Krüppeljunge - Maik Harmsen - E-Book

Krüppeljunge E-Book

Maik Harmsen

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Beschreibung

Am 22. Mai 1953 in Frankfurt/Oder fuhr mich ein Soldat fast zu Tode. Den vor Augen lag ich auf dem OP-Tisch. Es sah nicht gut für mich aus. Der OP-Arzt gab mich auf. Der Chefarzt sah das nicht ein ... und schaffte es. Doch war es das Beste für mich? Ich wollte nicht als Krüppel leben ...

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Das, was Sie hier lesen, ist wahr. Es wurde mir erzählt von dem Mann, dem das widerfuhr, als er 9 Jahre alt war.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel A

Kapitel B

Kapitel C

Kapitel D

Kapitel E

Kapitel F

Kapitel G

Kapitel H

Kapitel I

Kapitel J

Kapitel K

Kapitel L

Epilog

A

Es war ein heißer Tag im Sommer 1951. Da war ich sieben Jahre alt. Die Sonne schien vom blauen Himmel und keine Wolke war zu sehen. Ich war mit den Eltern auf dem Weg in den Zirkus. Mutter ging links neben mir und Vater rechts. Sie fassten mich an einer Hand an und jedes Mal wenn ich «Engelchen flieg» rief, wurde ich mit Schwung in die Höhe geschleudert und ich hatte viel Spaß. Nach einer Weile sagte Vater, dass wir gleich da sind. Auf die Löwen war ich gespannt wie ein Flitzebogen, denn Echte sah ich ja noch nie.

Wir liefen auf das riesige bunte Zelt zu. Mit uns kamen immer mehr Leute an, die sich der Reihe nach an der Kasse hinstellten. Da Vater Karten hatte, gingen wir gleich zum Eingang. Dort stand ein älterer Mann, dem gab er die. «Können wir sitzen, wo wir wollen?», fragte er. «Ja, das können sie», sagte der nette Herr.

Wir kamen im Zelt an. Da sah ich die Manege vor mir. Rechts und links war die Tribüne mit den Sitzplätzen. Da liefen wir durch und ich fragte: «Papa, kann ich in der ersten Reihe sitzen?» Der sah sich um und meinte: «Da ist es aber schon sehr voll ...» Wir fanden dann doch noch drei Plätze. Da setzten wir uns hin und warteten auf den Anfang der Vorstellung. Kurze Zeit später ging es los ...

Da ich schon mal im Zirkus war, sah ich einiges bereits. Die Letzten vor der Pause waren Artisten, ein Junge - der war nicht älter als zwölf - eine Frau und ein Mann. Die stiegen gleich eine Leiter hoch. Ich sah aber kein Netz. Die zuvor hatten so eins und da stürzte auch mal einer rein. Da bekam ich einen Schreck. Ich kuckte gespannt zu, wie die drei am Trapez durch die Luft flogen. Der Junge tat das auch, das traute ich mich nicht. Zum Glück geschah hier nichts. Im Anschluss war Pause. In der baute man einen Käfig in der Manege auf. Als alles fertig war, kam ein Dompteur, der da rein ging. Dann sah ich, wie der erste Löwe kam ...

Ein Jahr später.

Es war Weihnachten 1952. Unterm Baum lag ein Buch für mich. Es war eins über wilde Tiere. Als ich im Bett lag, las ich die erste Geschichte, in der ging es um Affen. An jedem Tag, der folgte, las ich eine Neue. Am Tag vor Silvester schlug ich das Buch auf und las alles über die Könige der Tiere. Als ich fertig war, legte ich es neben mich. Ich machte das Licht aus und schloss die Augen. Da ich nicht gleich schlief, dachte ich an den Zirkus und an die Löwen dort ... dann schlummerte ich ein ...

Auf einmal merkte ich, dass an mir gerüttelt wurde. Ich hörte die Stimme einer Frau, die leise rief: «H-a-n-s, H-a-n-s wach auf ... Was ist denn los? Warum hast du so geschrien?» Ich machte die Augen auf und sah, dass es Mutter war. Ich fragte sie: «Wo sind die Löwen?» Sie hörte auf, an mir herum zu rütteln, und wollte wissen, ob ich einen bösen Traum hatte. Ich sagte: «Ja, Mama! Da war ein böser Löwe, der biss mir in mein Bein.»

«Na, komm her ...», meinte sie und drückte mich an ihre Brust. Dann streichelte sie mir mit den Händen langsam über Rücken und Kopf. Ich hörte auf zu weinen, schluchzte ein letztes Mal und beruhigte mich. Sie hob das Buch von der Decke auf, zeigte es mir und fragte: «Hast du aus dem Tierbuch gelesen?»

«Ja, von den Löwen und da dachte ich an die im Zirkus.»

«Mmh ... Und da schliefst du ein und träumtest von ihnen.» Mutter hob die Decke an und sagte: «Wie du siehst, sind beide Beine noch dran ... So, und jetzt schlaf weiter. Und heute Abend bist du bei Oma. Du weißt ja, dass wir Silvester haben. Da musst du auch nicht so früh ins Bett wie sonst ... Im Übrigen bekommst du auch eine Schachtel mit Knallerbsen. Die darfst du dann bei ihr in der Küche knallen lassen.» Darüber war ich sehr glücklich und sagte: «Oh ja, das macht mir Spaß! Und da Oma das zu laut ist, hält sie sich immer die Ohren zu ... Mama, ich hab Durst.»

«Gut! Ich bringe dir gleich eine Brause.» Mutter lief in die Küche und brachte mir das Glas mit dem köstlichen Getränk. Das trank ich sofort aus. Hinterher deckte sie mich zu und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Sie machte das Licht aus und lief zu ihrem Bett. Ich hatte vor zu schlafen, doch es gelang mir nicht. Ich dachte nur an den Löwen und hatte Angst, dass der nochmal kommt, wenn ich träume. Ich schlief irgendwann ein und er kam nicht mehr. Als ich wach wurde, war die Welt aufs Neue in Ordnung. Vorerst ...

