Kulturgeschichte der Neuzeit - Egon Friedell - E-Book

Kulturgeschichte der Neuzeit E-Book

Egon Friedell

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Beschreibung

Erstmals mit einem alphabetischem Index aller 794 Marginalien "Die Kulturgeschichte der Neuzeit" ist das große, mehrbändige Mammutwerk von Egon Friedell. Es spannt seinen Bogen über die Geschichte der abendländischen Kultur vom Ausgang des Mittelalters an bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs. Friedell war ein strenger Befürworter des anekdotischen und fragmentarischen Erzählens in der Geschichtsschreibung. Neben einem inhaltlichen Detailreichtum liefert sein Werk auch ausführliche und sehr lebendige Porträts von historischen Persönlichkeiten wie Martin Luther, Francis Bacon, William Shakespeare, René Descartes, Voltaire, Friedrich II., Immanuel Kant, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Franz Schubert oder Otto von Bismarck. Wer einen philosophischen und historischen Abriss der Thesen von Descartes, Bacon, Kant, Hegel, Schopenhauer oder Nietzsche sucht, wird hier ebenfalls fündig. Und wie nebenbei erläutert Friedell auch noch die wichtigsten Werke von Shakespeare, Goethe, Schiller, Dostojewski, Ibsen, Raffael, Rembrandt oder Monet. Darüber hinaus liefert er – für Historiker geradezu ein Novum – eine kurze Einführung in die wichtigsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen der Zeit – bis hin zu Einsteins Theorien. ("… die Masse eines Wasserstoffatoms verhält sich zur Masse eines Gramms Wasser wie die eines Postpakets von zehn Kilogramm zu der unseres Planeten …") Ähnlich wie in seinem anderem Opus-Magnum "Kulturgeschichte des Altertums" gibt uns der engagierte und geniale Dilettant (Max Reinhardt) hier ein mannigfaltiges, unterhaltsames und sehr lehrreiches Vademekum der Geschichte Europas zu Hand. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 2401

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Egon Friedell

Kulturgeschichte der Neuzeit

Vollständige Fassung in fünf Bänden

Egon Friedell

Kulturgeschichte der Neuzeit

Vollständige Fassung in fünf Bänden

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 5. Auflage, ISBN 978-3-954188-91-8

null-papier.de/422

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Ein­lei­tung

Was heisst und zu wel­chem Ende stu­diert man Kul­tur­ge­schich­te?

Ers­tes Buch – Re­naissance und Re­for­ma­ti­on

Ers­tes Ka­pi­tel – Der Be­ginn

Zwei­tes Ka­pi­tel – Die See­le des Mit­tel­al­ters

Drit­tes Ka­pi­tel – Die In­ku­ba­ti­ons­zeit

Vier­tes Ka­pi­tel – La Rinas­ci­ta

Fünf­tes Ka­pi­tel – Das Her­ein­bre­chen der Ver­nunft

Sechs­tes Ka­pi­tel – Die Deut­sche Re­li­gi­on

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Die Bar­tho­lo­mäus­nacht

Zwei­tes Buch – Ba­rock und Ro­ko­ko – Vom drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg bis zum sie­ben­jäh­ri­gen Krieg

Ers­tes Ka­pi­tel – Die Ou­ver­tü­re der Baro­cke

Zwei­tes Ka­pi­tel – Le grand siècle

Drit­tes Ka­pi­tel – Die Ago­nie der Baro­cke

Drit­tes Buch – Auf­klä­rung und Re­vo­lu­ti­on – Vom Sie­ben­jäh­ri­gen bis zum Wie­ner Kon­gress

Ers­tes Ka­pi­tel – Ge­sun­der Men­schen­ver­stand und Rück­kehr zur Na­tur

Zwei­tes Ka­pi­tel – Die Er­fin­dung der An­ti­ke

Drit­tes Ka­pi­tel – Em­pi­re

Vier­tes Buch – Ro­man­tik und Li­be­ra­lis­mus – Vom Wie­ner Kon­gress bis zum Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg

Ers­tes Ka­pi­tel – Die Tie­fe der Lee­re

Zwei­tes Ka­pi­tel – Das gars­ti­ge Lied

Drit­tes Ka­pi­tel – Das Luft­ge­schäft

Fünf­tes Buch – Im­pe­ria­lis­mus und Im­pres­sio­nis­mus – Vom deutsch-fran­zö­si­schen Krieg bis zum Welt­krieg

Ers­tes Ka­pi­tel – Der schwar­ze Frei­tag

Zwei­tes Ka­pi­tel – Vom Teu­fel ge­holt

Epi­log

Sturz der Wirk­lich­keit

Zeit­ta­fel

In­dex

Dan­ke

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Die Kri­sis der Eu­ro­päi­schen See­le von der Schwar­zen Pest bis zum Ers­ten Welt­krieg

Widmung

Max Rein­hardt ge­wid­met

… dass dies al­les eben dar­um in ei­ner Art wahr ist, weil es in ei­ner Art falsch ist.Au­gus­ti­nus

Wer sich aber wun­dern soll­te, dass nach so vie­len Ge­schichts­schrei­bern auch mir die Ab­fas­sung ei­ner sol­chen Schrift in den Sinn kom­men konn­te, der lese zu­vor alle Schrif­ten je­ner an­de­ren durch, ma­che sich dar­auf an die mei­ni­ge, und dann erst wun­de­re er sich.Fla­vi­us Ar­ria­nos (95-180 n. Chr.)

Einleitung

Was heisst und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?

Aus­führ­lich zu schil­dern, was sich nie­mals er­eig­net hat, ist nicht nur die Auf­ga­be des Ge­schichts­schrei­bers, son­dern auch das un­ver­äu­ßer­li­che Recht je­des wirk­li­chen Kul­tur­menschen. Os­car Wil­de

Der vergessene Stern

Durch die un­end­li­che Tie­fe des Wel­traums wan­dern zahl­lo­se Ster­ne, leuch­ten­de Ge­dan­ken Got­tes, se­li­ge In­stru­men­te, auf de­nen der Schöp­fer spielt. Sie alle sind glück­lich, denn Gott will die Welt glück­lich. Ein ein­zi­ger ist un­ter ih­nen, der die­ses Los nicht teilt: auf ihm ent­stan­den nur Men­schen.

Wie kam das? Hat Gott die­sen Stern ver­ges­sen? Oder hat er ihm die höchs­te Glo­rie ver­lie­hen, in­dem er ihm frei­stell­te, sich aus ei­ge­ner Kraft zur Se­lig­keit em­por­zu­rin­gen? Wir wis­sen es nicht.

Ei­nen win­zi­gen Bruch­teil der Ge­schich­te die­ses win­zi­gen Sterns wol­len wir zu er­zäh­len ver­su­chen.

Für die­sen Zweck wird es nütz­lich sein, wenn wir vor­her in Kür­ze die Grund­prin­zi­pi­en un­se­rer Dar­stel­lung er­ör­tern. Es sind Grund­ge­dan­ken im ei­gent­lichs­ten Sinn des Wor­tes: sie lie­gen dem Ge­samt­bau des Wer­kes zu­grun­de und sind da­her, ob­schon sie ihn tra­gen, un­ter­ir­disch und nicht ohne wei­te­res sicht­bar.

Alle Dinge haben ihre Philosophie

Der ers­te die­ser Grund­pfei­ler be­steht in un­se­rer Auf­fas­sung vom We­sen der Ge­schicht­schrei­bung. Wir ge­hen von der Über­zeu­gung aus, dass sie so­wohl einen künst­le­ri­schen wie einen mo­ra­li­schen Cha­rak­ter hat; und dar­aus folgt, dass sie kei­nen wis­sen­schaft­li­chen Cha­rak­ter hat.

Ge­schicht­schrei­bung ist Phi­lo­so­phie des Ge­sche­he­nen. Alle Din­ge ha­ben ihre Phi­lo­so­phie, ja noch mehr: alle Din­ge sind Phi­lo­so­phie. Alle Men­schen, Ge­gen­stän­de und Er­eig­nis­se sind Ver­kör­pe­run­gen ei­nes be­stimm­ten Na­tur­ge­dan­kens, ei­ner ei­gen­tüm­li­chen Weltab­sicht. Der mensch­li­che Geist hat nach der Idee zu for­schen, die in je­dem Fak­tum ver­bor­gen liegt, nach dem Ge­dan­ken, des­sen blo­ße Form es ist. Die Din­ge pfle­gen oft erst spät ih­ren wah­ren Sinn zu of­fen­ba­ren. Wie lan­ge hat es ge­dau­ert, bis uns der Hei­land die ein­fa­che und ele­men­ta­re Tat­sa­che der mensch­li­chen See­le ent­hüll­te! Wie lan­ge hat es ge­dau­ert, bis der ma­gne­ti­sche Stahl dem se­hen­den Auge Gil­berts sei­ne wun­der­bar wirk­sa­men Kräf­te preis­gab! Und wie vie­le ge­hei­me Na­tur­kräf­te war­ten noch im­mer ge­dul­dig, bis ei­ner kommt und den Ge­dan­ken in ih­nen er­löst! Dass die Din­ge ge­sche­hen, ist nichts: dass sie ge­wusst wer­den, ist al­les. Der Mensch hat­te sei­nen schlan­ken eben­mä­ßi­gen Kör­per­bau, sei­nen auf­rech­ten ed­len Gang, sein welt­um­span­nen­des Auge seit Jahr­tau­sen­den und Jahr­tau­sen­den: in In­di­en und Peru, in Mem­phis und Per­se­po­lis; aber schön wur­de er erst in dem Au­gen­blick, wo die grie­chi­sche Kunst sei­ne Schön­heit er­kann­te und ab­bil­de­te. Da­rum scheint es uns auch im­mer, als ob über Pflan­zen und Tie­re eine ei­gen­tüm­li­che Me­lan­cho­lie ge­brei­tet sei: sie alle sind schön, sie alle sind Sinn­bil­der ir­gend­ei­nes tie­fen Schöp­fungs­ge­dan­kens; aber sie wis­sen es nicht, und dar­um sind sie trau­rig.

Die gan­ze Welt ist für den Dich­ter ge­schaf­fen, um ihn zu be­fruch­ten, und auch die gan­ze Welt­ge­schich­te hat kei­nen an­de­ren In­halt. Sie ent­hält Ma­te­ria­li­en für Dich­ter: Dich­ter des Werks oder Dich­ter des Worts: das ist ihr Sinn. Wer aber ist der Dich­ter, den sie zu neu­en Ta­ten und Träu­men be­flü­gelt? Die­ser Dich­ter ist nie­mand an­ders als die ge­sam­te Nach­welt.

Ästhetische, ethische, logische Geschichtschreibung

Man hat sich seit ei­ni­ger Zeit dar­an ge­wöhnt, drei ver­schie­de­ne Ar­ten der Ge­schicht­schrei­bung zu un­ter­schei­den: eine re­fe­rie­ren­de oder er­zäh­len­de, die ein­fach die Be­ge­ben­hei­ten be­rich­tet, eine prag­ma­ti­sche oder lehr­haf­te, die die Er­eig­nis­se durch Mo­ti­vie­run­gen ver­knüpft und zu­gleich Nutz­an­wen­dun­gen aus ih­nen zu zie­hen sucht, und eine ge­ne­ti­sche oder ent­wi­ckeln­de, die dar­auf ab­zielt, die Ge­scheh­nis­se als einen or­ga­ni­schen Zu­sam­men­hang und Ver­lauf dar­zu­stel­len. Die­se Ein­tei­lung ist nichts we­ni­ger als scharf, weil, wie man auf den ers­ten Blick sieht, die­se Be­trach­tungs­ar­ten in­ein­an­der über­ge­hen: die re­fe­rie­ren­de in die ver­knüp­fen­de, die ver­knüp­fen­de in die ent­wi­ckeln­de, und über­haupt kei­ne von ih­nen völ­lig ohne die bei­den an­de­ren zu den­ken ist. Wir kön­nen uns da­her die­ser Klas­si­fi­ka­ti­on nur in dem va­gen und ein­schrän­ken­den Sin­ne be­die­nen, dass bei je­der die­ser Dar­stel­lungs­wei­sen ei­ner der drei Ge­sichts­punk­te im Vor­der­grund steht, und in die­sem Fal­le ge­lan­gen wir zu fol­gen­den Er­geb­nis­sen: bei der er­zäh­len­den Ge­schicht­schrei­bung, der es in ers­ter Li­nie um den an­schau­li­chen Be­richt zu tun ist, über­wiegt das äs­the­ti­sche Mo­ment; bei der prag­ma­ti­schen Dar­stel­lung, die es vor al­lem auf die lehr­haf­te Nutz­an­wen­dung, die »Moral« der Sa­che ab­ge­se­hen hat, spielt das e­thi­sche Mo­ment die Haup­trol­le; bei der ge­ne­ti­schen Metho­de, die eine ge­ord­ne­te und dem Ver­stand un­mit­tel­bar ein­leuch­ten­de Ab­fol­ge auf­zu­zei­gen sucht, do­mi­niert das lo­gi­sche Mo­ment. Dement­spre­chend ha­ben auch die ver­schie­de­nen Zeit­al­ter je nach ih­rer see­li­schen Grund­struk­tur im­mer eine die­ser drei For­men be­vor­zugt: die An­ti­ke, in der die rei­ne An­schau­ung am stärks­ten ent­wi­ckelt war, hat die Klas­si­ker der re­fe­rie­ren­den Ge­schicht­schrei­bung her­vor­ge­bracht; das acht­zehn­te Jahr­hun­dert mit sei­ner Nei­gung, alle Pro­ble­me ei­ner mo­ra­li­sie­ren­den Be­trach­tungs­wei­se zu un­ter­wer­fen, hat die glän­zends­ten Exem­pla­re der prag­ma­ti­schen Rich­tung auf­zu­wei­sen; und im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert, wo die Ten­denz vor­herrsch­te, al­les zu lo­gi­sie­ren, in rei­ne Be­grif­fe und Ra­tio­na­li­tä­ten auf­zu­lö­sen, hat die ge­ne­ti­sche Metho­de die schöns­ten Früch­te ge­zei­tigt. Jede die­ser drei Be­hand­lungs­ar­ten hat ihre be­son­de­ren Vor­zü­ge und Schwä­chen; aber so viel ist klar, dass bei je­der von ih­nen ein be­stimm­tes In­ter­es­se das trei­ben­de und ge­stal­ten­de Mo­tiv bil­det, sei es nun äs­the­ti­scher, ethi­scher oder lo­gi­scher Na­tur: den ent­schei­den­den, ob­schon stets wech­seln­den Maß­stab des His­to­ri­kers bil­det al­le­mal das »In­ter­essan­te«. Die­ser Ge­sichts­punkt ist nicht ganz so sub­jek­tiv, wie er aus­sieht: es herr­schen über ihn, zu­min­dest in dem­sel­ben Zeit­al­ter, große Über­ein­stim­mun­gen; aber er ist na­tür­lich auch kei­nes­wegs ob­jek­tiv zu nen­nen.

