Kulturgeschichte des Altertums - Egon Friedell - E-Book

Kulturgeschichte des Altertums E-Book

Egon Friedell

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Beschreibung

Der "geschichtsschreibende Schauspieler" (so der Verleger Hermann Ullstein über Friedel) schuf in seinem Werk "Kulturgeschichte des Altertums" eines der unterhaltsamsten Geschichtsbücher im deutschsprachigen Raum. Das Buch wurde ein großer Erfolg und (für historische Sachbücher erstaunlich) in mehrere Sprachen übersetzt. In einem minutiös durchtakteten Tagesablauf widmete sich der Autor nach 1920 seinem Opus Magnum "Kulturgeschichte der Neuzeit", das mit "Kulturgeschichte des Altertums" seinen posthum veröffentlichten Nachfolger fand. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1326

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Egon Friedell

Kulturgeschichte des Altertums

Leben und Legende der vorchristlichen Seele

Egon Friedell

Kulturgeschichte des Altertums

Leben und Legende der vorchristlichen Seele

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-954188-47-5

null-papier.de/403

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort

Kul­tur­ge­schich­te Ägyp­tens und des al­ten Ori­ents

Ein­lei­tung – Die Mär der Welt­ge­schich­te

Ers­tes Ka­pi­tel – Das Ge­heim­nis Ägyp­tens

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der Turm von Ba­bel

Drit­tes Ka­pi­tel – Gott und Erde

Vier­tes Ka­pi­tel – Die ver­zau­ber­te In­sel

Kul­tur­ge­schich­te Grie­chen­lands

Ers­tes Ka­pi­tel – Io­ni­scher Früh­ling

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der Welt­tag Athens

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Vorwort

Die­se Kul­tur­ge­schich­te des Al­ter­tums steht zu mei­ner drei­bän­di­gen Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit in kei­ner un­mit­tel­ba­ren Be­zie­hung: sie setzt de­ren Lek­tü­re nir­gends vor­aus, auch nicht an den sel­te­nen Stel­len, wo sie sich auf sie be­ruft; sie will aber auch nicht um­ge­kehrt eine Art nach­träg­li­che Ein­lei­tung zu ihr bil­den; und sie stellt nicht ein­mal ein »Par­al­lel­werk« dar, denn sie ist nach ei­ner an­de­ren Metho­de an­ge­legt und aus­ge­führt. Man kann da­her eben­so­gut die­ses Werk vor je­nem le­sen wie je­nes vor die­sem, aber auch nur die­ses oder nur je­nes und so­gar bei­de ne­ben­ein­an­der; und man kann auch kei­nes von bei­den le­sen.

E. F.

Es ist mein tiefs­ter Glau­be, daß eine jeg­li­che Ar­beit, die das Recht auf die­sen Na­men hat, eine Be­ru­fung vom Sicht­ba­ren auf das Un­sicht­ba­re ist, eine An­ru­fung hö­he­rer Mäch­te. Car­ly­le

Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients

Le­ben und Le­gen­de der vor­christ­li­chen See­le

Einleitung – Die Mär der Weltgeschichte

Ver­sin­ke denn! Ich könnt’ auch sa­gen: stei­ge! ’s ist ei­ner­lei. Ent­flie­he dem Ent­stand­nen In der Ge­bil­de los­ge­bund­ne Rei­che! Er­get­ze dich am längst nicht mehr Vor­hand­nen!

Faust

Die Dissonanz

Durch den don­nern­den Flut­gang der Jahr­tau­sen­de tönt eine Stim­me, trös­tend und war­nend: des Men­schen Reich ist nicht von die­ser Welt. Aber da­ne­ben er­klingt eine brau­sen­de Ge­gen­stim­me: die­se Erde voll Glanz und Fins­ter­nis ge­hört Dir, dem Men­schen; sie ist Dein Werk und Du das ih­ri­ge: ihr kannst Du nicht ent­flie­hen. Und Du dürf­test es auch gar nicht, selbst wenn Du es könn­test! Wie sie ge­schaf­fen ist, furcht­bar und wun­der­bar: Du mußt ihr die Treue hal­ten. Die­se un­auf­ge­lös­te Dis­so­nanz bil­det das The­ma der Welt­ge­schich­te.

Man soll­te nun mei­nen, ja man müß­te ge­ra­de­zu for­dern, daß jeg­li­cher Ge­schichts­be­trach­tung die Deu­tung die­ses rät­sel­haf­ten Wi­der­streits vor­auf­zu­ge­hen habe. Denn sonst ist alle His­to­rie ein ver­schlei­er­ter Schlüs­sel­ro­man. Ehe wir dies nicht er­klärt ha­ben, kön­nen wir ja gar nicht an­fan­gen. Aber wir kön­nen es nicht er­klä­ren! Hier sich Klar­heit oder gar ein Wis­sen ein­täu­schen zu wol­len, wäre eine Art fei­ne­rer Athe­is­mus. In die­sem Di­lem­ma be­steht das We­sen der Ge­schichts­phi­lo­so­phie.

Je­der Mensch, ob er sich des­sen deut­lich be­wußt ist oder nicht, ringt un­auf­hör­lich mit die­ser dun­keln Fra­ge. Sie ist die Wur­zel und Kro­ne al­ler Re­li­gi­on, ja: sie zu stel­len, ist be­reits Re­li­gi­on. Sie ver­wan­delt un­se­re far­ben­mäch­tigs­ten Küns­te und un­se­re frucht­bars­ten Wis­sen­schaf­ten in grau­en Dunst. Sie er­füllt un­se­ren ober­fläch­lichs­ten All­tag mit Tief­gang und nimmt un­se­ren wuch­tigs­ten Ta­ten das Schwer­ge­wicht. Aber nur ein ein­zi­ges Mal im Gan­ge des uns be­kann­ten Welt­ge­sche­hens ist der Ver­such ge­macht wor­den, sie ganz zu Ende zu den­ken und da­durch zu lö­sen; und die­ser ist miß­lun­gen. Er ist miß­lun­gen; aber trotz­dem ver­dient er un­se­re erns­te und nach­denk­li­che Be­trach­tung.

Der unbekannte Gott

Der grie­chi­sche Kunst­schrift­stel­ler Pau­sa­ni­as, der zur Zeit der an­to­ni­ni­schen Kai­ser sei­ne »Run­drei­se«, eine Art Ci­ce­ro­ne durch die hel­le­ni­schen Se­hens­wür­dig­kei­ten, ver­faß­te, be­rich­tet in Über­ein­stim­mung mit an­de­ren Au­to­ren, daß es in Grie­chen­land von al­ters her Al­tä­re ge­ge­ben habe, die »dem so­ge­nann­ten un­be­kann­ten Got­te« ge­weiht wa­ren, dar­un­ter einen ne­ben der Bild­säu­le des Zeus von Olym­pia, dem welt­be­rühm­ten Gol­del­fen­bein­werk des Phi­di­as. Und der Kom­pi­la­tor Dio­ge­nes Laer­ti­us, der etwa ein hal­b­es Jahr­hun­dert spä­ter ge­lebt ha­ben dürf­te, er­zählt in sei­nem Buch über »Le­ben, Leh­ren und Auss­prü­che der be­rühm­ten Den­ker«, ei­nem mehr bel­le­tris­ti­schen als phi­lo­so­phi­schen, aber in den An­ga­ben sehr zu­ver­läs­si­gen Werk, daß so­gar »an­ony­me Al­tä­re« vor­han­den wa­ren, die über­haupt kei­ne Auf­schrift tru­gen. Man ver­si­chert uns zwar, dies sei­en blo­ße Äu­ße­run­gen ei­ner re­li­gio even­tua­lis ge­we­sen, ei­ner Re­li­gi­on für alle Fäl­le, die be­sorg­te, man möge viel­leicht einen Gott über­se­hen ha­ben, der in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten oder nur im Aus­land be­kannt ge­wor­den sei, auch habe es auf je­nen Al­tarauf­schrif­ten nur ganz all­ge­mein ge­hei­ßen: »Den un­be­kann­ten Göt­tern«, und die Be­richt­er­stat­ter hät­ten sich bloß ver­le­sen, aus den an­ony­men Op­fer­stei­nen aber spre­che die Ver­eh­rung ei­ner Art von na­men­lo­sen »Gat­tungs­göt­tern«; in­des, alle die­se spä­ten Kal­kü­le ei­ner eng­brüs­ti­gen Phi­lo­lo­gen­spitz­fin­dig­keit tra­gen, so »be­legt« sie sein mö­gen, den Stem­pel su­per­klu­ger Un­glaub­wür­dig­keit. Viel na­tür­li­cher und mensch­li­cher, grö­ßer und ein­fa­cher wäre es, an­zu­neh­men, schon in den Al­ten habe ein dunkles Ge­fühl da­für ge­lebt, daß der gan­ze Kreis der Olym­pi­schen und selbst der zur »rei­nen Ver­nunft« ge­läu­ter­te Zeus nicht das We­sen der Gott­heit um­span­ne, daß viel­mehr ei­ner noch feh­le, der sich noch nicht geof­fen­bart habe und da­her un­be­kannt sei; und zu­gleich na­men­los, da er über al­len Na­men sei.

