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Dieser Band enthält folgende Krimis: Trevellian erkennt die mörderische Planung (Thomas West) Pennington Wise und die Affäre bei Flowers Acres (Carolyn Wells) Kommissar Jörgensen und die tote Tochter (Alfred Bekker) Mein Name ist übrigens Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar. Zusammen mit meinem Kollegen Kriminalhauptkommissar Roy Müller arbeite ich in der Kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppe des Bundes, die hier in Hamburg angesiedelt ist und sich vor allem mit den größeren Fällen beschäftigt. Dem organisierten Verbrechen zum Beispiel. Und bei so manchem, was man hier erlebt, wird man dann auch wieder ganz von selbst sehr gläubig. Hamburger hin oder her. Es stimmt auch nicht, dass alle richtigen Hamburger nicht zur Kirche gehen. Manche gehen da zum Beispiel aus einem Grund hin, den man als nicht wirklich sachgerecht bezeichnen könnte. So in diesem Fall.
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Krimi Trio 3334
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Trevellian erkennt die Mörderische Planung: Kriminalroman
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Pennington Wise und die Affäre bei Flower Acres: Kriminalroman
Kommissar Jörgensen und die tote Tochter
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Trevellian erkennt die mörderische Planung (Thomas West)
Pennington Wise und die Affäre bei Flowers Acres (Carolyn Wells)
Kommissar Jörgensen und die tote Tochter (Alfred Bekker)
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
Krimi von Thomas West
Der Umfang dieses Buchs entspricht 119 Taschenbuchseiten.
Eine Serie von Bombenanschlägen, die offenbar rassistisch motiviert sind, versetzt das FBI in Alarmstimmung. Die Ermittlungsarbeit gestaltet sich schwierig, bis endlich die mutmaßlichen Drahtzieher festgenommen werden können. Aber rasch regt sich Zweifel, ob es sich bei ihnen nicht doch nur um Trittbrettfahrer handelt, denn der Terror geht weiter. Die Lösung dieses Rätsels ist überraschend. Trevellian und seine Kollegen haben eine schwere Nuss zu knacken.
Die Brandung rauschte und zischte aus der Dunkelheit wie Atemstöße eines schlafenden Riesen. Der raue Wind beugte das Dünengras bis in den Sand hinab. Die Neumondsichel verschwamm im Himmelsdunst über Coney Island. Die Herbstluft war feucht, und die Kälte kroch Larry unter den Hosenaufschlägen über Waden und Knie in die Oberschenkel.
Er spürte es kaum. Das Haus und seine Umgebung fesselten seine Aufmerksamkeit. An diesem Sonntag war es bewohnt. Durch sein Nachtglas sah er die Reifenspuren im Kies vor der Garage, sah das hochgezogene Fenster, sah Spaten und Harke neben dem kleinen Werkzeugschuppen. Sah alles, was sich seit gestern verändert hatte.
„Na, prächtig‟, murmelte er und setzte das Nachtglas ab. Er griff in die Jackentasche und spannte den Hahn seines Revolvers. „Dann wollen wir mal ...‟
Der Sand unter seinen Schuhen gab nach, als er mit großen Schritten die Düne hinunterlief. Über einen serpentinenartigen Trampelpfand schlich er zu dem Haus hinauf. Von fast jedem der Wochenendhäuser hier am Strand führte so ein Pfad in die Dünen hinunter. Larry kannte sich aus.
Er musste sich auskennen – es war gewissermaßen sein Job, mit der Umgebung von Wochenendhäusern vertraut zu sein. Es war sein Job zu erkennen, ob Wochenendhäuser leer standen oder bewohnt waren. Und dieses war bewohnt, okay, das wusste er jetzt.
Was ihn ein wenig irritierte: Hinter keinem der Fenster brannte Licht. Dabei war es erst kurz nach zehn. Das konnte bedeuten, dass die Leute zu einem nächtlichen Spaziergang am Strand unterwegs waren. Das konnte aber genauso gut bedeuten, dass sie Frühaufsteher und schon zu Bett gegangen waren. Larry vermutete ersteres. Aber konnte man das so genau wissen?
Egal. Seine Rechte fuhr in die Jackentasche und umschloss die hölzernen Griffschalen seines zuverlässigsten Komplizen: Ein Llama Comanche, ein .357er Magnum. Ziemlich schweres Teil, aber Larry stand auf die spanische Ballermänner.
Der Weg stieg steil an. Umrisse von Ginsterbüschen säumten seinen Rand. Das Röhren eines Jets schwoll an und verlor sich dann Richtung John F. Kennedy International Airport. Larry hörte es nicht. Er hörte aber sein Herz in den Schläfen pochen. Und zwar um so lauter und schneller, je näher er dem unbeleuchteten Anwesen kam. Auch sein Atem ging nun schneller.
Das lag nicht an dem steilen Weg, ganz sicher nicht – Larry war erst Ende zwanzig und gut durchtrainiert obendrein. Sich fit zu halten war er seinem Job schuldig. Nein – beschleunigter Atem, beschleunigter Puls: Nichts Besonderes für Larry. Er nannte es „Jagdfieber‟. Gehörte einfach dazu.
Das Gelände wurde flacher, der Weg breiter und weniger steil. Bald schälten sich die Konturen des Wochenendhauses aus der Dunkelheit.
Larry verließ den Weg und huschte zwischen die Ginsterbüsche. Vorsichtshalber. Nicht, dass irgendwer am dunklen Fenster stand und der Brandung oder dem Heulen des Herbstwindes lauschte. Manhatties, die Tag für Tag nur Verkehrslärm, Stimmen aus dem Fernseher und Polizeisirenen hörten, waren solche Anfälle von Naturromantik durchaus zuzutrauen. Larry kannte sich aus.
Bald konnte er die Latten des etwa hüfthohen Holzzaunes voneinander unterscheiden, der das kleine Anwesen umgab. Hinter die Ginstersträucher geduckt schlich er ein paar Schritte vom Zaun entfernt am Grundstück entlang, bis er den kleinen Werkzeugschuppen erreichte. In dessen Deckung pirschte er sich an den Zaun heran.
Noch einmal setzte er das Nachtglas an die Augen. Sein Blick glitt über die Hausfassade. Und blieb am offenen Fenster hängen.
Wenn er es recht bedachte, passte es nicht zu einem Manhattie, das Fenster zu öffnen, bevor er das Haus zu einem Nachtspaziergang verließ. Es könnten ja böse Menschen auf die Idee kommen, in das Haus einzusteigen und wer weiß was anzustellen. Menschen wie Larry zum Beispiel.
Nein, nein, dachte Larry, hinter dem offenem Fenster liegt irgend so ein Frischluftfanatiker in den Federn.
Ein Paar, vermutete er. Es waren meistens Paare, die an den Wochenenden hier herauskamen. Merkwürdig, dass sie erst heute, am Sonntag, aus Manhattan nach Coney Island gefahren waren. Lohnte sich doch kaum. Aber Larry sollte es Recht sein.
„Hoffen wir, dass ihr einen tiefen Schlaf habt‟, murmelte er. „Hoffen wir’s für mich und für euch.‟ Er stieg über den Zaun und zog den Llama-Revolver aus der Jackentasche.
Der Wagen stieß rückwärts in eine Parklücke. „Ein blauer Mercury‟, sagte Milo. „Das ist er.‟
Ich griff zum Mikro. „Trevellian an Zentrale, kommen.‟
Auf der anderen Straßenseite stieg ein bärtiger Mann mit schwarzem Haarzopf aus dem Mercury. Er zog sich die Kapuze seines Parkas über den Kopf. Im Schein der Straßenbeleuchtung studierte er irgendeinen Zettel. Danach steuerte er den Eingang des Spielsalons an.
„Zentrale hört.‟ Clives Stimme aus dem Funkgerät.
„Curseley ist da. Er geht ins Tivoli.‟
„Okay. Wir sagen Orry Bescheid. Ende.‟
Kollege Medina war schon vor zwei Stunden in dem Spielsalon verschwunden. Er beschattete Curseleys Kontaktmann, einen ägyptischen Staatsbürger, dem wir allerhand Übles zutrauten. Zum Beispiel das Bombenattentat auf die Yacht eines Börsenmaklers, das zwei Wochen zuvor Schlagzeilen im Big Apple gemacht hatte.
Das Schiff war an einem der Piers am Hudson-Hafen gesunken. Sein Besitzer war jüdischen Glaubens und unterhielt gute Kontakte zur israelischen Botschaft in Washington.
Die Explosion hatte sich mitten in der Nacht ereignet. Verletzt wurde niemand, nur war es nicht die erste Bombe, die in jenem Oktober in New York City explodierte.
„Gehen wir ’rein.‟ Ich zog den Zündschlüssel ab. Wir stiegen aus meinem Sportwagen und überquerten die Mott Street. Bunte Lichter blinzelten uns aus den Schaufenstern des „Tivoli‟ entgegen. Drinnen konnte man Männer an Spielkonsolen sitzen sehen. Wir betraten die aus mehreren Räumen bestehende Spielhalle. Milo ging voran.
Für einen Sonntagabend war es ziemlich voll. Curseley und der Ägypter standen an den beiden einzigen Flipperautomaten. Nicht weit von ihnen, in Ledermantel und Wollmütze, hockte Orry vor dem Steuerrad eines virtuellen Rennwagens. Kopfhörer eines Walkmans steckten in seinen Ohren. Jedenfalls sahen die Ohrstöpsel aus wie Kopfhörer eines Walkmans. Orry hörte aber keine Musik – er stand in Verbindung mit der Zentrale.
Wir beachteten weder unseren Kollegen, noch Curseley und den Ägypter. Scheinbar zielstrebig gingen wir zu einem freien Billardtisch und bewaffneten uns mit Queues.
Ich warf ein paar Münzen ein. Die Kugeln polterten in den Ausgabeschlitz. Aus den Augenwinkeln beobachteten wir Curseley und den Ägypter. Jeder von ihnen schien einzig und allein Augen für seinen Pinball zu haben. Aber sie bewegten die Lippen. Also sprachen sie miteinander.
Ein V-Mann hatte uns den Tipp mit Curseley gegeben. Ein Dealer, der sich in hier Little Italy in unseren dunkelsten Kundenkreisen bewegte.
Nach den Bombenanschlägen hatten wir sämtliche Kontakte in die Unterwelt angezapft. Und jener Dealer eben wusste von einem Sprengstoffspezialisten, der sich teuer für seine Dienste bezahlen ließ. Sogar den Namen des Sprengstoffspezialisten kannte er – Curseley.
