stehen, vor dem Spiegel über der großen Kommode, auf die sie ihre Uhren, Schlüssel und Handys legten, ihren Schmuck und seine Lollis.

Sie stand auf Zehenspitzen, beugte den Oberkörper nach vorne und versuchte, einen Perlenstecker in ihr Ohr zu stecken, verfehlte aber das Loch. Da sie den Kopf geneigt hielt, fiel ihr dunkelbraunes Haar auf ihre Schulter. Am liebsten hätte er das Gesicht in den frisch shampoonierten Wellen vergraben. Und das war nicht alles, was ihn gefesselt hatte. Das Licht der Kristall-Wandleuchte fiel auf ihr ebenmäßiges Kinn, ihre cremefarbene Seidenbluse umschmeichelte ihre Brüste und steckte in einem engen Bund, ihre Hose fiel auf flache Schuhe. Sie trug weder Make-up noch Parfüm.

Aber wer wäre auf die Idee gekommen, eine Mona Lisa zu schminken oder einen Rosenbusch mit Raumerfrischer einzusprühen?

Man konnte die körperlichen Vorzüge seiner Gefährtin auf tausendfache Art aufzählen, doch keine Worte, nicht einmal ein ganzes Buch konnten ihr gerecht werden.

Sie war die Uhr an seinem Arm, das Roastbeef gegen seinen Hunger, die Limo gegen seinen Durst. Sie war sein Anker und sein Fels, ein Gebirgszug, wenn ihn die Wanderlust packte, die Bibliothek für seinen Wissensdurst und jeder Sonnenauf- und -untergang auf dieser Welt. Mit einem einzigen Blick oder einem einzelnen Wort konnte sie seine Stimmung ändern, ihn fliegen lassen, auch wenn seine Füße auf dem Boden blieben. Mit einer einzigen Berührung konnte sie seinen Drachen in Ketten legen, ihn kommen lassen, bevor er hart war. Sie war alle Macht des Universums in eine lebende Form gegossen, das Wunder, das ihm zuteil geworden war, obwohl er nichts anderes verdiente als seinen Fluch.

Mary Madonna Luce war die Jungfrau, die Vishous ihm prophezeit hatte – und sie war mehr als genug, um einen gottesfürchtigen Vampir aus ihm zu machen.

Und deshalb …

Rhage lief los, ohne auf das vereinbarte Zeichen zu warten. Die Pistolen vor sich gestreckt sprintete er auf die Gebäude zu und spürte, wie pure hochoktanige Energie in seine Beine strömte. Nein, er brauchte den genauen Wortlaut der Flüche seiner Brüder nicht zu hören, als er die gesamte Tarnung durch seinen Frühstart auffliegen ließ.

Er war es gewohnt, dass die Jungs sauer auf ihn waren.

Ihren Frust zu ertragen war lange nicht so schlimm, wie sich mit seinen eigenen Dämonen herumzuschlagen.

Refugium,Marys Büro

Mary Madonna Luce legte auf und ließ die Hand auf dem glatten Hörer ruhen. Wie vieles von der Ausstattung und von den Möbeln hier im Refugium war auch das Telefon zehn Jahre alt, ein gebrauchter Apparat von irgendeiner Versicherungsgesellschaft oder einem Immobilienmakler. Dasselbe galt für den Schreibtisch, ihren Stuhl, selbst den Teppich unter ihren Füßen. Es handelte sich um das einzige Frauenhaus für Vampirinnen, hier wurde jeder Penny aus der Schatzkasse des Königs in die Hilfe, Behandlung und Rehabilitation der Bewohnerinnen und ihrer Kinder gesteckt.

Opfer konnten kostenfrei in diesem geräumigen Haus wohnen und so lange bleiben, wie es nötig war.

Der größte Posten war natürlich die Belegschaft, und bei Nachrichten wie jener, die sie gerade über das alte Telefon erreicht hatte, war Mary heilfroh darüber, wie Marissa ihre Prioritäten setzte.