An ein sol­ches Hei­lig­tum, das in Athen dem un­be­kann­ten Got­te ge­weiht war, knüpft die Pre­digt an, die der hei­li­ge Pau­lus auf dem Areo­pag hielt. Er sag­te: »Ihr Män­ner von Athen! Ich ver­kün­di­ge euch eben die­sen Gott, den ihr bis­her, ohne um ihn zu wis­sen, ver­ehrt habt. Denn er ist ja nicht fern von ei­nem jeg­li­chen un­ter uns: in ihm le­ben, we­ben und sind wir.«

Das Licht der Gnosis

Je­nes »Wis­sen um Gott« war auch das Ziel der gno­s­ti­schen Be­we­gung, de­ren Blü­te­zeit in die ers­te Hälf­te des zwei­ten nach­christ­li­chen Jahr­hun­derts fällt. Gno­sis ist Ein­ge­weiht­sein in die Mys­te­ri­en des Him­mels und der Erde, der Na­tur und der Ge­schich­te, aber nicht durch Spe­ku­la­ti­on oder Em­pi­rie, son­dern durch Of­fen­ba­rung; sie ist ma­the­sis, hö­he­re Er­kennt­nis, gno­sis so­te­rias, Wis­sen des hei­li­gen We­ges. Sie ist das »Licht«, ein er­leuch­te­tes Schau­en, eine in­ne­re Er­fah­rung, man könn­te auch sa­gen: Er­fas­sen durch In­tui­ti­on, wenn die­ser Be­griff durch sei­ne heu­ti­ge An­wen­dung auf das Schaf­fen des Künst­lers und For­schers nicht schon zu sehr ra­tio­na­li­siert wäre. Die­se höchst sug­ge­s­ti­ve Ge­heim­leh­re, bil­der­wü­tig und ora­kel­süch­tig, ver­wirrt durch my­sti­fi­zie­ren­den For­mel­spuk, bar­ba­ri­sche Kult­sym­bo­le, aben­teu­er­li­che Al­le­go­rik, ne­bu­lo­se Weltent­ste­hungs­leh­ren, schwank­te zwi­schen Hei­den­chris­ten­tum und neu­pla­to­ni­scher Phi­lo­so­phie, sub­li­mem Spi­ri­tua­lis­mus und mas­si­vem Zau­ber­glau­ben, Ek­sta­se und Be­griffs­s­pal­te­rei un­ent­schlos­sen hin und her und war auch in der Le­ben­spra­xis halb As­ke­se, halb Li­ber­ti­nis­mus, da bei­des sich als eine Kon­se­quenz aus der grund­sätz­li­chen Ver­ach­tung der Sin­nen­welt recht­fer­ti­gen ließ. Denn das Herz­stück al­ler Gno­sis ist das Wis­sen des Geis­tes um sei­ne Be­frei­ung vom Er­den­rest, die Erin­ne­rung der See­le an ih­ren gött­li­chen Ur­sprung. Die vier Grund­kräf­te, die im Kos­mos wal­ten, sind die Ma­te­rie, die See­le, der Lo­gos und der Geist. Nach ih­nen ord­net sich die Hier­ar­chie der We­sen: zu­un­terst ste­hen die Ge­stei­ne, die bloß Ma­te­rie sind; auf sie fol­gen die Pflan­zen, die eine Er­näh­rungs­see­le, und die Tie­re, die eine Sin­nen­see­le be­sit­zen; über sie er­hebt sich der Mensch, be­gabt mit der Kraft des Lo­gos, der Ver­nunft, und be­fä­higt zum Geist zu ge­lan­gen, des­sen Stu­fen durch eine im­mer hö­her stei­gen­de Schar im­ma­te­ri­el­ler Po­ten­zen re­prä­sen­tiert wer­den und vor dem Thro­ne Got­tes en­di­gen. Auf die­ser Lei­ter ent­spricht die See­le etwa dem Ner­ven­le­ben, der Lo­gos den ra­tio­na­len Fä­hig­kei­ten, der Geist aber, das Pneu­ma, ei­nem Ver­mö­gen, das nicht von die­ser Welt ist. Dement­spre­chend glie­dert sich auch die Rang­ord­nung der Men­schen in die Sarki­ker, die bloß dem Fleisch le­ben, die Psy­chi­ker und die Pneu­ma­ti­ker. Rei­ner Geist und Gott sind das­sel­be; aber, sagt der be­rühm­te Ba­si­li­des, der Haupt­ver­tre­ter der so­ge­nann­ten ägyp­ti­schen Gno­sis, al­les Po­si­ti­ve und al­les Ne­ga­ti­ve, das man von Gott aus­sa­gen kön­ne, habe nur den Wert ei­nes Zei­chens.

Dem über al­les Den­ken er­ha­be­nen gött­li­chen Ur­we­sen, dem »Unaus­sprech­ba­ren, Un­nenn­ba­ren, mit Schwei­gen An­ge­ru­fe­nen« völ­lig ent­ge­gen­ge­setzt ist die Ma­te­rie, der Grund al­les Bö­sen, aber zu­gleich das Nicht­sei­en­de. Sie ist das Werk des Bild­ners oder De­mi­ur­gen, ei­nes von der Gott­heit ge­dul­de­ten un­ter­ge­ord­ne­ten Geis­tes, ei­nes bö­sen, aber reui­gen We­sens. Die Welt ist also eine Art Ge­gen­schöp­fung und zu­gleich eine Schein­schöp­fung. Dies er­kannt zu ha­ben, ist iden­tisch mit der Rück­kehr zu Gott. Die­ses Wis­sen be­reits er­löst; aber nur die­ses Wis­sen. Ohne Gno­sis ist der Mensch ver­dammt. Die Gott­heit, un­ge­wor­den, un­sicht­bar, un­faß­bar, wie sie ist, war auch dem De­mi­ur­gen un­be­kannt; aber sie hat sich Chris­tus of­fen­bart und durch ihn al­len, die der Gna­de der Gno­sis teil­haf­tig ge­wor­den sind. Nach der Auf­fas­sung des sy­ri­schen Gno­s­ti­kers Sa­tur­ni­lus ist der Welt­schöp­fer ei­ner der En­gel Got­tes; aber, fügt Va­len­ti­nus hin­zu, der Stif­ter ei­ner der an­ge­se­hens­ten gno­s­ti­schen Sek­ten, der Mensch ist mehr als die En­gel, die ihn schu­fen. Zwar herrscht auch im Reich der See­le der De­mi­urg: sie ist, wie Va­len­ti­nus es sehr an­schau­lich aus­drückt, eine schmut­zi­ge Knei­pe, in der die Dä­mo­nen aus- und ein­ge­hen. Aber der Mensch trägt in sich einen Fun­ken des gött­li­chen Lichts, er ist »groß und elend«. Es ist die­sel­be For­mel, zu der an­dert­halb Jahr­tau­sen­de spä­ter der größ­te Christ der gal­li­schen Ras­se, Blai­se Pas­cal, ge­lang­te: »Al­les Elend des Men­schen er­weist sei­ne Grö­ße. Es ist das Elend ei­nes großen Herrn, das Elend ei­nes ent­thron­ten Kö­nigs.«

Der größte Ketzer

In­des hat es die gan­ze gno­s­ti­sche Be­we­gung nir­gends zu mehr ge­bracht als zu ver­streu­ten un­ter­ir­di­schen Ge­dan­ken­kei­men, hal­b­en Ah­nun­gen und wi­der­strei­ten­den Aperçus. Zu Licht und Frucht sind sie erst im Geis­te Mar­ci­ons ge­langt, ei­nes re­li­gi­ösen Ge­nies von groß­ar­ti­ger Ein­fach­heit, pro­fun­der Fröm­mig­keit und ra­san­ter Denk­schär­fe, der aber seit vie­len Jahr­hun­der­ten für die Nach­welt kaum einen Na­men be­deu­tet. Mar­ci­on ist für das re­li­gi­öse Be­wußt­sein der Ge­gen­wart ver­schol­len. Für die meis­ten His­to­ri­ker der christ­li­chen Kir­che ist er »ein Gno­s­ti­ker«. Er war aber we­der die­ses, viel­mehr ein ab­ge­sag­ter Geg­ner der gno­s­ti­schen Sek­ten: ih­res bunt­ge­wür­fel­ten Syn­kre­tis­mus, ih­rer ge­heim­nis­krä­me­ri­schen Eso­te­rik, ih­rer ge­walt­tä­ti­gen al­le­go­ri­schen Metho­den, noch war er über­haupt ei­ner un­ter an­de­ren, son­dern eine ein­ma­li­ge Er­schei­nung von un­wie­der­hol­ba­rer Präg­nanz, die hart bis an die Gren­ze der Bi­zar­re­rie und Mo­no­ma­nie streift. Alle Mys­te­ri­en­weis­heit, ja alle Phi­lo­so­phie gilt ihm als »lee­rer Be­trug«, und er ver­hält sich zu den Gno­s­ti­kern ähn­lich wie So­kra­tes zu den So­phis­ten, dem ja auch das pa­ra­do­xe Schick­sal wi­der­fuhr, daß er von sei­nen Zeit­ge­nos­sen ge­ra­de je­ner Schu­le zu­ge­rech­net wur­de, die er sein Le­ben lang aufs hef­tigs­te be­kämpf­te. Er war, um es mit ei­nem Wor­te zu sa­gen, der größ­te Ket­zer, der je­mals aus dem Chris­ten­tum her­vor­ge­gan­gen ist. Adolf von Har­nack er­klärt, kei­ne zwei­te re­li­gi­öse Per­sön­lich­keit nach Pau­lus und vor Au­gus­tin kön­ne an Be­deu­tung mit Mar­ci­on ri­va­li­sie­ren, und in der Tat be­zeich­nen die­se drei die ge­wich­tigs­ten Mark­stei­ne in der Ent­wick­lung der ka­tho­li­schen Kir­che: der größ­te Apos­tel, der größ­te Kir­chen­va­ter und der größ­te Hä­re­ti­ker. Bei Po­ly­karp heißt er der Erst­ge­bo­re­ne des Sa­t­ans, bei Ter­tul­li­an »an­ti­chris­tus Mar­cion«, Ori­ge­nes hin­ge­gen rühmt ihm feu­ri­gen Geist und gött­li­che Ga­ben nach, ohne die er eine sol­che Hä­re­sie nie hät­te stif­ten kön­nen, und Cle­mens Alex­an­dri­nus nennt ihn einen Gi­gan­ten und Theo­ma­chen.

Er wur­de um das Jahr 85 in Si­no­pe am Pon­tus ge­bo­ren, als Sohn des dor­ti­gen Bi­schofs, der ihn we­gen der Irr­leh­ren, mit de­nen er schon früh her­vor­trat, selbst ex­kom­mu­ni­zier­te: ein Geist von die­sem dia­man­te­nen Ernst und Dio­ge­nes, der Buf­fo der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie, in dem die­se wie in ei­nem Sa­tyr­spiel sich selbst den Epi­log spricht, wa­ren Söh­ne der­sel­ben Stadt. Mar­ci­on be­gab sich zu­nächst nach Klein­asi­en, wo sei­ne Dok­trin zu­rück­ge­wie­sen wur­de; das­sel­be wi­der­fuhr ihm in Rom: die dor­ti­ge Ge­mein­de ver­damm­te sei­ne The­sen und schloß ihn aus. Da­mals war Mar­ci­on schon fast sech­zig Jah­re alt; der Tag sei­nes Bruchs mit Rom wur­de von der mar­cio­ni­ti­schen Kir­che als Stif­tungs­fest ge­fei­ert, ähn­lich wie der Wit­ten­ber­ger The­sen­an­schlag von der lu­the­ri­schen; er fiel in den Juli des Jah­res 144. Ort und Zeit sei­nes To­des sind un­be­kannt.