Landkarte und Porträt

Man könn­te nun mei­nen, dass bei der er­zäh­len­den Ge­schicht­schrei­bung, wenn sie sich auf eine tro­ckene sach­li­che Wie­der­ga­be der Tat­sa­chen be­schränkt, das Ide­al ei­ner ob­jek­ti­ven Dar­stel­lung noch am ehe­s­ten zu er­rei­chen wäre. Aber schon die rei­ne Re­fe­rie­rung (die üb­ri­gens un­er­träg­lich wäre und, au­ßer auf ganz pri­mi­ti­ven Stu­fen, nie ver­sucht wor­den ist) er­hält durch die un­ver­meid­li­che Aus­wahl und Grup­pie­rung der Fak­ten einen sub­jek­ti­ven Cha­rak­ter. Hie­rin be­steht ei­gent­lich die Funk­ti­on al­les Den­kens, ja so­gar un­se­res gan­zen Vor­stel­lungs­le­bens, das aus­nahms­los elek­tiv, se­lek­tiv ver­fährt und zu­gleich die der Wirk­lich­keit ent­nom­me­nen Aus­schnit­te in eine be­stimm­te An­ord­nung bringt. Und die­sen Pro­zess, den un­se­re Sin­nes­or­ga­ne un­be­wusst voll­zie­hen, wie­der­ho­len die Na­tur­wis­sen­schaf­ten mit vol­lem Be­wusst­sein. Aber es be­steht hier doch ein kar­di­na­ler Un­ter­schied. Die Se­lek­ti­on, die un­se­re Sin­nes­or­ga­ne und die auf ih­ren Mel­dun­gen auf­ge­bau­ten Na­tur­wis­sen­schaf­ten tref­fen, wird von der mensch­li­chen Gat­tung nach stren­gen und ein­deu­ti­gen Ge­set­zen ent­schie­den, de­nen das Den­ken und Vor­stel­len je­des nor­ma­len Men­schen un­ter­wor­fen ist; die Aus­wahl des his­to­ri­schen Ma­te­ri­als wird aber nach frei­em Er­mes­sen von ein­zel­nen In­di­vi­du­en oder von ge­wis­sen Grup­pen von In­di­vi­du­en, im güns­tigs­ten Fall von der öf­fent­li­chen Mei­nung ei­nes gan­zen Zeit­al­ters be­stimmt. Vor ei­ni­gen Jah­ren hat der Mün­che­ner Phi­lo­soph Pro­fes­sor Erich Be­cher in sei­nem Werk »Geis­tes­wis­sen­schaf­ten und Na­tur­wis­sen­schaf­ten« den Ver­such ge­macht, eine Art ver­glei­chen­de Ana­to­mie der Wis­sen­schaf­ten zu lie­fern, eine Art Tech­no­lo­gie der ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen, die sich zu die­sen etwa ver­hält wie eine Dra­ma­tur­gie zur Kunst des Thea­ters. Dort fin­det sich der Satz: »Die Wis­sen­schaft ver­ein­facht die un­über­seh­bar kom­ple­xe Wirk­lich­keit durch Abstrak­ti­on … Der His­to­ri­ker, der ein Le­bens­bild des Frei­herrn vom Stein ent­wirft, ab­stra­hiert von un­zäh­li­gen Ein­zel­hei­ten aus des­sen Le­ben und Wir­ken, und der Geo­graf, der eine Ge­birgs­land­schaft be­ar­bei­tet, ab­stra­hiert von Maul­wurfs­hü­geln und Acker­fur­chen.« Aber ge­ra­de aus die­ser Ge­gen­über­stel­lung se­hen wir, dass Geo­gra­fie und Ge­schich­te sich eben nicht als gleich­be­rech­tig­te Wis­sen­schaf­ten ko­or­di­nie­ren las­sen. Denn wäh­rend es für Maul­wurfs­hü­gel und Acker­fur­chen ein ganz untrüg­li­ches Merk­mal gibt, näm­lich das ein­fa­che op­ti­sche der Grö­ße und Aus­deh­nung, lässt sich durch kei­ne eben­so all­ge­mein­gül­ti­ge For­mel fest­stel­len, was in der Bio­gra­fie des Frei­herrn vom Stein die­sen quan­ti­tés nég­li­ge­ables ent­spricht. Es ist ganz dem dich­te­ri­schen Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, dem his­to­ri­schen Takt, dem psy­cho­lo­gi­schen Spür­sinn des Bio­gra­fen über­las­sen, wel­che De­tails er aus­las­sen, wel­che er nur an­deu­ten, wel­che er breit aus­ma­len soll. Geo­graf und Bio­graf ver­hal­ten sich zu­ein­an­der wie Land­kar­te und Por­trät. Wel­che Erd­fur­chen in eine geo­gra­fi­sche Kar­te auf­zu­neh­men sind, sagt uns ganz un­zwei­deu­tig un­ser geo­me­tri­sches Au­gen­maß, das bei al­len Men­schen gleich und au­ßer­dem me­cha­nisch kon­trol­lier­bar ist; wel­che Ge­sichts­fur­chen in ein bio­gra­fi­sches Por­trät auf­zu­neh­men sind, sagt uns nur un­ser künst­le­ri­sches Au­gen­maß, das bei je­dem Men­schen einen an­de­ren Grad der Fein­heit und Schär­fe be­sitzt und je­der ex­ak­ten Re­vi­si­on ent­behrt.

Der geo­gra­fi­schen Kar­te wür­de nicht ein­mal die his­to­ri­sche Ta­bel­le ent­spre­chen, die die Fak­ten ein­fach chro­no­lo­gisch an­ein­an­der­reiht. Denn ers­tens ist es evi­dent, dass eine sol­che Ta­bel­le nicht mit der­sel­ben Be­rech­ti­gung eine Wie­der­ho­lung des Ori­gi­nals in ver­jüng­tem Maß­sta­be ge­nannt wer­den kann wie eine Land­kar­te. Und zwei­tens hät­te eine sol­che amor­phe An­häu­fung von Da­ten nicht den Cha­rak­ter ei­ner Wis­sen­schaft. Nach der doch wohl ziem­lich un­an­fecht­ba­ren De­fi­ni­ti­on Be­chers ist eine Wis­sen­schaft »ein ge­gen­ständ­lich ge­ord­ne­ter Zu­sam­men­hang von Fra­gen, wahr­schein­li­chen und wah­ren Ur­tei­len nebst zu­ge­hö­ri­gen und ver­bin­den­den Un­ter­su­chun­gen und Be­grün­dun­gen«. Kei­ne die­ser For­de­run­gen wird von ei­ner sol­chen nack­ten Ta­bel­le er­füllt: sie ent­hält we­der Fra­gen noch Ur­tei­le noch Un­ter­su­chun­gen noch Be­grün­dun­gen. Mit dem­sel­ben Recht könn­te man einen Adress­ka­len­der, ein Klas­sen­buch oder einen Renn­be­richt ein wis­sen­schaft­li­ches Pro­dukt nen­nen.

Wir ge­lan­gen dem­nach zu dem Re­sul­tat: so­bald die re­fe­rie­ren­de Ge­schicht­schrei­bung ver­sucht, eine Wis­sen­schaft zu sein, hört sie auf, ob­jek­tiv zu sein, und so­bald sie ver­sucht, ob­jek­tiv zu sein, hört sie auf, eine Wis­sen­schaft zu sein.

Fibelgeschichte

Was die prag­ma­ti­sche Ge­schicht­schrei­bung an­langt, so be­darf es wohl kaum ei­nes Be­wei­ses, dass sie das voll­kom­me­ne Ge­gen­teil wis­sen­schaft­li­cher Ob­jek­ti­vi­tät dar­stellt. Sie ist ih­rer in­ners­ten Na­tur nach ten­den­zi­ös, und zwar ge­wollt und be­wusst ten­den­zi­ös. Sie ent­fernt sich da­her von der rei­nen Wis­sen­schaft, die bloß fest­stel­len will, un­ge­fähr eben­so weit wie die di­dak­ti­sche Poe­sie von der rei­nen Kunst, die bloß dar­stel­len will. Sie er­blickt im ge­sam­ten Welt­ge­sche­hen eine Samm­lung von Be­le­gen und Bei­spie­len für ge­wis­se Leh­ren, die sie zu er­här­ten und zu ver­brei­ten wünscht, sie hat einen aus­ge­spro­che­nen und be­ton­ten Le­se­buch­cha­rak­ter, sie will al­le­mal et­was zei­gen. Da­mit ist sie je­doch bloß als Wis­sen­schaft ver­ur­teilt, wie ja auch die Lehr­dich­tung da­durch, dass sie kei­ne rei­ne Kunst ist, noch nicht jede Exis­tenz­be­rech­ti­gung ver­liert. Das höchs­te Li­te­ra­tur­pro­dukt, das wir ken­nen, die Bi­bel, ge­hört ins Ge­biet der di­dak­ti­schen Poe­sie, und ei­ni­ge der ge­wal­tigs­ten Ge­schicht­schrei­ber: Ta­ci­tus, Ma­chia­vell, Bos­su­et, Schil­ler, Car­ly­le, ha­ben der prag­ma­ti­schen Rich­tung an­ge­hört.

Unwissenschaftlichkeit der historischen Grundbegriffe

Als Re­ak­ti­on ge­gen den Prag­ma­tis­mus trat in der neues­ten Zeit die ge­ne­ti­sche Rich­tung her­vor, die sich zum Ziel setzt, die Er­eig­nis­se ohne jede Par­tei­nah­me le­dig­lich an der Hand der his­to­ri­schen Kau­sa­li­tät in ih­rer or­ga­ni­schen Ent­wick­lung zu ver­fol­gen, also etwa in der Art, wie der Geo­lo­ge die Ge­schich­te der Erdrin­de oder der Bo­ta­ni­ker die Ge­schich­te der Pflan­zen stu­diert. Aber sie be­fand sich in ei­nem großen Irr­tum, wenn sie glaub­te, dass sie dazu im­stan­de sei. Ers­tens näm­lich: in­dem sie den Be­griff der Ent­wick­lung ein­führt, be­gibt sie sich auf das Ge­biet der Re­fle­xi­on und wird im un­güns­ti­gen Fall zu ei­ner lee­ren und will­kür­li­chen Ge­schichts­kon­struk­ti­on, im güns­ti­gen Fall zu ei­ner tie­fen und ge­dan­ken­rei­chen Ge­schichts­phi­lo­so­phie, in kei­nem Fall aber zu ei­ner Wis­sen­schaft. Die Ver­glei­chung mit den Na­tur­wis­sen­schaf­ten ist näm­lich voll­kom­men ir­re­füh­rend. Die Ge­schich­te der Erde liegt uns in un­zwei­deu­ti­gen Do­ku­men­ten vor: wer die­se Do­ku­men­te zu le­sen ver­steht, ist im­stan­de, die­se Ge­schich­te zu schrei­ben. Sol­che ein­fa­che, deut­li­che und zu­ver­läs­si­ge Do­ku­men­te ste­hen aber dem His­to­ri­ker nicht zu Ge­bo­te. Der Mensch ist zu al­len Zei­ten ein höchst kom­ple­xes, po­ly­chro­mes und wi­der­spruchs­vol­les Ge­schöpf ge­we­sen, das sein letz­tes Ge­heim­nis nicht preis­gibt. Die ge­sam­te un­ter­mensch­li­che Na­tur trägt einen sehr uni­for­men Cha­rak­ter; die Mensch­heit be­steht aber aus lau­ter ein­ma­li­gen In­di­vi­du­en. Aus ei­nem Li­li­en­keim wird im­mer wie­der eine Li­lie, und wir kön­nen die Ge­schich­te die­ses Keims mit na­he­zu ma­the­ma­ti­scher Si­cher­heit vor­aus­be­stim­men; aus ei­nem Men­schen­keim wird aber im­mer et­was noch nie Da­ge­we­se­nes, nie Wie­der­keh­ren­des. Die Ge­schich­te der Na­tur wie­der­holt sich im­mer: sie ar­bei­tet mit ein paar Re­frains, die sie nicht müde wird zu re­pe­tie­ren; die Ge­schich­te der Mensch­heit wie­der­holt sich nie: sie ver­fügt über einen un­er­schöpf­li­chen Reich­tum von Ein­fäl­len, der stets neue Me­lo­di­en zum Vor­schein bringt.

Zwei­tens: wenn die ge­ne­ti­sche Ge­schicht­schrei­bung an­nimmt, eben­so streng wis­sen­schaft­lich Ur­sa­che und Wir­kung er­grün­den zu kön­nen wie die Na­tur­for­schung, so be­fin­det sie sich eben­falls in ei­ner Täu­schung. Die his­to­ri­sche Kau­sa­li­tät ist schlech­ter­dings un­ent­wirr­bar, sie be­steht aus so vie­len Glie­dern, dass sie da­durch für uns den Cha­rak­ter der Kau­sa­li­tät ver­liert. Zu­dem las­sen sich die phy­si­ka­li­schen Be­we­gun­gen und ihre Ge­set­ze durch di­rek­te Beo­b­ach­tung fest­stel­len, wäh­rend die his­to­ri­schen Be­we­gun­gen und ihre Ge­set­ze sich nur in der Fan­ta­sie wie­der­ho­len las­sen; jene kann man je­der­zeit nach prü­fen, die­se nur nach schaf­fen. Kurz: der ein­zi­ge Weg, in die his­to­ri­sche Kau­sa­li­tät ein­zu­drin­gen, ist der Weg des Künst­lers, ist das schöp­fe­ri­sche Er­leb­nis.