Am Nachmittag lief ich mit Mutter zu Oma. Wie in den Jahren davor blieb ich auch in der Nacht bei ihr. Oma war eine kleine und ganz liebe Frau. Sie hatte graue Haare, die hinten zu einem Dutt geflochten waren. Für mich tat sie alles. Sie wollte immer, dass es mir gut geht. Wie an jedem Tag hatte sie ein schwarzes Kleid an. Das war mit weißen Blumen verziert. Mutter packte eine Tasche für mich. In der waren ein paar Sachen und das wichtigste: Knallerbsen und Knallbonbons. Am liebsten hätte ich die schon gleich zum Knallen gebracht. Das hat man mir nur nicht erlaubt. Erst nach dem Abendbrot durfte ich das. Den Teddy hatte ich auch mit. Der sah so aus, wie der Seppel den ich mal im Kaspertheater sah. Zu Hause erzählte ich Mama das und sie schneiderte über Nacht für den Bären eine Hose in Grau, ein Hemd in Grün und einen Hut in Braun. Als ich den, wie ich wach wurde, sah, freute ich mich riesig. Ab da hieß der Seppel. Mutter stickte sonst nur Decken für Tische und Kissen.

Als sie alles aus der Tasche ausgepackt hatte, sprach sie eine Weile mit Oma. Dann kam sie auf mich zu und sagte: «Hans, ich gehe jetzt. Sei bitte artig und brav. Wenn wir gefrühstückt haben, hole ich dich ab. In Ordnung?» Ich nickte und sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. Die zwei liefen zur Tür. Dort sagten sie sich leise etwas, ich hörte aber nicht, was das war. Kurze Zeit später ging sie und Oma schloss die Tür ab. Meine Mutter war ihre jüngste Tochter. Sie hatte aber noch zwei, Else und Frieda. Von Papas Seite lebte keiner mehr. Die waren alle schon tot.

Ich saß am Tisch und spielte mit den Packungen der Böller. Ach wie gerne hätte ich die knallen lassen. Da ich das nicht durfte, schob ich die Hin und Her und versank in die Welt der Gedanken. Da hörte ich, wie Oma rief: «Hansel, möchtest du eine Tasse mit heißer Milch?» Ich erschrak, sah zu ihr und sagte: «Oh, Oma! Jetzt hast du mich aber erschreckt.» Sie schlich sich, ohne dass ich es merkte leise an. Sie sah mir in die Augen und meinte: «Ach, das tut mir leid Hansel. Das wollte ich nicht.»

«Ist nicht schlimm, Oma. Hast du auch Plätzchen?»

«Gewiss doch. Die bekommst du gleich», sagte sie, drehte sich um und lief in die Küche. Ich spielte wieder mit den Schachteln und versuchte, den Text zu lesen. Da kam Oma zurück und stellte die Tasse direkt vor mir auf dem Tisch ab. «So und ein paar Plätzchen bekommst du auch noch ... Und nun Hansel, lass es dir schmecken. Ich gehe wieder in die Küche und hol mir Kaffee.»

Darauf gab ich ihr keine Antwort mehr. In null Komma nichts hatte ich eins im Mund und kaute es mit Freude. Kurze Zeit später kam sie zurück und hatte eine Tasse in der Hand. Sie setzte sich zu mir und fragte: «Und Hansel, schmecken dir die Plätzchen?»

«Mmh ... ja, die sind lecker!»

«Die backte ich gestern extra für dich. Ich wusste ja, dass du heute kommst.» Die waren immer sehr gut. Auch was sie sonst machte oder kochte, schmeckte mir. Ich hatte großen Hunger und aß alles rasch auf. Als die Kekse verzehrt und der Teller leer war, fragte sie: «Hansel, hast du Lust, mit mir ´Mensch ärgere dich nicht´, zu spielen?»

«Na klar, Oma», sagte ich und freute mich darauf. «Fein, dann bringe ich das Geschirr schnell in die Küche. Du holst das Spiel und packst es schon mal aus. Es liegt da drüben auf dem Schrank.» Sofort holte ich den Karton her und packte alles, was wir brauchten aus. Als das erledigt war, nahm ich für mich die roten «Püppchen» und stellte sie auf das Startfeld. Zuletzt legte ich den Würfel bereit. Dann kam Oma an und sagte: «Ah, wie ich sehe, hast du dir schon Rot genommen. Gut, und ich nehme mir Gelb.»

«Oma! Rot ist doch die Lieblingsfarbe von mir und ich habe die immer. Die bringen mir auch jedes Mal Glück.»

«Aber heute nicht! Da gewinne ich mit den Gelben ...»

«Ha, ha! Das werden wir gleich sehen, Oma!» Wir fingen an und ich zählte nicht, wie oft wir spielten. Wenn ich verlor, freute sich Oma und ich ärgerte mich. Zum Glück gewann ich fast alle Spiele. Sie stand immer wieder mal auf, lief zum Ofen und warf Briketts ein. Die lagen in einer Kiste am Herd. Das Feuer durfte ja nicht ausgehen. Wir hatten einen von gleicher Art in der Stube mit einem Kasten, wo die Kohle drin lag. Der stand in der Küche neben dem Gasherd. Auf dem gab es Ringe, die man raus nehmen konnte. Darunter war die Bratröhre und vorn am Herd war eine Stange aus Metall. Die sollte verhindern, dass man sich nicht an der heißen Platte verbrannte. Wir heizten mit Holz und Kohle. Mutter nahm den aber nur am Sonntag, wenn es Braten gab. Im Herbst weckte sie Obst damit ein. Sonst kochte sie mit Gas.

Wieder gewann ich ein Spiel und da meinte Oma: «So Hansel, jetzt ist Schluss und wir hören auf. Ich mache uns gleich etwas zu essen. Sind wir fertig, darfst du knallen und ich halte mir die Ohren zu!»

«Oma! Das brauchst du nicht. Die sind doch gar nicht laut!»

«Für mich sind sie es! So, jetzt bekommst du aber erst mal ein Glas Brause. Wenn wir Abendbrot essen, gibt es Pfefferminztee.» Sie stand vom Tisch auf und lief in die Küche. Kurze Zeit später brachte sie mir das Getränk und stellte es vor mich hin. Sie drehte sich um und war nicht mehr zu sehen.