Die Marcioniten

Die Mar­cio­ni­ten wa­ren nicht etwa eine Sek­te wie die Mon­ta­nis­ten, die Ba­si­li­dia­ner, die Va­len­ti­nia­ner und zahl­rei­che an­de­re, son­dern eine mäch­ti­ge Ge­gen­kir­che, die im zwei­ten Jahr­hun­dert mit der wer­den­den ka­tho­li­schen Kir­che um die Vor­herr­schaft rang. Sie ver­ehr­ten Mar­ci­on als ih­ren Stif­ter: sein Haupt­werk, die An­ti­the­sen, stand in ih­rem Ka­non, galt also als eine Art hei­li­ge Schrift; sie sa­hen im Him­mel zur Rech­ten des thro­nen­den Hei­lands Pau­lus sit­zen, zur Lin­ken Mar­ci­on. Er selbst aber hat sich nie­mals für et­was an­de­res ge­hal­ten als für einen ge­treu­en Ver­kün­der des Evan­ge­li­ums und den wah­ren oder viel­leicht auch: ein­zi­gen Schü­ler des Pau­lus. Sein Zeit­ge­nos­se Jus­ti­nus be­zeugt be­reits: »Sein Evan­ge­li­um er­streckt sich über das gan­ze Men­schen­ge­schlecht«, und etwa ein hal­b­es Jahr­hun­dert spä­ter ver­si­chert Ter­tul­li­an: »Mar­ci­ons hä­re­ti­sche Tra­di­ti­on hat die gan­ze Welt er­füllt.« Kom­pak­te Mar­cio­ni­ten­ge­mein­den fan­den sich um jene Zeit in ganz Klein­asi­en und Sy­ri­en, auf Kre­ta und Zy­pern, in den Welt­städ­ten Rom und Alex­an­dria; ihr Aus­brei­tungs­ra­di­us reich­te von Per­si­en bis Lyon. Noch im vier­ten Jahr­hun­dert hielt man es in ein­zel­nen asia­ti­schen Ge­mein­den für not­wen­dig, in das Glau­bens­be­kennt­nis einen Pas­sus ein­zu­fü­gen, der sich ge­gen den Mar­cio­ni­tis­mus rich­te­te; letz­te Res­te sei­ner An­hän­ger gab es im Ori­ent noch im zehn­ten Jahr­hun­dert. Au­gust Ne­an­der, ei­ner der feins­ten Kir­chen­his­to­ri­ker des Vor­märz, hat Mar­ci­on den ers­ten Pro­tes­tan­ten ge­nannt. Woll­te man die­se Auf­fas­sung gel­ten las­sen, so wäre der Pro­tes­tan­tis­mus äl­ter als der Ka­tho­li­zis­mus; je­den­falls aber hat es sich um ein ge­wal­ti­ges Schis­ma ge­han­delt, das an Be­deu­tung hin­ter der Re­for­ma­ti­on nicht zu­rück­steht, nur hat es das um­ge­kehr­te Schick­sal er­lit­ten: es ist von der ka­tho­li­schen Kir­che auf­ge­so­gen wor­den und in die­ser Form auf­be­wahrt ge­blie­ben. Man kann da­her sa­gen: der Mar­cio­ni­tis­mus hat sich be­haup­tet, so gut wie der Pro­tes­tan­tis­mus, nur in der Ge­gen­re­for­ma­tion, etwa wie wenn eine Er­neue­rung der rö­mi­schen Kir­che sei­ner­zeit das Luther­tum, he­ge­lia­nisch ge­spro­chen, »auf­ge­ho­ben«, näm­lich zu­gleich ne­giert und kon­ser­viert hät­te. Der Ka­tho­li­zis­mus hat vie­les, das da­durch an­onym wei­ter­leb­te, von Mar­ci­on über­nom­men, nur ge­ra­de den Wur­zel­ge­dan­ken sei­ner Leh­re nicht, der auch in der Tat, wie wir bald se­hen wer­den, für die Kir­che un­an­nehm­bar war.

Die Verschwörung

Wir kön­nen uns den Ge­dan­ken­gang, durch den Mar­ci­on zu sei­ner Dok­trin ge­lang­te, noch heu­te ohne jede Mühe und Ge­walt­sam­keit nach­kon­stru­ie­ren. Die ein­zi­ge hei­li­ge Schrift, die die Urchris­ten be­sa­ßen, war das Alte Te­sta­ment. In­dem er nun des­sen Bü­cher als from­mer Christ las, kam ihm ei­nes Ta­ges die Er­leuch­tung: Chris­tus ist gar nicht der dort ver­kün­de­te Mes­si­as, Chris­tus ist ein ganz an­de­rer! Da­her sind die Ju­den voll­kom­men im Recht, wenn sie den Mes­si­as noch er­war­ten; Je­sus aber, des­sen Name nir­gends im Al­ten Te­sta­ment er­wähnt wird, hat das Ge­setz nicht er­füllt, son­dern auf­ge­löst. Sein gan­zes Le­ben war ein Kampf ge­gen das Ge­setz und sei­ne Leh­rer. Er hat mit dem Al­ten Te­sta­ment völ­lig ge­bro­chen, das Band zer­ris­sen, sich von Mose in al­lem ge­schie­den und deut­lich da­vor ge­warnt, einen neu­en Lap­pen auf ein al­tes Kleid zu fli­cken, neu­en Wein in alte Schläu­che zu gie­ßen. Nur durch die al­le­go­ri­sche Er­klä­rung ge­wis­ser Bi­bel­stel­len kann über­haupt das Weis­sa­gungs­prin­zip auf­recht­er­hal­ten wer­den; im Al­ten Te­sta­ment darf aber nichts al­le­go­risch, muß al­les wört­lich und buch­stäb­lich aus­ge­legt wer­den. Dem­nach ist Chris­tus nir­gends ge­weis­sagt, er ist un­er­war­tet und plötz­lich er­schie­nen: der Sohn Got­tes braucht kei­ne Pro­phe­ten, die ihn »be­zeu­gen«; sei­ne Zeu­gen sind sei­ne Hei­lands­wor­te und sei­ne Wun­der­ta­ten. Man wird bei die­ser De­duk­ti­on Mar­ci­ons an einen Auss­pruch La­gar­des er­in­nert, ei­nes der we­ni­gen Men­schen des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, in de­nen der echt pro­tes­tan­ti­sche Geist des Pro­tes­tie­rens noch ein­mal Fleisch ge­wor­den ist: »Es gibt ja noch Leu­te ge­nug, wel­che das Ver­hält­nis des Al­ten und Neu­en Te­sta­ments als das von Weis­sa­gung und Er­fül­lung an­se­hen, wäh­rend in Wirk­lich­keit nie eine Weis­sa­gung er­füllt ist. Er­füllt in dem ge­mei­nen Ver­stand des Worts wer­den nur Wahr­sa­gun­gen, und auf Wahr­sa­gun­gen läßt sich eine Re­li­gi­on nie­mals ein.«

Wie aber konn­te die­se ein­fa­che und fast selbst­ver­ständ­li­che Wahr­heit den Christ­gläu­bi­gen so lan­ge ver­bor­gen blei­ben? Dies ver­moch­te sich Mar­ci­on nur da­durch zu er­klä­ren, daß so­gleich nach der Ent­rückung des Hei­lands eine un­ge­heu­re Ver­schwö­rung ein­setz­te und ihr fins­te­res Werk ver­rich­te­te. Die­ses be­stand in ei­ner sys­te­ma­ti­schen Ver­fäl­schung der Bot­schaft, die der Hei­land in die Welt ge­bracht hat­te. Nur ein Chris­ten­tum, das von al­len ju­dais­ti­schen Ele­men­ten völ­lig rein ist, kann als wah­res Chris­ten­tum gel­ten. Die vier Evan­ge­li­en ent­hal­ten aber sol­che Be­stand­tei­le, also sind sie alle vier falsch. Pau­lus spricht im­mer nur von ei­nem Evan­ge­li­um, wel­ches das Evan­ge­li­um ist: also kann es nicht vier ge­ben; ei­nes aber muß es wie­der­um ge­ben, folg­lich ist ei­nes von den vie­ren bloß ver­fälscht. Die Wahl Mar­ci­ons fiel auf Lu­kas, der in der Tat von al­len Evan­ge­lis­ten am meis­ten Hei­den­christ ist. Alle zwölf Apos­tel ha­ben den Hei­land nicht ver­stan­den; dar­um muß­te die­ser sich in Pau­lus einen neu­en Apos­tel er­we­cken, der die wah­re Leh­re ver­kün­dig­te. Wie ein ein­zi­ges Evan­ge­li­um, so gibt es auch nur ei­nen Apos­tel; aber auch des­sen Brie­fe ent­hal­ten viel Ju­dais­ti­sches. Also sind auch sie falsch oder viel­mehr, wie Lu­kas, ver­fälscht. Von die­sen Über­zeu­gun­gen aus­ge­hend, un­ter­nahm es Mar­ci­on, den Chris­ten eine hei­li­ge Schrift zu schaf­fen, be­ste­hend aus dem Evan­ge­li­um des Lu­kas und zehn Pau­lus­brie­fen, wo­bei er aber in al­ler Nai­vi­tät selbst eine ge­wal­ti­ge Fäl­schung be­ging, in­dem er durch Kür­zun­gen, die zum Teil sehr be­trächt­lich, und Zu­sät­ze, die al­ler­dings meist nur ge­ring­fü­gig wa­ren, einen »ge­rei­nig­ten« Text her­stell­te. And­rer­seits ist es aber höchst merk­wür­dig, daß er dem Al­ten Te­sta­ment, das er völ­lig ver­warf, kein der­ar­ti­ges Miß­trau­en ent­ge­gen­brach­te; er er­ach­te­te es für ein durch­aus zu­ver­läs­si­ges Ge­schichts­werk und hat kei­ne Zei­le dar­in re­di­giert.