Und schließ­lich drit­tens er­weist sich auch die For­de­rung der Un­par­tei­lich­keit als völ­lig un­er­füll­bar. Dass die Ge­schichts­for­schung im Ge­gen­satz zur Na­tur­for­schung ihre Ge­gen­stän­de wer­tet, wäre noch kein Ein­wand ge­gen ih­ren wis­sen­schaft­li­chen Cha­rak­ter. Denn ihre Werts­ka­la könn­te ja ob­jek­ti­ver Na­tur sein, in­dem sie, wie in der Ma­the­ma­tik, eine Grö­ßen­leh­re oder, wie in der Phy­sik, eine Kräf­te­leh­re wäre. Aber hier zeigt sich der ein­schnei­den­de Un­ter­schied, dass es einen ab­so­lut gül­ti­gen Maß­stab für Grö­ße und Kraft in der Ge­schich­te nicht gibt. Ich weiß zum Bei­spiel, dass die Zahl 17 grö­ßer ist als die Zahl 3, dass ein Kreis grö­ßer ist als ein Kreis­seg­ment von dem­sel­ben Ra­di­us; aber über his­to­ri­sche Per­so­nen und Er­eig­nis­se ver­mag ich nicht Ur­tei­le von ähn­li­cher Si­cher­heit und Evi­denz ab­zu­ge­ben. Wenn ich zum Bei­spiel sage, Cäsar sei grö­ßer als Bru­tus oder Pom­pe­jus, so ist das nicht be­weis­ba­rer als das Ge­gen­teil, und in der Tat hat man jahr­hun­der­te­lang die­se für uns so ab­sur­de An­sicht ver­tre­ten. Dass Sha­ke­s­pea­re der größ­te Dra­ma­ti­ker sei, der je ge­lebt hat, kommt uns ganz selbst­ver­ständ­lich vor, aber die­se Mei­nung ist erst um die Wen­de des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts all­ge­mein durch­ge­drun­gen; es war die­sel­be Zeit, wo die meis­ten Men­schen Vul­pi­us, den Ver­fas­ser des »Rinal­do Rinal­di­ni«, für einen grö­ße­ren Dich­ter hiel­ten als sei­nen Schwa­ger Goe­the. Ra­pha­el Mengs, in dem die Nach­welt nur noch einen fa­den und ge­dan­ken­lo­sen Ek­lek­ti­ker er­blickt, galt zu sei­nen Leb­zei­ten als ei­ner der größ­ten Ma­ler der Erde; el Gre­co, in dem wir heu­te den gran­dio­ses­ten Ge­ni­us der Baro­cke an­stau­nen, war noch vor ei­nem hal­b­en Men­schen­al­ter so we­nig ge­schätzt, dass in der letz­ten Auf­la­ge von Meyers Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon nicht ein­mal sein Name ge­nannt wird. Karl der Küh­ne er­schi­en sei­nem Jahr­hun­dert als der glän­zends­te Held und Herr­scher, wäh­rend wir in ihm nur noch eine rit­ter­li­che Ku­rio­si­tät zu se­hen ver­mö­gen. In dem­sel­ben Jahr­hun­dert leb­te Jean­ne d’Arc; aber Chas­tel­lain, der ge­wis­sen­haf­tes­te und geist­reichs­te Chro­ni­queur des Zeit­al­ters, lässt in dem »Mystè­re«, das er auf den Tod Karls des Sie­ben­ten dich­te­te, alle Heer­füh­rer auf­tre­ten, die für den Kö­nig ge­gen die Eng­län­der kämpf­ten, die Jung­frau er­wähnt er aber über­haupt nicht: wir hin­ge­gen ha­ben von je­ner Zeit kaum et­was an­de­res in der Erin­ne­rung als das Mäd­chen von Or­leans. Die Grö­ße ist eben, wie Ja­kob Burck­hardt sagt, ein Mys­te­ri­um: »Das Prä­di­kat wird weit mehr nach ei­nem dun­keln Ge­füh­le als nach ei­gent­li­chen Ur­tei­len aus Ak­ten er­teilt oder ver­sagt.«

Unterirdischer Verlauf der historischen Wirkungen

In der Er­kennt­nis die­ser Schwie­rig­keit hat man nach ei­nem an­de­ren Wert­mes­ser ge­sucht und ge­sagt: his­to­risch ist, was wirk­sam ist; ein Mensch oder ein Er­eig­nis ist umso hö­her zu ver­an­schla­gen, je grö­ßer der Um­fang und die Dau­er sei­nes Ein­flus­ses ist. Aber hier­mit ver­hält es sich ganz ähn­lich wie mit dem Be­griff der his­to­ri­schen Grö­ße. Von der Schwer­kraft oder der Elek­tri­zi­tät kön­nen wir in je­dem ein­zel­nen Fal­le ge­nau sa­gen, ob, wo und in wel­chem Aus­maß sie wirkt, von den Kräf­ten und Er­schei­nun­gen der Ge­schich­te nicht. Zu­nächst, weil hier der Ge­sichts­win­kel, von dem aus wir mes­sen sol­len, nicht ein­deu­tig be­stimmt ist. Für den Na­tio­nal­öko­no­men wird die Ein­füh­rung des Alex­an­dri­ners eine sehr un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le spie­len, für den Theo­lo­gen die Er­fin­dung des Au­gen­spie­gels eine ziem­lich ge­rin­ge Be­deu­tung be­sit­zen. In­des: hier lie­ße sich noch den­ken, dass ein wirk­lich uni­ver­sel­ler For­scher und Beo­b­ach­ter al­len in der Ge­schich­te wirk­sam ge­wor­de­nen Kräf­ten gleich­mä­ßig ge­recht wird, ob­schon sich ei­nem sol­chen Un­ter­neh­men fast un­über­wind­li­che Hin­der­nis­se ent­ge­gen­stel­len. Viel schwe­rer aber wiegt der Ein­wand, dass ein großer Teil der his­to­ri­schen Wir­kun­gen un­ter­ir­disch ver­läuft und oft erst sehr spät, bis­wei­len gar nicht ans Ta­ges­licht tritt. Wir ken­nen die wah­ren Kräf­te nicht, die un­se­re Ent­wick­lung ge­heim­nis­voll vor­wärts­trei­ben; wir kön­nen einen tie­fen Zu­sam­men­hang nur ah­nen, nie­mals lücken­los be­schrei­ben. Sue­ton schreibt in sei­ner Bio­gra­fie des Kai­sers Clau­di­us: »Zu je­ner Zeit er­reg­ten die Ju­den auf An­stif­ten ei­nes ge­wis­sen Chres­tus in Rom Strei­te­rei­en und Ver­druss und muss­ten des­halb aus­ge­wie­sen wer­den.« Sue­ton war al­ler­dings kein ge­nia­ler Durch­leuch­ter der His­to­rie wie etwa Thu­ky­di­des, son­dern bloß ein aus­ge­zeich­ne­ter Samm­ler und Er­zäh­ler von wel­this­to­ri­schem Tratsch, eine ge­schmack­vol­le und flei­ßi­ge Me­dio­kri­tät, aber ge­ra­de dar­um er­fah­ren wir aus sei­ner Be­mer­kung ziem­lich ge­nau die of­fi­zi­el­le Mei­nung des da­ma­li­gen ge­bil­de­ten Durch­schnitts­pu­bli­kums über das Chris­ten­tum: man hielt es für einen ob­sku­ren jü­di­schen Skan­dal. Und doch war das Chris­ten­tum da­mals schon eine Welt­macht. Sei­ne »Wir­kun­gen« wa­ren längst da und ver­stärk­ten sich mit je­dem Tag; aber sie wa­ren nicht greif­bar und sicht­bar.

Der Irrtum Rankes

Vie­le Ge­schichts­for­scher ha­ben da­her ihre An­sprü­che noch mehr her­ab­ge­setzt und vom His­to­ri­ker bloß ver­langt, dass er den je­wei­li­gen Stand un­se­rer Ge­schichts­kennt­nis­se völ­lig ob­jek­tiv wi­der­spie­gle, in­dem er sich zwar der all­ge­mei­nen his­to­ri­schen Wert­maß­stä­be not­ge­drun­gen be­die­nen, aber al­ler per­sön­li­chen Ur­tei­le ent­hal­ten sol­le. Aber selbst die­se nied­ri­ge For­de­rung ist un­er­füll­bar. Denn es stellt sich lei­der her­aus, dass der Mensch ein un­heil­bar ur­tei­len­des We­sen ist. Er ist nicht bloß ge­nö­tigt, sich ge­wis­ser »all­ge­mei­ner« Maß­stä­be zu be­die­nen, die gleich schlech­ten Zoll­stö­cken sich bei je­der Ver­än­de­rung der öf­fent­li­chen Tem­pe­ra­tur ver­grö­ßern oder ver­klei­nern, son­dern er fühlt au­ßer­dem den Drang in sich, alle Tat­sa­chen, die in sei­nen Ge­sichts­kreis tre­ten, zu in­ter­pre­tie­ren, zu be­schö­ni­gen, zu ver­leum­den, kurz, durch sein ganz in­di­vi­du­el­les Ur­teil zu fäl­schen und um­zulü­gen, wo­bei er sich al­ler­dings in der ex­kul­pie­ren­den Lage des un­wi­der­steh­li­chen Zwan­ges be­fin­det. Nur durch sol­che ganz per­sön­li­che ein­sei­ti­ge ge­färb­te Ur­tei­le näm­lich ist er im­stan­de, sich in der mo­ra­li­schen Welt, und das ist die Welt der Ge­schich­te, zu­recht­zu­fin­den. Nur sein ganz sub­jek­ti­ver »Stand­punkt« er­mög­licht es ihm, in der Ge­gen­wart fest­zu­ste­hen und von da aus einen sich­ten­den und glie­dern­den Blick über die Unend­lich­keit der Ver­gan­gen­heit und der Zu­kunft zu ge­win­nen. Tat­säch­lich gibt es auch bis zum heu­ti­gen Tage kein ein­zi­ges Ge­schichts­werk, das in dem ge­for­der­ten Sin­ne ob­jek­tiv wäre. Soll­te aber ein­mal ein Sterb­li­cher die Kraft fin­den, et­was so Un­par­tei­isches zu schrei­ben, so wür­de die Kon­sta­tie­rung die­ser Tat­sa­che im­mer noch große Schwie­rig­kei­ten ma­chen: denn dazu ge­hör­te ein zwei­ter Sterb­li­cher, der die Kraft fän­de, et­was so Lang­wei­li­ges zu le­sen.

Ran­kes Vor­ha­ben, er wol­le bloß sa­gen, »wie es ei­gent­lich ge­we­sen«, er­schi­en sehr be­schei­den, war aber in Wahr­heit sehr kühn und ist ihm auch nicht ge­lun­gen. Sei­ne Be­deu­tung be­stand in et­was ganz an­de­rem: dass er ein großer Den­ker war, der nicht neue »Tat­sa­chen« ent­deck­te, son­dern neue Zu­sam­men­hän­ge, die er mit ge­nia­ler Schöp­fer­kraft aus sich her­aus pro­ji­zier­te, kon­stru­ier­te, ge­stal­te­te, kraft ei­ner in­ne­ren Vi­si­on, die ihm kei­ne noch so um­fas­sen­de und tief­drin­gen­de Quel­len­kennt­nis und kei­ne noch so scharf­sin­ni­ge und un­be­stech­li­che Quel­len­kri­tik lie­fern konn­te.

Alle Geschichte ist Legende

Denn man mag noch so vie­le neue Quel­len auf­schlie­ßen, es sind nie­mals le­ben­di­ge Quel­len. So­bald ein Mensch ge­stor­ben ist, ist er der sinn­li­chen An­schau­ung ein für al­le­mal ent­rückt; nur der tote Ab­druck sei­ner all­ge­mei­nen Um­ris­se bleibt zu­rück. Und so­fort be­ginnt je­ner Pro­zess der In­krusta­ti­on, der Fos­si­lie­rung und Pe­tri­fi­zie­rung; selbst im Be­wusst­sein de­rer, die noch mit ihm leb­ten. Er ver­stei­nert. Er wird le­gen­där. Bis­marck ist schon eine Le­gen­de und Ib­sen ist im Be­griff, eine zu wer­den. Und wir alle wer­den ein­mal eine sein. Be­stimm­te Züge sprin­gen in der Erin­ne­rung un­ge­bühr­lich her­vor, weil sie sich ihr aus ir­gend­ei­nem oft ganz will­kür­li­chen Grun­de be­son­ders ein­präg­ten. Es blei­ben nur Tei­le und Stücke. Das Gan­ze aber hat auf­ge­hört zu sein, ist un­wie­der­bring­lich hin­ab­ge­sun­ken in die Nacht des Ge­we­se­nen. Die Ver­gan­gen­heit zieht einen Schlei­er­vor­hang über die Din­ge, der sie ver­schwom­me­ner und un­kla­rer, aber auch ge­heim­nis­vol­ler und sug­ge­s­ti­ver macht: al­les ver­flos­se­ne Ge­sche­hen er­scheint uns im Schim­mer und Duft ei­nes ma­gi­schen Ge­sche­hens; eben hier­in liegt der Haup­treiz al­ler Be­schäf­ti­gung mit der His­to­rie.