„Der Ägypter steckt ihm ein Kuvert zu.‟ Milo visierte die weiße Kugel an. Das Queue schoss zwischen seinen Fingern hindurch. Die Weiße prallte an die Bande, streifte eine von Milos Kugeln und versenkte sie im Seitenloch.
Ich spähte zu den Flipperautomaten. Curseleys Hand verschwand gerade in der Innentasche seines Parkas. Als sie wieder auftauchte, hielt sie einen Autoschlüssel fest. Der Ägypter nahm den Schlüssel und wandte sich vom Flipperautomaten ab. Ohne Eile schritt er auf den Ausgang zu.
Ich zückte mein Handy und rief die Zentrale an. Kurz darauf stand Orry auf. Er ging an eines der beiden Schaufenster. Von dort aus blickte er auf die Straße hinaus.
Ich behielt ihn im Auge. Irgendwann drehte er sich um und nickte. Das konnte nur bedeuten, dass der Ägypter sich an Curseleys Wagen zu schaffen machte. So ähnlich hatten wir uns das vorgestellt.
Clives Anruf ließ nicht lange auf sich warten. „Wir greifen zu.‟ Noch während ich mit Clive sprach, sah ich Orry den Spielsalon verlassen.
Wir stellten die Queues ins Regal. Curseley starrte noch immer in seinen Flipperautomaten. Verbissen drückte und schüttelte er an dem Automaten herum. Entweder die Silberkugel unter dem Glas oder das, was der Ägypter draußen bei seinem Mercury zu erledigen hatte, fesselte seine Gedanken so sehr, dass er Milo und mich erst im letzten Augenblick bemerkte.
Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als wir plötzlich rechts und links von ihm auftauchten.
„’n Abend, Mr. Curseley.‟ Milo hielt ihm seine Dienstmarke unter die Nase. „Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden – und so weiter, Sie kennen das ja.‟
„Was soll das?‟, stieß Curseley heiser aus. Ich sah, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Ein gutes Zeichen. Für uns, nicht für Curseley.
„Nichts weiter.‟ Ehe er sich versah, hatte ich ihm schon die Handschellen angelegt. „Wir schauen nur mal eben, was der Gentleman aus Nahost in Ihrem Auto sucht. Danach unterhalten wir uns eventuell ein bisschen.‟
Von allen Seiten trafen uns verstohlene Blicke. Polizei im Spielsalon – eine solche Nachricht verbreitet sich ungefähr so schnell wie Erreger von Maul- und Klauenseuche.
Zwei Männer schlenderten Richtung Ausgang. Drollig, wie sie sich um Gelassenheit bemühten. Einer der Geschäftsführer verließ seinen Platz hinter der Theke und verschwand durch eine Tür zu irgendeinem Hinterzimmer. Vermutlich, um eine illegale Pokerrunde zu sprengen. Wir kümmerten uns nicht darum. Curseley hieß unser Mann.
Milo griff in Curseleys Parka. Er zog einen Zettel aus der Tasche. „Tivoli, Mott Street‟, las er laut. „Ägypter, eins-achtzig, schwarzhaarig, am Flipperautomaten.‟
Er lächelte den zerknirschten Curseley an. „Sie sind also das erste Mal hier? Und den Ägypter sehen Sie auch zum ersten Mal?‟ Wieder griff er in den Parka. Diesmal holte er das Kuvert heraus. Es sah groß und prallgefüllt aus.
„Dafür vertraut er Ihnen aber eine Menge Geld an.‟ Milo mimte den Erstaunten. „Sie wissen ja – falls Sie mittellos sind, wird Ihnen ein Anwalt gestellt.‟ Er grinste, während er die Banknoten durchblätterte. „Das sind gut und gern zehntausend Dollar. Die Geschäfte scheinen zu laufen, Curseley, oder versteh’ ich da was falsch ...?‟
In dem Moment fiel draußen auf der Straße der erste Schuss.
Ich überließ den Mann in Handschellen meinem Partner. Mit gezogener Waffe stürzte ich auf die Mott Street. Mündungsfeuer von rechts zwang mich zu einer Bauchlandung auf dem Bürgersteig. Ein Schuss pfiff über mich hinweg in die Dunkelheit und schlug in Blech oder Kunststoff ein. Ich rollte gegen die Beifahrerseite eines parkenden Wagens.
„Sie sind zu dritt!‟ Orrys Stimme irgendwo hinter mir. Auch er schien zwischen den Autos in Deckung zu liegen. So hatte ich mir den Einsatz nicht vorgestellt. Die Sache war anders geplant gewesen.
Wieder Schüsse, diesmal von der anderen Straßenseite. Jay Kronburg und sein Partner Leslie Morell. Hoffte ich wenigstens.
Meine SIG-Sauer mit beiden Fäusten umklammernd robbte ich an der Parkkolonne vorbei rückwärts. Bis ich Orrys Deckung erreichte. „Was ist passiert?‟
Wieder ein Schuss. Diesmal eindeutig das Gebell von Jays Smith & Wesson. Eine ganze Salve antwortete ihm. Jemand schoss mit einer Maschinenpistole durch die Gegend.
„Sie haben sofort das Feuer eröffnet‟, flüsterte Orry. „Der Ägypter hat den Kofferraum des Mercurys geöffnet, ein Mitsubishi Pick-up hielt neben ihm, und sie begannen die Ladung umzuräumen. Jay hat sie aufgefordert, die Hände zu heben. Der eine hatte eine Maschinenpistole unter der Jacke versteckt. Und schon ging das Feuerwerk los.‟
Polizeisirenen näherten sich. Ich zog mein Handy heraus und rief die Zentrale an. „Trevellian hier. Du weißt, was hier abgeht?‟ Clive bestätigte. „Jay und Leslie sollen uns Feuerschutz geben. Wenn die Cops die Mott Street abriegeln, gehen sie uns nicht durch die Lappen.‟
Ein paar Sekunden lang hörte man nichts. Dann Jays Stimme von der anderen Straßenseite. „Hier spricht das FBI! Zum letzten Mal: Werfen Sie Ihre Waffen weg, und treten Sie mit erhobenen Händen aus Ihrer ...‟
Das Geratter der Maschinenpistole unterbrach ihn. Und gleich darauf peitschten die Schüsse im Sekundentakt über die Straße – Jay und Leslie erwiderten das Feuer.
Eng an die Karosserien gepresst arbeiteten wir uns an den Mercury und den Pick-up heran. Bremsen und Reifen schrien hinter uns. Vor uns sah ich das Geflacker von Rotlicht über die Fassaden streifen. Die Kollegen vom New York City Police Departement sperrten die Straße ab.
Immer wieder das Gebell der Maschinenpistole. Ein Winkel meines Hirns machte sich allen Ernstes Sorgen um mein rotes Prachtstück. Ich hoffte, Jay und Leslie würden sich nicht ausgerechnet den Sportwagen als Kugelfang ausgesucht haben.
Kaum zu glauben, was einem alles durch den Kopf gehen kann, während man sich an die Möglichkeit eines frühen Todes heranpirscht.
An den Rücklichtern eines nagelneuen Chryslers vorbei spähte ich auf die Straße: Drei Männer klemmten zwischen Curseleys Mercury und dem in zweiter Reihe parkenden Pick-up. Mehr als ihre Umrisse konnte ich der Dunkelheit wegen nicht sehen.
Das Mündungsfeuer ihrer Waffen – das sah ich allerdings deutlich. Sobald der mit der Maschinenpistole durchzog, tauchten die anderen beiden kurz auf und schossen über die Ladefläche des Pick-ups hinweg auf die Deckung unserer Kollegen.
Die Flanke der drei Männer war frei.
„Bullshit‟, zischte ich. „Die Idioten lassen uns keine Wahl.‟ Orry schob sich neben mir über den Asphalt ein Stück auf die Straße hinaus. Wir zielten auf die Beine.
Und gleich der erste Schuss traf. Zum Glück auch noch den Maschinenpistolenschützen. Er schrie und kippte nach hinten weg gegen Curseleys Mercury. Seine MP knallte gegen den Kotflügel und dann auf die Straße. Der zweite Schütze wollte nach der großkalibrigen Waffe greifen. Orrys Schuss streckte ihn nieder.
Der dritte Mann gab auf.
Die plötzliche Ruhe hatte was Gespenstisches. Für Augenblicke kein Schuss, kein Geschrei, nicht mal Verkehrslärm.
Schließlich ein metallener Aufschlag auf dem Asphalt. Der dritte Mann hatte seine Waffe auf die Straße geworfen. „Nicht schießen! Nicht schießen!‟ Ein Ausländer, sein Akzent war nicht zu überhören. Mit erhoben Armen schob er sich aus der Deckung. Es war der Ägypter.
Ein paar Minuten später fuhren zwei Ambulanzwagen mit den Angeschossenen Richtung St. Vincents Hospital davon. Der Ägypter in Handschellen stand mit gesenktem Kopf zwischen Jay und Leslie neben dem Pick-up. Orry öffnete eine der beiden Aluminiumkisten, die sich noch im Kofferraum von Curseleys Wagen befanden.
„Plastiksprengstoff.‟ Orry machte sich daran, auch das Schloss der zweiten Kiste zu knacken. „Genug um einen Turm des World Trade Centers zu sprengen.‟ Auch die zweite Kiste enthielt Plastiksprengstoff.
Ich war enttäuscht. Wir hatten etwas anderes erwartet: Nitroglycerin!
Beteigeuze, der rote Riesenstern im Sternbild des Orions, schimmerte hoch im Westen. Darunter schob sich allmählich das Sternbild der Waage über den südlichen Horizont. Nur alle paar Minuten konnte Jerry es beobachten, dann trieb der Wind wieder Wolkenfetzen vor die Sterne. Überhaupt war der Himmel ziemlich dunstig. Keine günstige Nacht für Sterngucker.
Das Auge ans Okular seines Teleskops gepresst, suchte Jerry Richards trotzdem den Sternhimmel ab. Die Sternbilder und Planeten interessierten ihn an diesem Abend allerdings nur beiläufig. Einen künstlichen Himmelskörper wollte er beobachten und fotografieren: Die Internationale Raumstation.
Mit ihren riesigen Sonnensegeln konnte man sie bei klarem Himmel sogar mit bloßem Auge sehen. Doch heute jagte der Herbstwind Wolkenfetzen über den Himmel. Und die Dunstglocke über New York City riss nur stellenweise auf. Wie es aussah, würde Jerry selbst hier in Coney Island kein Glück haben.
Aber noch gab er nicht auf.
Bis vor drei Tagen hatte es noch geregnet. Für den späten Abend hatten die Meteorologen die ersten Ausläufer eines stabilen Hochdruckgebiets angekündigt. Mit zunehmendem Mond sollte der Oktober sich von seiner goldenen Seite zeigen. Und der Sternenhimmel ohne Vorhang.