Das Neue Testament

In­des durch die­ses son­der­ba­re Ver­fah­ren, das sich nur aus dem ge­rin­gen Verant­wor­tungs­ge­fühl er­klä­ren läßt, das die An­ti­ke dem ge­schrie­be­nen Wort ent­ge­gen­brach­te, ist Mar­ci­on der Schöp­fer des Neu­en Te­sta­ments ge­wor­den. Vor Mar­ci­on gal­ten die Evan­ge­li­en we­der als hei­li­ge Schrift noch be­fan­den sie sich im Be­sitz sämt­li­cher Ge­mein­den; und Pau­lus wur­de den Urapo­steln kei­nes­wegs im Ran­ge gleich­ge­stellt, da er nicht den Um­gang des Herrn ge­nos­sen hat­te. Noch um 160 ver­wei­ger­ten die »Alo­ger«, die so ge­nannt wur­den, weil sie die Glei­chung Je­sus = Lo­gos nicht bil­lig­ten, dem Jo­han­nes­evan­ge­li­um, das die­se Leh­re ver­tritt, ihre Aner­ken­nung; und and­rer­seits stand das »Ägyp­te­revan­ge­li­um«, dem spä­ter die Ka­no­ni­sie­rung ver­sagt wur­de, noch viel­fach in Ge­brauch. Auch war der Text noch kei­nes­wegs in dem Maße fi­xiert, wie dies beim Al­ten Te­sta­ment der Fall war. Hie­rin be­stand die große theo­lo­gi­sche Tat Mar­ci­ons: er setz­te Ur­kun­de ge­gen Ur­kun­de, Schrift ge­gen Schrift, Evan­ge­li­um ge­gen Ge­setz, Apo­sto­lat ge­gen Pro­phe­tie. Erst durch Mar­ci­on ist die wer­den­de ka­tho­li­sche Kir­che dazu ge­führt wor­den, das­sel­be zu tun und ih­ren ei­ge­nen neu­tes­ta­ment­li­chen Ka­non dem mar­cio­ni­ti­schen ge­gen­über­zu­stel­len. Pau­lus zi­tiert im­mer nur aus dem Al­ten Te­sta­ment; an­de­re schrift­li­che Au­to­ri­tä­ten kennt er nicht. Erst um 200, als Mar­ci­on si­cher schon tot war, be­sa­ßen die großen Kir­chen des Wes­tens ein »Neu­es Te­sta­ment«: vier Evan­ge­li­en und drei­zehn Pau­lus­brie­fe, dazu die Apos­tel­ge­schich­te, die als Bin­de­glied ein­ge­scho­ben wur­de, und die Apo­ka­lyp­se Jo­han­nis, die aber hun­dert Jah­re spä­ter von den meis­ten Grie­chen wie­der auf­ge­ge­ben wur­de. Die sy­ri­sche Kir­che hielt an ei­nem ein­zi­gen Evan­ge­li­um fest, dem »Dia­tessa­ron«, das Ta­ti­an, al­ler­dings ei­ner an­de­ren Metho­de fol­gend als Mar­ci­on, aus den vier ka­no­ni­schen Evan­ge­li­en kom­po­niert hat­te. Aber erst im Jahr 367 pro­kla­mier­te Atha­na­si­us den Ka­non von sie­ben­und­zwan­zig Bü­chern, den wir heu­te be­sit­zen, in­dem er die sie­ben »ka­tho­li­schen« Brie­fe (zwei von Pe­trus, drei von Jo­han­nes, je einen von Ja­ko­bus und Ju­das) hin­zu­füg­te und den lan­ge um­strit­te­nen He­brä­er­brief dem Pau­lus zu­er­kann­te. Die Kir­che hat, in der Weit­her­zig­keit ih­rer Aus­wahl viel we­ni­ger dog­ma­tisch als der Ket­zer Mar­ci­on, einen be­wun­de­rungs­wür­di­gen Takt be­kun­det, in­dem sie, vor Wi­der­sprü­chen der Über­lie­fe­rung nicht zu­rück­schre­ckend, das ur­christ­li­che Le­ben in sei­ner gan­zen Gna­de und Fül­le durch die Zei­ten ge­ret­tet hat.

Der gute Fremde

Wenn aber Chris­tus nicht der Mes­si­as war, was war er? Der Sohn Got­tes! Aber wel­ches Got­tes? Doch nicht des alt­tes­ta­ment­li­chen, des­sen Ge­setz er zer­stört hat? Hier er­hebt sich das un­ge­heu­re Pro­blem, dem Mar­ci­on mit der größ­ten Kühn­heit ins Auge ge­blickt hat. Er ent­schloß sich, nicht nur Al­tes und Neu­es Te­sta­ment, son­dern auch den Gott Mo­sis und den Gott Chris­ti völ­lig von­ein­an­der zu tren­nen. Die­ser Schei­dung und Ge­gen­über­stel­lung diente eben sein Werk An­ti­the­sen, worin in streng zwei­glied­ri­ger An­ord­nung die bei­den Wel­ten mit­ein­an­der kon­fron­tiert wur­den. So sagt zum Bei­spiel der Ju­den­gott zu Mose beim Aus­zug aus Ägyp­ten: seid be­reit, be­schuht, die Stä­be in den Hän­den, die Sä­cke auf den Schul­tern, und tra­get al­les Gold und Sil­ber mit euch da­von; der Herr aber sprach zu sei­nen Jün­gern bei ih­rer Aus­sen­dung in die Welt: habt kei­ne Schu­he an den Fü­ßen, kei­nen Sack auf dem Rücken, kein Geld in den Gür­teln! Jo­sua hat mit Ge­walt und Grau­sam­keit das Land er­obert, Chris­tus ver­bie­tet alle Ge­walt und pre­digt Barm­her­zig­keit und Frie­den. Im Ge­setz heißt es: Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, im Evan­ge­li­um: wenn dich je­mand auf die eine Ba­cke schlägt, so bie­te ihm auch die an­de­re dar. Der Gott des Al­ten Te­sta­ments ver­langt Ge­hor­sam und rich­tet die Un­ge­hor­sa­men, der Gott Jesu ver­langt nur Glau­ben und straft die Sün­der nicht. Der alte Gott war schon Adam und al­len fol­gen­den Ge­schlech­tern be­kannt, der Va­ter Chris­ti war un­be­kannt, wie Chris­tus selbst be­zeugt hat: nie­mand hat den Va­ter er­kannt au­ßer der Sohn. Und als Pe­trus in Cäsa­rea das große Be­kennt­nis zur Got­tes­sohn­schaft sei­nes Meis­ters ab­leg­te, muß­te die­ser ihm Schwei­gen auf­er­le­gen, denn Pe­trus hielt ihn fälsch­lich für den Sohn des an­de­ren Got­tes.

Wie ver­hält sich nun nach Mar­ci­ons Kon­zept der be­kann­te, wie der un­be­kann­te Gott zur Welt und zum Men­schen? Der Be­kann­te hat die Welt ge­schaf­fen: er ist der De­mi­urg; der Un­be­kann­te hat bloß sei­nen Sohn ge­sandt. Er ist au­ßer der Welt, ein hy­per­kos­mi­sches We­sen, die Welt geht ihn nichts an. Er ist der »Frem­de«, der »gute Frem­de«: in al­len mar­cio­ni­ti­schen Ge­mein­den und al­len Spra­chen, de­ren sie sich be­dien­ten, war dies die Be­zeich­nung für die Gott­heit. Das Evan­ge­li­um ist die fro­he Bot­schaft vom frem­den Gott: Un­ser Raum ist die Welt, die grau­en­vol­le Welt des Schöp­fer­got­tes, der gute Gott aber winkt uns in eine se­li­ge Fer­ne. Wir le­ben auf der Erde nicht etwa im Exil: Sie ist un­se­re Hei­mat, und wir kön­nen ihr nur ent­rin­nen, wenn wir uns von ih­rem und un­se­rem Schöp­fer los­sa­gen. Dies ist die groß­ar­tigs­te Leug­nung der Ma­te­rie, die viel­leicht je­mals durch ei­nes Men­schen Haupt ge­gan­gen.

Der frem­de Gott ist rei­ne Güte und nichts als Güte; kei­ne an­de­ren Ei­gen­schaf­ten kön­nen von ihm aus­ge­sagt wer­den. Sein gan­zes We­sen er­schöpft sich in er­bar­men­der Lie­be, sei­ne Wirk­sam­keit in Selb­stof­fen­ba­rung, die iden­tisch ist mit Er­lö­sung. Eben weil die­ser Gott ganz Lie­be ist, hat er sich aus pu­rer Gna­de ei­nes Ge­bil­des an­ge­nom­men, das ihm völ­lig fremd ist: Er ist die un­be­greif­li­che Lie­be. Und eben weil er ganz und gar nicht von die­ser Welt, nicht ein­mal als ihr Schöp­fer mit ihr ver­bun­den ist, ver­mag er die Men­schen über die Welt zu er­he­ben. Dies ist das un­faß­li­che Mi­ra­kel der christ­li­chen Heils­bot­schaft. »O Wun­der über Wun­der, Ver­zückung, Macht und Stau­nen, daß man gar nichts über das Evan­ge­li­um sa­gen, nichts dar­über den­ken, es mit nichts ver­glei­chen kann«: So lau­te­ten die ers­ten Wor­te der An­ti­the­sen.

Be­trach­ten wir es recht, so ist je­ner ge­heim­nis­vol­le Frem­de nie­mand an­ders als der »lie­be Gott«, zu dem noch heu­te je­des klei­ne Kind be­tet. Denn die Me­ta­phy­si­ker­fra­ge, ob Gott die Welt »ge­schaf­fen« habe, be­küm­mert eine rei­ne und ur­sprüng­li­che Fröm­mig­keit nicht; ihr ge­nügt, daß er ist.

Der gerechte Demiurg

Wel­che Ei­gen­schaf­ten aber be­sitzt der De­mi­urg? Er ist, sagt Mar­ci­on, we­der αγαϑός noch κακός, we­der gut noch böse, son­dern δίκαιοςκαὶπονηρός, ge­recht und schlimm, nicht ma­lus, aber con­di­tor ma­lo­rum, Ur­he­ber der Übel: ein Gott, der sei­ne Sa­che schlecht ge­macht hat. Er sand­te die Sint­flut, den Brand So­doms, die ägyp­ti­schen Pla­gen, er be­straft die Vä­ter an den Kin­dern und be­güns­tigt sünd­haf­te Men­schen: den ehe­bre­che­ri­schen Da­vid, den un­züch­ti­gen Sa­lo­mo, den be­trü­ge­ri­schen Ja­kob. Das ver­nich­tends­te Ar­gu­ment ge­gen ihn aber ist die Welt selbst, sei­ne gan­ze Schöp­fung. Und es reut ihn auch, daß er sie ge­macht hat. Daß aber in ei­ner sol­chen Welt für den Men­schen die As­ke­se das ein­zig mög­li­che Ver­hal­ten ist, er­gibt sich von selbst. Und auch hier ist Mar­ci­on bis ans Ende ge­gan­gen: Er ge­bot nicht nur größ­te Ent­halt­sam­keit in Spei­se und Trank (die Er­näh­rung, sagt Ter­tul­li­an, hal­ten die Mar­cio­ni­ten ge­wis­ser­ma­ßen für et­was Ent­eh­ren­des), son­dern un­ter­sag­te auch sei­nen Gläu­bi­gen jeg­li­chen Ge­schlechts­ver­kehr und tauf­te nur Ehe­lo­se oder die Ver­ehe­lich­ten, die Keusch­heit ge­lob­ten; denn wer sich fort­pflanzt, hilft die Welt des De­mi­ur­gen ver­ewi­gen, und weil wir Söh­ne des Höchs­ten ge­wor­den sind, soll die leib­li­che Sohn­schaft auf­hö­ren.