»Fick dich, Tod«, flüsterte sie. »Fick dich, fick dich, fick dich.« Sie lehnte sich zurück und zuckte zusammen, als ihr Stuhl quietschte, obwohl sie derartige Protestlaute eigentlich gewöhnt war.

Dann blickte sie zur Decke und spürte den überwältigenden Drang, etwas zu unternehmen. Doch die erste Regel für Therapeuten war, die eigenen Gefühle zu zügeln. Mit blindem Aktionismus war keinem Patienten geholfen, und eine belastende Situation zu verschärfen, indem man sein eigenes Trauma mit ins Spiel brachte, war absolut indiskutabel.

Hätte sie Zeit gehabt, wäre sie zu einer Kollegin gegangen und hätte sich fachlich instruieren, geistig zentrieren und emotional stabilisieren lassen. Doch in der gegenwärtigen Situation blieb nicht mehr als eine Minute, um Rhages patentierte Atemübung anzuwenden.

Nicht die der sexuellen Art, sondern die Yoga-Übung, bei der er die Lunge in drei Zügen füllte, die Luft anhielt und dann in einem Schub ausstieß, zusammen mit der Spannung in den Muskeln.

Oder es zumindest versuchte.

Okay, das brachte sie nicht weiter.

Mary stand auf und beschränkte sich auf zwei Minimal-Maßnahmen, um so was wie Fassung auszustrahlen: Zum einen stopfte sie ihre Seidenbluse zurück in den Bund und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das sie gerade wachsen ließ. Zum zweiten setzte sie ein maskenartiges Gesicht auf, das einfühlsam und besorgt, aber nicht nach der eigenen, wieder aufgerissenen Wunde aussah.

Dann trat sie in den Gang vor ihrem Büro im ersten Stock und wurde vom Duft nach geschmolzener Schokolade, Zucker, Butter und Mehl empfangen. Heute war großes Plätzchenbacken, und einen verrückten Moment lang hätte sie am liebsten ein paar Fenster aufgerissen, um den Wohlgeruch von der kalten Oktoberluft vertreiben zu lassen.

Der harsche Kontrast zwischen der heimeligen Atmosphäre im Haus und der Hiobsbotschaft, die sie überbringen musste, war einfach grausam und würde am Ende noch zum Bestandteil einer traumatischen Erfahrung werden.

Das Refugium befand sich in einem dreigeschossigen Haus, das um Neunzehnhundert erbaut worden war, einem einfachen Kasten ohne viel Charme. Doch es gab Schlafzimmer und Bäder in Hülle und Fülle und eine funktionsfähige Küche. Außerdem war es so unauffällig, dass die Vampire ungestört inmitten der Menschen leben konnten. Später war der Ausbau gekommen. Nach dem Tod von Wellsie hatte Tohr dem Frauenhaus eine großzügige Spende im Namen seiner Shellan vermacht, und mit diesen Mitteln hatten sie den Wellesandra-Trakt finanziert, den Vampirhandwerker hinten angebaut hatten. Jetzt gab es einen Gemeinschaftsraum, eine zweite große Küche, in der alle gemeinsam essen konnten, und vier weitere Suiten für Vampirinnen und ihre Kinder.

Marissa leitete die Einrichtung mit einem mitfühlenden Herz und großem Sachverstand für Logistik. Mit Mary waren es sieben Beraterinnen, und gemeinsam leisteten sie wichtige, sinnvolle Arbeit.

Die einem bisweilen das Herz brach.

Die Tür zum Dachgeschoss öffnete sich lautlos, weil Mary sie erst kürzlich eigenhändig geölt hatte, doch die alten Holzstufen knarzten, obwohl sie mit ihren flachen Schuhen nur leicht auftrat.

Es war unmöglich, sich nicht wie der finstere Sensenmann vorzukommen.

Der enge, lange Gang mit seiner hundert Jahre alten Holzvertäfelung und dem grob geflochtenen Läufer leuchtete rötlich im gelben Schein der alten Messinglampen. Am Ende des Korridors drang oranges Licht von einer Außenlampe durch ein ovales Fenster und wurde von den Sprossen in vier Abschnitte unterteilt.