Je­des Zeit­al­ter hat ein be­stimm­tes nur ihm ei­gen­tüm­li­ches Bild von al­len Ver­gan­gen­hei­ten, die sei­nem Be­wusst­sein zu­gäng­lich sind. Die Le­gen­de ist nicht etwa eine der For­men, son­dern die ein­zi­ge Form, in der wir Ge­schich­te über­haupt den­ken, vor­stel­len, nach­er­le­ben kön­nen. Alle Ge­schich­te ist Sage, My­thos und als sol­cher das Pro­dukt des je­wei­li­gen Stan­des un­se­rer geis­ti­gen Po­ten­zen: un­se­res Auf­fas­sungs­ver­mö­gens, un­se­rer Ge­stal­tungs­kraft, un­se­res Welt­ge­fühls. Neh­men wir zum Bei­spiel den Vor­stel­lungs­kom­plex »grie­chi­sches Al­ter­tum«. Es ist zu­nächst da­ge­we­sen als Ge­gen­wart: als Zu­stand für die, die ihn mit­er­leb­ten und mit­er­lit­ten, und da war es et­was höchst Stra­pa­zi­öses, Ver­däch­ti­ges, Un­ga­ran­tier­tes, von heu­te auf mor­gen kaum zu Be­rech­nen­des, et­was, wo­vor man sehr auf der Hut sein muss­te und das doch sehr schwer zu fas­sen war, im Grun­de nicht der un­end­li­chen Mühe wert, die man dar­auf ver­wand­te, und doch un­ent­behr­lich, denn es war ja das Le­ben. Aber schon den Men­schen der rö­mi­schen Kai­ser­zeit er­schi­en das frü­he­re Grie­chen­tum als et­was un­be­schreib­lich Ho­hes, Hel­les und Kräf­ti­ges, sinn­voll und ge­fes­tigt in sich Ru­hen­des, ein un­er­reich­ba­res Pa­ra­dig­ma glück­li­cher Rein­heit, Ein­fach­heit und Tüch­tig­keit, eine Wünsch­bar­keit ers­ten Ran­ges. Dann, im Mit­tel­al­ter, wur­de es et­was Trü­bes, Grau­es, blei­far­big Zer­flos­se­nes, höchst Un­heim­li­ches und von Gott Ge­mie­de­nes, eine Art Erd­höl­le voll Gier und Sün­de, ein düs­te­res Thea­ter der Lei­den­schaf­ten. In der Vor­stel­lung der deut­schen Auf­klä­rung wie­der­um war das alte Grie­chen­land eine Art na­tür­li­ches Mu­se­um, ein prak­ti­scher Kur­sus der Kunst­ge­schich­te und Archäo­lo­gie: die Tem­pel An­ti­ken­sä­le, die Markt­plät­ze Glyp­to­the­ken, ganz Athen eine per­ma­nen­te Frei­luft­aus­stel­lung, alle Grie­chen ent­we­der Bild­hau­er oder de­ren wan­deln­de Mo­del­le, stets in ed­ler und an­mu­ti­ger Po­si­tur, stets wei­se und wohl­tö­nen­de Re­den auf den Lip­pen, ihre Phi­lo­so­phen Pro­fes­so­ren der Äs­the­tik, ihre Frau­en he­ro­i­sche Brun­nen­fi­gu­ren, ihre Volks­ver­samm­lun­gen le­ben­de Bil­der.1 An die Stel­le die­ser eben­so ver­eh­rungs­wür­di­gen wie lang­wei­li­gen Ge­sell­schaft hat das Fin de siècle den pro­ble­ma­ti­schen, ja hys­te­ri­schen Grie­chen ge­setzt, der nichts we­ni­ger als maß­voll, fried­lich und har­mo­nisch war, son­dern von höchst bun­ter, opa­li­sie­ren­der und ge­misch­ter Zu­sam­men­set­zung, ver­stört von ei­nem tie­fen hoff­nungs­lo­sen Pes­si­mis­mus und ge­jagt von ei­ner pa­tho­lo­gi­schen Hem­mungs­lo­sig­keit, die sei­ne asia­ti­sche Her­kunft ver­rät. Zwi­schen die­se so he­te­ro­ge­nen Auf­fas­sun­gen scho­ben sich zahl­rei­che Über­gän­ge, Un­ter­ar­ten und Schat­tie­run­gen, und es wird eine der Auf­ga­ben un­se­rer Dar­stel­lung sein, die­ses in­ter­essan­te Far­ben­spiel des Be­griffs »An­ti­ke« et­was ge­nau­er zu ver­an­schau­li­chen.

Je­des Zeit­al­ter, ja fast jede Ge­ne­ra­ti­on hat eben ein an­de­res Ide­al, und mit dem Ide­al än­dert sich auch der Blick in die ein­zel­nen großen Ab­schnit­te der Ver­gan­gen­heit. Er wird, je nach­dem, zum ver­klä­ren­den, ver­gol­den­den, hy­po­sta­sie­ren­den Blick oder zum ver­gif­ten­den, schwär­zen­den, ob­trek­tie­ren­den, zum bö­sen Blick.

Die geis­ti­ge Ge­schich­te der Mensch­heit be­steht in ei­ner fort­wäh­ren­den Umin­ter­pre­tie­rung der Ver­gan­gen­heit. Män­ner wie Ci­ce­ro oder Wal­len­stein sind tau­send­fach ur­kund­lich be­zeugt, ha­ben ge­naue und star­ke Spu­ren ih­res Wir­kens in ei­ner Fül­le von Ein­zel­hei­ten hin­ter­las­sen, und doch weiß bis zum heu­ti­gen Tage noch nie­mand, ob Ci­ce­ro ein seich­ter Op­por­tu­nist oder ein be­deu­ten­der Cha­rak­ter, ob Wal­len­stein ein nied­ri­ger Ver­rä­ter oder ein ge­nia­ler Re­al­po­li­ti­ker ge­we­sen ist. Kei­nem der Män­ner, die Welt­ge­schich­te ge­macht ha­ben, ist es er­spart ge­blie­ben, dass sie ge­le­gent­lich Aben­teu­rer, Schar­la­ta­ne, ja Ver­bre­cher ge­nannt wur­den: man den­ke an Mo­ham­med, Luther, Crom­well, an Ju­li­us Cäsar, Na­po­le­on, Fried­rich den Gro­ßen und hun­dert an­de­re. Nur von ei­nem ein­zi­gen hat man dies noch nie zu be­haup­ten ge­wagt, in dem wir aber eben dar­um kei­nen Men­schen, son­dern den Sohn Got­tes er­bli­cken.

Le­ben­de Bil­der – eine Mode des 18. Jahr­hun­derts: ein po­pu­lä­res Bild durch le­ben­de Men­schen mit De­ko­ra­ti­on dar­stel­len. Vgl. Goe­thes Wahl­ver­wandt­schaf­ten.  <<<

Homunculus und Euphorion

Das Bes­te am Men­schen, sagt Goe­the, ist ge­stalt­los. Ist es also schon bei ei­ner ein­zel­nen In­di­vi­dua­li­tät fast un­mög­lich, das letz­te Ge­heim­nis ih­res We­sens zu ent­rie­geln und das »Ge­setz, wo­nach sie an­ge­tre­ten«, zu ent­hül­len, um wie viel ab­sur­der muss ein sol­ches Un­ter­neh­men bei Mas­sen­be­we­gun­gen, Ta­ten der mensch­li­chen Kol­lek­tivsee­le sein, in de­nen sich die Kraft­li­ni­en zahl­rei­cher In­di­vi­dua­li­tä­ten kreu­zen! Schon die Bio­lo­gie, die es doch im­mer­hin noch mit klar um­grenz­ten Ty­pen zu tun hat, ist kei­ne ex­ak­te Na­tur­wis­sen­schaft mehr und lebt von al­ler­lei der phi­lo­so­phi­schen Mode un­ter­wor­fe­nen Hy­po­the­sen. Wo das Le­ben be­ginnt, hört die Wis­sen­schaft auf; und wo die Wis­sen­schaft be­ginnt, hört das Le­ben auf.

Die Lage des His­to­ri­kers wäre also voll­kom­men hoff­nungs­los, wenn sich ihm nicht ein Aus­weg böte, der in ei­nem an­de­ren Wort Goe­thes an­ge­deu­tet ist: »Den Stoff sieht je­der­mann vor sich, den Ge­halt fin­det nur der, der et­was dazu zu tun hat.« Oder, um statt zwei goe­thi­scher Aperçus zwei goe­thi­sche Ge­stal­ten zur Er­läu­te­rung her­an­zu­zie­hen: der His­to­ri­ker, der »wis­sen­schaft­lich«, bloß aus dem Stoff Ge­schich­te auf­baut, ist Wa­gner, der in der Re­tor­te den le­ben­s­un­fä­hi­gen blut­lo­sen Ho­mun­cu­lus her­vor­bringt; der His­to­ri­ker, der Ge­schich­te ge­stal­tet, in­dem er et­was aus ei­ge­nem hin­zu­tut, ist Faust selbst, der durch die Ver­mäh­lung mit dem Geist der Ver­gan­gen­heit den blü­hen­den Eu­pho­ri­on er­zeugt; die­ser ist frei­lich eben­so kurz­le­big wie Ho­mun­cu­lus, aber aus dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Grun­de: weil zu viel Le­ben in ihm ist.

»Ge­schich­te wis­sen­schaft­lich be­han­deln wol­len«, sagt Speng­ler, »ist im letz­ten Grun­de im­mer et­was Wi­der­spruchs­vol­les … Na­tur soll man wis­sen­schaft­lich trak­tie­ren, über Ge­schich­te soll man dich­ten. Al­les an­de­re sind un­rei­ne Lö­sun­gen.« Der Un­ter­schied zwi­schen dem His­to­ri­ker und dem Dich­ter ist in der Tat nur ein gra­du­el­ler. Die Gren­ze, vor der die Fan­ta­sie haltz­u­ma­chen hat, ist für den His­to­ri­ker der Stand des Ge­schichts­wis­sens in Fach­krei­sen, für den Dich­ter der Stand des Ge­schichts­wis­sens im Pub­li­kum. Die Poe­sie ist auch nicht völ­lig frei in der Ge­stal­tung his­to­ri­scher Fi­gu­ren und Be­ge­ben­hei­ten: es gibt eine Li­nie, die sie ohne Ge­fahr nicht über­schrei­ten kann. Ein Dra­ma zum Bei­spiel, das Alex­an­der den Gro­ßen als Feig­ling und sei­nen Leh­rer Ari­sto­te­les als Igno­ran­ten schil­dern wür­de und die Per­ser im Kampf ge­gen die Ma­ze­do­ni­er sie­gen lie­ße, wür­de dies mit dem Ver­lust der äs­the­ti­schen Wir­kung be­zah­len. In der Tat be­steht auch im­mer ein sehr in­ti­mer Zu­sam­men­hang zwi­schen den großen Büh­nen­dich­tern und den maß­ge­ben­den Ge­schichts­quel­len ih­res Zeit­al­ters. Sha­ke­s­pea­re hat den Cäsar Plut­archs dra­ma­ti­siert, Shaw den Cäsar Momm­sens; Sha­ke­s­pea­res Kö­nigs­dra­men spie­geln das his­to­ri­sche Wis­sen des eng­li­schen Pub­li­kums im sech­zehn­ten Jahr­hun­dert eben­so ge­nau wi­der wie Strind­bergs His­to­ri­en die Ge­schichts­kennt­nis­se des schwe­di­schen Le­sers im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert. Goe­thes »Götz« und Haupt­manns »Flo­ri­an Gey­er« er­schei­nen uns heu­te als fan­tas­ti­sche Bil­der der Re­for­ma­ti­ons­zeit; als sie neu wa­ren, gal­ten sie nicht da­für, denn sie fuß­ten bei­de auf den wis­sen­schaft­li­chen For­schun­gen und An­schau­un­gen ih­rer Zeit. Kurz: der His­to­ri­ker ist nichts an­de­res als ein Dich­ter, der sich den strengs­ten Na­tu­ra­lis­mus zum un­ver­brüch­li­chen Grund­satz ge­macht hat.

»Geschichtsromane«

Die zünf­ti­gen Ge­lehr­ten pfle­gen al­ler­dings alle his­to­ri­schen Wer­ke, die sich nicht mit dem geist­lo­sen und un­per­sön­li­chen Zu­sam­menschlep­pen des Ma­te­ri­als be­gnü­gen, hoch­nä­sig Ro­ma­ne zu nen­nen. Aber ihre ei­ge­nen Ar­bei­ten ent­pup­pen sich nach höchs­tens ein bis zwei Ge­ne­ra­tio­nen eben­falls als Ro­ma­ne, und der gan­ze Un­ter­schied be­steht dar­in, dass ihre Ro­ma­ne leer, lang­wei­lig und ta­lent­los sind und durch einen ein­zi­gen »Fund« um­ge­bracht wer­den kön­nen, wäh­rend ein wert­vol­ler Ge­schichts­ro­man in dem, was sei­ne tiefe­re Be­deu­tung aus­macht, nie­mals »über­holt« wer­den kann. He­ro­dot ist nicht über­holt, ob­gleich er größ­ten­teils Din­ge be­rich­tet hat, die heu­te je­der Volks­schul­leh­rer zu wi­der­le­gen ver­mag; Mon­tes­quieu ist nicht über­holt, ob­gleich sei­ne Wer­ke voll von hand­greif­li­chen Irr­tü­mern sind; Her­der ist nicht über­holt, ob­gleich er his­to­ri­sche An­sich­ten ver­trat, die heu­te für di­let­tan­tisch gel­ten; Win­ckel­mann ist nicht über­holt, ob­gleich sei­ne Auf­fas­sung vom Grie­chen­tum ein ein­zi­ger großer Miss­griff war; Burck­hardt ist nicht über­holt, ob­gleich der heu­ti­ge Papst für klas­si­sche Phi­lo­lo­gie, Wila­mo­witz-Mo­el­len­dorff, er­klärt hat, dass sei­ne grie­chi­sche Kul­tur­ge­schich­te »für die Wis­sen­schaft nicht exis­tiert«. Denn wenn sich selbst al­les, was die­se Män­ner lehr­ten, als un­rich­tig er­wei­sen soll­te, eine Wahr­heit wird doch im­mer blei­ben und nie­mals über­holt wer­den kön­nen: die der künst­le­ri­schen Per­sön­lich­keit, die hin­ter dem Werk stand, des be­deu­ten­den Men­schen, der die­se falschen Bil­der er­leb­te, sah und ge­stal­te­te. Wenn Schil­ler zehn Sei­ten be­seel­ter deut­scher Pro­sa über eine Epi­so­de des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges schreibt, die sich nie­mals so zu­ge­tra­gen hat, so ist das für die his­to­ri­sche Er­kennt­nis frucht­ba­rer als hun­dert Sei­ten »Rich­tig­stel­lun­gen nach neues­ten Do­ku­men­ten« ohne phi­lo­so­phi­schen Ge­sichts­punkt und in bar­ba­ri­schem Deutsch. Wenn Car­ly­le die Ge­schich­te der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on zum Dra­ma ei­nes gan­zen Vol­kes stei­gert, das, von mäch­ti­gen Kräf­ten und Ge­gen­kräf­ten ma­nisch vor­wärts­ge­trie­ben, sein blu­ti­ges Schick­sal er­füllt, so mag man das einen Ro­man und so­gar einen Kol­por­ta­ge­ro­man nen­nen, aber die ge­heim­nis­vol­le At­mo­sphä­re von un­end­li­cher Be­deut­sam­keit, in die die­ses Dich­ter­werk ge­taucht ist, wirkt wie eine ma­gi­sche Iso­lier­schicht, die es durch die Zei­ten ret­tet. Und ist die kom­pe­tentes­te Ge­schichts­dar­stel­lung, die wir bis zum heu­ti­gen Tage vom Mit­tel­al­ter be­sit­zen, nicht Dan­tes un­wirk­li­che Höl­len­vi­si­on? Und auch Ho­mer: was war er an­de­res als ein His­to­ri­ker »mit un­ge­nü­gen­der Quel­len­kennt­nis«? Den­noch wird er in alle Ewig­keit recht be­hal­ten, auch wenn sich ei­nes Ta­ges her­aus­stel­len soll­te, dass es über­haupt kein Tro­ja ge­ge­ben hat.