Der De­mi­urg ist nicht etwa der Wi­der­sa­cher des frem­den Got­tes: dies kann er schon des­halb nicht sein, weil er ihn ja gar nicht kennt, und sei­ne Welt ist auch kei­nes­wegs teuf­lisch, viel mehr so gut, wie sie eben, aus Ma­te­rie ge­macht, sein kann. Er ist nicht das Prin­zip des schlecht­hin Bö­sen wie Sa­tan oder Ahri­man oder wie »Mâra, der Ver­su­cher« in der bud­dhis­ti­schen Re­li­gi­on. Aber was ist er? Hier ge­langt Mar­ci­on zu ei­nem der zar­tes­ten und er­ha­bens­ten Ge­dan­ken, die je ein Mensch ge­dacht hat: der Schöp­fer der Welt ist ge­recht! Des­halb ist er nicht böse; aber des­halb ist er auch nicht gut. Des­halb konn­te er nur die »schlim­me Welt« schaf­fen, in der al­les ge­recht zu­geht, aber nicht gut, in der ge­rich­tet wird, aber nicht ge­hei­ligt, in der die Ra­che herrscht, aber nicht die Gna­de. Chris­tus aber, der Sohn des frem­den Got­tes, hat die Lie­be ge­bracht, die von der Welt er­löst, von al­lem in die­ser Welt, auch von ih­rer Ge­rech­tig­keit. So­gar in die Un­ter­welt ist er hin­ab­ge­stie­gen und hat alle Ver­wor­fe­nen be­freit: den bö­sen Pha­rao, die So­do­mi­ter, alle Hei­den, selbst Kain. Nur Abel, He­noch, Mose, alle Pa­tri­ar­chen und Pro­phe­ten konn­ten nicht ge­ret­tet wer­den. Denn sie glaub­ten an den Schöp­fer­gott und sei­ne Welt der Ge­rech­tig­keit. Nur der Sün­der kann er­löst wer­den, denn er ver­mag die grund­lo­se Gna­de und ufer­lo­se Lie­be des frem­den Got­tes zu er­ken­nen, der Ge­rech­te aber nicht, denn er ist im Ge­setz ver­här­tet, in Ge­set­ze­streue und Ge­set­zess­tolz blind für das Licht aus der Frem­de.

Messias

Ver­su­chen wir uns das theo­lo­gi­sche Sys­tem Mar­ci­ons in großen Zü­gen zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, so sprin­gen als sei­ne re­for­ma­to­ri­schen Haupt­ge­dan­ken ins Auge: die Leug­nung der Mes­sia­ni­tät Jesu, die Aus­schei­dung des Al­ten Te­sta­ments aus dem christ­li­chen Ka­non und der Dua­lis­mus des frem­den Got­tes und des Schöp­fer­got­tes. Daß Chris­tus nicht der jü­di­sche Mes­si­as war, kann wohl von kei­ner vor­ur­teils­lo­sen Be­trach­tung ge­leug­net wer­den. Ur­sprüng­lich ist der Mes­si­as be­kannt­lich ein welt­li­cher Na­tio­nal­he­ros, aber auch in der ge­läu­ter­ten Auf­fas­sung des spä­te­ren Ju­den­tums ist er nie­mals der lei­den­de Mes­si­as, der die Schuld der gan­zen Mensch­heit sühnt. In kei­nem ein­zi­gen der Zu­kunfts­bil­der, so­sehr sie sich im Lau­fe der vie­len Jahr­hun­der­te ge­wan­delt ha­ben, ist von sei­nem Op­fer­to­de die Rede. Die be­rühm­te Stel­le aus Deu­tero­je­sa­ja, die ein­zi­ge, die so ge­deu­tet wer­den könn­te, ver­steht un­ter dem »lei­den­den Got­tes­knecht« ein Kol­lek­ti­vum und ist über­haupt nicht Weis­sa­gung, son­dern Rück­blick. Ist aber der Hei­land nir­gends im Al­ten Bun­de ver­kün­digt, wel­che Be­zie­hung be­steht dann zwi­schen den bei­den Tei­len der Bi­bel? Nach Mar­ci­on ver­hal­ten sie sich wie po­la­re Ge­gen­sät­ze, nach der Auf­fas­sung der Kir­che wie Stu­fen: das Alte Te­sta­ment ist le­gis­da­tio in ser­vi­tu­tem, das Neue Te­sta­ment le­gis­da­tio in li­ber­ta­tem. Aber ist das Ju­den­tum wirk­lich eine Art Vor­hal­le des Chris­ten­tums? Wenn man will, ist al­les Vor­hal­le, und eine im vo­ri­gen Jahr­hun­dert sehr be­lieb­te, heu­te glück­li­cher­wei­se schon im Ver­schwin­den be­grif­fe­ne Ge­schichts­me­tho­de pfleg­te je­des his­to­ri­sche Phä­no­men mo­sa­ik­ar­tig aus »vor­be­rei­ten­den Mo­men­ten« auf­zu­bau­en. Dann frei­lich sind nicht bloß Mose und Da­niel, son­dern auch Pla­to und Phi­lo, Bud­dha und Za­ra­thustra Vor­läu­fer des Chris­ten­tums. Aber das Chris­ten­tum hat kei­nen »Un­ter­bau«! Eben weil Mar­ci­on das schlecht­hin Neue, Wel­tum­wan­deln­de des Evan­ge­li­ums so er­schüt­ternd emp­fand, woll­te er von ei­nem Al­ten Te­sta­ment als Hei­li­ger Schrift nichts wis­sen, ohne daß er ge­leug­net hät­te, daß dar­in viel Nütz­li­ches und Schö­nes zu le­sen sei. Des­halb er­laub­te er auch sei­nen Jün­gern des­sen Lek­tü­re; je­doch nur an der Hand der An­ti­the­sen. Aber es ist schon so, wie Har­nack sagt: »Was christ­lich ist, kann man aus dem Al­ten Te­sta­ment nicht er­se­hen.« Das­sel­be hat­te be­reits Schlei­er­ma­cher er­kannt. Aber auch Nietz­sche emp­fand mit vol­ler Deut­lich­keit, daß es sich hier um zwei ganz ver­schie­de­ne Ebe­nen han­delt, als er (na­tür­lich von sei­nem Stand­punkt des »An­ti­christ«) in Jen­seits sag­te: Die­ses »Neue Te­sta­ment, eine Art Ro­ko­ko des Ge­schmacks in je­dem Be­trach­te, mit dem Al­ten Te­sta­ment zu ei­nem Bu­che zu­sam­men­ge­leimt zu ha­ben, als ›Bi­bel‹, als ›das Buch an sich‹: das ist viel­leicht die größ­te Ver­we­gen­heit und ›Sün­de wi­der den Geist‹, wel­che das li­te­ra­ri­sche Eu­ro­pa auf dem Ge­wis­sen hat«; und in der Mor­gen­rö­te spricht er von dem »un­er­hör­ten phi­lo­lo­gi­schen Pos­sen­spiel«, das man um das Alte Te­sta­ment her­um auf­ge­führt habe: »Ich mei­ne den Ver­such, das Alte Te­sta­ment den Ju­den un­ter dem Leib weg­zu­zie­hen, mit der Be­haup­tung, es ent­hal­te nichts als christ­li­che Leh­ren und ge­hö­re den Chris­ten als dem wah­ren Vol­ke Is­raels: wäh­rend die Ju­den es sich nur an­ge­maßt hät­ten … über­all soll­te im Al­ten Te­sta­ment von Chris­tus und nur von Chris­tus die Rede sein … al­les An­spie­lun­gen und gleich­sam Vor­spie­le des Kreu­zes!«

Das Buch der Rache

Gera­de weil das Alte Te­sta­ment in ein­zel­nen Tei­len ein Do­ku­ment der reins­ten und er­ha­bens­ten Ethik ist, die über­haupt vor dem Er­schei­nen des Hei­lands mög­lich war, darf man jene an­de­ren Par­ti­en nicht ge­flis­sent­lich über­se­hen, in de­nen der Ge­gen­geist sich of­fen­bart: die Pre­digt der Rach­sucht und Ro­heit, des Has­ses und Hoch­muts. Man den­ke zum Bei­spiel an die Erobe­rung des Ge­lob­ten Lan­des: nichts als Mord und Tücke, gif­ti­ge Scha­den­freu­de, teuf­li­sche Grau­sam­keit, ein ein­zi­ger lan­ger Ju­bel­schrei des Blut­rau­sches: »Kei­ner blieb üb­rig!« Man darf frei­lich die­se kran­ken Hal­lu­zi­na­tio­nen ei­ner zü­gel­lo­sen Ver­nich­tungs­wut nicht all­zu wört­lich neh­men, denn die nach­e­xi­li­schen Ju­den (von de­nen die­se spä­te Schil­de­rung stammt) wa­ren groß im Auf­schnei­den; aber es bleibt das bar­ba­ri­sche Be­ha­gen an die­sen in der Phan­ta­sie wol­lüs­tig nach­ge­schmeck­ten Ani­ma­li­tä­ten. Nir­gends die ge­rings­te An­wand­lung, die See­le des Fein­des zu ach­ten, ja auch nur zu be­ach­ten: er ist nur Schlacht­vieh. Die­ser er­schüt­tern­de Kampf zwi­schen zwei Wel­ten, der sich durch das gan­ze Alte Te­sta­ment zieht, macht die­ses zu ei­nem der dra­ma­tischs­ten Bü­cher der Welt­li­te­ra­tur.