Fünf der sechs Türen standen offen.

Mary ging auf die sechste zu und klopfte. Als ein leises »Ja?« ertönte, schob sie die Tür einen Spaltbreit auf und beugte sich hinein.

Das kleine Mädchen, das auf einem der beiden Betten saß, entwirrte das Haar einer Puppe mit einer Bürste, an der ein paar Borsten fehlten. Sie hatte ihr langes, braunes Haar zu einem Pferdeschanz gebunden und trug ein selbstgenähtes Hängerkleid aus blauem Stoff, abgenutzt, aber noch intakt. Auch ihre Schuhe waren abgestoßen, aber sorgfältig geschnürt.

Sie wirkte sehr klein in dem Zimmer, das selbst nicht sonderlich groß war.

Verlassen.

»Bitty?«, sagte Mary.

Es dauerte einen Moment, bevor das Mädchen die hellbraunen Augen hob. »Es geht ihr nicht gut, oder?«

Mary schluckte. »Nein, meine Liebe. Deiner Mahmen geht es nicht gut.«

»Ist es Zeit, mich von ihr zu verabschieden?«

Nach einem Moment flüsterte Mary: »Ich fürchte ja.«

2

»Soll das ein beschissener Witz sein?«

Als der riesenhafte Hollywood mit seinem Spatzenhirn aus der Deckung sprang und auf die Backsteingebäude zusprintete, überlegte Vishous kurz, ob er hinterherhechten sollte, einfach nur, um ihn windelweich zu prügeln. Aber das war Unsinn.

Eine Kugel konnte man nicht einfangen, wenn sie einmal in der Luft war.

Selbst wenn man versuchte, das tumbe Stück Blei vor dem eigenen Untergang zu retten.

V pfiff, aber es hatten ohnehin alle gesehen, was dieser Vollidiot da abzog.

Die Brüder und anderen Kämpfer sprangen hinter Bäumen und Schuppen hervor und versuchten, mit Rhage aufzuschließen, Pistolen und Dolche im Anschlag. Aus den Gebäuden drangen Rufe. Ihre Feinde hatten sie beinahe sofort bemerkt und strömten aus den Türen wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm.

Was für eine Riesenscheiße! Die ersten Schüsse fielen. Rhage feuerte wild um sich und traf diverse Jäger in die Gesichter. Seine großkalibrigen Kugeln traten aus den Hinterköpfen der Getroffenen aus und verwandelten sie in elende Häufchen aus rudernden Armen und Beinen. Was toll war – aber nicht lang anhalten würde, weil sich die Jäger daranmachten, Rhage von seinen Mitstreitern abzuschneiden und eine zweite Frontlinie zu bilden.

Herzlichen Dank, Rhage. Mit seinem Frühstart und seiner ganz persönlichen Agenda hatte er alles über den Haufen geworfen, was sie nächtelang ausgetüftelt hatten.

Jetzt herrschte Chaos, doch das hatten sie im Gegensatz zu Rhages Alleingang erwartet: So wie sich jeder Nahkampf irgendwann auf den Boden verlagerte, endete auch der schönste Angriffsplan über kurz oder lang in einem hoffnungslosen Durcheinander. Wenn man Glück hatte, dauerte es eine Weile, und der Feind hatte bis dahin bereits empfindlichen Schaden genommen.

Aber nicht, wenn Hollywood mit von der Partie war.

Ach ja, und könntest du dich das nächste Mal bitte nicht in eine dreistellige Überzahl von Feinden werfen, wenn man dir gerade gesteckt hat, dass du in dieser Nacht stirbst? Du hirnamputiertes Arschloch.

»Ich habe versucht, dich zu retten!«, schrie V ins Kampfgetümmel, einfach nur, weil es jetzt egal war.