Al­les, was wir von der Ver­gan­gen­heit aus­sa­gen, sa­gen wir von uns selbst aus. Wir kön­nen nie von et­was an­de­rem re­den, et­was an­de­res er­ken­nen als uns selbst. Aber in­dem wir uns in die Ver­gan­gen­heit ver­sen­ken, ent­de­cken wir neue Mög­lich­kei­ten un­se­res Ichs, er­wei­tern wir die Gren­zen un­se­res Selbst­be­wusst­seins, ma­chen wir neue, ob­schon gänz­lich sub­jek­ti­ve Er­leb­nis­se. Dies ist der Wert und Zweck al­les Ge­schichts­stu­di­ums.

Mögliche Unvollständigkeit

Woll­ten wir das Bis­he­ri­ge in ei­nem Satz zu­sam­men­fas­sen, so könn­ten wir viel­leicht sa­gen: was wir in die­sem Bu­che zu er­zäh­len ver­su­chen, ist nichts als die heu­ti­ge Le­gen­de von der Neu­zeit.

In vie­len ge­lehr­ten Wer­ken fin­det sich im Vor­wort die Be­mer­kung: »Mög­lichs­te Voll­stän­dig­keit war na­tür­lich über­all an­ge­strebt, ob mir dies rest­los ge­lun­gen, mö­gen die ver­ehr­ten Fach­kol­le­gen ent­schei­den.« Mein Stand­punkt ist nun ge­nau der um­ge­kehr­te. Denn ganz ab­ge­se­hen da­von, dass ich die ver­ehr­ten Fach­kol­le­gen na­tür­lich gar nichts ent­schei­den las­se, möch­te ich im Ge­gen­teil sa­gen: mög­lichs­te Un­voll­stän­dig­keit war über­all an­ge­strebt. Man wird viel­leicht fin­den, dies hät­te ich gar nicht erst an­zu­stre­ben brau­chen, es wäre mir auch ohne je­des Stre­ben mü­he­los ge­lun­gen. Den­noch ver­leiht ein sol­cher be­wus­s­ter Wil­le zum Frag­ment und Aus­schnitt, Akt und Tor­so, Stück­werk und Bruch­werk je­der Dar­stel­lung einen ganz be­son­de­ren sti­lis­ti­schen Cha­rak­ter. Wir kön­nen die Welt im­mer nur un­voll­stän­dig se­hen; sie mit Wil­len un­voll­stän­dig zu se­hen, macht den künst­le­ri­schen Aspekt. Kunst ist sub­jek­ti­ve und par­tei­ische Be­vor­zu­gung ge­wis­ser Wirk­lich­keits­ele­men­te vor an­de­ren, ist Aus­wahl und Um­stel­lung, Schat­ten- und Licht­ver­tei­lung, Aus­las­sung und Un­ter­strei­chung, Dämp­fer und Drücker. Ich ver­su­che nur im­mer ein ein­zel­nes Seg­ment oder Bo­gen­stück, Pro­fil oder Brust­stück, eine be­schei­de­ne Ve­du­te gan­zer großer Zu­sam­men­hän­ge und Ent­wick­lun­gen zu ge­ben. Pars pro toto: die­se Fi­gur ist nicht die un­wirk­sams­te und un­an­schau­lichs­te. Oft wird ein gan­zer Mensch durch eine ein­zi­ge Hand­be­we­gung, ein gan­zes Er­eig­nis durch ein ein­zi­ges De­tail schär­fer, ein­präg­sa­mer, we­sent­li­cher cha­rak­te­ri­siert als durch die aus­führ­lichs­te Schil­de­rung. Kurz: die A­n­ek­do­te in je­der­lei Sinn er­scheint mir als die ein­zig be­rech­tig­te Kunst­form der Kul­tur­ge­schicht­schrei­bung. Dies hat schon der »Va­ter der Ge­schich­te« ge­wusst, von dem Emer­son sagt: »Weil sein Werk un­schätz­ba­re An­ek­do­ten ent­hält, ist es bei den Ge­lehr­ten in Missach­tung ge­ra­ten; aber heut­zu­ta­ge, wo wir er­kannt ha­ben, dass das Denk­wür­digs­te an der Ge­schich­te ein paar An­ek­do­ten sind, und uns nicht mehr be­un­ru­hi­gen, wenn et­was nicht lang­wei­lig ist, ge­winnt He­ro­dot wie­der neu­en Kre­dit.« Dies scheint auch die An­sicht Nietz­sches ge­we­sen zu sein: »Aus drei An­ek­do­ten ist es mög­lich, das Bild ei­nes Men­schen zu ge­ben« und die Ab­sicht Mon­taig­nes: »Bei mei­nen ge­plan­ten Un­ter­su­chun­gen über un­se­re Sit­ten und Lei­den­schaf­ten wer­den mir die Be­wei­se aus der Fa­bel, wo­fern sie nur nicht ge­gen alle Mög­lich­keit ver­sto­ßen, eben­so will­kom­men sein wie die aus dem Rei­che der Wahr­heit. Vor­ge­fal­len oder nicht vor­ge­fal­len, zu Rom oder zu Pa­ris, Hinz oder Kunz be­geg­net: es ist im­mer ein Zug aus der Ge­schich­te der Mensch­heit, den ich mir aus die­ser Er­zäh­lung zur War­nung oder Leh­re neh­me. Ich be­mer­ke ihn, ich be­nut­ze ihn, so­wohl nach Zahl wie nach Ge­wicht. Und un­ter den ver­schie­de­nen Les­ar­ten, die zu­wei­len eine Ge­schich­te hat, be­vor­zu­ge ich für mei­ne Ab­sicht die son­der­bars­te und auf­fallends­te.«

Übertreibung

Dies führt uns zu ei­ner zwei­ten Ei­gen­tüm­lich­keit al­ler frucht­ba­ren Ge­schichts­dar­stel­lung: der Über­trei­bung. »Die bes­ten Por­träts«, sagt Ma­cau­lay, »sind viel­leicht die, in de­nen sich eine leich­te Bei­mi­schung von Ka­ri­ka­tur fin­det, und es lässt sich fra­gen, ob nicht die bes­ten Ge­schichts­wer­ke die sind, in de­nen ein we­nig von der Über­trei­bung der dich­te­ri­schen Er­zäh­lung ein­sichts­voll an­ge­wen­det ist. Das be­deu­tet einen klei­nen Ver­lust an Ge­nau­ig­keit, aber einen großen Ge­winn an Wir­kung. Die schwä­che­ren Li­ni­en sind ver­nach­läs­sigt, aber die großen und cha­rak­te­ris­ti­schen Züge wer­den dem Geist für im­mer ein­ge­prägt.« Die Über­trei­bung ist das Hand­werks­zeug je­des Künst­lers und da­her auch des His­to­ri­kers. Die Ge­schich­te ist ein großer Kon­vex­spie­gel, in dem die Züge der Ver­gan­gen­heit mäch­ti­ger und ver­zerr­ter, aber umso ein­drucks­vol­ler und deut­li­cher her­vor­tre­ten. Mein Ver­such in­ten­diert nicht eine Sta­tis­tik, son­dern eine An­ek­do­tik der Neu­zeit, nicht ein Ma­tri­kel­buch der mo­der­nen Völ­ker­ge­sell­schaft, son­dern ihre Fa­mi­li­en­chro­nik oder, wenn man will, ihre chro­ni­que scan­da­leu­se.

Hierarchie der Kulturgebiete

Trägt dem­nach die Kul­tur­ge­schich­te, was ih­ren In­halt an­langt, einen sehr lücken­haf­ten und frag­men­ta­ri­schen, ja ein­sei­ti­gen Cha­rak­ter, so ist von ih­rem Um­fang das ge­ra­de Ge­gen­teil zu for­dern. Zum Ge­biet ih­rer For­schung und Dar­stel­lung ge­hört schlech­ter­dings al­les: sämt­li­che mensch­li­chen Le­bens­äu­ße­run­gen. Wir wol­len uns die­se ein­zel­nen Res­sorts in ei­ner kur­z­en Über­sicht ver­ge­gen­wär­ti­gen, wo­bei wir zu­gleich ver­su­chen, eine Art Werts­ka­la auf­zu­stel­len. Selbst­ver­ständ­lich ist dies das ers­te und das letz­te Mal, dass wir uns ei­ner sol­chen Schub­fä­cher­me­tho­de be­die­nen, die bes­ten­falls einen theo­re­ti­schen Wert hat, im Prak­ti­schen aber voll­stän­dig ver­sagt, denn es ist ja ge­ra­de das We­sen je­der Kul­tur, dass sie eine Ein­heit bil­det.

Wirtschaft

Den un­ters­ten Rang in der Hier­ar­chie der mensch­li­chen Be­tä­ti­gun­gen nimmt das Wirt­schafts­le­ben ein, wor­un­ter al­les zu be­grei­fen ist, was der Be­frie­di­gung der ma­te­ri­el­len Be­dürf­nis­se dient. Es ist ge­wis­ser­ma­ßen der Roh­stoff der Kul­tur, nicht mehr; als sol­cher frei­lich sehr wich­tig. Es gibt al­ler­dings eine all­be­kann­te Theo­rie, nach der die »ma­te­ri­el­len Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se« den »ge­sam­ten so­zia­len, po­li­ti­schen und geis­ti­gen Le­ben­spro­zess« be­stim­men sol­len: die Kämp­fe der Völ­ker dre­hen sich nur schein­bar um Fra­gen des Ver­fas­sungs­rechts, der Wel­t­an­schau­ung, der Re­li­gi­on, und die­se ideo­lo­gi­schen se­kun­dären Mo­ti­ve ver­hül­len wie Män­tel das wirk­li­che pri­märe Grund­mo­tiv der wirt­schaft­li­chen Ge­gen­sät­ze. Aber die­ser ex­tre­me Ma­te­ria­lis­mus ist sel­ber eine grö­ße­re Ideo­lo­gie als die ver­stie­gens­ten idea­lis­ti­schen Sys­te­me, die je­mals er­son­nen wor­den sind. Das Wirt­schafts­le­ben, weit ent­fernt da­von, ein ad­äqua­ter Aus­druck der je­wei­li­gen Kul­tur zu sein, ge­hört, ge­nau ge­nom­men, über­haupt noch gar nicht zur Kul­tur, bil­det nur eine ih­rer Vor­be­din­gun­gen und nicht ein­mal die vi­tals­te. Auf die tiefs­ten und stärks­ten Kul­tur­ge­stal­tun­gen, auf Re­li­gi­on, Kunst, Phi­lo­so­phie, hat es nur einen sehr ge­rin­gen be­stim­men­den Ein­fluss. Die ho­me­ri­sche Dich­tung ist der Nie­der­schlag des grie­chi­schen Po­ly­the­is­mus, Eu­ri­pi­des ein Abriss der grie­chi­schen Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phie, die go­ti­sche Bau­kunst eine voll­kom­me­ne Dar­stel­lung der mit­tel­al­ter­li­chen Theo­lo­gie, Bach der Ex­trakt des deut­schen Pro­tes­tan­tis­mus, Ib­sen ein Kom­pen­di­um al­ler ethi­schen und so­zia­len Pro­ble­me des aus­ge­hen­den neun­zehn­ten Jahr­hun­derts; aber ma­ni­fes­tiert sich in Ho­mer und Eu­ri­pi­des in auch nur ent­fernt ähn­li­chem Maße das grie­chi­sche Wirt­schafts­le­ben, in der Go­tik das mit­tel­al­ter­li­che, in Bach und Ib­sen das mo­der­ne? Man kann sa­gen – und man hat es oft ge­nug ge­sagt –, dass Sha­ke­s­pea­re ohne den Auf­stieg der eng­li­schen Han­dels­macht nicht denk­bar ge­we­sen wäre: aber kann man mit der­sel­ben Be­rech­ti­gung be­haup­ten, der eng­li­sche Welt­han­del sei ein Fer­ment sei­ner Dra­ma­tik, ein Be­stand­teil sei­ner poe­ti­schen At­mo­sphä­re? Oder ist etwa Nietz­sche eine Über­set­zung der em­por­blü­hen­den deut­schen Gro­ß­in­dus­trie in Phi­lo­so­phie und Dich­tung? Er hat gar kei­ne Be­zie­hung zu ihr, nicht die ge­rings­te, nicht ein­mal die des Ant­ago­nis­mus. Und gar von den Re­li­gio­nen zu be­haup­ten, dass sie »eben­falls nur den je­wei­li­gen durch die Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se be­ding­ten so­zia­len Zu­stand wi­der­spie­geln«, ist eine Al­bern­heit, die lä­cher­lich wäre, wenn sie nicht so ge­mein wäre.