Man sagt uns zwar, die­se Din­ge müß­ten »ent­wick­lungs­ge­schicht­lich« be­trach­tet wer­den: die­ser Jahwe der Wüs­te sei nur eine Art »Vor­jahwe«, es hand­le sich hier (und an­der­wärts im Al­ten Te­sta­ment) um eine frü­he Schicht der is­rae­li­ti­schen Got­tes­vor­stel­lun­gen, die sich nur gleich­sam il­le­gi­tim be­haup­tet habe. Aber ist der Ge­gen­stand der Bi­bel die he­bräi­sche Ge­schich­te oder der christ­li­che Glau­be? Was wir aus dem Buch der Bü­cher zu emp­fan­gen wün­schen, ist An­lei­tung zum se­li­gen Le­ben, nicht zur Re­li­gi­ons­wis­sen­schaft. Wir wol­len dar­aus er­fah­ren, wie wir zu Gott ge­lan­gen kön­nen, nicht, wie die Ju­den all­mäh­lich zu ih­rem Gott ge­lang­ten. Die­ses ge­wiß höchst lehr­rei­che, ja so­gar er­bau­li­che The­ma möge der Eth­no­log, der Al­ter­tums­for­scher, der Ge­schichts­psy­cho­log, der Kul­tur­phi­lo­soph er­grün­den: ein christ­li­ches Pro­blem ist es nicht.

Das Alte Te­sta­ment ist, wie je­der­mann weiß, eine Samm­lung von li­te­ra­ri­schen Pro­duk­ten sehr un­glei­chen Al­ters und sehr un­glei­chen Werts. Eine Sich­tung und Re­dak­ti­on hat wohl im Lauf der Zei­ten statt­ge­fun­den; aber sie ge­sch­ah nie nach re­li­gi­ösen Ge­sichts­punk­ten: näm­lich nicht nach den Ge­sichts­punk­ten der ein­zi­gen Re­li­gi­on, die die­sen Na­men ver­dient: der christ­li­chen. Als Chris­tus er­schi­en, war der Text des Al­ten Te­sta­ments be­reits un­wi­der­ruf­lich fi­xiert, und wir ha­ben be­reits ge­hört, daß es bis auf Mar­ci­on die ein­zi­ge hei­li­ge Schrift auch für die Chris­ten bil­de­te und daß selbst Mar­ci­on es nicht wag­te, sei­nen In­halt durch Strei­chun­gen oder Än­de­run­gen zu kor­ri­gie­ren. Das Ju­den­tum, wie es sich nach dem Exil ent­wi­ckelt hat, ist von al­lem An­fang an eine Buch­re­li­gi­on ge­we­sen, im Ge­gen­satz zum Urchris­ten­tum, das in ers­ter Li­nie Bot­schaft, Pre­digt, Ge­mein­de­be­wußt­sein war. Es liegt in der Na­tur ei­ner sol­chen Re­li­gi­on, daß sie einen über­trie­be­nen Re­spekt vor dem »Es steht ge­schrie­ben« be­kun­det und dazu neigt, al­les »Alte«, so­weit es li­te­ra­risch be­zeugt ist, kri­tik­los für »hei­lig« hin­zu­neh­men; und dazu kommt noch, daß die Ju­den im­mer eine be­son­de­re Vor­lie­be für Schrift­li­ches hat­ten: al­les in Buch­sta­ben Fi­xier­te ist für sie eine Wahr­heit hö­he­rer Ord­nung und da­her bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de sa­kro­sankt; nur ein ge­schrie­be­ner Ver­trag ist wirk­lich gül­tig, die­ser aber un­ter al­len Um­stän­den: und das gan­ze Alte Te­sta­ment ist ja ei­gent­lich nichts an­de­res als ein im­mer wie­der er­neu­er­ter Ver­trag zwi­schen Jahwe und Is­rael, der fort­lau­fen­de Schrift­satz ei­nes Pro­zes­ses zwi­schen Volk und Gott. So kam es, daß sie in der Aus­wahl we­nig ri­go­ros wa­ren und vie­les mit­schlepp­ten, was sie selbst nicht mehr glaub­ten.

Der Sündenfall

Aber es gibt ein Stück im Al­ten Te­sta­ment, um des­wil­len man fast ver­sucht wäre, al­les üb­ri­ge in den Kauf zu neh­men, und es steht ganz am An­fang: es ist die Ge­schich­te vom Sün­den­fall. Die Sün­de der ers­ten Men­schen be­steht dar­in, daß sie vom Baum der Er­kennt­nis es­sen; der Ver­stand ist also das Böse, er ist nicht von Gott, son­dern vom Teu­fel, »des Teu­fels Hure«, wie Luther sich dras­tisch aus­drück­te, die Mit­gift der Schlan­ge, auf de­ren Rat es zum Ge­nuß der ver­bo­te­nen Frucht kommt. Er ist die große Ver­su­chung des Men­schen, die die­ser nicht be­stan­den hat. Und sei­ne Stra­fe da­für ist die Ar­beit, zu der er ver­flucht wird. Er­kennt­nis und Ar­beit sind fort­an das Los des Men­schen, sei­ne Erb­sün­de und sein Erb­fluch. Und seit­dem muß er ster­ben.

Aber wo in der grau­en Ge­schich­te des Al­ten Bun­des kehrt die­ses macht­voll an­ge­schla­ge­ne Leit­mo­tiv wie­der, ob­gleich es doch, so soll­te man an­neh­men, wie ein eher­ner Glock­en­ton durch das gan­ze fer­ne­re Mensch­heits­dra­ma schal­len müß­te? Als Adam und Eva vom Ap­fel ge­ges­sen hat­ten, sa­hen sie, daß sie nackt wa­ren, das heißt: sie er­kann­ten, daß sie Mann und Weib wa­ren: also auch Ge­schlecht­lich­keit ist Sün­de. Die höchs­ten Gü­ter aber, die alle From­men Is­raels prei­sen, Kö­ni­ge und Pro­phe­ten, Pries­ter und Pa­tri­ar­chen, sind un­be­grenz­te Frucht­bar­keit des Men­schen, un­er­schöpf­li­cher Se­gen der Erde, un­fehl­ba­res Wis­sen um das Ge­setz: Brunst, Ar­beit, Er­kennt­nis; der drei­fa­che Adams­fluch.

Und in der Tat ist der An­fang der Ge­ne­sis ein ein­ge­spreng­ter Fremd­kör­per. Schon eine sehr alte ba­by­lo­ni­sche Ab­bil­dung zeigt einen Baum, zur Rech­ten einen Mann, zur Lin­ken ein Weib und da­hin­ter eine Schlan­ge. Das Pa­ra­dies ent­spricht den In­seln der Se­li­gen in der epi­schen Dich­tung der Ba­by­lo­ni­er. Dort fin­det sich auch die Ver­füh­rungs­ge­schich­te. Die Ent­ste­hung des gan­zen Ab­schnit­tes fällt in die Zeit der As­sy­rer­herr­schaft, die in Pa­läs­ti­na eine Pe­ri­ode des re­li­gi­ösen Syn­kre­tis­mus war. Des­halb sagt auch Scho­pen­hau­er: »Die Ver­bin­dung des Neu­en Te­sta­ments mit dem Al­ten ist im Grun­de nur eine äu­ßer­li­che, eine zu­fäl­li­ge, ja er­zwun­ge­ne, und den ein­zi­gen An­knüp­fungs­punkt für die christ­li­che Leh­re bot die­ses nur in der Ge­schich­te vom Sün­den­fall dar … der im Al­ten Te­sta­ment wie ein hors d’œu­vre da­steht.«

Zwi­schen der Gott­heit des Al­ten und der Gott­heit des Neu­en Te­sta­ments kann es da­her nicht Iden­ti­tät oder Har­mo­nie, auch nicht das Ver­hält­nis hal­ber und vol­ler Of­fen­ba­rung ge­ben, son­dern nur schrof­fe Al­ter­na­ti­ve. »Ihr müßt«, sagt Kant, »zwi­schen Jahwe, dem de­us ex ma­china, und Gott, dem de­us ex ani­ma, wäh­len, für bei­de ist ne­ben­ein­an­der nicht Platz.«

Der Fürst der Welt

Wa­rum aber hat Mar­ci­on Ado­nai nicht ein­fach als falschen Gott ver­wor­fen? Weil er über­zeugt war, daß die­ser die Welt wirk­lich re­gier­t. Als sein Werk ver­kün­det sie sei­nen Na­men. Und der Mensch ist sein Eben­bild, ein klei­ner Gott, frei­lich: ein Ju­den­gott. Auch hier­für lie­ße sich man­che An­deu­tung im Neu­en Te­sta­ment fin­den. Im ers­ten Brief Jo­han­nis heißt es: »So je­mand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Lie­be des Va­ters … denn al­les, was in der Welt ist … ist nicht vom Va­ter, son­dern von der Wel­t«, und in dem Evan­ge­li­um des­sel­ben Jo­han­nes sagt der Hei­land zu den Ju­den: »Ihr seid von Eu­rem Va­ter, dem Teu­fel.« Von hier be­durf­te es für Mar­ci­on of­fen­bar nur ei­nes Schritts, um dem De­mi­ur­gen, dem Va­ter des Bö­sen, dem Herrn der Erde oder wie man ihn sonst nen­nen will, Schöp­fer­kräf­te zu­zu­er­ken­nen und ihm die Welt zu­zu­schrei­ben. Auch Au­gus­ti­nus lehrt im Ein­klang mit fast al­len Kir­chen­vä­tern, das Reich der Welt sei ein ma­gnum la­tro­ci­ni­um, eine große Räu­ber­höh­le, von Dä­mo­nen re­giert. Das Böse, sagt Kant, ist der Fürst die­ser Welt, das Gute ist nicht von die­ser Welt, das Böse ist nur von die­ser Welt.