Ich spielte derweil mit den Sachen, die ich bei mir hatte. Es dauerte nicht lange, da kam sie wieder mit dem Essen. Als das vor bei war, ging es los. Sie räumte den Tisch ab und brachte alles in die Küche. Von da aus rief sie wenig später: «Hansel, es ist so weit. Jetzt darfst du anfangen.» Ich sprang vom Tisch auf und lief zu ihr. Da hüpfte ich vor ihr rum wie Rumpelstilzchen ums Lagerfeuer. «Nicht so nervös, Hansel. Ich muss doch erst mal eine Schachtel öffnen» rief sie mir zu. Die hielt sie vor mich hin und ich nahm eine Hand voll raus. Sofort warf ich die mit Wucht auf den Boden, der aus Terrazzo war. Als die aufschlugen, knallte und rauchte es. Ich hatte große Freude Oma eher weniger, denn sie hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Im Nu war die Schachtel leer und ich hatte keine einzige mehr. Dafür war die Küche voller Qualm und es stank heftig. Ich wollte ihr das sagen und sah zu ihr. Da sie wieder schwarze Sachen an hatte, fiel mir auf ein Mal ein, dass ich sie vor langer Zeit fragte, warum sie nicht mal helle anzieht ...

Da setzte sie mich auf ihren Schoß, lächelte und sagte: «Hansel, das kann ich dir alles begründen. Früher hatte ich auch helle Sachen an, bis zu dem Tag ...» Da fing sie an zu weinen und die Tränen tupfte sie mit einem Tuch ab. «Also, das war so: Dein Opa ... Mmh ... Er war ein gutherziger Mann. Es herrschte zu der Zeit Krieg und die Mutter von dir war nur wenige Wochen alt. Dann zog man ihn zum Heer ein und er wurde Soldat. Ab dem Tag war ich mit drei Kindern allein und blieb es, denn ich sah ihn nie wieder. Ein paar Monate später fiel er auf dem Feld der Ehre ...» Sie fing erneut an zu weinen. Hektisch griff sie nach dem Tuch ... Als sie es fand, wischte sie sich die Tränen ab. Ich wollte sie trösten und sagte: «O-m-a! Ich weiß, dass das schmerzhaft ist, denn ich bin schon oft gefallen. Ein Mal blutete mir sogar das Knie. Ich verstehe nicht, warum er nicht aufgestanden ist, so wie ich. Dann hätte er ja zu dir kommen können.»

Sie hielt inne, tupfte sich die letzten Tränen ab und steckte ihr Tuch in die Tasche der Schürze. Sie lächelte mich an und sagte: «Weißt du, Hansel ... Wenn ein Soldat fällt, heißt das, dass er gestorben ist und in den Himmel kommt. Im Krieg gibt es keine Gnade, nur Opfer und die sterben fürs Vaterland. So kuckt er jetzt auf die Erde und sieht uns zwei. Mit der schwarzen Kleidung zeige ich ihm, dass ich immer an ihn denke und ihn nie vergesse. Jetzt habe ich keinen Mann mehr nötig, denn ich bin auch so froh. Ich hab ja nun dich und bist du mal, beschützt du mich. Machst du das?» Das versprach ich ihr ...

Ich sah in ihr Gesicht und musste schmunzeln. Sie stand da, hatte die Hände an den Ohren und die Augen zu. Ich zupfte an ihrem Rocksaum und rief laut: «Oma, mach jetzt die Augen auf! Die Knallerbsen sind verknallt», dabei sah ich sie traurig an. Sie machte die Lider auf, sah mich an, und meinte: «Was? Die sind schon alle? Das waren doch so viele!»

«Ja, aber ... jetzt ... sind keine mehr da!»

«Schade, dann gebe ich dir noch die anderen Knaller!»

«P-r-i-m-a!» Und wieder hüpfte ich voller Freude vor ihr herum. Sie griff in die Schachtel mit den Knallbonbons, nahm eins raus und gab es mir. Die sahen genau so aus wie Riesenbonbons. Sie sah mich an und sagte: «Hansel, jetzt zeige ich dir mal, wie man das macht ... Du fasst das so an beiden Seiten an und dann ziehst du es, so schnell es dir möglich ist auseinander.» Sie gab es mir und ich hielt es fest in den Händen ... Ich war in Erwartung, was da gleich passiert. Dann konzentrierte ich mich ... und zog mit all meiner Kraft. Prompt machte es p-e-n-g und ich erschrak. Doch da fiel etwas raus und flog auf die Fliesen. Es war ein rotes Auto aus Plaste. Ich bücke mich und hob es auf. Darüber freute ich mich riesig. Es kam gleich auf den Tisch und ich schnappte mir das Nächste. Da zog ich dran ... und erschrak nicht mehr. So bekam ich noch ein Püppchen aus Plaste und zwei Glasmurmeln. Da rief Oma: «Du hast es geschafft, Hansel. Jetzt erlaube ich dir, noch eine halbe Stunde zu spielen, und dann geht’s ab ins Bett. Ich räume in der Zeit den Müll auf und hinterher lüfte ich so lange, bis der Gestank weg ist.»

«Du bist die beste Oma der Welt», sagte ich, gab ihr ein Küsschen auf die rechte Wange und rannte in die Stube. Am Tisch fing ich an zu spielen. Als Oma in der Küche fertig war, ging sie in ihre Schlafstube. Kurz darauf kam sie zurück und in der Hand hielt sie die Bettwäsche. Die legte sie auf dem Sofa ab. Das war grün und war verziert. Auf der Sitzfläche links war eine Stelle, die kaputt war, die sah aus wie ein Dreieck. Nie schaffte ich es, Oma zu fragen, wer das in den Stoff schnitt. So fragte ich: «Oma, wie kam das Loch in das Sofa?»

«Das was? Ach das da! Äh, na ja, das war so ... Wir verließen in den letzten Tagen vom Krieg das Haus. Die russische Armee war schon fast an der Oder. Da floh ich mit dir und Mama nach Herzberg an der Elster. Auf dem Land waren wir sicher, meinte ich. Wir wohnten dort in einem Haus, das Tante Frieda mal erbte. Die blieb aber die ganze Zeit hier. Sie wollte nicht von ihrem Salon weg. Keiner hielt sie da von ab.

Als der Krieg zu Ende war, kamen wir heim. Doch das Haus von euch lag in Schutt und Asche. Da bliebt ihr erst mal bei mir, denn da war alles heil, nur das Sofa nicht. Von Frieda erfuhr ich, dass es russische Soldaten waren. Die bekamen mit, dass Leute die flohen, in den Möbeln versteckten, was von Wert war. Wie Schmuck und Uhren.

Die hatten an den Gewehren vorn am Lauf eine Stichwaffe. Die sah so aus wie ein langes Messer. Mit der stachen sie in den Stoff. Bei mir hatten die kein Glück, da wir nichts von Wert hier ließen. Jetzt weißt du, wie das Loch da rein kam.»

«Oma, und warum kam Papa nicht mit?»