Gesellschaft

Über dem Wirt­schafts­le­ben er­hebt sich das Le­ben der Ge­sell­schaft, mit ihm in en­gem Zu­sam­men­hang, aber nicht iden­tisch. Die­se letz­te­re An­sicht ist zwar häu­fig ver­tre­ten wor­den, und selbst ein so schar­fer und wei­ter Den­ker wie Lo­renz von Stein neigt ihr zu. Aber der Fall liegt doch et­was kom­pli­zier­ter. Zwei­fel­los sind die ein­zel­nen Ge­sell­schafts­ord­nun­gen ur­sprüng­lich aus der Gü­ter­ver­tei­lung her­vor­ge­gan­gen: so geht die Feu­dal­macht im we­sent­li­chen auf den Grund­be­sitz zu­rück, die Macht der Bour­geoi­sie auf den Ka­pi­tal­be­sitz, die Macht des Kle­rus auf den Kir­chen­be­sitz. Aber im Lau­fe der ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung ver­schie­ben sich die Be­sitz­ver­hält­nis­se, wäh­rend die ge­sell­schaft­li­che Struk­tur bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de er­hal­ten bleibt. Das zeigt die Er­schei­nung je­der Art von Ari­sto­kra­tie. Der Ge­burtsadel war längst nicht mehr die wirt­schaft­lich stärks­te Klas­se, als er noch im­mer die ge­sell­schaft­lich mäch­tigs­te war. Es gibt heu­te auch schon eine Art Gelda­del, der von den Be­sit­zern der al­ten durch Ge­ne­ra­tio­nen ver­erb­ten Ver­mö­gen re­prä­sen­tiert wird: die­se neh­men in der Ge­sell­schaft einen weit hö­he­ren Rang ein als die meist viel be­gü­ter­te­ren neu­en Rei­chen. Fer­ner gibt es einen Be­am­te­na­del, einen Mi­li­tära­del, einen Geis­te­sa­del: lau­ter Ge­sell­schafts­schich­ten, die sich nie­mals durch be­son­de­re wirt­schaft­li­che Macht aus­ge­zeich­net ha­ben; und eben­so­we­nig fließt die pri­vi­le­gier­te Stel­lung der Geist­lich­keit aus öko­no­mi­schen Ur­sa­chen.

Staat

Noch we­ni­ger als die Ge­sell­schaft lässt sich der Staat mit der Wirt­schafts­ord­nung iden­ti­fi­zie­ren. Wenn man sehr oft be­haup­tet hat, dass die­ser nichts sei als die fes­te Or­ga­ni­sa­ti­on, die sich die be­ste­hen­den öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se in Form von Ver­fas­sun­gen, Ge­set­zen und Ver­wal­tungs­sys­te­men ge­ge­ben ha­ben, so hat man da­bei ver­ges­sen, dass je­dem Staats­we­sen, auch dem un­voll­kom­mens­ten, eine hö­he­re Idee zu­grun­de liegt, die es, mehr oder we­ni­ger rein, zu ver­wirk­li­chen sucht. Sonst wäre das Phä­no­men des Pa­trio­tis­mus un­er­klär­lich. In ihm kommt die Tat­sa­che zum Aus­druck, dass der Staat eben kei­ne blo­ße Or­ga­ni­sa­ti­on, son­dern ein Or­ga­nis­mus ist, ein hö­he­res Le­be­we­sen mit ei­ge­nen, oft sehr ab­sur­den, aber im­mer sehr re­el­len Da­seins­be­din­gun­gen und Ent­wick­lungs­ge­set­zen. Er hat einen Son­der­wil­len, der mehr ist als die ein­fa­che me­cha­ni­sche Sum­ma­ti­on al­ler Ein­zel­wil­len. Er ist ein Mys­te­ri­um, ein Mon­strum, eine Gott­heit, eine Bes­tie: was man will; aber er ist ganz un­leug­bar vor­han­den. Des­halb ha­ben die Emp­fin­dun­gen, die die Men­schen die­sem hö­he­ren We­sen ent­ge­gen­brach­ten, im­mer et­was Über­le­bens­großes, Pa­the­ti­sches, Mo­no­ma­ni­sches ge­habt. Nicht bloß im Al­ter­tum, wo Staat und Re­li­gi­on be­kannt­lich zu­sam­men­fie­len, und im Mit­tel­al­ter, wo der Staat der Kir­che un­ter­ge­ord­net war, aber eben da­durch eine re­li­gi­öse Wei­he emp­fing, son­dern auch in der Neu­zeit hat der Bür­ger im Va­ter­land in wech­seln­den For­men im­mer ir­gend et­was Sa­kro­sank­tes er­blickt. Dies hat zu ei­ner sehr ein­sei­ti­gen Über­schät­zung der po­li­ti­schen Ge­schich­te ge­führt. Noch im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert ist Welt­ge­schich­te nichts ge­we­sen als Ge­schich­te »de­rer Po­ten­ta­tum«, und noch vor ei­nem Men­schen­al­ter sag­te Treitsch­ke: »Die Ta­ten ei­nes Vol­kes muss man schil­dern; Staats­män­ner und Feld­her­ren sind die his­to­ri­schen Hel­den.« Bis vor kur­z­em hat man un­ter Ge­schich­te nichts ver­stan­den als eine stump­fe und tau­be Re­gis­trie­rung von Trup­pen­be­we­gun­gen und di­plo­ma­ti­schen Win­kel­zü­gen, Re­gen­ten­rei­hen und Par­la­ments­ver­hand­lun­gen, Be­la­ge­run­gen und Frie­dens­schlüs­sen, und auch die geist­volls­ten His­to­ri­ker ha­ben nur die­se al­le­run­in­ter­essan­tes­ten Par­ti­en des mensch­li­chen Schick­sals­wegs er­forscht, auf­ge­zeich­net, zum Pro­blem ge­macht. Sie sind aber gar kei­nes oder doch nur ein sehr sub­al­ter­nes, sie sind die ein­för­mi­ge Wie­der­ho­lung der Tat­sa­che, dass der Mensch zur einen Hälf­te ein Raub­tier ist, roh, gie­rig, ver­schla­gen und über­all gleich.

Sitte

Selbst wenn man die Ge­schichts­be­trach­tung aus­schließ­lich auf das Staats­le­ben be­schrän­ken woll­te, wäre die Be­hand­lungs­art der po­li­ti­schen His­to­ri­ker, die sich le­dig­lich um Kriegs­ge­schich­te und Ver­fas­sungs­ge­schich­te zu küm­mern pfle­gen, zu eng, denn sie müss­te zu­min­dest noch die Ent­wick­lung der Kir­che und des Rechts um­fas­sen: zwei Ge­bie­te, die man bis­her im­mer den Spe­zi­al­his­to­ri­kern über­las­sen hat. Und dazu kommt noch der höchst wich­ti­ge Kreis al­ler je­ner Le­bens­äu­ße­run­gen, die man un­ter dem Be­griff der »Sit­te« zu­sam­men­zu­fas­sen pflegt. Gera­de hier: in Kost und Klei­dung, Ball und Be­gräb­nis, Kor­re­spon­denz und Cou­plet, Flirt und Kom­fort, Ge­sel­lig­keit und Gar­ten­kunst of­fen­bart sich der Mensch je­des Zeit­al­ters in sei­nen wah­ren Wün­schen und Ab­nei­gun­gen, Stär­ken und Schwä­chen, Vor­ur­tei­len und Er­kennt­nis­sen, Ge­sund­hei­ten und Krank­hei­ten, Er­ha­ben­hei­ten und Lä­cher­lich­kei­ten.

Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion

Im Reich des Geis­tes­le­bens, dem wir uns nun­mehr zu­wen­den, nimmt die un­ters­te Stu­fe die Wis­sen­schaft ein, zu der auch alle Ent­de­ckung und Er­fin­dung so­wie die Tech­ni­k ge­hört, die nichts ist als auf prak­ti­sche Zwe­cke an­ge­wen­de­te Wis­sen­schaft. In den Wis­sen­schaf­ten stellt jede Zeit so­zu­sa­gen ihr In­ven­tar auf, eine Bilanz al­les des­sen, wozu sie durch Nach­den­ken und Er­fah­rung ge­langt ist. Über ih­nen er­hebt sich das Reich der Kunst. Woll­te man un­ter den Küns­ten eben­falls eine Rang­ord­nung auf­stel­len, ob­gleich dies ziem­lich wi­der­sin­nig ist, so könn­te man sie nach dem Gra­de ih­rer Ab­hän­gig­keit vom Ma­te­ri­al an­ord­nen, wo­durch sich die Rei­hen­fol­ge: Archi­tek­tur, Skulp­tur, Ma­le­rei, Poe­sie, Mu­sik er­ge­ben wür­de. Doch ist dies mehr eine schul­meis­ter­haf­te Spie­le­rei. Nur so viel wird sich mit ei­ni­ger Be­rech­ti­gung sa­gen las­sen, dass die Mu­sik in der Tat den obers­ten Rang un­ter den Küns­ten ein­nimmt: als die tiefs­te und um­fas­sends­te, selbst­stän­digs­te und er­grei­fends­te, und dass un­ter den Dich­tungs­gat­tun­gen das Dra­ma die höchs­te Kul­tur­leis­tung dar­stellt, als eine zwei­te Welt­schöp­fung: die Ge­stal­tung ei­nes in sich ab­ge­run­de­ten, vom Dich­ter los­ge­lös­ten und zu­gleich zu le­ben­di­ger An­schau­ung ver­ge­gen­wär­tig­ten Mi­kro­kos­mos.

Als der Kunst völ­lig eben­bür­tig ist die Phi­lo­so­phie an­zu­se­hen, die, so­fern sie ech­te Phi­lo­so­phie ist, zu den schöp­fe­ri­schen Be­tä­ti­gun­gen ge­hört. Sie ist, wie schon He­gel her­vor­ge­ho­ben hat, das Selbst­be­wusst­sein je­des Zeit­al­ters und dar­in him­mel­weit ent­fernt von der Wis­sen­schaft, die bloß ein Be­wusst­sein der Ein­zel­hei­ten ist, wie sie die Au­ßen­welt rhap­so­disch und ohne hö­he­re Ein­heit den Sin­nen und der Lo­gik dar­bie­tet. Da­rum hat auch Scho­pen­hau­er ge­sagt, der Hauptzweig der Ge­schich­te sei die Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie: »Ei­gent­lich ist die­se der Grund­bass, der so­gar in die an­de­re Ge­schich­te hin­über­tönt und auch dort, aus dem Fun­da­ment, die Mei­nung lei­tet: die­se aber be­herrscht die Welt. Da­her ist die Phi­lo­so­phie, ei­gent­lich und wohl­ver­stan­den, auch die ge­wal­tigs­te ma­te­ri­el­le Macht; je­doch sehr lang­sam wir­kend.« Und in der Tat ist die Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie das Herz­stück der Kul­tur­ge­schich­te, ja, wenn man den Be­griff, den ihr Scho­pen­hau­er gibt, in sei­nem vol­len Um­fan­ge nimmt, die gan­ze Kul­tur­ge­schich­te. Denn was sind dann Ton­fol­gen und Schlacht­ord­nun­gen, Rö­cke und Re­gle­ments, Va­sen und Vers­ma­ße, Dog­men und Dach­for­men an­de­res als ge­ron­ne­ne Zeit­phi­lo­so­phie?

Die Er­fol­ge der großen Ero­be­rer und Kö­ni­ge sind nichts ge­gen die Wir­kung, die ein ein­zi­ger großer Ge­dan­ke aus­übt. Er springt in die Welt und ver­brei­tet sich ste­tig und un­wi­der­steh­lich mit der Kraft ei­nes Ele­men­ta­rer­eig­nis­ses, ei­ner geo­lo­gi­schen Um­wäl­zung: nichts ver­mag sich ihm ent­ge­gen­zu­stem­men, nichts ver­mag ihn un­ge­sche­hen zu ma­chen. Der Den­ker ist eine un­ge­heu­re ge­heim­nis­vol­le Fa­ta­li­tät, er ist die Re­vo­lu­ti­on, die wah­re und wirk­sa­me ne­ben hun­dert we­sen­lo­sen und falschen. Der Künst­ler wirkt schnel­ler und leb­haf­ter, aber nicht so dau­er­haft; der Den­ker wirkt lang­sa­mer und stil­ler, aber da­für umso nach­hal­ti­ger. Les­sings phi­lo­so­phi­sche Streit­schrif­ten zum Bei­spiel in ih­rer fe­dern­den Dia­lek­tik und mous­sie­ren­den Geis­tig­keit sind heu­te noch mo­der­ne Bü­cher; aber sei­ne Dra­men ha­ben schon eine di­cke Staub­schicht. Ra­ci­nes und Mo­lières Fi­gu­ren wir­ken heu­te auf uns wie me­cha­ni­sche Glie­der­pup­pen, wie auf Draht ge­zo­ge­ne Pa­pier­blu­men, wie rosa an­ge­mal­te Zuckers­ten­gel; aber die freie und star­ke Lu­zi­di­tät ei­nes Des­car­tes, die gran­dio­se und hin­ter­grün­di­ge See­lena­na­to­mie ei­nes Pas­cal hat für uns noch ihre vol­le Fri­sche. Ja selbst die Wer­ke der grie­chi­schen Tra­gi­ker ha­ben heu­te ih­ren Pa­tina­über­zug, der viel­leicht ih­ren Kunst­wert er­höht, aber ih­ren Le­bens­wert ver­min­dert, wäh­rend die Dia­lo­ge Pla­tos ges­tern ge­schrie­ben sein könn­ten.

Die Spit­ze und Krö­nung der mensch­li­chen Kul­tur­py­ra­mi­de wird von der Re­li­gion ge­bil­det. Al­les an­de­re ist nur der mas­si­ve Un­ter­bau, auf dem sie selbst thront, hat kei­nen an­de­ren Zweck, als zu ihr hin­an­zu­füh­ren. In ihr vollen­det sich die Sit­te, die Kunst, die Phi­lo­so­phie. »Die Re­li­gi­on«, sagt Fried­rich Theo­dor Vi­scher, »ist der Haup­tort der ge­schicht­li­chen Sym­pto­me, der Nil­mes­ser des Geis­tes.«

Wir ge­lan­gen so­mit zu fol­gen­der Über­sicht der mensch­li­chen Kul­tur:

Der Mensch han­delnd den­kend ge­stal­tend in Wirt­schaft und Ge­sell­schaft, in Ent­de­ckung und Er­fin­dung, in Kunst, Staat und Recht, Wis­sen­schaft und Tech­nik Phi­lo­so­phie, Kir­che und Sit­te Re­li­gi­on.