Rhage war so ein verdammter Hitzkopf. V hätte es wissen müssen und ihn noch zu Hause ansprechen sollen. Leider war er da zu sehr mit seinen eigenen Vorbereitungen beschäftigt gewesen, um an seine Vision zu denken. Erst hier auf diesem verwahrlosten Campus war ihm plötzlich die Erleuchtung gekommen. Er hatte ein paarmal geblinzelt … und schlagartig erkannt, ja, Rhage würde sterben. In dieser Nacht. Auf diesem Brachland.

Es ihm zu verschweigen, das wäre gewesen, als hätte V ihm die Kugel selbst in den Kopf gesetzt.

Es ihm zu sagen hatte allerdings auch nicht viel gebracht.

»Verdammt, Hollywood!«, schrie er. »Ich krieg dich!«

Denn er würde diesen Verrückten vom Schlachtfeld holen, und wenn es das Letzte war, was er tat.

V feuerte nicht, bis er bis auf drei Meter an den ersten Lesser herangekommen war – andernfalls hätte er riskiert, einen seiner Mitkämpfer zu treffen. Der Lesser, den er im Visier hatte, hatte dunkles Haar und dunkle Augen und erinnerte in seiner Angriffshaltung an einen Grizzly-Bär. Schwerfällig und sabbernd. Eine Kugel ins rechte Auge, und der Kerl lag flach hingestreckt auf dem Boden.

Es blieb keine Zeit, ihn mit einem Dolchstoß zurück zu Omega zu befördern. Vishous sprang über den zuckenden, aber bewegungsunfähigen Fleischklops und machte sich über den nächsten her. Er entdeckte einen blonden Jäger etwa fünf Meter zu seiner Linken, sah sich schnell um, ob die Bruderschaft noch nicht zu weit voneinander getrennt war, und krümmte seinen behandschuhten Zeigefinger um den Abzug. Der erlegte Lesser sah aus wie Rod Stewart im Jahr 1980.

Weiter ging es mit Nummer drei. V schoss ab, was abzuschießen war, und achtete darauf, seinen Brüdern nicht vor die Flinte zu laufen oder sie zu behindern. Hundertfünfzig Meter Videospiel weiter erreichte er Deckung und Gefahr zugleich: Das erste der Wohngebäude, das sie ursprünglich überfallen wollten, einen ausgehölten Kasten mit jeder Menge Verstecke und Nischen, die nur ein Schwachkopf für leer halten würde. Also blickte er sich sorgsam um, während er sich mit dem Rücken zur Wand an der Flanke vorarbeitete, sich unter Fenstern durchduckte und über niedriges Buschwerk sprang.

Kalte Böen wehten den Gestank der niedergemetzelten Lesser – Zuckerwatte gemischt mit verwesendem Fleisch – zu ihm herüber, wo er sich mit den hallenden Schüssen und den Schreien der Feinde vermischte. Die Wut in seinem Bauch stachelte ihn an und schärfte seine Sinne, während er auf Feinde schoss und versuchte, dabei nicht selbst getroffen zu werden.

Wenn er diesen verdammten Rhage erwischte, würde er ihm eine dicke Lippe verpassen.

Wenn ihn nicht vorher schon sein Schicksal ereilte.

Zum Glück war die Reaktion der Gesellschaft der Lesser genauso unkoordiniert wie der Angriff der Bruderschaft, da ihnen der Haupt-Lesser fehlte. Außerdem waren sie waffenmäßig miserabel ausgestattet und erbärmlich schlecht trainiert. Nur jeder fünfte verfügte über eine Schusswaffe und jeder zehnte konnte kämpfen. Angesichts der erdrückenden Übermacht ihrer Feinde rettete ihnen das vielleicht den Arsch.

Peng!, ein Schuss links, Peng!, ein Schuss rechts. Ducken, zu Boden werfen, abrollen. Aufspringen und weiterrennen. Über zwei auf der Erde liegende Lesser – vielen Dank, Assail, du verrückter Bastard, und Peng!, ein Schuss direkt vor ihm.

Der magische Moment kam fünf Minuten nach Beginn des Angriffs. Plötzlich trennte sich sein Geist von der Materie, löste sich von dem Körper, der so hart und akkurat arbeitete.