Eigentlich hatte Jerry schon gestern nach Coney Island fahren wollen. Zusammen mit Amy und den Kindern. Aber ein Kollege war überraschend krank geworden, und Jerry hatte einen zusätzlichen Nachtdienst übernehmen müssen.
Am Morgen, gleich nach Dienstübergabe, war er direkt aus der Klinik nach Coney Island gefahren. Seine Familie hatte sich schon am Freitagabend spontan für ein Wochenende bei Amys Eltern in Tarrytown entschieden.
Kein Problem für Jerry. Im Gegenteil: Er brauchte sie hin und wieder – diese einsamen Stunden, in denen er seinem Hobby frönen konnte und an weiter nichts zu denken brauchte.
Ein heller Fleck schimmerte zwischen den Wolken. „Na, wer sagt’s denn?‟ Jerry Richards zoomte das Objekt heran. „Das ist sie! Ja, Glückwunsch, das ist sie!‟ Seine Rechte fuhr zum Auslöser der seitlich am Teleskop angeschraubten Kamera. Er wartete, bis die Wolken sich endgültig verziehen würden.
Irgendwo im Garten brach ein Ast.
Jerrys Kopf zuckte vom Okular weg. Er lauschte. Wieder ein Geräusch, leiser diesmal. Vielleicht eine Katze. Oder ein Fuchs? Jerry stand von seinem Drehhocker auf. Am Teleskop vorbei schob er den Kopf aus dem Fenster und spähte in die Dunkelheit.
Nichts. Oder halt: Ein Schatten am Werkzeugschuppen. Keine Katze, kein Fuchs. Der Schatten war viel größer. Der Schatten ging aufrecht. Ein Mensch.
Was führte ein Mensch im Schilde, der anderthalb Stunden vor Mitternacht über einen Zaun kletterte und sich an ein unbeleuchtetes Haus heranschlich? Nichts Gutes jedenfalls. Sonst hätte er an der Haustür geklingelt.
Auf Zehenspitzen schlich Jerry durchs Zimmer zu seinem Bett. Das Mobiltelefon lag auf dem Nachttisch.
Jerry Richards war ein umsichtiger Mensch. Deswegen hatte er die Notrufnummer mit einem Code abgespeichert. Mit der Taste für die Ziffer eins sogar. Zwei war Amys Handy. Und drei das Beekman Downtown Hospital, wo er als Chirurg arbeitete.
Er drückte die 1. Die Frauenstimme, die ihn nach seinem Namen und dem Grund seines Notrufs fragte, klang so laut, dass Jerry ein „Psst!‟ entfuhr und er neben dem Bett in Deckung kauerte.
„Ein Einbrecher schleicht sich durch meinen Garten. Schicken Sie ganz schnell einen Streifenwagen vorbei ...‟
Im Flüsterton gab er die Adresse seines Wochenendhauses durch. Und schon erschien der Schatten des Eindringlings vor dem Fenster.
O Mist! Ich hab das Fenster offen gelassen.
Deutlich konnte Jerry die Silhouette des Revolvers in der Hand des Fremden sehen.
„Er ist bewaffnet ...‟ So leise zischelte er das in sein Handy, dass die Frauenstimme ihn bat, den Satz zu wiederholen. Jerry tat es nicht. Er warf das Handy aufs Bett und krabbelte auf allen Vieren zur Schlafzimmertür.
Der Mann vor dem Fenster machte Anstalten, ins Zimmer zu steigen. Jerry trug schwarze Kleidung und hatte schwarze Haut – so ohne weiteres war er in der Dunkelheit nicht auszumachen. Vielleicht hätte er sogar unbemerkt die Tür erreicht, wenn ihm der verdammte Gitarrenkoffer nicht im Weg gewesen wäre.
Das sperrige Ding kippte um, und eine heisere Männerstimme sagte: „Bleib bloß stehen, sonst brenn ich dir ein Loch in den Pelz!‟ Und im gleichen Moment hörte Jerry sein Teleskop auf dem Boden aufschlagen.
Er sprang auf. Mit zwei Schritten war er an der Tür. Ein Schuss krachte, links über Jerry schlug eine Kugel in die Holzwand ein. Er drückte die Tür, rannte zur Haustür und dann über den Kiesweg zum Gartenzaun. Mit einem Sprung setzte er drüber.
In seiner Erinnerung geschah das alles innerhalb einer einzigen Sekunde. Wie er das Gestrüpp auf der anderen Seite des Zufahrtsweges erreichte, konnte er später nicht mehr sagen.
Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, als er auf dem Bauch lag und zurück zu seinem Haus blickte. In der offenen Haustür stand er, der Mistkerl, reglos, als würde er lauschen. Sekundenlang verharrte er so. Bis er sich umdrehte, und die Tür hinter sich schloss.
„Mist! Mist!‟ Jerry dachte an sein Teleskop, an die teure Kamera und das Bargeld in seiner Brieftasche. Sie lag auf dem Nachttisch. „Mist!‟ Zum ersten Mal bereute er, die Waffe, die Amys Vater ihm schon x-mal angeboten hatte, nicht angenommen zu haben.
Er bohrte die geballte Faust in den feuchten Sand. Bäuchlings rutschte er zwischen den Ginstersträuchern hindurch bis an den Rand des Weges. Dort spähte er nach links. Wenn die Cops kommen würden, dann aus dieser Richtung. Er glaubte eine Polizeisirene zu hören.
Was dann geschah, kapierte Jerry auch zwanzig Minuten später noch nicht, als die Cops längst an Ort und Stelle waren und mit ihm in die Trümmer seines brennenden Hauses starrten.
Für einen Augenblick glühte plötzlich Licht hinter den Fenstern auf. Eine gewaltige Explosion zerriss die Stille der Nacht. Die Haustür segelte aus der Fassung und schlug im Kies auf. Glas splitterte, der Boden vibrierte …
Die Türen öffneten sich zischend. Menschen drängten aus dem Waggon auf den Bahnsteig. Ricky drückte sich gegen die Leute, die hinter ihm darauf, warteten endlich einsteigen zu können. Er war müde, sehr müde.
Der harte Deckel einer Aktentasche streifte sein Kinn. Ein korpulenter Grauhaariger schob sich so nahe an Ricky vorbei, dass er ihm auf die Füße trat. Dann endlich war der Eingang in den Waggon frei.
Wie ein Mann setzte sich die wartende Menge in Bewegung. Einige Jugendliche stießen Ricky zur Seite. Sie drängten sich an ihm vorbei. Und von hinten schob die Menge ihn in den Wagen.
Ricky überließ sich der Bewegung der Masse. Er wurde in den Mittelteil des Waggons geschoben. Sich selbst mit Ellbogen und Körpereinsatz zu einem freien Platz durchzuarbeiten, kam ihm nicht in den Sinn. Nie kam ihm Derartiges in den Sinn.
Ricky hatte in seinem siebzehnjährigen Leben gelernt, seine Strategien seinen Möglichkeiten anzupassen. Und seine Möglichkeiten hielt er für begrenzt. Jedenfalls seine körperlichen Möglichkeiten: Er war klein und schmächtig.
Zweiundneunzig Pfund brachte er auf die Waage, bei bescheidenen einhundertsechsundsechzig Zentimetern. Das war, weiß Gott, nicht viel für einen Siebzehnjährigen.
Er hielt sich an einer Haltestange im Mittelteil des Waggons fest. Die morgendliche Menschenflut verteilte sich auf die freien Plätze und den Raum zwischen den Sitzreihen. Kein Sitzplatz blieb unbesetzt. Ricky hatte es nicht anders erwartet.
„Hi, Thompson!‟, rief ein Stimme von der Seite. „Hast du auch brav deine Milch getrunken heute morgen?‟ Gelächter quittierte den blöden Spruch.
Ricky brauchte nicht hinzusehen. Die Stimme würde er unter Tausenden erkennen. Heute Nacht in einem schlechten Traum hatte er sie zuletzt gehört.
Der Zug fuhr an. Im dunklen Fensterglas erkannte er Lester Pirelli, umgeben von seinen Vasallen. Fünf Jungens aus Rickys Highschoolklasse. Unter allen Feinden, die New York City gegen ihn aufbot, die Sturmspitze. Sie beschlagnahmten drei Sitze.
„Hey, Thompson, Mann!‟ rief Lester Pirelli. „Wie ist das bei euch da oben in Wyoming – grüßt man da alte Bekannte nicht, wenn man sie morgens im Bus trifft?‟
Ricky schluckte. Der Teufel soll dich holen!
Er drehte sich halb zur Seite, so dass er die Jungen hinter sich sehen konnte. Alle trugen sie graue oder schwarze Windjacken mit Längsstreifen an den Ärmelnähten. Wollmützen oder Skaterhüte bedeckten ihre kurzgeschorenen Schädel.
Einer stammte unverkennbar von chinesischen Vorfahren ab. In der Pirelli-Gang nannten sie ihn „Mao‟. Er hieß Kirk Chung. Ein anderer hatte dunkle Hautfarbe. Alle nannten ihn Joseph.
Pirelli feixte Ricky aus höhnischen Augen an. Eine Menge Sommersprossen überzogen sein stupsnasiges Gesicht. Ein Streichholz klemmte zwischen seinen Zähnen. Die anderen vier lauerten auf Rickys Reaktion.
Ihr kennt mich nicht, dachte er und sagte leise: „Hi.‟
„Na, klappt doch schon ganz prima, Kurzer‟, rief Pirelli. „Wir kriegen dich noch hin, wirst sehen.‟ Die anderen lachten.
„War aber ein kurzer Gruß‟, tönte einer von Pirellis Vasallen. Ein Junge mit schwarzem Flaum um das Kinn. Er hieß Amoz Levington. „Ein bisschen höflicher – los, Zwerg!‟
Ricky wünschte sich den Tod in solchen Augenblicken. „Hi.‟ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Wie geht’s so?‟ Die Burschen lachten und applaudierten.
Vor zwei Jahren war Rickys Familie aus Sheridan, Wyoming, nach New York City gezogen. In die East Village. Schon in Sheridan war Ricky ein Einzelgänger gewesen, aber man hatte ihn wenigstens in Ruhe gelassen. Mit dem Umzug nach New York City vor zwei Jahren hatte für Ricky ein Leidensweg begonnen.
Lester Pirelli unterhielt seinen Fan-Club mit obszönen Witzen. So laut, dass man es im halben Waggon hören konnte. Häufig flocht er Worte wie winzig, kurz oder Zwerg ein, sprach von winzigen Hirnen, kurzen Schwänzen und so weiter, und so weiter.