Der gute Gott muß da­her not­wen­dig der frem­de Gott sein. Er ist, wie Meis­ter Eck­hart sagt, von der Welt »ab­ge­schie­den«: »Wißt ihr, wo­von Gott Gott ist? Da­von, daß er ohne alle Krea­tu­ren ist! Selbst als er Him­mel und Erde schuf und alle Krea­tur, das ging sei­ne Ab­ge­schie­den­heit so­we­nig an, als ob er nie et­was ge­schaf­fen hät­te.« Und der frem­de Gott kann nur der un­be­kann­te sein; auch dies pre­digt Meis­ter Eck­hart: »Wollt ihr Gott aber in Wahr­heit er­ken­nen, so müßt ihr ein­se­hen, daß er et­was Un­be­kann­tes ist! Dio­ny­si­us hat das ge­sagt«; und in der Tat lehr­te die­ser, Gott las­se sich nur durch Ver­nei­nun­gen, laut­los und im Dun­kel er­ken­nen. In­so­fern kann man sa­gen, daß je­der wah­re Christ zu­gleich Gno­s­ti­ker und Agno­s­ti­ker ist. »Er­ha­be­ner, le­ben­di­ger Wil­le«, ruft Fich­te in der »Be­stim­mung des Men­schen«, »den kein Name nennt und kein Be­griff um­faßt, wohl darf ich mein Ge­müt zu Dir er­he­ben, denn Du und ich sind nicht ge­trennt … Wie Du für Dich selbst bist und Dir selbst er­scheinst, kann ich nie ein­se­hen. Nach tau­send­mal tau­send durch­leb­ten Geis­ter­le­ben wer­de ich Dich noch eben­so­we­nig be­grei­fen als jetzt, in die­ser Hüt­te von Erde.«

Wir se­hen, wie die tiefs­ten christ­li­chen Den­ker um den Mar­cio­ni­tis­mus ihre Krei­se zie­hen, ohne daß sie ihn doch je­mals zu be­rüh­ren wa­gen. Denn in der Tat: hier herrscht in rät­sel­haf­ter Durch­drin­gung lau­ters­tes Licht und da­zwi­schen schreck­lichs­te Fins­ter­nis: näm­lich Zwei­göt­te­rei! Wäre dies nicht, so wä­ren wir viel­leicht heu­te alle Mar­cio­ni­ten. Der Mar­cio­ni­tis­mus ist et­was Schau­er­li­ches, zwei­fel­los: und trotz­dem kann man ihn nicht un­christ­lich nen­nen.

Die Weltschöpfung durch Luzifer

Aber viel­leicht ist der De­mi­urg bloß ein En­gel des gu­ten Got­tes? Wir ha­ben schon ge­hört, daß der Gno­s­ti­ker Sa­tur­ni­lus dies be­haup­te­te; auch Apel­les, der be­deu­tends­te Schü­ler Mar­ci­ons, der aber des­sen eben­so küh­nes wie kon­se­quen­tes Sys­tem doch schon stark um­ge­bo­gen und ver­wäs­sert hat, lehr­te die Mon­ar­chie Got­tes und wies dem Schöp­fer nur einen un­ter­ge­ord­ne­ten Rang an. Wir könn­ten auch sa­gen: der De­mi­urg ist Lu­zi­fer, der ge­fal­le­ne En­gel; sein Fall be­steht eben dar­in, daß er die Welt ge­schaf­fen hat. Eine Welt­schöp­fung durch Lu­zi­fer wür­de nicht der All­macht Got­tes wi­der­strei­ten, denn Gott, über al­lem Schaf­fen und Nicht­schaf­fen thro­nend, ver­mag je­den Schöp­fungs­akt zu­zu­las­sen. Ob man hier­bei die kos­mo­lo­gi­schen Vor­stel­lun­gen der Ge­ne­sis oder der heu­ti­gen Astro­no­mie im Auge hat, ist für den theo­lo­gi­schen Aspekt be­lang­los: es ist völ­lig gleich­gül­tig, ob man sagt, Gott (oder Lu­zi­fer) habe die Welt ge­schaf­fen, oder ob man sagt, er habe die Erde ge­schaf­fen, denn dem Men­schen ist von Gott, sei­nem Va­ter, die ir­di­sche Lauf­bahn auf­ge­ge­ben und nur die­se; Milch­stra­ßen und Spi­ral­ne­bel kön­nen dar­an nichts än­dern und ver­schie­ben das Pro­blem auf eine falsche Ebe­ne, wo­durch nur Kon­fu­si­on ent­ste­hen kann.

Fer­ner könn­te man ver­su­chen, sich den Mar­cio­ni­tis­mus da­durch an­nehm­ba­rer zu ma­chen, daß man sich vor­stellt, die Schöp­fung Lu­zi­fers sei eine Schein­welt. Das ist sie na­tür­lich. Wes­halb auch, im nai­ven, aber tief sym­bo­li­schen Volks­glau­ben so gut wie bei al­len Theo­so­phen und Mys­ti­kern, Sa­tan im­mer als der Rea­list ge­kenn­zeich­net ist. Da­rin eben be­steht sei­ne Hin­ter­list. Aber and­rer­seits muß er zwangs­läu­fig die­sen Stand­ort ein­neh­men, denn woll­te er die­se Welt als Schein, Traum und Trug de­mas­kie­ren, so müß­te er ja sein ei­ge­nes Werk dis­kre­di­tie­ren. Aus dem­sel­ben Grun­de ist er stets der hart­nä­cki­ge und ex­klu­si­ve Ra­tio­na­list (so er­scheint er auch noch in sei­ner letz­ten, völ­lig ver­bür­ger­lich­ten Form bei Goe­the), denn das Or­gan, wo­mit die­se Welt als die »wirk­li­che« er­kannt wird, ist der Ver­stand. Dies meint ja auch der Name Lu­zi­fer, Licht­brin­ger (und nicht viel an­ders ver­hält es sich mit dem ge­stürz­ten Halb­gott Pro­me­theus, dem Feu­er­brin­ger oder Va­ter der Tech­nik). Und schließ­lich ist Sa­tan auch Sen­sua­list, Ver­tei­di­ger und För­de­rer der Sin­nen­lust, denn die Sin­ne be­stä­ti­gen eben­falls sei­ne Welt. Für das ge­sun­de Emp­fin­den aber ist er der Win­kel­ad­vo­kat, Ta­schen­spie­ler und Ober­in­tri­gant, sei­ne »Rea­li­tät« Schwin­del, sei­ne Ra­tio So­phis­tik, sei­ne Sin­nen­be­ja­hung Ver­su­chung.

Das Satansspektakel

Denn es ist höchst un­wahr­schein­lich, daß es öf­ter als hie und da einen Men­schen ge­ge­ben hat, der an die Rea­li­tät wirk­lich und wahr­haf­tig, mit vol­ler Über­zeu­gung und In­brunst, ohne je­den Abstrich und Vor­be­halt ge­glaubt hät­te. Alle un­se­re Er­leb­nis­se und Er­kennt­nis­se, Ta­ten und Theo­re­me um­gibt ein trüber Hof von Un­ge­wiß­heit. Zwi­schen uns und die Din­ge ist ein Flor ge­spannt, wie im Thea­ter, wenn »Vi­si­on« mar­kiert wer­den soll. Al­les, was »ge­schieht«, hat das Stig­ma des Pro­vi­so­ri­ums, Ma­nö­vers und In­ter­mez­zos. Gera­de auf den Hö­he­punk­ten un­se­res Da­seins: in den Au­gen­bli­cken der tiefs­ten Er­grif­fen­heit durch die Macht der Na­tur, die Macht der Lie­be, un­se­re ei­ge­ne Macht, über­fällt uns die­ses Ge­fühl am stärks­ten. Es ist, wie Sene­ca sagt, »al­les nur ge­lie­he­nes Ta­fel­ge­rät« und, nach Marc Au­rels düs­te­rer Weis­heit, »un­se­re Zeit ein Au­gen­blick, was zum Leib ge­hört, ein Strom, was zur See­le ge­hört, ein Traum, das Le­ben eine Rei­se in frem­dem Land und der Nachruhm Ver­ges­sen­heit«. Wer wagt es, »mein« zum Da­sein zu sa­gen? Alle Dör­fer die­ser Welt sind von Po­tem­kin. Es herrscht eine still­schwei­gen­de Übe­rein­kunft un­ter al­len, bloß so mitz­u­ma­chen, und zu­gleich die Verab­re­dung, kein Spaß­ver­der­ber zu sein und über die­se ge­hei­me Spiel­re­gel nie­mals laut zu spre­chen. Schon der »Wil­de« oder »Pri­mi­ti­ve« (und ge­ra­de er, weil er, na­tur­nah, die Na­tur durch­schaut), glaubt nicht an die So­li­di­tät der Sze­ne­rie und Ma­schi­ne­rie, die ihn um­gibt, er hält sie für einen Zau­ber, ja viel­leicht so­gar für einen »fau­len Zau­ber«. Aber wir alle wis­sen so gut wie er, daß wir in ei­nem großen Spuk­haus le­ben. Nie­mand ist, auch wenn er die Stim­me des Zwei­fels zu dämp­fen oder nie­der­zu­zi­schen ver­sucht, in Wahr­heit so dumm, sei­nem Ver­stand und des­sen Ge­spins­ten zu trau­en. Es ist al­les nur Rauch und Rausch, Wol­ken­spiel und Schlei­er­tanz, eine Vier­tel­stun­de Re­gen­bo­gen: »und selbst die Träu­me sind ein Traum«. Dies kommt da­her, daß der Teu­fel bloß Blend­werk zu schaf­fen ver­mag, vir­tuo­se Imi­ta­ti­on, von der sich nur der In­tel­lekt fop­pen läßt, weil er selbst ein ohn­mäch­ti­ges Sa­t­anss­pek­ta­kel ist.

Im Unsichtbaren

Aber dies al­les er­wo­gen: Man kann sich den­noch, so er­ha­ben der Ge­dan­ke der grund­lo­sen Güte des frem­den Got­tes ist, un­mög­lich mit der Voraus­set­zung ab­fin­den, daß Gott bis zum Er­schei­nen sei­nes Soh­nes der Welt völ­lig ab­ge­wen­det ge­we­sen sei, daß er je eine rein lu­zi­fe­ri­sche ge­dul­det habe. Denn da Gott die un­end­li­che Güte ist, so muß die­se al­les be­rüh­ren, auch was au­ßer ihr ist, auch was ge­gen sie ist. Hier könn­te uns viel­leicht ein Rät­sel­wort Mar­ci­ons den Weg wei­sen, aber nur wie ein düs­te­res und fla­ckern­des Fa­ckel­licht. Er sagt näm­lich ein­mal, der gute Gott habe das Un­sicht­ba­re ge­schaf­fen. Mein­te er da­mit, daß es ne­ben der Welt des De­mi­ur­gen noch eine zwei­te Welt gebe, eine »gute« Welt, die ent­we­der vor der ma­te­ri­el­len be­stand, als eine prä­exis­ten­te geis­ti­ge, oder hin­ter der lu­zi­fe­ri­schen be­steht, als die »wah­re«? Denn das Sicht­ba­re ist nicht bloß das Böse, son­dern auch das Un­wirk­li­che. Wir wis­sen es nicht, denn der Text Mar­ci­ons ist uns we­der voll­stän­dig noch au­then­tisch er­hal­ten, er ist un­ter­ge­gan­gen und wir kön­nen ihn uns nur aus den Schrif­ten re­kon­stru­ie­ren, die ge­gen den Mar­cio­ni­tis­mus ge­rich­tet wa­ren: es sind dies in ers­ter Li­nie die christ­li­che Apo­lo­gie Jus­tins, das große Werk des Ire­nä­us Ad­ver­sus hae­re­ses, die Stro­ma­ta des Cle­mens Alex­an­dri­nus und die Fünf Bü­cher ge­gen Mar­cion, die Ter­tul­li­an ver­faßt hat. Sehr be­mer­kens­wert ist es, daß der be­deu­tends­te heid­nische Po­le­mi­ker der Früh­zeit, Cel­sus, der in sei­nem »Ser­mo ve­rus« einen um­fas­sen­den An­griff ge­gen das Chris­ten­tum rich­te­te, die mar­cio­ni­ti­sche Kir­che als eine der ka­tho­li­schen voll­kom­men eben­bür­ti­ge be­han­del­te; ihm er­wi­der­te der große Ori­ge­nes in sei­ner Schrift Ad­ver­sus Cel­sum.