Bald schon schwebte sein Bewusstsein über dem Adrenalin, das wie ein Waldbrand in seinen Armen und Beinen wütete, und sah von einer Warte oberhalb der rechten Schulter aus zu, wie er einen Schuss nach dem anderen abfeuerte und sich voranarbeitete.

Diesen Schwebezustand erlangte er normalerweise viel schneller, aber weil Rhage all diese Mordgelüste und Sorgen in ihm ausgelöst hatte, trudelte er diesmal mit Verspätung ein.

Und von seiner neuen Warte aus bemerkte V das Problem als Erster.

Manchmal waren unscheinbare, unerwartete, verdammt noch mal völlig aus der Art schlagende Details genauso wichtig wie all der Scheiß, den man in einer Schlacht erwartete.

Wie zum Beispiel die drei Gestalten, die am seitlichen Rand des Kampfgetümmels auf die Straße zurannten. Selbstverständlich konnten es Lesser sein, die sich in die Hosen machten und desertierten – doch etwas sprach dagegen: Sie trugen Omegas Blut in den Adern, das wie ein teuflischer Peilsender funktionierte. Und wer einem Chef wie Omega erklären musste, dass er sich mal eben aus dem Staub machen wollte, durfte mit einer Folter rechnen, neben der die Hölle wie ein gemütlicher Nachmittag auf der Couch anmutete.

Verdammt, er durfte sie nicht entkommen lassen, denn am Ende riefen sie die Bullen, und sie bekamen es auch noch mit einem Großeinsatz zu tun.

Vorausgesetzt, sie hatten es nicht längst getan.

Fluchend nahm V die Verfolgung der drei Freidenker auf und dematerialisierte sich in ihre Bahn. Als er wieder Gestalt annahm, erkannte er sie sofort als Menschen, noch bevor ihm auffiel, dass der hintere rückwärts lief und mit einem verdammten iPhone filmte.

Vishous hasste alles mit dem bescheuerten Apfel drauf.

Er sprang dem Kerl vor die Füße, was unser Möchtegern-Starregisseur natürlich nicht merkte, weil er mitten in den Dreharbeiten steckte.

Vishous stellte ihm ein Bein, sodass er in hohem Bogen durch die Luft flog und sein Handy in die Höhe warf. V fing es auf und steckte es in seine Lederjacke, dann setzte er dem Kerl einen Stiefel auf die Brust und hielt ihm die Waffe ins Gesicht. Der Mensch begann sinnloses Zeug zu faseln, und V musste sich wirklich beherrschen, um ihm nicht den Hals aufzuschlitzen und dann über seine zwei Freunde herzufallen, die noch immer rannten. Menschen waren wirklich das Letzte. Er hatte hier wichtige Arbeit zu erledigen, stattdessen bemutterte er diese schwanzlosen Ratten, damit sich der Rest von ihnen nicht aufregen musste, dass Vampire unter ihnen weilten.

»T-t-t-t-t-tun Sie mir nicht w-w-w-weh«, stammelte er, und Vishous roch den Urin, als er sich einnässte.

»Ihr seid einfach so erbärmlich.«

Fluchend drang V in die Gedanken dieses Losers ein und prüfte, ob sie die Polizei schon benachrichtigt hatten – was zum Glück nicht der Fall war –, bevor er seine Erinnerung daran löschte, wie er und seine Freunde beim Kiffen durch einen Kriegsausbruch gestört worden waren.

»Du hattest einen Horrortrip, du Schwachkopf«, brummte V. »Ganz schlimm. Aber all das ist nur ein verdammter Horrortrip. Und jetzt hopp nach Hause zu Papi und Mami.«

Wie ein Aufziehmännchen sprang der Junge auf und rannte in seinen neuen Retro-Chucks seinen Freunden hinterher, und in seinem geröteten Gesicht stand ein Ausdruck tiefster Verwirrung.