«Der war in Thüringen in einem Lager für Gefangene. Er war er ja Soldat und da er von den Amerikanern gefasst wurde, hielten die ihn dort fest ... So, und jetzt mache ich dein Bett.» Ruck Zuck war sie fertig, dann sah sie mich an und sagte: «Es ist so weit, mein Junge. Lass alles auf dem Tisch liegen, ziehe den Nachtanzug an und gehe aufs Klo. Hier stelle ich dir das Töpfchen für die Nacht hin. Wenn du mal die Blase leeren musst, dann mach dein Pippi da rein.»

«Gut, Oma!»

Ich kam zurück und legte mich hin. Oma kam zu mir, deckte mich zu, setze sich hin und gab mir einen Kuss. Dann sagte sie: «Hansel! Ich wünsche dir eine gute Nacht und hab schöne Träume.» Ich nickte mit dem Kopf. «Oma, das wünsch ich dir auch. Nur bin ich gar nicht müde ...» Sie wollte sich grad erheben, da fragte ich schnell: «Oma, erzählst du mir die Geschichte mit der Kaiserin.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ach ... Hansel, es ist spät ... ich hätte es gerne, wenn du jetzt schläfst.» Doch das wollte ich nicht. «Aber, aber ... ich bin gar nicht müde. Bitte, bitte, bitte!» Sie seufzte, lächelte mich an und sagte: «Na gut, wenn es sein muss … doch danach schläfst du!»

Oma setzte sich hin. Sie dachte kurz nach und fing an: «Es war im September, da zog hier bei uns in eine Villa Deutschlands letzte Kaiserin ein. Das tat sie aber nicht aus freien Stücken. Nein! Sie war eine von den Russen Gefangene. Sie hieß Hermine und war die zweite Frau von Kaiser-Wilhelm den Zweiten.

Da warst du grad zehn Monate alt. Deine Mama war jeden Tag mit dir draußen an der frischen Luft. Dann kamen mal zwei Frauen auf sie zu. Sie sah, dass eine die Kaiserin war. Gleich grüßte sie die mit ´kaiserliche Hoheit´. Doch die wollte das nicht. Sie bestand darauf, nur mit Hermine angeredet zu werden. Ihre Gesellschaftsdame stellte sie auch vor. Die Kaiserin konnte von der Seite nicht in den Wagen kucken, da das Verdeck zu war. Da wollte sie wissen, was du bist. Deine Mama sagte, dass du ein Junge bist. Gleich beugte sie sich runter zu dir. Da lachtest du scheinbar, denn verzückt meinte sie, dass du ein reizendes Kind bist. Dann wollte sie wissen, wie du heißt, und deine Mutter sagte Hans. Da war sie der Meinung, dass der Name zu dir passt. In der Folge streichelte sie dir über die Wange. Das gefiel dir wohl, da du laut gelacht hast. So schäkerte sie eine Weile mit dir herum.

Dann richtete sie sich auf und sah deine Mama an. Sie sagte ihr, dass du ein reizender Fratz bist, mit dem sie gewiss eine Menge Freude hat. Da das stimmte, bestätigte sie ihr das. Die Kaiserin hatte etliche Kinder. Nur wie viele, das kann ich dir nicht sagen. Da sagte sie, sind die Kinder klein, hat man mit ihnen große Freude. Werden sie älter, ist das nicht mehr der Fall. Danach nahmen sie Abschied und gingen fort. Auch ich sah sie ein Mal kurz im Salon von Tante Frieda. War es wieder mal so weit, und die Kaiserin kam, teilte man ihr den Termin mit. Um die Zeit durfte keine Person vor Ort sein. Sie kam jedes Mal mit ihrer Dame und zwei Soldaten an.

An dem Tag wollte ich Frieda etwas fragen. Ich machte die Tür auf und da sah ich im Spiegel, dass sie ihr grad die Haare schnitt. Da kam auch schon ein Soldat an. Er schickte mich in sehr barschen Ton raus und schlug die Tür zu. Fuhr Hermine in der Straßenbahn, war das auch so. Sie hatte nur für sich und ihr Geleit einen Wagon. Neben ihrer Dame hatte sie noch einen Herrn. Der war ihre rechte Hand und leitete alles für sie in die Wege.»

Da fiel mir ein, dass mein Vater auch bei ihr mal arbeitete. Sie gab mir zur Antwort: «Ja, das stimmt, Hansel. Zu dem Papa von dir kam mal ein Offizier der Russen. Der wollte, dass er in der Villa, wo sie lebte, ihre Wohnung neu streicht. Er hatte keine Wahl, denn die ließen keine Absage zu. Er wurde aber gut bezahlt. Dein Papa sah sich die Räume an und schrieb auf, was er brauchte. An dem Tag, wo das Material da war, fing er gleich an. Die Kaiserin lebte in der Zeit an einem anderen Ort.

Es war der letzte Tag, er war grad fertig und wollte nach Hause gehen. Da ging die Tür auf und die Kaiserin kam rein. Die sah sich gleich überall um. Dann dankte sie ihm für seine sehr gute Arbeit und das er so schnell fertig wurde. Zum Dank gab sie ihm drei Zigaretten. Dein Vater sah sie auch nie mehr.

Sie starb hier, am 7. August 1947. Den Sarg von ihr brachte man bei Nacht und Nebel nach Potsdam, da keine Person aus dem Volk das wissen sollte. Sie wurde da im antiken Tempel beerdigt. Das war das Ende von Hermine, der letzten Kaiserin ...»

«Oh, war das schön, Oma. Jetzt werde ich g-u-t schlafen.»

«Fein! Dann wünsche ich dir eine angenehme Nacht und träum etwas schönes.»

«Bestimmt träume ich von der Kaiserin.»

«Warten wir´s ab ... Wenn du morgen früh aufwachst, erzählst du´s mir.» Sie stand auf, ging fort und machte das Licht aus. Die Spielsachen von mir lagen alle auf dem Tisch. Was ist, wenn heute Nacht jemand kommt und die mir stibitzt, kam es mir in den Sinn. Ich wartete ab, bis sie zu ihrer Schlafstube ging. Da machte sie die Tür auf und das Licht an. Das reichte mir aus. Ich griff alle Sachen und legte sie unter das Kissen. Da war das Spielzeug beschützt, denn ich lag ja mit dem Kopf darauf. So schlief ich gelassen ein ...