Die anderen vier fanden es witzig. Sie fanden alles witzig, was der Sommersprossige von sich gab. Sie lachten.
Ricky biss die Zähne zusammen. Ihr kennt mich nicht! Seine Faust verkrampfte sich um die Haltestange. Sein Spiegelbild in der dunklen Scheibe hatte schmale Lippen und Augen.
Zwei Stationen weit musste er fahren. Gleich nach der ersten stellte er sich vor der Tür auf. Wenn die U-Bahn an der First Avenue hielt, wollte er unter den ersten sein, die aussteigen konnten. Nicht auch noch den Weg von der Haltestelle bis zur Highschool Pirellis Spott ausgesetzt sein.
„Keine Angst, Kurzer, wir bleiben in deiner Nähe.‟ Lester Pirelli stand plötzlich neben ihm. Er war zwei Köpfe größer als Ricky. „Sonst verläufst du dich noch in dieser großen Stadt.‟ Sein Anhang umringte Ricky.
Mit hochgezogenen Schultern und einem heißen Knoten im Bauch ließ Ricky ihre Sprüche über sich ergehen.
Die Bahn hielt. Zischen, Türen, die sich öffneten, dann hinaus auf den Bahnsteig, hinein in die Menge der Wartenden. Die Pirelli-Gang wich nicht von Rickys Seite.
Ricky war auf jede Gemeinheit gefasst. Aber hinten hatte er keine Augen. Jemand hakte ihm plötzlich den rechten Fuß weg. Er stolperte und schlug lang hin. Die Pirelli-Gang brach in schallendes Gelächter aus.
„Hey, Kurzer!‟ Pirelli schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen. „Noch ein bisschen unsicher auf den Beinen heute Morgen! Oder suchst du dein Hirn?‟
Ricky blickte hoch. Der befriedigte Ausdruck in dem schwarzen Gesicht verriet ihm den Jungen, der ihm das Bein gestellt hatte. Er hieß Joseph.
Du weißt ja nicht, wen du vor dir hast ... du weißt es ja nicht ... Er rappelte sich hoch und kämpfte mit den Tränen.
Bald ließen sie die Treppe vom Bahnsteig zur Straße hinter sich. „Heiße Schuhe hast du da, Kurzer.‟ Pirelli schielte neidisch auf Rickys Nike-Sportschuhe. „Wenn sie nicht so klein wären, dürftest du sie mir schenken.‟
Noch zwei Blöcke bis zur 12th Straße, dachte Ricky, noch zwei Häuserblöcke.
„Macht dir nichts draus ...‟ So kräftig schlug Lester dem Kleineren auf die Schulter, dass Ricky ins Stolpern kam. „Is’ nich’ schlimm, wirklich nicht, Kurzer. Du zahlst mir einfach eine Ablöse.‟ Die anderen stießen sich an und feixten. „Sagen wir, fünfzehn Dollar. Zusätzlich zum Schutzgeld. Alles klar?‟
Ricky nickte hastig. Ihr wisst ja nicht, wen ihr vor euch habt ... ihr habt ja keine Ahnung ... Seine Blicke krochen an den Fugen der Bürgersteigplatten entlang.
„Wann kriegen wir überhaupt das Schutzgeld? Der Oktober ist auch schon wieder sieben Tage alt!‟
„Am nächsten Wochenende krieg ich Taschengeld‟, sagte Ricky. Von den fünfundzwanzig Dollar Taschengeld drückte er Monat für Monat elf Dollar an Pirelli und seine Gang ab – drei Dollar für Pirelli und je zwei Dollar an jeden der vier anderen.
Manchmal musste er auch eine Runde Hot Dogs ausgeben, und von Zeit zu Zeit verbrachte er Stunden vor dem Computer, um die Songs aus dem Internet herunter zu laden und auf CDs zu brennen, die Lester Pirelli in Auftrag gab. Oder Pirelli wollte irgendwelche Software, die Ricky dann auftreiben musste.
Noch ein Häuserblock, nur noch ein Häuserblock, und dann hundert Meter bis zur Schule.
Wenn er nicht spurte, verstärkten sie den Druck auf ihn – hingen ihm irgendwelche Verstöße gegen die Schulordnung an, schwärzten ihn bei den Lehrern an, schikanierten ihn vor versammelten Klasse oder verprügelten ihn.
„Okay, nächsten Montag also.‟ Wieder landete ein Schlag auf Rickys Schulter. Diesmal traf Lester Pirellis geballte Faust. Tränen stiegen Ricky in die Augen. „Werden dich hin und wieder dran erinnern.‟
Ihr habt ja keine Ahnung, mit wem ihr euch einlasst, keine Ahnung habt ihr!
Dann endlich die Kreuzung zur 12 th Straße. Von weitem sah Ricky Schüler in Gruppen vor dem Schulhof stehen. Der Schulbus fuhr vorbei. Pirelli und seine Vasallen winkten einigen Mädchen im Bus.
„Man sieht sich, Thompson!‟ Ein vorläufig letzter Schlag. Lester Pirelli und die anderen vier spurteten zur Bushaltestelle, wo der Bus stoppte. Pirellis Freundin stieg dort aus.
Ricky wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Wut brannte in seinen Gedärmen, ungeheure Wut. „Schwein ... verfluchter Hund ... der Teufel soll dich holen!‟ Er fluchte in sich hinein, während er sich dem Schulgelände näherte. „Euch alle soll der Teufel holen!‟
Am Eingang des Schulgeländes, zwischen all den Gruppen von plappernden und lachenden Jungen und Mädchen, stand ein unglaublich fetter Bursche und mampfte Bagels aus einer Tüte.
Er trug eine Schildkappe aus Leder, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Er plauderte mit niemandem, er lachte mit niemandem – er stand allein und schien sich für weiter nichts als für seine Bagels zu interessieren.
Jack O′Neill, seit vier Monaten Rickys einziger Lichtblick.
Ricky beschleunigte seinen Schritt. Er winkte, als er sicher sein konnte, dass Jack ihn wahrgenommen hatte. Jack deutete ein Nicken an und biss von seinem Bagel ab.
Ein Bagel mit Frischkäse. Jack O′Neill verdrückte jeden Morgen drei davon. Gleich nach dem Frühstück auf dem Weg zur Schule. Inzwischen kannte Ricky die Gewohnheiten seines einzigen Verbündeten.
„Alles klar?‟ Ricky blieb vor dem viel größeren und mehr als doppelt so schweren Burschen stehen. Der brummte irgendetwas Zustimmendes.
„Und selbst?‟ Jack war ein Jahr älter als Ricky. Er machte die Zehnte zum zweiten Mal. Auch jetzt behielt er gerade so den Anschluss.
Nicht weil er zu dumm war – o nein: Jack O′Neill war ein Genie. Jedenfalls in Rickys Augen. Nur verbrachte er ganze Tage vor dem PC und mit seinem Hobby. Doch das wusste niemand. Nur Ricky wusste es. „Und selbst?‟, wiederholte Jack.
„Alles Roger.‟ Rickys Stimme klang gepresst. Er wandte den Kopf zur Bushaltestelle. Dort stand Lester Pirelli in der Schar seiner Anhänger und schwang Reden. Eine Menge Mädchen waren dabei. „Nur Pirelli, dieses Stück Scheiße ...‟
Jack stopfte sich den Rest seines Bagels zwischen die Zähne. Wieder ein Nicken. Doch diesmal sah er Ricky an dabei. Seine braunen Augen hatten etwas Starres. Bei aller Gleichgültigkeit, die in ihnen lag, schienen sie dennoch zu lachen. Er sah Ricky an, als wollte er sagen: Auch Pirelli – nur Geduld – auch Pirelli bekommt sein Fett noch ab.
Seite an Seite liefen sie zum Schulportal. „Wann machen wir weiter?‟, wollte Jack wissen.
„Heute Nachmittag.‟
„Okay. Um fünf bin ich bei dir.‟
Die Feuerwehr hatte längst das Feld geräumt. Ein halbes Dutzend Fahrzeuge standen auf dem Zufahrtsweg vor der Hausruine – mein Sportwagen, Orrys und Clives Dienstwagen, und vier Fahrzeuge unserer Kollegen vom Erkennungsdienst. Sie suchten das zerstörte Wochenendhaus nach Spuren ab. Der putzige Flachbau war völlig ausgebrannt.
„Sie glauben also, es war ein ganz normaler Einbrecher?‟ Ich lehnte gegen meinen Sportwagen und vernahm den Besitzer des Hauses, einen gewissen Dr. Jerry Richards, Afroamerikaner und Assistenzarzt im Beekman Downtown Hospital.
„Was weiß denn ich?‟ In einer Geste der Ratlosigkeit breitete der Mann die Arme aus.
Das tat er ständig. Und ständig blickte er sich nach seinem ausgebranntem Haus um, seufzte und schüttelte den Kopf.
„Ich sah ihn durch den Garten schleichen. Und plötzlich tauchte er vor dem Fenster auf und stieg ins Zimmer ...‟ Er winkte ab. „Habe ich doch schon erzählt.‟
Wieder blickte er sich nach dem Haus um, wieder seufzte er. „Jesus ... wenn ich es nicht mehr geschafft hätte – wenn ich im Haus geblieben wäre ...‟ Die Haustür, zersplitterte Glasscheiben und angekohlte Bretter lagen im Kies vor dem Haus. Durch die glaslosen Fensterrahmen konnte man die Kollegen bei der Arbeit sehen.
„Es hätte mich auch erwischt, wenn ich drin geblieben wäre. Stellen Sie sich nur mal vor, ich hätte mich im Haus versteckt.‟ Er unterbrach sich. Sein Blick flog zwischen Milo und mir hin und her. „Hat der Kerl überlebt?‟
„Bis jetzt.‟ Ich zuckte mit den Schultern. „Sie haben ihm ein Bein amputiert. Er liegt auf einer chirurgischen Intensivstation in Benson Hurst. Verbrennungen dritten Grades. Wenn er den Montag durchsteht, ist er über dem Berg, sagen die Ärzte.‟
„Arschloch ...‟ Richards schüttelte den Kopf. „… ist doch wahr – warum tut er so was?‟
„Das wüssten wir auch gern, Dr. Richards. Er heißt übrigens Larry Hershel. Haben Sie den Namen je gehört?‟ Dass der gute Hershel über ein atemberaubend langes Vorstrafenregister verfügte, verschwieg ich dem Doktor.