Vishous dematerialisierte sich erneut und schnitt den anderen zwei Pennern den Weg ab. Und sieh einer an, allein sein plötzliches Erscheinen brachte sie zum Stehen. Sie stoppten ruckartig wie Hunde, die das Ende ihrer Kette erreicht hatten, stolperten fast über die eigenen Füße und ruderten wie wild mit den Armen in ihren Parkas.

»Ihr Wichser seid immer zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Vishous schaltete ihre Gehirne auf Pause und tastete sie ab, leerte sowohl ihre Taschen als auch ihr Kurzzeitgedächtnis – dann ließ er sie laufen, begleitet von einem stillen Gebet, einer von ihnen möge eine unentdeckte Herzschwäche haben, die erst unter Stress zum Vorschein kam und ihn auf der Stelle umbrachte.

Denn auch V war eine miese Ratte.

Doch er durfte keine Zeit verschwenden. Er musste Rhage einfangen, also zückte er seine Vierziger und überlegte, wie er den Hurensohn am schnellsten erreichte. Leider konnte man sich nicht mitten in ein Gefecht dematerialisieren, und die Kugeln flogen nur so durcheinander. Wenigstens erreichte er bald Deckung, erst hinter einer Reihe Ahornbäume, dann in Form eines Gebäudes, in dem sich vermutlich weitere Schlafräume befanden.

V presste den Rücken an die kalte, harte Ziegelwand und lauschte über sein schweres Atmen hinweg. Die meisten Schüsse kamen von links. Schnell wechselte er die Magazine, obwohl noch drei Kugeln im einen, zwei im anderen steckten. Frisch beladen joggte er bis zum Ende des Gebäudes und steckte den Kopf um die …

Der Jäger beugte sich aus dem letzten Fenster, unter dem er hindurchschlüpfte, und hätte es nicht beim Öffnen gequietscht, wäre V geliefert gewesen. Impulsiv richtete er die Waffe nach oben und drückte ab, bevor er wusste, was er tat. Die Kugel drang in das Gesicht des Lessers, und eine Fontäne aus schwarzem Blut spritzte aus dem Hinterkopf und regnete herab wie Tinte.

Leider zuckte dabei die Hand des Jägers, sodass sich ein paar Schüsse aus einer Selbstlader lösten. Ein Brennen an der Hüfte verriet V, dass er mindestens einmal getroffen worden war. Aber besser dort, als irgendwo anders …

Ein zweiter Jäger kam um die Ecke, und V erwischte ihn mit einem Schuss aus der linken Pistole am Hals. Offensichtlich war der Mistkerl unbewaffnet, denn nichts fiel ins wuchernde Gras, als er sich an die Kehle langte und versuchte, den schwarzen sprudelnden Fluss zu stoppen.

Es blieb keine Zeit, ihnen irgendwelche Waffen abzunehmen oder sie mit einem Dolchstoß zu Omega zu befördern, denn ein Stück weiter steckte Rhage in Schwierigkeiten.

Das Zentrum des Schulgeländes bildete ein Platz, umgeben von Gebäuden, hier stand Rhage im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, während sich mindestens zwanzig Jäger von allen Seiten an ihn heranpirschten.

»Verdammte Scheiße«, knurrte V.

Ihm blieb keine Zeit für Strategien. Toll. Und außer ihm konnte niemand Hollywood helfen, denn alle waren in ihre eigenen Kämpfe verwickelt. Der Angriff hatte sich in ein halbes Dutzend Gefechte aufgelöst, die an verschiedenen Orten ausgetragen wurden.

Keine Unterstützung, dabei hätte Rhage drei bis vier Mann als Schützenhilfen brauchen können – statt einem einzelnen, der am Oberschenkel verwundet war und einen tiefen Groll gegen ihn hegte.

Verdammt, Vishous war es gewöhnt, recht zu behalten, aber manchmal machte es ihn wahnsinnig.

Er arbeitete sich vor, indem er sich auf eine Seite des Gedränges konzentrierte, wo er Jäger niederschoss, um einen Fluchtweg für seinen Bruder zu schaffen. Aber Rhage … dieser verdammte Rhage.