1. Januar 1953.

Als ich wach wurde, fasste ich unter das Kissen und freute mich, das alles noch da war. Ich holte jedes Teil raus und fing gleich an, auf der Decke zu spielen. Da kam Oma aus ihrer Stube und rief: «Hansel! Ich wünsche dir ein schönes Neues Jahr.» Ich wünschte ihr das auch. Da fragte sie, ob ich grad aufgewacht bin, und ich sagte: «Ja, vor ein paar Minuten.»

«Hast du von der Kaiserin geträumt?»

«Nein ... überhaupt nichts.»

«Ist ja auch nicht so wichtig ... Dann steh jetzt auf, wasch dich und zieh dich an. Ich mache uns in der Zeit das Frühstück.» Da ich Hunger wie ein Löwe hatte, stand ich schnell auf. Danach legte ich das Spielzeug auf den Tisch und lief in die Badestube. Doch zuerst musste ich mal auf das Klo. Das stand neben der Badewanne. Zwei Meter darüber war der Kasten für die Spülung. Von da aus hing eine Kette runter und an der war am Ende ein Griff aus Keramik. Den zog man nach unten, um zu spülen. Zog man den zu fest, hakte sich die Kette aus und dann lief das Wasser ohne Ende. War das mal der Fall, kam Vater gleich an, nahm die Leiter und renkte die ein.

Ich kam zurück und Oma rief: «Komm her, mein Junge, setz dich ... es ist alles fertig.» Es gab Kakao, Marmelade, Brot und Butter. Da ich Hunger hatte, fing ich gleich an. Sie trank Kaffee zum Frühstück. Die Bohnen und den Kakao brachte Mutter aus Westberlin mit, wenn sie dort einkaufte. Bei uns gab es nur Muckefuck. Dann klingelte es an der Tür und Oma machte auf. Es war meine Mutter. Als sie in die Stube kam, lief ich voll Freude auf sie zu und zeigte ihr gleich die neuen Spielsachen. Wir wünschten uns ein glückliches und gesundes Jahr. Sie redete kurz mit Oma, fragte sie, ob ich artig war. Dann packte sie alle Sachen von mir ein. Ich schlüpfte in den Mantel, setzte die Mütze auf den Kopf und zog die Wollhandschuhe an. Mama legte mir den Schal um den Hals. Dann nahmen wir Abschied von Oma und verließen ihre Wohnung. Auf dem Weg zu uns, sagte Mutter: «Du warst ja, wie ich von Oma hörte artig ...»

«Mama, das bin ich doch immer.»

«Ja, das weiß ich. Habt ihr, ´Mensch ärgere dich nicht´ gespielt?»

«Ja! Und ich hab fast jedes Spiel gewonnen ... Als ich im Bett lag, erzählte sie mir noch die Geschichte von der Kaiserin.»

«Die hörtest du doch bereits dutzendmal.»

«Ja, aber ... ich finde sie schön, Mama.»

«Bei uns war es das auch. Wir waren in der HO-Gaststätte ´Klause´. Um 24 Uhr kam der Koch aus der Küche. Er hatte ein Ferkelchen unter dem Arm und das quiekte lautstark. Mit dem lief er durch das Lokal. Jeder der Gäste sollte das anfassen und sich dabei etwas für das neue Jahr wünschen.»

«Hast du das Schweinchen auch angefasst, Mama?»

«Ja! Ich hoffe, es hat sich gelohnt.»

«Und Papa?»

«Nein, der nicht.»

«Hattest du keine Angst?»

«Du meinst, weil ich immer so furchtsam bin?»

«Ja!»

«Nein! Das hatte ich nicht. Papa war ja bei mir und hätte mich beschützt.» Voller Neugier fragte ich: «Hast du dir was gewünscht, Mama?»

«Ja, habe ich!»

«Und was?»

«Das wichtigste: Gesundheit und Geld. Mit dem wir in der Lage sind gut zu leben und keine Sorgen haben.»

«Habt ihr auch getanzt?»

«Ja. Wir haben wieder eine kesse Sohle aufs Parkett gelegt. Zum Tanz spielte eine Kapelle.»

«So wie früher wo ihr in der Tanzschule wart?»

«Na ja, nicht ganz so! Aber so ähnlich. In der übt man das Tanzen, bis man es kann. Ist man so weit, dann tanzt man überall, ohne sich zu blamieren.»

«Wie tanzt Papa?»

«Sehr gut! Der war in der Tanzschule der Beste. Der Besitzer holte ihn oft und dann half er dort aus. Das war jedoch nicht leicht für ihn. Die Damen, mit denen er es zu tun hatte, hatten meist kein Talent. Ein paar Frauen brachte er es aber bei.»

«Ach so, dann waren die steif wie ein Brett?»

«Ja, so ungefähr.»

«Lerntest du ihn da kennen?»

«Nein! Ich traf ihn in einem anderen Lokal, das war im Jahr 1935.»

«Hast du ihn gleich geliebt?»

«Nein! Wie kommst du darauf? ... Ich lernte ein paar Monate vorher einen Lehrer kennen. Der war sehr nett. Mit ihm traf ich mich öfters, nur leider wurde er versetzt und zog nach Berlin. Kurze Zeit später traf ich Papa. Das sagte ich ihm aber nie. Er ist nämlich sehr eifersüchtig ... Versprichst du mir, dass das unser Geheimnis bleibt? Das du ihm n-i-e da von etwas sagst?»

«Ja Mama! Das verspreche ich dir!»

«Das ist lieb von dir, mein Junge!» Da sah ich unser Haus und rief: «Wir sind gleich da!»

Vater machte die Tür auf. Ich lief in den Flur und zeigte ihm sofort die neuen Spielsachen. Der freute sich auch, als er die sah. Da rief Mutter barsch: «Hans! Zieh doch erst mal deine Sachen aus!»

Hastig zog ich Schal, Mütze, Handschuhe und den Mantel aus. Dann rannte ich in die Stube, dort zum Tisch und da legte ich das Spielzeug ab. Da hörte ich, wie Mutter sagte: «Rudolf! Hast du noch zu arbeiten?»

«Ja! Etwa eine Stunde.»

«Dann bereite ich schon langsam das Essen vor.»

«Ja, Liesel, mach das. Ich stör dich nicht.» Und ich rief: «Ich auch nicht!»

Danach spielte ich und war glücklich.