Woll­ten wir uns die Be­deu­tung der ein­zel­nen Kul­tur­ge­bie­te in ei­nem Gleich­nis ver­an­schau­li­chen, das na­tür­lich eben­so hin­kt wie alle an­de­ren, so könn­ten wir das Gan­ze im Bil­de des mensch­li­chen Or­ga­nis­mus zu­sam­men­fas­sen. Dann ent­sprä­che das Staats­le­ben dem Ske­let­t, das das gro­be, har­te und fes­te Gerüst des Ge­samt­kör­pers bil­det, das Wirt­schafts­le­ben dem Ge­fäß­sys­tem, das Ge­sell­schafts­le­ben dem Ner­ven­sys­tem, die Wis­sen­schaft dem aus­fül­len­den Fleisch und bis­wei­len auch dem über­flüs­si­gen Fett, die Kunst den ver­schie­de­nen Sin­nes­or­ga­nen, die Phi­lo­so­phie dem Ge­hirn und die Re­li­gi­on der See­le, die den gan­zen Kör­per zu­sam­men­hält und mit den hö­he­ren un­sicht­ba­ren Kräf­ten des Wel­talls in Ver­bin­dung setzt, bei­de auch dar­in ähn­lich, dass ihre Exis­tenz von kurz­sich­ti­gen und stumpf­sin­ni­gen Men­schen oft ge­leug­net wird.

Der Stein der Weisen

Die Ge­schichts­wis­sen­schaft, rich­tig be­grif­fen, um­fasst dem­nach die ge­sam­te mensch­li­che Kul­tur und de­ren Ent­wick­lung: sie ist ste­te Auf­fin­dung des Gött­li­chen im Welt­lauf und dar­um Theo­lo­gie, sie ist Er­for­schung der Grund­kräf­te der mensch­li­chen See­le und dar­um Psy­cho­lo­gie, sie ist die auf­schluss­reichs­te Dar­stel­lung der Staats- und Ge­sell­schafts­for­men und dar­um Po­li­tik, sie ist die man­nig­fal­tigs­te Samm­lung al­ler Kunst­schöp­fun­gen und dar­um Äs­the­tik, sie ist eine Art Stein der Wei­sen, ein Pan­the­on al­ler Wis­sen­schaf­ten. Sie ist zu­gleich die ein­zi­ge Form, in der wir heu­te noch zu phi­lo­so­phie­ren ver­mö­gen, ein un­er­schöpf­lich rei­ches La­bo­ra­to­ri­um, in dem wir die leich­tes­ten und loh­nends­ten Ex­pe­ri­men­te über die Na­tur des Men­schen an­stel­len kön­nen.

Der Repräsentativmensch

Je­des Zeit­al­ter hat einen be­stimm­ten Fun­dus von Vel­lei­tä­ten, Be­fürch­tun­gen, Träu­men, Ge­dan­ken, Idio­syn­kra­si­en, Lei­den­schaf­ten, Irr­tü­mern, Tu­gen­den. Die Ge­schich­te je­des Zeit­al­ters ist die Ge­schich­te der Ta­ten und Lei­den ei­nes be­stimm­ten nie­mals so da­ge­we­se­nen, nie­mals so wie­der­keh­ren­den Men­schen­ty­pus. Wir könn­ten ihn den Re­prä­sen­ta­tiv­men­schen nen­nen. Der Re­prä­sen­ta­tiv­mensch: das ist der Mensch, der nie em­pi­risch er­scheint, aber doch das Dia­gramm, den mor­pho­lo­gi­schen Au­friss dar­stellt, der al­len wirk­li­chen Men­schen zu­grun­de liegt, die Ur­pflan­ze gleich­sam, nach der alle ge­bil­det sind; oder wie in der Tier­welt die ein­zel­nen le­ben­den Exem­pla­re den Raub­tier­ty­pus, den Na­ger­ty­pus, den Wie­der­käu­er­ty­pus über­ein­stim­mend, aber nie­mals völ­lig rein ver­kör­pern. Jede Zeit hat ihre be­stimm­te Phy­sio­lo­gie, ih­ren cha­rak­te­ris­ti­schen Stoff­wech­sel, ihre be­son­de­re Blut­zir­ku­la­ti­on und Puls­fre­quenz, ihr spe­zi­fi­sches Le­ben­stem­po, ihre nur ihr ei­gen­tüm­li­che Ge­samt­vi­ta­li­tät, ja so­gar ihre in­di­vi­du­el­len Sin­ne: eine Op­tik, Akus­tik, Neu­ro­tik, die nur ihr an­ge­hört.

Die Ge­schich­te der ver­schie­de­nen Ar­ten des Se­hens ist die Ge­schich­te der Welt. Es gilt, Jo­han­nes Mül­lers Leh­re von den spe­zi­fi­schen Sin­ne­s­ener­gi­en, wo­nach die Qua­li­tät un­se­rer Emp­fin­dun­gen nicht von der Ver­schie­den­heit der äu­ße­ren Rei­ze, son­dern von der Ver­schie­den­heit un­se­rer Auf­nah­me­ap­pa­ra­te be­stimmt wird, auch für die Ge­schichts­be­trach­tung frucht­bar zu ma­chen. Die »Wirk­lich­keit« ist im­mer und über­all gleich: – näm­lich un­be­kannt. Sie af­fi­ziert aber stets an­de­re Sin­nes­ner­ven, Netz­häu­te, Hirn­lap­pen, Trom­mel­fel­le. Die­ses Bild von der Welt wan­delt sich mit fast je­der Ge­ne­ra­ti­on. Wir se­hen dies dar­an, dass so­gar das schein­bar Un­ver­än­der­lichs­te, die Na­tur, fort­wäh­rend an­de­re Ge­stal­ten an­nimmt. Sie ist ein­mal feind­se­lig, wild und grau­sam und ein­mal ein­la­dend, in­tim und idyl­lisch, ein­mal exu­be­rant und schwel­lend und ein­mal karg und as­ke­tisch, ein­mal pit­to­resk und zer­flie­ßend und ein an­der­mal scharf kon­tu­riert und fei­er­lich sti­li­siert, sie er­scheint ab­wech­selnd als die klars­te lo­gi­sche Zweck­mä­ßig­keit und als un­fass­ba­res Mys­te­ri­um, als blo­ße de­ko­ra­ti­ve Staf­fa­ge für den Men­schen und als der gren­zen­lo­se Ab­grund, in den er ver­sinkt, als das Echo, das alle sei­ne Ge­füh­le ge­stei­gert wie­der­holt, und als eine stum­me Lee­re, die er über­haupt kaum be­merkt. Wenn ein Zau­be­rer käme, der die Gabe hät­te, das Netz­haut­bild zu re­kon­stru­ie­ren, das eine Wald­land­schaft im Auge ei­nes Athe­ners aus der Zeit des Pe­ri­kles ab­ge­zeich­net hat, und dann das Netz­haut­bild, das ein Kreuz­rit­ter des Mit­tel­al­ters von der­sel­ben Wald­land­schaft emp­fing, es wür­den zwei ganz ver­schie­de­ne Ge­mäl­de sein; und wenn wir dann sel­ber hin­gin­gen und den Wald an­blick­ten, wir wür­den we­der das eine noch das an­de­re Bild in ihm wie­der­er­ken­nen. Ja die­se Ty­ran­nei des Zeit­geis­tes geht so­gar so weit, dass selbst die fo­to­gra­fi­sche Ka­me­ra, die­ser an­geb­lich tote Ap­pa­rat, der schein­bar ganz pas­siv und me­cha­nisch das Licht­bild ein­trägt, un­se­rer Sub­jek­ti­vi­tät un­ter­wor­fen ist. Auch das Ob­jek­tiv ist nicht ob­jek­tiv. Es ist näm­lich eine eben­so un­er­klär­li­che wie un­leug­ba­re Tat­sa­che, dass je­der Fo­to­graf, ganz wie der Ma­ler, im­mer nur sich selbst ab­bil­det. Ist er ein un­ge­bil­de­tes und ge­schmack­lo­ses Vor­stadt­ge­hirn, so wer­den in sei­ne Ka­me­ra lau­ter vul­gä­re und kit­schi­ge Fi­gu­ren ein­tre­ten, ist er ein kul­ti­vier­ter, künst­le­risch se­hen­der Mensch, so wer­den sei­ne Bil­der vor­neh­men zar­ten Sti­chen glei­chen. In­fol­ge­des­sen wer­den spä­te­re Zei­ten in un­se­ren Fo­to­gra­fi­en eben­so­we­nig eine na­tu­ra­lis­ti­sche Wie­der­ga­be un­se­rer äu­ße­ren Er­schei­nung er­bli­cken wie in un­se­ren Ge­mäl­den, sie wer­den ih­nen wie un­ge­heu­er­li­che Ka­ri­ka­tu­ren vor­kom­men.

Der expressionistische Hund

Ja noch mehr: so un­glaub­lich es klin­gen mag, der Schrei­ber die­ser Zei­len be­sitzt seit ei­ni­gen Jah­ren einen ex­pres­sio­nis­ti­schen Hund! Ich be­haup­te, dass ein Ge­schöpf von ei­ner so wind­schie­fen und gleich­sam be­trun­ke­nen Bau­art, das aus lau­ter ver­zeich­ne­ten Drei­e­cken zu­sam­men­ge­setzt zu sein scheint, nie vor­her in der Welt ge­we­sen ist. Man wird dies für eine Ein­bil­dung hal­ten; aber man ma­che es sich an ei­nem Ge­gen­bei­spiel klar: wäre es mög­lich, den Mops, den re­prä­sen­ta­ti­ven Hund der Grün­der­jah­re, je­mals ex­pres­sio­nis­tisch zu se­hen? Zwei­fel­los nicht; des­halb ist er aus­ge­stor­ben, nie­mand weiß, warum und wie­so. Und eben­so sind die Tage der Fuch­sie ge­zählt, der Lieb­lings­pflan­ze der­sel­ben Ära. Sie zieht sich be­reits in die äu­ßers­ten Vor­städ­te zu­rück, wo ja auch noch Ro­ma­ne von Spiel­ha­gen und Bil­der von De­freg­ger ih­ren An­wert fin­den. Und warum sind eine gan­ze Rei­he höchst gro­tes­ker Fi­sche, die eine so son­der­ba­re Ähn­lich­keit mit ei­nem Un­ter­see­boot oder ei­nem mensch­li­chen Tau­cher be­sit­zen, erst im Zeit­al­ter der Tech­nik ent­deckt wor­den? Die Bei­spie­le lie­ßen sich noch ver­hun­dert­fa­chen. Es ist also kei­ne An­ma­ßung, von Welt­ge­schich­te zu re­den, denn sie ist in der Tat die Ge­schich­te un­se­rer Welt oder viel­mehr un­se­rer Wel­ten.

Seelische Kostümgeschichte

Un­ser Werk macht den Ver­such, einen geis­tig-sitt­li­chen Bil­der­bo­gen, eine see­li­sche Ko­stüm­ge­schich­te der letz­ten sechs Jahr­hun­der­te zu ent­wer­fen und zu­gleich die pla­to­ni­sche Idee je­des Zeit­al­ters zu zei­gen, den Ge­dan­ken, der es in­ner­lich trieb und be­weg­te, der sei­ne See­le war. Die­ser Zeit­ge­dan­ke ist das Or­ga­ni­sie­ren­de, das Schöp­fe­ri­sche, das ein­zig Wah­re in je­dem Zeit­al­ter, ob­gleich auch er nur sel­ten in der Wirk­lich­keit rein er­scheint; viel­mehr ist das Zeit­al­ter das Pris­ma, das ihn in einen viel­far­bi­gen Re­gen­bo­gen von Sym­bo­len zer­legt: nur hier und da tritt der Glücks­fall ein, dass es einen großen Phi­lo­so­phen her­vor­bringt, der die­se Strah­len in dem Brenn­spie­gel sei­nes Geis­tes wie­der sam­melt.

Und dies führt uns zu dem ei­gent­li­chen Schlüs­sel je­des Zeit­al­ters. Wir er­bli­cken ihn in den großen Män­nern, je­nen son­der­ba­ren Er­schei­nun­gen, die Car­ly­le Hel­den ge­nannt hat. Man könn­te sie auch eben­so gut Dich­ter nen­nen, wenn man die­sen Be­griff nicht ein­sei­tig auf Per­so­nen ein­schränkt, die mit Tin­te und Fe­der han­tie­ren, son­dern sich vor Au­gen hält, dass man mit al­lem dich­ten kann, wenn man nur ge­nug Schöp­fer­kraft und Fan­ta­sie be­sitzt, ja dass die großen Hel­den und Hei­li­gen, die in ih­ren Ta­ten und Lei­den mit dem Le­ben ge­dich­tet ha­ben, so­gar hö­her ste­hen als die Dich­ter des Worts. Nach Car­ly­les Über­zeu­gung ist die Form, in der der große Mann er­scheint, völ­lig gleich­gül­tig; die Haupt­sa­che ist, dass er da ist: »Ich muss ge­ste­hen, dass ich von kei­nem großen Man­ne weiß, der nicht al­le Men­schen­gat­tun­gen hät­te ver­kör­pern kön­nen … Ist eine große See­le ge­ge­ben, die sich dem gött­li­chen Sinn des Da­seins ge­öff­net hat, so ist da­mit auch ein Mensch ge­ge­ben, der die Gabe be­sitzt, da­von zu re­den und zu sin­gen, da­für zu fech­ten und zu strei­ten, groß, sieg­reich und dau­er­haft; dann ist ein Held ge­ge­ben: – sei­ne äu­ße­re Ge­stalt hängt von der Zeit und der Um­ge­bung ab, die er ge­ra­de vor­fin­det.« In der Ge­schich­te gibt es nur zwei wirk­li­che Welt­wun­der: den Zeit­geist mit sei­nen mär­chen­haf­ten Ener­gi­en und das Ge­nie mit sei­nen ma­gi­schen Wir­kun­gen. Der ge­nia­le Mensch ist das große Ab­sur­dis­si­mum. Er ist ein Ab­sur­dis­si­mum we­gen sei­ner Nor­ma­li­tät. Er ist so, wie alle sein soll­ten: eine voll­kom­me­ne Glei­chung von Zweck und Mit­tel, Auf­ga­be und Leis­tung. Er ist so pa­ra­dox, et­was zu tun, was sonst nie­mand tut: er er­füllt sei­ne Be­stim­mung.

Zwi­schen Ge­nie und Zeit­al­ter be­steht nun eine kom­pli­zier­te und schwer ent­zif­fer­ba­re Ver­rech­nung.