Er war wie ihm Rausch, obwohl seine Rechnung nicht aufgehen konnte. Dabei hatte es eine tödliche Schönheit, wie er sich langsam im Kreis drehte und einen Schuss nach dem anderen abfeuerte, frei nach dem Motto »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Zwischendrin lud er seine Selbstlader, ohne eine Sekunde zu verlieren, und schuf auf diese Weise einen Ring aus zuckenden, halbtoten Untoten um sich herum.

Er selbst war ruhig wie das Auge des Hurrikans. Das einzig Unkontrollierte war sein Gesicht. Diese unverschämt gut aussehende Visage war zu einer monsterhaften Fratze verzogen. Seine Mordlust trat ungeschminkt zutage – worüber man hinwegsehen hätte können.

Wäre er kein ausgebildeter Elitekämpfer gewesen.

Entfesselte Mordlust war der Untergang jedes Amateurs, sie machte blind, statt achtsam, schwächte, statt zu stählen.

Vishous arbeitete, so schnell er konnte, zielte auf nicht vorhandene Herzen, Bäuche und Köpfe, bis der Gestank schwer in der Luft hing, obwohl der Wind in die Gegenrichtung blies. Aber er musste sich aus der ständig wechselnden Schussbahn von Rhage raushalten, um nicht selbst getroffen zu werden, denn er vertraute nicht darauf, dass sein Bruder noch zwischen Freund und Feind unterscheiden konnte.

Und das war das verdammte Problem, wenn man im Kampf den Kopf verlor.

Und dann geschah es.

Selbst als die zwanzig oder fünfundzwanzig Lesser am Boden lagen, drehte sich Rhage weiter und schoss, ein Todeskarussell, das zu bescheuert war, sich auszuschalten, obwohl niemand mehr auf den Dämonenpferden saß.

»Rhage!« V blickte um sich und hielt die Waffen im Anschlag, hörte aber auf zu schießen. »Du verdammter Idiot! Hör auf!«

Peng! Peng! Peng-peng!

Aus Hollywoods Mündung blitzte es unablässig, obwohl es nichts mehr gab, worauf er schießen konnte – außer seinen Mitstreitern in der Ferne, die nur zufällig gerade außer Reichweite waren.

Was sich schnell ändern konnte.

Vishous bewegte sich auf Rhage zu, hinweg über die sich am Boden windenden Jäger, immer im Rücken seines Bruders, der sich weiter um die eigene Achse drehte. »Rhage!«

Die Versuchung, ihm in den Hintern zu schießen, war so stark, dass er die rechte Mündung auf Po-Level senkte. Aber das war nur ein Wunschtraum. Wenn er Hollywood eine Bleispritze verpasste, trat die Bestie auf den Plan, und V stand im richtigen Abstand, um als Appetithäppchen zu dienen.

»Rhage!«

Irgendwie musste er zu seinem Bruder durchgedrungen sein, denn das sinnlose Trommelfeuer wurde langsamer … und erstarb schließlich ganz, bis Rhage mit hängenden Schultern und leerem Blick dastand und keuchte.

Ihre Position war so exponiert, dass wirklich nur noch Neonpfeile über ihren Köpfen fehlten.

»Verschwinde hier«, bellte V. »Hast du völlig den Verstand verloren …«

Da passierte es.

Während er um Rhage herumging, um sich vor ihn zu stellen, sah er aus dem Augenwinkel, wie einer der verletzten Lesser zitternd den Arm hob … mit einer Waffe in der Hand. Und als die Kugel aus der Mündung schoss, berechnete V ihre Flugbahn so schnell, wie sie flog.

Auf die Brust von Rhage zu.

Direkt in die Mitte, denn das war – hallo – das größte Ziel auf diesem verdammten Campus, mal abgesehen von den Eingangstüren der Gebäude.

»Nein!«, schrie V und warf sich der Kugel in den Weg.

Ja, weil es so toll war, wenn er stattdessen starb? Es war eine Lose-lose-Situation.

Doch es durchzuckte ihn kein Schmerz, als er durch die Luft flog, kein sengendes Brennen in der Flanke oder Hüfte oder am anderen Schenkel.