„Hershel, Hershel?‟ Richards schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nie gehört.‟
„Seit wann hielten Sie sich in ihrem Wochenendhaus auf?‟
„Seit gestern Vormittag. Bin gleich nach dem Nachtdienst ’rausgefahren.‟
Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Jesus! Stellen Sie sich vor, meine Familie wäre mitgefahren! Nicht auszudenken ...!‟ Der Mann stand ganz unter dem Eindruck, Glück im Unglück gehabt zu haben. „Ich könnte tot sein, meine ganze Familie könnte tot sein!‟
„Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie gestern Vormittag ins Haus kamen – ein eingeschlagenes Fenster, Kratzspuren am Türfalz, irgend etwas?‟
„Keine Ahnung – ich hab mich erst mal aufs Ohr gelegt. Und am Nachmittag war ich am Strand. Keine Ahnung, mir ist nichts aufgefallen.‟
Einer der Kollegen von der Spurensicherung trug einen sperrigen Gegenstand in einem durchsichtigen Plastiksack aus dem Hals. Ein verkohltes, rohrartiges Gerät mit geschmolzenem Stativ. Das Ding erinnerte mich an einen Granatwerfer.
„Jesus!‟, brüllte Richards los. Er rannte zu dem Spezialisten. „Mein Teleskop!‟ Er sprang um den Kollegen herum und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Schien ein Chirurg der temperamentvolleren Sorte zu sein.
„Mein schönes Teleskop! Nagelneu! Und die Kamera! Sehen Sie sich die Bescherung an! Achtzehnhundert Dollar im Eimer!‟
„Seien Sie froh, dass wir Sie nicht in so einem Zustand hier ’raustragen müssen!‟ Der Beamte vom Erkennungsdienst blieb trocken bis an die Schmerzgrenze. Er deutete auf den verkohlten Schrott in seinem Beutel.
Milo steckte seinen Notizblock ein. Nebeneinander schlenderten wir am Gartenzaun entlang.
„Ein Mann dringt in ein Haus ein‟, dachte mein Partner laut. „Er schießt auf den Besitzer und sprengt sich anschließend selbst in die Luft – das kannst du von mir aus den Pressegeiern von der New York Post erzählen, aber nicht mir.‟
„Hab ich das getan?‟ Ich versenkte die Hände in den Hosentaschen und blickte über den Gartenzaun zu der Hausruine. „Ich glaub’s doch selbst nicht. Der Zufall ist zwar ein mächtiger Regisseur – nur fällt es mir schwer zu glauben, dass eine Bombe ausgerechnet in dem Augenblick ein Haus in Schutt und Asche legt, in dem ein Einbrecher einsteigt und der Besitzer es fluchtartig verlässt. Wenn Hershel je wieder auf die Beine kommt, wird er sich eine Menge Fragen gefallen lassen müssen.‟
„Auf das Bein.‟
„Wie bitte?‟
„Wenn er wieder auf das Bein kommt, wird er sich eine Menge Fragen gefallen lassen müssen.‟ Milo war ziemlich bissig an diesem Montagvormittag. Der nervenaufreibende Einsatz am Abend zuvor hatte uns zwar zwei beachtliche Fische ins Netz gehen lassen – der Ägypter hatte sich als Mitglied einer islamistischen Terrorgruppe entpuppt, und der Sprengstoffspezialist Curseley würde die nächsten Jahre keinen Verbrecher mehr mit explosiver Ware versorgen – aber in dem Fall, an dem wir eigentlich arbeiteten, waren wir keinen Schritt weiter gekommen.
„Erst die Telefonzelle in der 18 th Straße, dann der Eisstand in der Lower East Side, dann der Wagen am Tompkins Square, dann die Yacht, und jetzt vielleicht noch ein Wochenendhaus ...‟ Ich lehnte mich gegen meinen Sportwagen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Kannst du da irgendeine Systematik erkennen?‟
„Nitroglycerin. Sonst fällt mir nichts ein.‟ Mit einer Kopfbewegung deutete Milo auf die Ruine. „Mit was das schöne Häuschen in die Luft gesprengt wurde, wissen wir noch nicht.‟
Wir erfuhren es eine halbe Stunde später. George Bridger, der Chef unserer Spurensicherung, kam aus der Hausruine.
„Ich hab was für euch.‟ Er reichte uns eine Plastiktüte. Erst auf den zweiten Blick konnte ich mit den winzigen Trümmerstücken etwas anfangen: Verschmorte Drähte, Reste eines analogen Weckers, verkohlte Plastiksplitter.
„Du bist der Experte, George.‟ Ich gab ihm die Tüte zurück. „Erzähl uns was.‟
„Der Sprengsatz ist in der Nähe des Kamins explodiert. Vielleicht wollte Hershel ihn im Kamin deponieren ...‟
„Oder sonst jemand‟, sagte Milo.
„Egal wer.‟ George hob den Cellophanbeutel gegen die Vormittagssonne. „Was ich hier sehe, interpretiere ich als Überreste eines Zeitzünders. Und die schwarzen Kunststoffsplitter waren mal ein Kanister.‟
„Was für ein Sprengstoff?‟ Ich saß auf Kohlen.
„Letzte Sicherheit kann nur die genaue Analyse im Labor bringen. Aber wenn ihr mich fragt ...‟
„Wir fragen dich‟, drängte Milo.
„Nitroglycerin!‟
So kerzengerade lief er die Treppe zur Butler Library hinauf, als hätte er vor Jahren die Messlatte verschluckt, mit der sein Kinderarzt einst die Fortschritte seines Wachstums kontrollierte.
Mit seinem blonden Oberlippenbärtchen und dem schütteren, in der Mitte gescheiteltem Haar, schätzten ihn die meisten Kommilitonen in der Regel fünf bis acht Jahre älter ein, als er tatsächlich war.
Wenn sie überhaupt dazu kamen, eine Schätzung abzugeben – Ronald A. Lighthouse unterhielt nicht viele Kontakte zu Studenten der Columbia University. Und die wenigen, die er pflegte, hatte er unter sehr strengen Gesichtspunkten ausgesucht.
Ronald A. Lighthouse war siebenundzwanzig Jahre alt.
Am Haupteingang der Bibliothek gaben sich die Studenten die Türgriffe der großen Glastüren in die Hand. Das ging den ganzen Tag so – ein einziges Kommen und Gehen bis zum späten Abend, wenn die Hauptbibliothek der Columbia University ihr Pforten schloss.
Ronald A. Lighthouse sah nicht nach rechts und nicht nach links, während er die Treppe hinaufstieg. Kaum jemand beachtete ihn. Hin und wieder warf ihm eine der älteren Studentinnen einen verstohlenen Blick zu. Vermutlich, weil er seriös wirkte und korrekt gekleidet war, ein wenig nostalgisch fast.
Lighthouse trug einen Zweireiher aus sandfarbenem Cord mit Lederknöpfen, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Cordhose mit akkuraten Bügelfalten.
Ein paar Schritte vor der mittleren Tür standen zwei farbige Studenten und plauderten mit einem weißen Mädchen. Die Bibliotheksbesucher strömten an ihnen vorbei und betraten das Foyer durch die Mitteltür, ohne sich um die kleine Gruppe zu kümmern. Nicht so Lighthouse – obwohl er direkt auf die mittlere Tür zugegangen war, schlug er einen Bogen um die farbigen Studenten und benutzte die rechte Tür.
Die beiden Afros waren die einzigen Studenten, denen er einen Blick gönnte, bevor er hinter der Tür verschwand. Einen kalten, geringschätzigen Blick.
Vor den Schwarzen Brettern im Bibliotheks-Foyer drängten sich Menschentrauben und studierten die zahllosen Zettel und Plakate auf den Tafeln. Veranstaltungen, Bücher-, Job-, Auto- und Zimmerangebote oder -gesuche. Die Schwarzen Bretter im Vorraum der Butler Library dienten als Börse für alles Mögliche.
Ronald A. Lighthouse interessierte sich nicht dafür. Noch nie war er vor einer der Tafeln stehen geblieben. Schon deswegen nicht, weil er verabscheute, sich in größeren Menschenansammlungen aufzuhalten.
Mit raschen Schritten steuerte er die Bibliotheksräume an. Wie ein Mann, der ein Ziel hatte.
Wie meistens um diese Zeit – es war kurz nach der Mittagspause – war die Butler Library, gelinde gesagt, gut besucht. Hunderte von Studenten tummelten sich zwischen den Bücherregalen, an den Lesetischen auf den Emporen, und vor den langen Tresen der Ausgabestellen.
Lighthouse ging zu den Stehpulten mit den Terminals, an denen man die Bestände der Butler Library nach benötigten Büchern durchsuchen konnte. Er hatte Titel und Autoren der beiden Bücher, die er für seine Doktorarbeit brauchte, im Kopf. Er gab die Daten ein, erhielt die Standortnummern, notierte sie, und machte sich auf den Weg ins Regal-Labyrinth.
Ein paar Minuten später fand er die Bücher: Ein neueres Werk über die Indianerkriege und einen Doppelband über die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ronald A. Lighthouse studierte europäische Geschichte und Deutsch.
Mit den drei Wälzern unter dem Arm stieg er die Empore hinauf. Dort standen die Computer-Terminals, an denen man online recherchieren konnte. Er sah sich kurz um, bevor er sich vor einen freien Bildschirm setzte. Die Bücher legte er mit dem Buchdeckel nach unten neben die Tastatur.
Er gab eine Codenummer ein – nicht seine eigene – und rief die E-Mail-Software auf. In die Empfängerzeile tippte er die E-Mail-Adresse der New York Times, in die Zeile für die Kopieempfänger die Adressen der New York Post und der Daily News. Sämtliche Adressen hatte er im Kopf.
Auch den Text, den er an die Zeitungsredaktionen schicken wollte, hatte er sorgfältig auswendig gelernt. Trotzdem zögerte er einen Augenblick, bevor er ihn in die Tastatur hämmerte. Wieder blickte er sich um. Der Platz rechts neben ihm war leer. Links neben ihm hockte eine Inderin. In ihren Bildschirm vertieft beachtete sie ihn nicht.
Lighthouse rümpfte die Nase. Dann zog er die Tastatur heran und schrieb:
„Der Kampf ist eröffnet! Wir übernehmen die Verantwortung für die Versenkung der Yacht des zionistischen Finanzhais und die Vernichtung des Wochenendhauses des Niggerarztes! Beides verstehen wir als erste Warnschüsse! Der Kampf geht weiter!
Weißer Widerstand zur Befreiung von Gottes eigenem Land‟
Marion Thompson öffnete die Tür. Obwohl sie den hochgewachsenen, dicken Burschen kannte, wich sie unwillkürlich ein Stück zurück.
„Hi‟, sagte der Koloss mit auffallend hoher Stimme. „Bin mit Ricky verabredet.‟ Er schnaufte, als hätte er einen Dauerlauf und nicht vier lächerliche Treppen hinter sich.