Die Eltern von mir waren nie boshaft. Mutter war schlank und lustig und sah fast aus wie Oma. Nur hatte Mutter gelockte braune Haare. Bei Oma waren die schon grau. Sie war auch die hübscheste von allen Frauen, die ich kannte. Vater war kräftig. Die Haare von ihm waren dunkel und kurz. Er war Malermeister und hatte drei Gesellen. Die waren oft nicht so fleißig, wie er sich das wünschte. Da sprach er oft ein Machtwort. Wenn das mal der Fall war, bekam ich das mit. Ich lag da zwar schon im Bett, aber ich hatte ein sehr gutes Gehör. Da sagte er zu Mutter Dinge, die ich nicht hören sollte.

Das meiste verstand ich nicht. Er hatte jede Menge zu tun und so waren wir mit Geld besser dran wie andere. Nur gab es hin und wieder Leute, die nicht zahlten. Das war für ihn immer ein harter Kampf um jede Mark. Das war auch nötig, denn er musste den Gesellen Lohn zahlen, Farbe und Pinsel kaufen und für uns sollte auch noch was übrig bleiben. Mutter war Hausfrau, seit ich auf der Welt war. Bis zur Heirat war sie im Büro. Ab und zu schrieb sie für Vater Briefe, Rechnungen und Mahnungen.

Nur ein paar Tage trennten mich vom neunten Geburtstag. Auf den freute ich mich riesig, denn da gab es wieder Geschenke. Nach dem Essen hatte Mutter vor an die frische Luft zu gehen. Vater passte das zwar nicht, aber er ging dann doch mit. Wir kamen am Ende der Straße zu einer Wiese, auf der lag dick der Schnee. Ich rief: «Papa! Schneeballschlacht?» Doch ohne seine Antwort abzuwarten, griff ich in den Schnee. Ich formte einen Ball, warf ihn zu ihm und traf. Da zeterte er: «Na warte Bürschchen! Gleich erlebst du dein blaues Wunder.» Dann legten wir los. Mutter hatte keine Lust dazu und so kuckte sie uns nur zu. Doch ab und zu verirrte sich Papas Schneeball - rein zufällig - mal zu ihr. Das gefiel ihr gar nicht, uns schon. Wir fanden das aufs äußerste lustig. Nach einiger Zeit rief Mutter: «Jetzt hört auf, ich friere! Ich will nach Hause.»

Wir liefen los bis zu Oma. Da sagte Vater: «Ich geh mal schnell rein.» Wir blieben vor der Tür stehen. Kurz darauf kam er zurück. «So! Alles erledigt. Jetzt gehen wir heim.»

Da gab es erst mal Kakao und ein Stück Kuchen mit Streuseln. Den backte Mutter oft. Dann spielte ich bis zum Essen am Abend.

In der Folge hatte ich keine andere Wahl und musste ins Bett. Das stand neben dem von meinen Eltern. Wir hatten nur eine zwei Raum Wohnung. Da gab es für mich kein eigenes Zimmer.

B

3. Januar.

Endlich war er da, der Tag, an dem ich Geburtstag hatte. Als ich wach wurde, gratulierten mir gleich meine Eltern. Dann ging ich ins Bad. Als ich in die Stube kam, saß Vater am Schreibtisch. Da ich keine Geschenke sah, dachte ich zuerst, dass es nichts gibt.

«Setz dich an den Tisch und iss», sagte Mutter. Als ich fertig war, meinte sie: «Hans, geh doch mal schnell in den Flur.»

«Und was soll ich da?»

«Das wirst du da sehen!»

«Na, wenn´s sein muss», sagte ich mürrisch und lief los. Dort stand ein riesiger Karton und so nahm ich nicht an, dass der für mich ist. Ich rannte in die Stube zurück und fragte: «Mama, ist der große Karton für Papa?» Doch der rief, ohne auf die Antwort von ihr zu warten: «Nein, für mich ist der nicht!»

«Dann ist der für mich?» Mutter sagte leise: «Ja, das ist für dich, du Dummerchen. Du hast doch heute Geburtstag, oder?»

«Ja ... Aber ein so großer Karton ...»

«So, jetzt mach ihn endlich auf! Ich muss gleich in die Werkstatt und ich will sehen, was da drin ist», rief Vater ungeduldig. Ich drehte mich um und lief in den Flur. Sofort fing ich an den Karton in tausend Stücke zu zerreißen. Dann sah ich etwas, das fiel mir nicht mal im Traum ein. Da war ein roter Roller, aus Holz und mit Rädern aus Gummi drin.

So einen wünschte ich mir schon lange. Gleich probierte ich den auf die Weise aus, dass ich im Flur immer hin und her flitzte. Da rief Vater: «Jetzt ist es aber genug! Du gehst gleich zur Schule!»

«Darf ich den Roller mitnehmen?» Da schrie er: «Nein!» Mutter meinte: «Hans, das ist doch heute nicht möglich. Draußen liegt Schnee und da wird der nass und geht kaputt. Willst du das?»

«N-e-i-n!»

«Dann wart´s ab bis heute Nachmittag. Da kannst du ihn Fred und Peter zeigen. In Ordnung?»

Ich sah traurig auf den Boden, war den Tränen nah. «So, und jetzt mach dich fertig. Du musst gleich los und ich räume hier alles weg.» Wir zogen uns an und Vater sagte: «Komm, Hans ... beeil dich, dann begleite ich dich auf dem Weg zur Schule.»

Auf dem Weg traf ich Fred und Peter, die mir viel Glück wünschten. Als Vater weg war, sagte ich, dass ich einen Roller bekam. Jeder von denen hatte schon einen und so war die Freude groß. Die zwei, lud ich ein paar Tage zuvor ein.

Nach der Schule drehte ich ein paar Runden im Flur, bis Mutter mich zum Essen rief. Danach kamen die Aufgaben für die Schule dran. Grad war ich fertig, klingelte es und ich machte die Tür auf. Es war Oma, die hatte einen Kuchen in der Hand. Den brachte sie gleich zu Mutter in die Küche. Kurz darauf kam sie zurück und sagte: «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein lieber Hansel. So ... und das hier ist für dich.» Sie holte aus ihrer Tasche einen Karton raus und gab ihn mir. Ich machte den gleich auf und sah, dass da ein Malkasten drin war. Voll Freude sagte ich: «Danke, Oma! Darüber freue ich mich sehr, da ich doch so gerne male.»

«Ja, ich weiß! Genau wie dein Vater. Willst du auch mal ein Maler werden, wie er?»