Denn die verdammte Kugel hatte ihr Ziel längst erreicht.

Rhage grunzte, riss die Arme hoch und vollführte wieder die automatisierte Bewegung an den Abzügen, bis die Magazine leer waren. Er schoss in den Himmel, als würde er fluchen vor Schmerz.

Und dann stürzte er zu Boden.

Anders als die Jungs von Omega starben Vampire an einem solchen Treffer, selbst Angehörige der Bruderschaft. Denn so einen Schuss konnte niemand überleben.

V schrie erneut, warf sich zu Boden und feuerte auf den Lesser, bis er bis zum Rand mit Blei gefüllt war.

Als die Gefahr gebannt war, krabbelte er auf seinen Bruder zu, im Krebsgang auf den Griffen seiner Waffen und den Hacken seiner Springerstiefel. Dafür, dass er eigentlich keine Angst kannte, packte ihn jetzt das blanke Entsetzen.

»Rhage!«, hauchte er. »Scheiße, nein … Rhage!«

3

Havers’ neue Klinik lag auf der anderen Seite des Hudson River in einem eineinhalb Quadratkilometer großen Waldabschnitt, in dem es nichts gab außer einem alten Farmhouse und drei, vier neuen Baracken, die alle getarnte Eingänge zu der unterirdischen Einrichtung waren. Auf dem letzten Abschnitt der zwanzigminütigen Fahrt in ihrem Volvo XC70 sah Mary immer häufiger in den Rückspiegel. Bitty saß auf der Rückbank und starrte aus dem getönten Fenster, als wäre es ein Fernseher, auf dem ein spannender Film lief.

Jedes Mal, wenn Mary sich wieder der Straße zuwandte, klammerte sie sich fester ans Lenkrad. Und gab ein bisschen mehr Gas.

»Wir sind gleich da«, sagte sie. Nicht zum ersten Mal.

Sie wusste, dass sie Bitty mit ihren Beteuerungen nicht half und sie im Grunde nur sich selbst zuliebe wiederholte. Der Gedanke, sie könnten es nicht rechtzeitig ans Sterbebett schaffen, war so entsetzlich, dass er sich einfach nicht vertreiben ließ. Die Angst zog sich wie ein zu enges Korsett um Marys Brust zusammen und machte ihr das Atmen schwer.

»Hier ist die Abzweigung.«

Mary setzte den Blinker und bog rechts ab auf eine schmale, holprige Straße, die ihr in ihrem gehetzten Zustand den Rest gab.

Doch selbst auf einem breiten Super-Highway hätte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen.

Die einzige Klinik für Vampire lag geschützt vor neugierigen Blicken und den erbarmungslosen Strahlen der Sonne unter der Erde. Wer sich hier in Behandlung begab oder jemanden einlieferte, wurde einer der Pforten zugeteilt. Mary sollte direkt zum Farmhouse durchfahren, das hatte ihr die Krankenpflegerin mitgeteilt, die wegen der traurigen Nachrichten im Refugium angerufen hatte. Dort parkte sie nun zwischen einem neuen Pick-up und einer alten Limousine.

»Bereit?«, fragte sie mit einem Blick in den Rückspiegel und stellte den Motor ab.

Doch es kam keine Antwort. Also stieg sie aus und ging zu Bittys Tür. Das Mädchen schien überrascht, dass sie schon am Ziel waren, und tastete mit kleinen Händen nach dem Gurt.

»Brauchst du Hilfe?«

»Es geht schon, danke.«

Bitty schien entschlossen, allein aus dem Auto zu steigen, auch wenn sie etwas länger dafür brauchte als unter normalen Umständen. Womöglich war die Verzögerung beabsichtigt. Denn was nach diesem Tod kam, war so schrecklich, dass man lieber nicht darüber nachdenken wollte. Keine Familie. Kein Geld. Keine Ausbildung.

Mary deutete auf einen Schuppen hinter dem Haus. »Wir gehen da rüber.«