Klein und zierlich, wie Marion Thompson nun einmal gebaut war, machte das Gigantische an Jack O′Neills Erscheinung einen fast furchterregenden Eindruck auf sie.
„Hi.‟ Sie zog die Tür auf. Jack O′Neill schob sich an ihr vorbei. Wie kann man nur so fett sein, dachte Marion. „Ricky ist in seinem Zimmer.‟
Jack voran steuerte die knapp vierzigjährige Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren das letzte Zimmer des langen Ganges an. Sie glaubte Jacks Blicke auf ihrem Rücken zu spüren. Ihre Nackenhaare richteten sich auf.
Der Junge gefiel ihr nicht. Er gefiel ihr ganz entschieden nicht. Schon als er vor drei oder vier Monaten zum ersten Mal vor der Apartmenttür gestanden hatte, war Marion nicht wohl gewesen. Irgendetwas Kaltes, Glitschiges ging von dem Fettsack aus.
Aber was sollte sie tun? Ricky war fast achtzehn. Welcher Achtzehnjährige ließ sich schon die Freunde von den Eltern aussuchen? Außerdem tat Ricky schon seit zwei Jahren, was er wollte. Eigentlich tat er schon immer, was er wollte.
Eine martialische Grimasse fletschte sie von dem Poster auf Rickys Zimmertür an. Sie zog die Stirn kraus, als sie klopfte, wartete auf Rickys „Herein‟ und öffnete schließlich die Tür. Ricky saß vor seinem PC. Wo sonst? „Besuch für dich.‟
Eigentlich hätte Marion Thompson Jack nicht zu Rickys Zimmer führen müssen. Jack O′Neill wusste selbst, hinter welcher Tür sein Klassenkamerad residierte. Er war ja oft genug im Apartment der Thompsons gewesen, viel zu oft nach Marions Geschmack.
Sie führte ihn aber persönlich ins Zimmer – und zwar fast jedes Mal, wenn zufällig sie ihm die Apartmenttür öffnete – weil es sonst nicht viele Anlässe gab, das Zimmer ihres einzigen Kindes zu betreten. Außerdem lauerte sie jedes Mal auf Rickys Reaktion, wenn er diesen etwas unheimlichen Jack sah. Marion hatte da nämlich einen bestimmten Verdacht.
„Hi, Jack. Komm ’rein, hab schon auf dich gewartet.‟ Mehr sagte Ricky nicht. Und Jack sagte gar nichts. Nickte nur, ging zum Schreibtisch, und zog sich einen Stuhl neben Ricky. Das Holz ächzte, als der Koloss sich auf die Sitzfläche fallen ließ.
Marion hatte auf jedes Wort geachtet, noch mehr auf den Tonfall und natürlich auf Rickys Mimik. Sie hatte einen bestimmten Verdacht, wie gesagt. Aber da war nichts Auffälliges. Nur, dass Rickys schmales, bleiches Gesicht sich zu einem scheuen Lächeln verzogen hatte. Er lächelte nicht oft.
„Wollt ihr nicht ein bisschen an die Luft gehen?‟ Die Klinke in der Hand blieb sie an der Tür stehen. „Die Sonne scheint. Es ist wieder richtig warm geworden.‟
Haifische schwammen über den 21-Zoll-Monitor auf Rickys Schreibtisch – ein Bildschirmschoner. Marion versuchte sich zu erinnern, ob sie bei ihren seltenen Besuchen in Rickys Zimmer je etwas anderes auf dem Monitor gesehen hatte, als den Bildschirmschoner.
„Wir haben ein paar Sachen am PC zu erledigen‟, sagte Ricky.
„Würde dir gut tun, Ricky – siehst krank aus.‟ Ricky antwortete nicht, sah seine Mutter nur an. Der fette Jack warf seine Lederkappe aufs Bett und zog ein Kuvert aus der Brusttasche seines rot-schwarz-kariertem Thermohemds.
„Okay‟, sagte Marion. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Ich bin in einer Viertelstunde wieder im Büro. Das Essen steht im Kühlschrank. Musst es dir nur warm machen.‟
„Danke, Mom.‟
Während sie die Tür zuzog, sah sie ein schwarzes Stück Stoff auf dem Teppichboden liegen, nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Der Stoff, den Ricky mit Reißzwecken vor sein Schlüsselloch geheftet hatte. Als würde irgendjemand in der Familie an Türen lauschen!
Marion zog die Tür zu. Sie betrachtete das Poster. Ein Kerl in Kampfanzug und mit Riesenwumme in den Händen. Eine Figur aus irgend einer Comic-Serie, einem Computerspiel, oder weiß der Kuckuck aus was. Sein stumpfes Gesicht zog jedenfalls eine angriffslustige Grimasse.
Er hat sich gefreut, ihn zu sehen, dachte Marion. Na klar, außer diesem Jack O′Neill kommt ja sonst keiner vorbei. Sie seufzte und ging zurück in die Küche. Was findet er bloß an diesem Fettkloß?
Sie trank ihren Kaffee aus. Danach packte sie im Arbeitszimmer ein paar Unterlagen zusammen und verstaute sie in ihrer Aktentasche. Es war kurz vor sechs. Die Nacht würde wieder einmal lang werden.
Für den Montag nächster Woche hatte sich die Steuerbehörde angekündigt. Steuerprüfung – der Albtraum jedes Unternehmers! Marion und Henry Thompson hatten ein Architektenbüro in Lower Manhattan. Marion führte die Buchhaltung und managte das Büro. Henry war Architekt. Zwei weitere Architekten und ein Bauzeichner arbeiteten für die Thompsons.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, von Marions Erbschaft vor zwei Jahren das große Apartment am Nordrand der Village in der fünfzehnten Straße zu kaufen. Mit seinem Umzug aus Sheridan, Wyoming, hatte das Paar sich selbstständig gemacht.
Das Büro hätte nicht besser laufen können. Natürlich fraß es jede freie Minute. Aber von nichts kommt nichts, pflegte Marion immer zu sagen. Und mit nur einem Kind, das zudem aus dem Gröbsten heraus war, konnte man schon eine Menge Zeit investieren.
Und jetzt eben die erste Steuerprüfung …
Marion war aufgeregt. Seit zwei Tagen nahm sie Schlaftabletten, um während der kurzen Nächte wenigstens drei oder vier Stunden schlafen zu können. Sie schlüpfte in ihren Trenchcoat, klemmte sich die Aktentasche unter den Arm, und angelte den Wagenschlüssel vom Schlüsselbrett.
Schon fast an der Apartmenttür, zögerte sie. Sie blickte auf den Comic-Krieger an Rickys Zimmertür. Dieser unheimliche Fettkloß – was mag Ricky nur an dem finden? Sie seufzte. Und wenn mein Instinkt mich nun doch nicht täuscht?
Der schwarze Stofffetzen auf dem Teppichboden in Rickys Zimmer fiel ihr ein. Sie stellte die Aktentasche zurück auf die Kommode unter der Garderobe. Auf Zehenspitzen schlich sie zu Rickys Zimmertür.
Zuerst lauschte sie nur. Keine Stimmen drangen aus dem Zimmer. Was zum Kuckuck trieben die beiden? Sie hörte Stoff rascheln. Dann knarrte das Bett. Ich wusste es!
Blitzartig ging Marion in die Knie. Und tat etwas, was sie nie zuvor getan hatte: Sie spähte durch das Schlüsselloch ins Zimmer ihres Sohnes.
Was sie dort zu sehen bekam, war enttäuschend. Auf eine erleichternde Art enttäuschend. Es entsprach weder ihren Befürchtungen, noch den Fantasien, welche die Geräusche in ihr geweckt hatten.
Jack, der sich wohl gerade das Thermohemd ausgezogen hatte, legte es aufs Bett. Er selbst saß auf der Bettkante direkt neben dem Schreibtisch und zog sich die knöchelhohen Sportschuhe aus.
„Deine Mutter hat Recht‟, hörte Marion ihn sagen. „Ziemlich warm geworden.‟
Von Ricky sah sie den Rücken und dunkelblonden Lockenkopf. Dieser kleine, schmale Rücken ... Gott, die beiden passen zusammen, wie Karnickel und Elefant ...
Ricky hantierte mit der Maus, seine Linke stach auf die Tastatur. Marion sah eine Graphik auf dem Bildschirm – die dreidimensionale Ansicht eines Gebäudes.
Sie begriff, dass ihr Sohn mit der Software arbeitete, die sie im Büro für die Bauplanung und die Visualisierung geplanter Gebäude verwendeten. Ich glaub’s nicht – mein Sohn beschäftigt sich mit Architektur!
Das Bett knarrte, der Fleischkloß stand auf. Er griff sich ein Kuvert vom Schreibtisch – das Kuvert, das er mitgebracht hatte – entnahm ihm ein Foto, klappte den Scanner auf und legte das Foto aufs Glas. „Okay‟, hörte sie ihren Sohn sagen. „Ich hol mir das Bild.‟
Wenig später wurde die Computergraphik vom Foto eines Hauses überblendet. Marion erkannte eine kleine Vortreppe, kleine, dorische Säulen rechts und links der dunklen Haustür, ein kleines Zierdach über der Tür und einen Erker im ersten Obergeschoss. „Ich hab’s‟, hörte sie Ricky sagen.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, dachte Marion. Sie richtete sich auf und schlich zur Apartmenttür. Sie lächelte. „Ich bin weg, Ricky!‟, rief sie von der Tür aus.
„Schon klar!‟, kam es zurück.
Marion lächelte noch, als sie vor dem Haus in ihren Volvo stieg. Henry wird stolz sein, wenn ich ihm das erzähle.
„Ich hatte doch keine Ahnung!‟ Curseley schrie. „Ihr glaubt doch nicht, dass ich mit Terroristen Geschäfte mache!‟ Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wenn ich gewusst hätte, dass der Typ ein bescheuerter Fanatiker ist, hätte ich ihm das Zeug doch nicht angeboten!‟
„Allmählich zeigt er doch Nerven‟, sagte Clive.
Wir standen vor der Glasfront des Verhörraums. Jay und Leslie nahmen Curseley in die Mangel. Den dritten Tag inzwischen. Ein Lautsprecher übertrug ihre und Curseleys Stimmen aus dem Verhörraum zu uns in den kleinen Konferenzsaal.