«Das weiß ich noch nicht, Oma.» Es klingelte. «Das sind bestimmt Fred und Peter», rief ich, lief zur Tür und machte auf. Es waren die zwei. Ich ließ sie rein und schloss die Tür. Jeder gab mir ein Geschenk. Ich sagte: «Danke! ... Guckt mal da! Das ist mein neuer Roller.» Peter meinte: «Oh! Der ist aber toll.» Und Fred: «Ja, das stimmt. Der sieht fast so aus wie der von mir. Dann fahren wir, wenn das Wetter besser ist, zusammen mal an den See.»

«Ja, das macht ganz bestimmt Spaß», erwiderte ich und freute mich schon darauf. Wie ein geölter Blitz kam auf ein Mal Mutter aus der Stube und kam auf uns zu. Dann rief sie: «Untersteht euch! Fahrt nur nicht allein an den See. Das ist viel zu gefährlich. Ihr könnt nicht schwimmen. Stellt euch vor es fällt einer in den See, da kann er ertrinken ... Und wenn du, ohne uns zu fragen, da mit machst und wir das heraus kriegen, erlebst du was. Dann legt dich dein Vater übers Knie. Hast du mich verstanden?»

«Ja, Mama», sagte ich leise weinend. «Gut! Das wäre ja geklärt!» Kaum hatte sie das gesagt, klingelte es wieder. Mutter ging mit den beiden in die Stube. Ich lief zur Tür und machte auf. Es war Tante Else und Onkel Egon. Die wünschten mir viel Glück und gaben mir ein Geschenk. Ich bedankte mich, rannte in die Stube und legte es auf einen kleinen Tisch. Kurze Zeit später folgte dann Vater und Tante Frieda. Das Geschenk von ihr kam auch auf den Tisch. Ich durfte das aber erst nach dem Kaffee öffnen.

Oma und Mutter hatten den Tisch gedeckt. Aus der Küche roch es nach Kaffee. Alle setzen sich hin. Mutter kam aus der Küche und hatte eine Kanne in der Hand. Dann goss sie jedem der Gäste ein. Wir drei bekamen Milch mit ganz wenig Kaffee. Es ab zwei Kuchen, den von Oma und von Mutter. Als fast alles verdrückt war, fragte sie in die Runde: «Möchte noch jemand ein Stück?» Doch jeder verneinte ihre Frage. Sie sah zu uns und meinte: «So, ihr drei! Dann steht jetzt auf und spielt. Zuvor kann Hans seine Geschenke auspacken.»

Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Ich war schon gespannt auf das, was ich so alles bekam. Zuerst nahm ich das von Peter, dass gleich obenauf lag. Es war ein Buch mit einer Geschichte von einem Fuchs. Fred schenkte mir Schokolade. Dann nahm ich Tante Friedas Geschenk in die Hand. Die rief auf einmal: «H-a-n-s! Die Turnhose ist von mir. Die habe ich dir selbst geschneidert!»

«Danke, Tante Frieda. Die ist aber eine Wucht! Die ziehe ich im Sommer bestimmt an.»

«Das freut mich, Hansel, wenn sie dir gefällt.» Sofort wandte sie sich von mir ab und im Nu war sie wieder im Gespräch mit denen am Tisch. Die Erwachsenen redeten fast nur über den Staat und in der Lage, in der wir waren. Zum Schluss war das von Tante Else und Onkel Egon dran. Es war eine Tüte mit Süßkram.

Als alles auf war, liefen wir drei in den Flur und spielten mit Murmeln auf dem Boden. Da klingelte es und ich machte die Tür auf. Da stand Cousine Christel mit Julia vor der Tür, die ihr sieben Monate altes Baby war. Ich freute mich sehr, denn das Mädchen hätte ich gern behalten. Doch ein zweites Kind wollte Mutter nicht mehr. Fragte ich sie danach, sagte sie jedes Mal, dass der Storch so viele Wünsche für Kinder hat, dass wir sehr lange warten müssen.

Die Kleine weinte dauernd und so ging sie mit «Julchen», wie ich das Baby nannte, gleich wieder nach Hause. Das war sehr schade.

Das Essen war vorüber, da klingelte es. Ich lief zur Tür und machte auf. Es waren die Mütter von Fred und Peter, die holten die zwei ab. Tante Frieda und Oma gingen gleich darauf heim. Tante Else und Onkel Egon blieben noch eine Weile da, dann brachte Mutter sie zur Tür. Ich durfte an dem Tag länger auf sein. Bevor ich ins Bett musste, fuhr ich noch mal mit dem Roller. Im Bett las ich ein paar Seiten in einem neuen Buch. Ein schöner Tag war zu Ende. Als ich müde war, schlief ich ein. Jeden Tag blieb ich immer länger im Bett. Wir hatten ja Ferien. Doch die waren bald rum ...

Der erste Schultag war grausam für mich. Die Schule war zum Glück, nicht allzu weit von uns weg. Ich war auf der August-Bebel-Grundschule. Da traf ich die Freunde Fred und Peter. Wir gingen in die dritte Klasse. Am besten war ich in Erdkunde und Biologie. Der Lehrer von uns war der Herr Winter. Er war ein älterer Mann und bestand darauf, dass wir jeden Morgen für ihn das SPD-Lied «Wann wir schreiten Seit´ an Seit´» singen. Meistens trug er zum Anzug eine Fliege. Er war streng zu uns und wir hatten großen Respekt vor ihm. Außer Sport lehrte er uns alle Fächer.

Für die körperliche Ertüchtigung war Herr Schneider zuständig, der war noch sehr jung. Der Sport fand im Sommer auf dem Sportplatz und im Winter in der Turnhalle statt. Er achtete streng auf Zucht und Ordnung. Einwände duldete er nicht. Ich war aber nicht sehr sportlich. Aus dem Grund hatte er mich auf dem Kieker. Ich gab mir Mühe, dass von ihm verlangte zu machen. Das gelang mir nur nicht jedes Mal. Kam das Ende der Stunde, war ich stets von froh.

Kam ich aus der Schule, musste ich die Aufgaben gleich machen und erst danach durfte ich raus. Vor der Tür traf ich fast jeden Tag Fred und Peter, die nicht weit weg von mir wohnten. Wir spielten dann draußen, auch im Winter.

Wenn es schneite, war eine Schlacht mit Schneebällen Pflicht. Auch Engel machen, machte ich gern. War der Schnee nass, bauten wir uns einen Schneemann. Jeder brachte an dem Tag Kohlen mit, für Knöpfe, Mund und Augen. Mopste mal einer eine Mohrrübe, war das die Nase. Ein Hut war nicht die Regel, den hatte Peter mal mit und kam auf den Kopf.