Das Genie ist ein Produkt des Zeitalters

Ein Zeit­al­ter, das nicht sei­nen Hel­den fin­det, ist pa­tho­lo­gisch: Sei­ne See­le ist un­ter­er­nährt und lei­det gleich­sam an »chro­ni­scher Dyspnoë«. Kaum hat es die­sen Men­schen, der al­les aus­spricht, was es braucht, so strömt plötz­lich neu­er Sau­er­stoff in sei­nen Or­ga­nis­mus, die Dyspnoë ver­schwin­det, die Blut­zir­ku­la­ti­on re­gu­liert sich, und es ist ge­sund. Die Ge­nies sind die we­ni­gen Men­schen in je­dem Zeit­al­ter, die re­den kön­nen. Die an­de­ren sind stumm, oder sie stam­meln. Ohne sie wüss­ten wir nichts von ver­gan­ge­nen Zei­ten: wir hät­ten bloß frem­de Hie­ro­gly­phen, die uns ver­wir­ren und ent­täu­schen. Wir brau­chen einen Schlüs­sel für die­se Ge­heim­schrift. Ger­hart Haupt­mann hat ein­mal den Dich­ter mit ei­ner Win­des­har­fe ver­gli­chen, die je­der Luft­hauch zum Er­klin­gen bringt. Hal­ten wir die­ses Gleich­nis fest, so könn­ten wir sa­gen: im Grund ist je­der Mensch ein sol­ches In­stru­ment mit emp­find­li­chen Sai­ten, aber bei den meis­ten bringt der Stoß der Er­eig­nis­se die Sai­ten bloß zum Er­zit­tern, und nur beim Dich­ter kommt es zum Klang, den je­der­mann hö­ren und er­fas­sen kann.

Da­mit ein Ab­schnitt der mensch­li­chen Geis­tes­ge­schich­te in ei­nem halt­ba­ren Bil­de fort­le­be: dazu scheint im­mer nur ein ein­zi­ger Mensch nö­tig zu sein, aber die­ser eine ist un­er­läss­lich. So wür­de zum Bei­spiel für die grie­chi­sche Auf­klä­rung So­kra­tes, für die fran­zö­si­sche Auf­klä­rung Vol­taire, für die deut­sche Auf­klä­rung Les­sing, für die eng­li­sche Re­naissance Sha­ke­s­pea­re, für un­se­re Zeit Nietz­sche ge­nü­gen. In sol­chen Män­nern ob­jek­ti­viert sich das gan­ze Zeit­al­ter wie in ei­nem ver­deut­li­chen­den Qu­er­schnitt, der je­der­mann zu­gäng­lich ist. Der Ge­ni­us ist nichts an­de­res als die bün­di­ge For­mel, das ge­dräng­te Kom­pen­di­um, der hand­li­che Leit­fa­den, in dem knapp und kon­zis, ver­ständ­lich und über­sicht­lich die Wün­sche und Wer­ke al­ler Zeit­ge­nos­sen zu­sam­men­ge­fasst sind. Er ist der star­ke Ex­trakt, das kla­re De­stil­lat, die schar­fe Es­senz aus ih­nen; er ist aus ih­nen ge­macht. Näh­me man sie fort, so blie­be nichts von ihm zu­rück, er wür­de sich in Luft auf­lö­sen. Der große Mann ist ganz und gar das Ge­schöpf sei­ner Zeit; und je grö­ßer er ist, de­sto mehr ist er das Ge­schöpf sei­ner Zeit. Dies ist un­se­re ers­te The­se über das We­sen des Ge­nies.

Das Zeitalter ist ein Produkt des Genies

Aber wer sind denn die­se Zeit­ge­nos­sen? Wer macht sie zu Zeit­ge­nos­sen, zu An­ge­hö­ri­gen ei­nes be­son­de­ren, deut­lich ab­ge­grenz­ten Ge­schichts­ab­schnit­tes, die ihr spe­zi­fi­sches Welt­ge­fühl, ihre be­stimm­te Le­bens­luft, kurz ih­ren ei­ge­nen Stil ha­ben? Nie­mand an­ders als der »Dich­ter«. Er prägt ihre Le­bens­form, er schnei­det das Kli­schee, nach dem sie alle ge­druckt wer­den, ob sie sich des­sen be­wusst sind oder nicht. Er ver­tau­send­fäl­tigt sich auf mys­te­ri­öse Wei­se. Man geht, steht, sitzt, denkt, hasst, liebt nach sei­nen An­ga­ben. Er ver­än­dert un­se­re Höf­lich­keits­be­zeu­gun­gen, un­ser Na­tur­ge­fühl; un­se­re Haar­tracht, un­se­re Re­li­gio­si­tät; un­se­re In­ter­punk­ti­on, un­se­re Ero­tik; das Hei­ligs­te und das Tri­vi­als­te: al­les. Sein gan­zes Zeit­al­ter ist in­fi­ziert von ihm. Er dringt un­auf­halt­sam in un­ser Blut, spal­tet un­se­re Mo­le­kü­le, schafft ty­ran­nisch neue Ver­bin­dun­gen. Wir re­den sei­ne Spra­che, wir ge­brau­chen sei­ne Satz­stel­lun­gen, eine flüch­tig hin­ge­wor­fe­ne Re­dens­art aus sei­nem Mun­de wird zur ei­ni­gen­den Pa­ro­le, die die Men­schen sich durch die Nacht zu­ru­fen. Die Stra­ßen und Wäl­der, die Kir­chen und Ball­sä­le be­völ­kern sich plötz­lich, nie­mand weiß wie­so, mit zahl­lo­sen ver­klei­ner­ten Ko­pi­en von Wer­ther, By­ron,1 Na­po­le­on, Oblo­mow, Hjal­mar. Die Wie­sen wer­den an­ders­far­big, die Bäu­me und Wol­ken wer­den an­ders­för­mig, die Bli­cke, die Ges­ten, die Stim­men der Men­schen be­kom­men einen neu­en Ak­zent. Die Frau­en wer­den zu Pre­zi­ösen nach dem Re­zept Mo­lières und zu Ka­nail­len nach der Vi­si­on Strind­bergs; breit­hüf­tig und voll­bu­sig, weil Ru­bens es sich vor sei­ner ein­sa­men Staf­fe­lei so aus­ge­dacht hat, und schmal und an­ämisch, weil Ros­set­ti und Bur­ne-Jo­nes die­ses Bild von ih­nen im Kop­fe tru­gen. Es ist gar nicht rich­tig, dass der Künst­ler die Rea­li­tät ab­schil­dert, ganz im Ge­gen­teil: die Rea­li­tät läuft ihm nach. »Es ist pa­ra­dox«, sagt Wil­de, »aber dar­um nicht min­der wahr, dass das Le­ben die Kunst weit mehr nach­ahmt als die Kunst das Le­ben.«

Nie­mand ver­mag die­sen Zau­be­rern zu wi­der­ste­hen. Sie be­flü­geln und läh­men, sie be­rau­schen und er­nüch­tern. In ih­rem Be­sitz sind alle Heil­mit­tel und To­xi­ne der Welt. Sie las­sen Le­ben auf­sprie­ßen, wo­hin sie kom­men, al­les wird durch sie kräf­ti­ger, ge­sün­der, »kommt zu sich«: ja dies ist so­gar die höchs­te Wohl­tat, die sie den Men­schen er­wei­sen, in­dem sie be­wir­ken, dass die­se zu sich selbst kom­men, sich selbst er­ken­nen, so­bald sie mit ih­nen in Berüh­rung tre­ten. Sie schaf­fen aber auch Krank­heit und Tod. Sie lö­sen in vie­len die la­ten­te Narr­heit aus, die sonst viel­leicht im­mer ge­schlum­mert hät­te. Auch er­re­gen sie Krie­ge, Re­vo­lu­tio­nen, so­zia­le Erd­be­ben. Sie köp­fen Kö­ni­ge, be­schi­cken Schlacht­fel­der, sta­cheln Na­tio­nen zum Zwei­kampf. Ein gut ge­laun­ter äl­te­rer Herr, na­mens So­kra­tes, ver­treibt sich die Zeit mit Apho­ris­men, ein eben­so gut ge­laun­ter Lands­mann, na­mens Pla­to, macht dar­aus eine Rei­he amüsan­ter Dia­lo­ge, und Biblio­the­ken schich­ten sich auf, Biblio­the­ken wer­den auf dem Schei­ter­hau­fen ver­brannt, Biblio­the­ken wer­den als Ma­ku­la­tur ver­brannt, neue Biblio­the­ken wer­den ge­schrie­ben und hun­dert­tau­send Köp­fe und Mä­gen le­ben von dem Na­men Pla­to. Ein ex­al­tier­ter Jour­na­list, na­mens Rous­seau, schreibt ein paar bi­zar­re Flug­schrif­ten, und sechs Jah­re lang zer­fleischt sich ein hoch­be­gab­tes Volk. Ein welt­frem­der und von al­ler Welt ge­mie­de­ner Stu­ben­ge­lehr­ter, na­mens Marx, schreibt ein paar di­cke und un­ver­ständ­li­che phi­lo­so­phi­sche Bän­de, und ein Rie­sen­reich än­dert sei­ne ge­sam­ten Exis­tenz­be­din­gun­gen von Grund auf.

Kurz: die Zeit ist ganz und gar die Schöp­fung des großen Man­nes, und je mehr sie es ist, de­sto vol­ler und rei­fer er­füllt sie ihre Be­stim­mung, de­sto grö­ßer ist sie. Dies ist un­se­re zwei­te The­se über das We­sen des Ge­nies.

Ge­or­ge By­ron, engl. Schrift­stel­ler und Frei­heits­kämp­fer, † 1824  <<<

Genie und Zeitalter sind inkommensurabel

Aber was ist denn der Ge­ni­us? Ein exo­ti­sches Mon­strum, eine Fleisch ge­wor­de­ne Pa­ra­do­xie, ein Ar­se­nal von Ex­tra­va­gan­zen, Gril­len, Per­ver­si­tä­ten, ein Narr wie alle an­de­ren, ja noch mehr als alle an­de­ren, weil er mehr Mensch ist als sie, ein pa­tho­lo­gi­sches Ori­gi­nal, dem gan­zen dun­keln Le­bens­ge­wim­mel da un­ten im tiefs­ten fremd, aber auch sei­nes­glei­chen fremd, ja sich sel­ber fremd, ohne die Mög­lich­keit ir­gend­ei­ner Brücke zu sei­ner Um­welt. Der große Mann ist der große So­li­tär: was sei­ne Grö­ße aus­macht, ist ge­ra­de dies, dass er ein Uni­kum, eine Psy­cho­se, eine völ­lig be­zie­hungs­lo­se Ein­ma­lig­keit dar­stellt. Er hat mit sei­ner Zeit nichts zu schaf­fen und sie nichts mit ihm. Dies ist un­se­re drit­te The­se über das We­sen des Ge­nies.

Man könn­te nun viel­leicht fin­den, dass die­se drei The­sen sich wi­der­spre­chen. Aber wenn sie sich nicht wi­der­sprä­chen, so wäre es ziem­lich über­flüs­sig ge­we­sen, die­se Bän­de, die im we­sent­li­chen nichts sind als eine Schil­de­rung der ein­zel­nen Kul­tur­zeit­al­ter und ih­rer Hel­den, über­haupt zu schrei­ben. Und für den, der die Auf­ga­be des mensch­li­chen Den­kens nicht im Dar­stel­len, son­dern im Ab­stel­len von Wi­der­sprü­chen er­blickt, ist es an­de­rer­seits gänz­lich über­flüs­sig, die­se Bän­de zu le­sen.

Der Pedigree

Ehe wir die­se Ein­lei­tung be­schlie­ßen, füh­len wir uns ver­pflich­tet, auf un­se­re Vor­gän­ger, ge­wis­ser­ma­ßen auf den Pe­di­gree un­se­res Dar­stel­lungs­ver­suchs einen kur­z­en Blick zu wer­fen. Doch kann es sich hier­bei nicht um eine Ge­schich­te der Kul­tur­ge­schich­te han­deln, so ver­lo­ckend und loh­nend eine sol­che Auf­ga­be wäre, son­dern le­dig­lich um eine flüch­ti­ge und apho­ris­ti­sche Her­vor­he­bung ge­wis­ser Spit­zen, die wir gleich­sam nur mit dem Schein­wer­fer von un­se­rem ganz per­sön­li­chen Stand­ort aus für einen Au­gen­blick be­leuch­ten.

Ei­gent­lich war schon das ers­te his­to­ri­sche Werk, von dem wir Kun­de ha­ben, He­ro­dots Er­zäh­lung der Kämp­fe zwi­schen Hel­le­nen und Bar­ba­ren, frei­lich ohne es selbst recht zu wis­sen, eine Art ver­glei­chen­de Kul­tur­ge­schich­te. Aber schon He­ro­dots jün­ge­rer Zeit­ge­nos­se Thu­ky­di­des schrieb streng po­li­ti­sche Ge­schich­te, und erst Ari­sto­te­les hat wie­der auf die Be­deu­tung hin­ge­wie­sen, die die Be­trach­tung der Sit­ten, Ge­bräu­che und Le­bens­ge­wohn­hei­ten auch für die po­li­ti­sche Er­kennt­nis be­sitzt. Zu mehr als Ah­nun­gen und An­deu­tun­gen konn­te es je­doch das Al­ter­tum nicht brin­gen, des­sen Welt­bild sta­tisch war: dass der ho­me­ri­sche Mensch ein we­sent­lich an­ders ge­ar­te­tes We­sen war als der pe­ri­kle­i­sche und die­ser wie­der­um ganz ver­schie­den vom alex­an­dri­ni­schen, ist den Grie­chen nie­mals klar ins Be­wusst­sein ge­tre­ten. Und noch we­ni­ger war das Mit­tel­al­ter im­stan­de, den Be­griff der his­to­ri­schen Ent­wick­lung zu fas­sen. Hier ruht al­les von Ewig­keit her in Gott: die Welt ist nur ein zei­do­ses Sym­bol, ein ge­heim­nis­vol­ler Kriegs­schau­platz des Kamp­fes zwi­schen Hei­land und Sa­tan, den Er­wähl­ten und den Ver­damm­ten. So hat es schon an der Schwel­le des Mit­tel­al­ters der größ­te Ge­ni­us der christ­li­chen Kir­che, Au­gus­ti­nus, ge­se­hen und in sei­nem Wer­ke »De ci­vi­ta­te Dei« er­grei­fend be­schrie­ben.

Lessing und Herder