„Sie machen also nur mit Leuten Geschäfte, die das Zeug nicht benutzen, das Sie ihnen verkaufen.‟ Wir sahen, wie Jay sich mit den Fäusten auf den Tisch stemmte, an dem Curseley saß. „Habe ich das richtig verstanden? Wer jemanden in die Luft sprengen will, der soll sich den Sprengstoff woanders kaufen, aber nicht bei Alex Curseley – wollten Sie das sagen?‟
„Ich bin gerührt, Curseley.‟ Die Händen in den Hosentaschen stand Leslie hinter Curseley. „Doch wirklich – soviel Anständigkeit rührt mich.‟
„Ja, gut!‟ Schon wieder brüllte Curseley los. „Ich hab Sprengstoff verkauft – aber doch nicht an Leute, denen der Teufel ins Hirn geschissen hat!‟
„Das war doch schon fast ein Geständnis.‟ Ich stand auf und blickte auf die Uhr. Kurz vor zehn. Die Konferenz beim Chef lag an diesem Dienstagmorgen bereits hinter uns. „Wie ist es, Partner? Brechen wir auf?‟
„Was bleibt uns übrig?‟ Milo zog sein Jackett von der Stuhllehne und hängte es sich über die Schulter. „Die Arbeit kommt nicht zu uns, also müssen wir zu ihr gehen.‟
Der Bombenanschlag auf das Wochenendhaus in Coney Island hatte eine Menge Arbeit aufgeworfen. Wir wollten das soziale Umfeld Jerry Richards durchleuchten – Freundes- und Bekanntenkreis, Nachbarschaft, Familie und berufliche Konkurrenten.
Wenn einer sich die Mühe macht, einen seiner Mitmenschen in die Luft zu sprengen, hatte er in der Regel etwas davon: Befriedigung von Rachegelüsten, einen Rivalen weniger, oder Geld von irgendeiner Versicherung. Kurz: Es musste ein Motiv geben. Wir würden es finden.
Außerdem hatten unsere Kollegen von der Spurensicherung mal wieder eine Glanzleistung hingelegt: Aus zahllosen Splittern, Metallteilen und Trümmerstücken hatten sie den Wecker, den der Täter für seine Zeitzündung benutzt hatte, immerhin soweit rekonstruiert, dass sie das Modell bestimmen konnten. Und die Firma, die es herstellte.
Geschäfte zu finden, die es verkauften, war ebenfalls unser Job. Milos und meiner. Unser Wochenprogramm stand fest.
„Für eine Anklageschrift reicht es schon.‟ Clive stellte den Lautsprecher ab. Kein Ton drang mehr aus dem schalldichten Verhörraum. „Jetzt müssen wir nur noch diesen Ägypter zum Reden bringen.‟
„Vergiss es‟, sagte Orry. „Der Mann hat keine Nerven. Außerdem betrachtet er sich als Kriegsgefangenen. Und uns als ungläubige Strauchdiebe, die seinen gerechten Kampf vereiteln wollen. Vergiss es.‟
Der Mann hieß Hassan Al Turabi. Orry und Clive hatten den Auftrag herauszufinden, für welche Terrorgruppe er Anschläge vorbereiten sollte. Eine erste Spur führte zur palästinensischen Hamas. Clive und Orry arbeiteten eng mit der CIA zusammen.
Milo und ich schlenderten zur Tür. Ich winkte den Kollegen einen Abschiedsgruß zu. In dem Moment öffnete sich die Tür, und Jonathan McKee kam in den kleinen Konferenzraum. Und zwar ziemlich stürmisch für seine Verhältnisse.
„Gentlemen – ich habe zwei Neuigkeiten!‟ Einen Bogen Papier in der Hand blieb er unter dem Türrahmen stehen. Die Art, wie er uns anblickte – ernst, fast ein wenig erschrocken – verhieß keine allzu guten Nachrichten.
„Das St. Vincents Hospital hat angerufen.‟ Der Chef drückte die Tür hinter sich zu. „Larry Hershel ist außer Lebensgefahr. Der leitende Arzt der Intensivstation glaubt, dass er bis zum Ende der Woche vernehmungsfähig sein wird.‟
Er tat zwei Schritte in den Raum hinein. „Und dann haben verschiedene Zeitungsredaktionen angerufen.‟ Milo, der ihm am nächsten stand, drückte er das Blatt in die Hand. „Dieses Schreiben fanden sie heute morgen auf ihren Servern.‟
Während der Chef zu einem Stuhl ging, las Milo den Brief. „O Bullshit! So was Hirnrissiges!‟ Er reichte mir das Papier.
„Ein Bekennerschreiben.‟ Der Chef ließ sich auf den Stuhl sinken. Er seufzte vernehmlich.
Orry und Clive kamen zu mir. Zu dritt lasen wir die E-Mail.
„Der Kampf ist eröffnet! Wir übernehmen die Verantwortung für die Versenkung der Yacht des zionistischen Finanzhais und die Vernichtung des Wochenendhauses des Niggerarztes! Beides verstehen wir als erste Warnschüsse! Der Kampf geht weiter!
Weißer Widerstand zur Befreiung von Gottes eigenem Land‟
„Die E-Mail wurde über den Server der Columbia University verschickt‟, sagte der Chef. „An die New York Times, an die Daily News und an die New York Post. Und zwar gestern Nachmittag schon. Sie sehen es an der Zeitangabe in der Kopfzeile.‟
14.18 Uhr, las ich dort. Und in der Adresse des Absenders die Worte Butler Library. „Es ist von der Hauptbibliothek aus verschickt worden. Wenn ich’s recht in Erinnerung habe, müssen Studenten eine persönliche Codenummer angeben, wenn sie den Server der Universität benutzen.‟
Der Chef wandte sich an Orry. „Clive und Medina – fahren Sie bitte gleich zur Columbia University und prüfen Sie das nach.‟ Die Kollegen nickten.
„Weißer Arischer Widerstand hab ich schon gehört, Nationalsozialistische Arbeiterpartei der USA kenn’ ich – aber Weißer Widerstand zur Befreiung von Gottes eigenem Land ...‟ Milo blickte in die Runde. „Hat einer von euch schon mal diesen bescheuerten Namen gehört? Das können doch nur Verrückte sein!‟
„Ziemlich langer Name.‟ Orry hob ratlos die Achseln. „Scheinen sich sehr wichtig zu nehmen. Solche Leute spielen in der Regel keine große Rolle.‟
„Da wäre ich vorsichtig.‟ Jonathan McKees graue Brauen wanderten nach oben.
„In einem Bericht der Kollegen aus Indianapolis habe ich neulich mal von einem rechtsradikalen Rassistenverein gelesen, der sich Arischer Widerstand nennt, aber so was ...‟ Mit einer wegwerfenden Handbewegung deutete Clive auf das Papier.
„Eine Gruppe mit diesem Namen ist meines Wissens noch nie in Erscheinung getreten‟, sagte der Chef.
„Zionistischer Finanzhai, Niggerarzt!‟ Milo tippte sich an die Stirn. „Weißer Widerstand zur Befreiung von Gottes eigenem Land – wo leben wir denn? Im finsteren Mittelalter? Oder in der Hitlerzeit?‟
„Mach deinen nächsten Urlaub mal in gewissen Kuhdörfern unseres glorreichen Südens, Kollege!‟ Orry verzog das Gesicht zu einem sarkastischen Grinsen. „Dort wirst du mehr Mittelalter finden, als du dir träumen lässt.‟
„Das, was Sie Hitlerzeit nennen, ist in einigen Köpfen noch lang nicht vorbei, Milo.‟ Der Chef stand auf. „Und ob das Mittelalter je ganz aufhören wird ...‟ Er winkte ab. „Lassen wir das.‟
„Und nun?‟ Ich reichte ihm das Bekennerschreiben.
„Wir machen zunächst einmal weiter, wie heute morgen besprochen‟, sagte der Chef. „Jay und Leslie kümmern sich um Curseley, bis es für eine Anklageschrift reicht. Orry und Clive bleiben mit der CIA in Kontakt und versuchen, die Hintermänner von Al Turabi herauszufinden. Und Sie beide ermitteln im sozialen Umfeld des Arztes.‟
„Und das hier?‟ Milo zeigte auf die E-Mail.
„Hier geht es um nationale Sicherheitsinteressen, um Terrorismus. Ich muss das Hauptquartier informieren. Und das Innenministerium in Albany. Vielleicht sogar das Weiße Haus.‟
Der Chef ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Schon möglich, dass wir morgen um diese Zeit eine Sondereinheit gebildet haben. Verstärkt durch Antiterror-Spezialisten aus Washington. Ich sag Ihnen rechtzeitig Bescheid, Gentlemen.‟
Die Entscheidung fiel am Spätnachmittag. Milo und ich ließen uns gerade die Wecker in der Uhrenabteilung von Macy′s zeigen, als der Anruf aus der Zentrale kam. Der Chef bestellte uns in die Federal Plaza.
Am frühen Abend versammelten sich vierzehn Agenten und Agentinnen im großen Konferenzsaal. „Ladies und Gentlemen. Es geht um die Sprengstoffanschläge und den Bekennerbrief‟, eröffnete der Chef das Briefing.
„Unser Direktor in Washington, Louis Freeh, hat den Fall auf Bitten des Weißen Hauses zur Chefsache erklärt. Das Schreiben wird noch analysiert, aber wir sollten die Androhung weiterer Anschläge ernst nehmen. Morgen werden zur Verstärkung zwei Spezialisten unserer Anti-Terror-Einheit aus Washington zu uns stoßen.‟
Am nächsten Tag stellten wir die Sondereinheit zusammen. Milo und ich gehörten genauso dazu, wie Orry und Clive. An jenem Mittwoch veröffentlichten sämtliche Zeitungen in New York City das Bekennerschreiben des sogenannten Weißen Widerstandes zur Befreiung von Gottes eigenem Land.
Die Nachrichtensendungen waren voll von dieser üblen Geschichte, und am Donnerstag konnte jeder Zeitungsleser in den Vereinigten Staaten den Wortlaut des Schreibens mit eigenen Augen lesen.
Am Donnerstag Abend wurde die Nationalgarde in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. In Brooklyn fanden wir einen Supermarkt, der den Wecker verkaufte, mit dem die Terroristen den Zeitzünder gebaut hatten. Und am Freitag gab es praktisch in der ganzen Stadt keinen öffentlich zugänglichen Internetanschluss mehr, der nicht von einem Special Agent oder einem zivilen Detective des NYCPDs observiert wurde.
Er träumte, seine Frau würde ihn streicheln.
Ein schöner Traum. Paul Glendale staunte, während er ihn träumte. Es kam in letzter Zeit höchst selten vor, dass sie sich von ihm streicheln ließ. Und dass sie ihn zum letzten Mal gestreichelt hatte ... Gott, wie lange war das eigentlich her!?