Den kannte ich schon von klein auf. Die Großeltern von ihm hatten eine Backstube im Haus neben uns. War er da zu Besuch, dann spielten wir im Garten.

Ich war noch keine drei Jahre alt, da spielte ich in der Stube. Meine Mutter machte die Tür vom Balkon auf, um zu lüften. Im Anschluss ging sie in die Küche. Da hörte ich die Stimme von Peter. Da ich ohne Aufsicht war, ergriff ich die Gunst der Stunde und lief auf den Balkon. Da rief ich nach ihm, nur hörte er mich nicht und ich sah ihn nicht. Ich kam mit dem Kopf nicht über das Geländer. Da hatte ich eine Idee.

Eilig lief ich ins Bad, holte mir den Hocker, stellte den da vor und sah runter. Dann rief ich: «Pechen, Pechen ... woll´n wir pielen ...» Doch er hörte mich nicht. Da versuchte ich es erneut, nur lauter: «Pechen, Pechen ... woll´n wir pielen ...»

Da entdeckte er mich und ... Mutter auch. Er rief: «J-a-a-a, domm hunter ...», und sie: «Komm da bloß runter! Was fällt dir ein ...» Ich erschrak … und zack fasste sie mich am Kragen. Sofort wurde ich mit einem Ruck vom Hocker gehoben. «Du bist ja schon so raffiniert wie dein Vater!» Als ich so vor ihr stand, sah ich sie traurig an. Ich fing an zu weinen und stotterte: «Ich ... ich ... wi ... will ... do ... doch mit Pechen pielen.»

Mutter kniete sich vor mich hin, drückte mich an sich, lächelte und sagte leise: «Hans, das erlaube ich dir ja. Nur sag mir das und hol nicht, ohne mich zu fragen, den Hocker. Du kannst stürzen und dir weh tun. Das willst du doch nicht, oder?» Ich schüttelte den Kopf hin und her und sie holte aus einer Tasche der Schürze ein Tuch raus. Sofort hielt sie es mir an die Nase, sagte: «So, jetzt schnaufe erst mal kräftig und hör auf zu weinen.» Dann stand sie auf, lief zum Geländer und rief: «Peterchen ... Hans kommt gleich runter!»

Da war die Welt für mich wieder in Ordnung. Als sie weg war, fragte er, was los war. Warum ich geweint habe. Ich erzählte es ihm und endete mit dem Satz: «Mama hat sagt, bin so raffitaniert wie Papa.» Und gleich spielten wir im Garten.

Die Schule fing wieder an und drei Tage später wurde ich krank. Ich schniefte und hustete ohne Ende. Als ich nach Hause kam, sagte Mutter, dass sie sofort mit mir zu Dr. Berger geht. Er war der Arzt von uns und schon älter, aber immer nett. Als wir dran waren, gingen wir in einen Raum. Er kam auf mich zu und fragte: «Na, was hat denn der kleine Patient?»

«Schnupfen», sagte ich mit verschnupfter Nase. «Ah ja! Dann setz dich mal auf die Liege und mach den Oberkörper frei.»

Mutter half mir. Er nahm das Hörrohr in die Hand und sagte: «So Hans ... jetzt hör ich dich ab. Nicht erschrecken, es kann ein bisschen kalt sein.» Dann fing er an. Als er fertig war, meinte er: «Das ist nichts Ernstes, Hans.» Er sah Mutter an und sagte: «Frau Allagor, ich verschreibe ihm einen Saft für den Husten. In drei Tagen klingen die Symptome ab.» Mutter dankte ihm, er gab mir die Hand und dann gingen wir raus. In einer Apotheke holten wir den Saft.

Zu Hause saß Vater mit einem älteren Mann in der Stube am Tisch. Da sagte er: «Hans! Heute musst du mal die Aufgaben für die Schule in der Schlafstube machen. Ich hab hier noch einige Zeit zu tun.»

«Ja, Papa mach ich.» Und Mutter sagte: «Rudolf! Ich geh mal schnell zu Oma rüber.»

Ich lief zum Nachttisch und fing mit den Aufgaben an. Der Mann wollte, dass Vater ihm die Stube malert.

Draußen wurde es rasch dunkel, ich sah nichts mehr und knipste die Lampe an. Es dauerte nicht lange, da wurde es plötzlich schwarz wie die Nacht. Ich rief: «Papa, das Licht ist aus!» Kurze Zeit später kam Vater mit einer Kerze rein. Er stellte sie mir auf den kleinen Tisch. Da das öfters passierte, brannte nach Anbruch der Dunkelheit immer eine bei uns in der Stube. Er sagte: «So, hier hast du wieder Licht. Aber gib acht, dass die Kerze nicht umfällt.»

Er ging gleich aus dem Raum und ich machte mit dem Rest der Aufgaben weiter. Ich legte ein Heft direkt vor die Kerze. Doch als ich nach einem Stift griff, stieß ich mit dem Ärmel daran. Da rutsche das vor die Kerze und im Nu fiel sie um ... Und ein Stück Papier brannte und flog auf die Dielen. Ich schrie vor Angst: «Papa, komm schnell, es brennt!»

Voller Furcht sprang ich auf. In dem Moment kam Vater, mit einer Kerze in der Hand rein und rief: «Hans, was ist denn los?», und trat gleich die Flamme aus. Ich war nur in Strümpfen und hätte mir die Füße verbrannt. Dann sah er mich an und ich musste mir das Lachen verkneifen, denn durch das diffus flackernde Licht der Kerze sah er aus, wie der Teufel der grad aus der Hölle kam.

Ich fing an zu weinen und sagte: «Ich stieß mit dem Ärmel an die Kerze und da fiel sie um ... und es brannte gleich.»

«Hans, du brauchst nicht zu weinen. Das ist doch kein Beinbruch. Es ist mir auch schon mal passiert ... Das war sehr gut von dir, dass du mich gleich riefst. So gab es ja keinen Schaden. Schuld ist der nicht angekündigte Ausfall vom Strom! Und stets dann, wenn es dunkel ist und man Licht braucht ...»

Kaum sprach er den Satz aus, wurde es hell im Zimmer. «Das Licht ist wieder an», rief ich und war froh darüber. Vater war das auch, denn er sagte nur: «Hans, hol doch gleich die Schaufel und den Handfeger aus der Küche und fege das verbrannte Papier auf.»