Während Paul Esthers Hand über seine Brust und seinen Bauch gleiten fühlte – er träumte, ihre Hand würde tiefer und tiefer gleiten – während er das also fühlte, oder träumte, oder wie auch immer, hörte er, wie sie seinen Namen rief. „Paul! Paul!‟
Sie rief ihn laut, und ihre Stimme klang erregt, während sie ihn rief. „Paul! Paul!‟ So erregt klang sie, dass er sich an die Frühzeit ihrer dreiundzwanzigjährigen Ehe erinnert fühlte. Und das erregte ihn selbst. Es war ein schöner Traum, wirklich wahr – ein Traum voll süßer Verheißung.
„Paul! Wach endlich auf!‟ Paul Glendale riss die Augen auf. Und der Traum zerstob wie ein Schaumberg in der Badewanne unter einem kalten Wasserstrahl.
Die Leselampe auf Esthers Nachttisch brannte. „Nun wach schon auf, bitte!‟ Ihre Stimme klang jetzt eher besorgt als erregt, fast weinerlich. Und in ihrem Gesicht spiegelte sich nicht die Spur sexuellen Verlangens. Ängstlich wirkte sie. Und vorwurfsvoll. Den Zug in ihrer Miene kannte Paul gut.
„Was denn los?‟ Er wandte den Kopf nach rechts. 3.27 Uhr zeigte der Wecker auf seinem Nachttisch. „Noch nicht mal halb vier – hat die Schule angerufen?‟
Tatsächlich – das kam ihm als erstes in den Sinn. Paul Glendale war Direktor einer Highschool in Benson Hurst, einem südlichen Stadtteil Brooklyns. So eine Schule konnte auch mal brennen, oder von Einbrechern heimgesucht werden. In so einem Fall …
„Blödsinn‟, sagte Esther. „Ich glaub, da war jemand an der Haustür.‟ Paul machte ein ungläubiges Gesicht. „Ehrlich ... das Außenlicht ist angegangen.‟
Esther war eine ängstliche Natur, ganz sicher war sie das. Ging nicht schlafen, bevor die beiden siebzehn- und achtzehnjährigen Söhne aus der Discothek oder von der Party zurück waren. Und wenn die Jungens einmal mit der Schulklasse oder der Jugendgruppe für ein paar Tage unterwegs waren – zum Zelten, zum Segeln, zum Skifahren, egal zu was – dann betete Esther doppelt soviel wie sonst und rief ihre Söhne zweimal am Tag an.
Paul hatte es aufgegeben, darüber die Stirn zu runzeln oder Esther gar erziehen zu wollen. Kein Mann, der die Frauen wirklich kennengelernt hatte, versuchte noch, auch nur eine einzige von ihnen verändern zu wollen.
„Ich schau mal nach.‟ Paul schob sich aus dem Bett.
Wozu hat eine ängstliche Frau einen Mann, wenn nicht, um ihn wecken zu können, wenn sie Angst hat?, sagte er sich. Und konnte sich eine ebenfalls möglich Antwort nicht verkneifen: Um Sex zu haben. Auch das dachte er selbstverständlich nur.
Er schlüpfte in seinen Morgenmantel, schlurfte in die Küche, holte die Taschenlampe aus dem Regal über der Spüle, schlurfte zurück ins Schlafzimmer, zog die Vorhänge zurück und öffnete eines der hohen Fenster.
Es war das Erkerfenster über der Vortreppe. Paul und Esthers Schlafzimmer lag im Obergeschoss. Der Lichtkegel der Stablampe fiel auf den Kiesweg, der vom Bürgersteig zur Vortreppe führte. Nichts zu sehen, auch keine auffälligen Fußspuren.
Paul beleuchtete die Vortreppe, das Geländer, die Weinranken zu beiden Seiten des Eingangsportals und den Teil des Zeitungsrohrs, der von hier oben aus zu erkennen war. Nichts.
Der Blick auf den Briefkasten wurde durch das kleine Vordach verdeckt. Aber wer sollte mitten in der Nacht schon etwas in den Briefkasten werfen?
Er lauschte in die Dunkelheit hinaus. Von fern das Rauschen des Verkehrs auf dem Kings Highway. In einem der Nachbargärten zwitscherte ein Nachtfink. Auch Katzen hörte Paul schreien. Klar – Anfang Oktober: Paarungszeit.
Paarungszeit, dachte er wehmütig. Die prickelnde Erregung aus seinem Traum perlte wieder durch seine Glieder.
„Da ist nichts, Darling.‟ Paul ließ den Lampenstrahl noch über die schulterhohe Hecke wandern und hinüber in die Nachbargrundstücke. Dort standen ähnlich wuchtige Jugendstilvillen, wie Paul und Esther und ihre beiden halbwüchsigen Söhne eine bewohnten. „Wirklich, Darling – da ist nichts.‟
„Ganz sicher?‟ Die Decke bis an den Hals gezogen lehnte Esther gegen die Kopfleiste des Bettes.
„Ganz sicher, Darling.‟
„Ich hab’s doch rascheln gehört, ich hab doch sogar Schritte gehört. Und später fuhr ein Auto weg.‟
„Vor unserem Haus?‟ Er betrachtete sie und fand sie begehrenswert. Merkwürdig eigentlich, dass man sogar seine eigene Frau schöner findet, wenn man Hunger nach ihr hat.
„Nein‟, gab Esther zu. „In einer Nachbarstraße.‟
Paul zuckte mit den Schultern. „Na siehst du.‟ Er stellte die Lampe vor Esthers Schminkspiegel. „In den letzten drei Jahren ist in unserer Straße kein einziges Mal eingebrochen worden. Unter den Ganoven hat es sich längst ’rumgesprochen, dass hier jedes Haus über eine gute Alarmanlage verfügt.‟ Er zog sich den Morgenmantel aus.
„Aber das Außenlicht ging an.‟ Die Hartnäckigkeit – das war auch so ein Zug an Esther.
„Der Bewegungsmelder reagiert auch auf Katzen und Eichkater. Sogar auf Vögel. Wahrscheinlich waren es Katzen.‟ Während er Anstalten machte, seine Decke zurückzuschlagen, grinste er seine Frau an. „Es ist Paarungszeit, Darling.‟
„Bitte, Paul. Schau auch im Garten nach. Und an der Kellertreppe. Und an der Garage.‟
„Also gut‟, seufzte Paul, „weil du es bist, Darling.‟ Und weil Paarungszeit ist, fügte er in Gedanken hinzu.
Er streifte sich den Morgenmantel also wieder über, bewaffnete sich erneut mit der Stablampe, und machte sich auf zu den anderen drei Seiten seines großen Hauses.
Er öffnete die Fenster zum Grundstück der McMillans, leuchtete die Umgebung der Garage aus, öffnete ein Fenster zum Grundstück der Hastings und leuchtete die Steinplatten vor der Garage ab.
Hinter einem Fenster im Erdgeschoss der Hastings brannte Licht. Paul sah das bläuliche Geflimmer des TV-Gerätes. Er fragte sich, welche Sendung sein Nachbar um die Zeit noch anschaute.
Zum Schluss ging er auf den Balkon an der Rückfront des Hauses und leuchtete in den Garten hinein. Die Schatten dreier Katzen huschten durch die Blumenbeete. Ansonsten nichts.
Paul schlurfte zurück ins Schlafzimmer. Unterwegs mutmaßte er, dass der alte Hastings mal wieder vor der Mattscheibe eingeschlafen war. Oder gab es da nicht einen Boxkampf in Europa? Richtig, in den Niederlanden, in Köln. Oder liegt Köln in Österreich? Keine Ahnung – jedenfalls sieht der alte Hastings sich einen Boxkampf an.
„Nichts Darling, wirklich. Alles in Ordnung.‟ Die Taschenlampe auf den Schminktisch, herunter mit dem Morgenmantel, ab ins Bett. Bevor Esther noch auf die Idee kam, ihn in den Keller, oder gar auf die Straße zu schicken.
„Hast du auch die Fenster wieder zugemacht?‟
„Hab ich, Darling, hab ich ...‟ Er streckte beide Arme nach ihr aus. „Komm her, Angsthäschen, ich beschütze dich.‟
Er sagte das einfach so – vielleicht hatte sein Traum ihn in Stimmung gebracht, vielleicht die balzenden Katzen. Und die Verwunderung aus seinem Traum setzte sich unverhofft fort – ohne Wenn und Aber kuschelte Esther sich an ihn.
Die Wärme ihres Körpers, die Wölbungen ihrer Brüste an seinen Rippen, ihr Duft – sein Blut geriet in Wallung. Er streichelte ihr Haar, er küsste ihre Stirn, er küsste ihr den Träger des Nachthemdes von der Schulter, und dann küsste er ihre Brüste. Und zwar, ohne sie um Erlaubnis zu fragen
Esther reagierte, als wartete sie seit Wochen auf so eine Gelegenheit: Sie räkelte sich in seinen Armen und begann nun wirklich ihn zu streicheln. Brust und Bauch und tiefer. „Mehr, mehr‟, hauchte sie.
Paul nahm sich vor, den Katzen, die durch den Bereich des Bewegungsmelders gelaufen waren und Esther geweckt hatten, eine Schale Milch auf die Treppe zu stellen. Vielleicht kamen sie dann öfter.
„Glaubt mir, es gibt eine Menge Leute in den Vereinigten Staaten, die so denken wie wir!‟ Ronald A. Lighthouse beugte sich über den Tisch. Nacheinander sah er seine Gesinnungsgenossen an. „Menschen, die ein sauberes Amerika wollen. Menschen, die genug haben von Bettlern, verhüllten Frauen, Jugendgangs, Kaftanen und Saris, Schwarzen und Homosexuellen, und was man nicht alles anschauen muss, wenn man durch die Straßen unserer Großstädte geht.‟
Sie waren zu sechst. Alles Männer. Nur einer von ihnen war jünger als Lighthouse selbst. Ein Trucker aus Staten Island. Die anderen waren alle über dreißig. Einer sogar fast fünfzig. Und trotzdem akzeptierten sie den Studenten als ihren Führer.
„Menschen, die von einem starken Amerika träumen. Einem Amerika, das seine hehren Ideen und seine starke Moral in der ganzen Welt verbreitet ...‟
Wie schon so oft seit dem Sommer, hatten sie sich in Jersey City getroffen. Im Industriegebiet am Hafen, im Büro einer kleinen Speditionsfirma.
Das Unternehmen gehörte dem ältesten unter den Männern. Er hieß Humphrey Perlman. Wie die anderen auch war er Gründungsmitglied des „Weißen Widerstandes zur Befreiung von Gottes eigenem Land‟.
„Wir müssen Kontakt zu den Kampfgenossen aufnehmen. Das Internet bietet ungeahnte Möglichkeiten. Ihr glaubt gar nicht, wie viele von uns sich dort zu Wort melden.‟