»Wa­rum«, fragt Cel­sus, »läßt der obe­re Gott einen schlech­ten De­mi­ur­gen, der sich ihm wi­der­setzt, schal­ten und wal­ten? Das ist mir ein ver­eh­rungs­wür­di­ger Gott, der da­nach trach­tet, der Va­ter von Sün­dern zu sein, die von ei­nem an­de­ren ver­dammt und ver­wor­fen sind, und der nicht im­stan­de ist, den er ge­sandt hat, zu rä­chen!« Man kann von Cel­sus, der kein Christ war, kein Ver­ständ­nis da­für er­war­ten, daß der gute Gott ge­ra­de da­nach trach­tet, der Va­ter der Sün­der zu sein, und daß er den Tod sei­nes Soh­nes nicht rächt; aber der Ein­wand, warum er den De­mi­ur­gen frei schal­ten las­se, muß­te in der Tat auch da­ma­li­gen Chris­ten zu den­ken ge­ben. Vi­el­leicht hat Mar­ci­on ge­meint, daß der Geist Got­tes, in Un­sicht­bar­kei­ten thro­nend, schon im­mer durch die Welt weh­te und de­ren Lauf da­her auf die An­kunft sei­nes Soh­nes an­ge­legt war, wel­che frei­lich nur sei­ner All­wis­sen­heit be­kannt war. Doch das sind blo­ße Ver­mu­tun­gen; was aber Mar­ci­on mit vol­ler Deut­lich­keit und höchs­tem Nach­druck be­tont hat, ist die Fort­dau­er des de­mi­ur­gi­schen Re­gi­ments auch wäh­rend des christ­li­chen Ae­ons. »Mar­ci­on glaubt«, sagt Ter­tul­li­an, »daß er vom Reich des Schöp­fers er­löst sei, aber in der Zu­kunft, nicht in der Ge­gen­wart.« Die Herr­schaft des Schöp­fer­got­tes en­det also erst mit dem Jüngs­ten Ge­richt. So­lan­ge die­ses Sä­ku­lum be­steht, dau­ert auch noch die Re­gie­rung des Got­tes die­ses Sä­ku­lums.

Und so ver­hält es sich ja auch in der Tat. Das ein­zi­ge, wo­durch sich die christ­li­che Welt von der vor­christ­li­chen un­ter­schei­det, ist das Wis­sen um Gott und sei­nen Sohn und der Glau­be an die­ses Wis­sen; Glau­ben aber heißt sich auf die un­ver­dien­te Lie­be Got­tes in Chri­sto ver­las­sen. Der lu­zi­fe­ri­sche Lauf der Welt hat sich nicht ge­än­dert. Daß aber Gott den­noch hie­nie­den wirkt und webt, ist eben­so un­be­zwei­fel­bar wie un­er­klär­lich. Hier ste­hen wir, in dem tiefs­ten Sin­ne, der die­sem Wort ge­ge­ben wer­den kann, im »Un­sicht­ba­ren«.

Das Gewissen

Dies ist al­les, was eine christ­li­che Ge­schichts­be­trach­tung, die die Ehr­lich­keit der Be­quem­lich­keit vor­zieht, an Theo­di­zee bei­zu­brin­gen ver­mag. Und den­noch sagt Gu­stav Droy­sen in der Ein­lei­tung zum zwei­ten Ban­de sei­ner Ge­schich­te des Hel­le­nis­mus mit Recht: »Die höchs­te Auf­ga­be un­se­rer Wis­sen­schaft ist ja die Theo­di­zee.« Aber es ist eine un­end­li­che Auf­ga­be. Gera­de dar­in, daß sie im­mer wie­der: von je­dem Zeit­al­ter, je­dem Volk, je­dem Stand, je­dem In­di­vi­du­um aufs neue ge­stellt wird, er­füllt sich das his­to­ri­sche Schick­sal. »Über al­lem«, schreibt Ran­ke in ei­nem Brief an sei­nen Bru­der Otto, »schwebt die gött­li­che Ord­nung der Din­ge, wel­che zwar nicht ge­ra­de nach­zu­wei­sen, aber doch zu ah­nen ist.« Die­se gött­li­che Ord­nung der Din­ge ist iden­tisch mit der Auf­ein­an­der­fol­ge der Zei­ten.

Wir wis­sen nur von ei­nem wirk­lich Ge­wis­sen: dem Ge­wis­sen. Das Ge­wis­sen ist die ein­zi­ge (ob­schon fast un­sicht­ba­re) Tat­sa­che, so­wohl im pri­va­ten Le­ben wie im öf­fent­li­chen. Es rich­tet über al­les, und nach ihm rich­tet sich al­les; auch wenn die Men­schen es nicht wis­sen oder leug­nen. Dies ist der Weg der See­le; und alle an­de­ren Wege sind nur falsche Spie­ge­lun­gen. Die Welt­ge­schich­te, von au­ßen be­trach­tet, Ge­schich­te der Macht, ist von in­nen ge­se­hen, Ge­schich­te des Ge­wis­sens.

Geschichte der Geschichte

Von der Ge­schich­te hat es zu al­len Zei­ten eine Art Wis­sen­schaft ge­ge­ben; aber mit sehr ver­schie­de­nen Metho­den. Denn nicht nur jede Wis­sen­schaft, son­dern auch je­des Teil­ge­biet ei­ner Wis­sen­schaft er­for­dert sei­ne be­son­de­re Metho­de, man kann auch sa­gen: sei­nen ei­ge­nen Stil. So be­steht zum Bei­spiel zwi­schen Ge­schich­te der Neu­zeit und Ge­schich­te des Mit­tel­al­ters ein Un­ter­schied nicht bloß des The­mas, son­dern auch der an­ge­mes­se­nen Dar­stel­lungs­art: das Mit­tel­al­ter kann man näm­lich nur als Theo­log be­han­deln. Zu je­ner Zeit wa­ren alle Men­schen Theo­lo­gen, vom Bau­ern bis zum Papst, also muß es doch wohl auch ihr His­to­ri­ker sein. Tritt man mit dem Aspekt ei­nes Pro­fa­nen an die­se Epo­che her­an, so ent­steht: nun, man hat ge­se­hen, was seit der Auf­klä­rung ent­stan­den ist. And­rer­seits aber hat auch je­des Zeit­al­ter sel­ber, ja viel­leicht schon je­des Men­schen­al­ter sei­ne ei­gen­tüm­li­chen Stil­prin­zi­pi­en, so­zu­sa­gen »Bau­ge­dan­ken« im Hin­blick auf die Wis­sen­schaft im all­ge­mei­nen und de­ren sämt­li­che Ein­zel­dis­zi­pli­nen. So ha­ben auch über Zweck und We­sen der Ge­schichts­schrei­bung nach­ein­an­der die un­ter­schied­lichs­ten Auf­fas­sun­gen ge­herrscht. Schon über den Maß­stab, nach dem man den Quel­len »Au­to­ri­tät« zu­zu­schrei­ben habe, war man durch­aus nicht im­mer der­sel­ben An­sicht. Im Mit­tel­al­ter gal­ten als ab­so­lut zu­ver­läs­si­ges Fun­da­ment alle Au­to­ren, von de­nen man an­nahm, daß sie ent­we­der di­rekt in­spi­riert sei­en oder doch auf in­spi­rier­ten Be­rich­ten fuß­ten, also in ers­ter Li­nie alle Apos­tel, alle Kir­chen­vä­ter, aber auch, mit ge­wis­sen Ein­schrän­kun­gen, so­wohl die spä­te­ren Leh­rer von Rang, die s­crip­to­res ec­cle­sia­sti­ci, als auch die Ha­gio­gra­phen, die Ver­fas­ser der Hei­li­gen­le­gen­den. An ihre Stel­le tra­ten in der Re­naissance alle an­ti­ken Au­to­ren: Sie gal­ten für sa­kro­sankt; wahr, sagt der Hu­ma­nist Ma­net­ti, sei al­les, was zum Bei­spiel von Cur­ti­us, Jus­tin, Li­vi­us, Sal­lust, Pli­ni­us und Sue­ton be­rich­tet wer­de, was die Spä­te­ren er­zähl­ten, sei nur wahr­schein­lich. Für die mo­der­ne For­schung spielt die­se Rol­le das so­ge­nann­te »di­plo­ma­ti­sche« Ma­te­ri­al: Ge­sandt­schafts­be­rich­te, Ver­wal­tungs­pa­pie­re, Ver­hand­lungs­pro­to­kol­le und ähn­li­che Ur­kun­den, wie sie vor­nehm­lich in den Archi­ven auf­ge­sta­pelt sind. Es ist viel­leicht nicht über­flüs­sig, dar­auf hin­zu­wei­sen, daß die­ser Ge­sichts­punkt um nichts we­ni­ger sub­jek­tiv und da­her um nichts wis­sen­schaft­li­cher ist als die frü­he­ren; denn es ist beim bes­ten Wil­len nicht ein­zu­se­hen, warum das Zir­ku­lar ei­ner Re­gie­rung kei­ne Lüge und die Re­la­ti­on ei­nes At­tachés kei­nen Un­sinn ent­hal­ten soll. Viel­mehr muß der Be­griff der ab­so­lut zu­ver­läs­si­gen Quel­le für alle Zei­ten und Völ­ker da­hin de­fi­niert wer­den, daß sie dazu wird, nicht weil sie »wahr« ist, son­dern weil die Zei­ten und Völ­ker ihr glau­ben. Im Mit­tel­al­ter glaub­te man an die Kir­che, in der Re­naissance an die An­ti­ke und im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert an die Be­hör­de.

Was die For­m der Ge­schichts­schrei­bung an­langt, so kann man sa­gen, daß je­dem Zeit­al­ter ein an­de­rer Ty­pus als Ide­al vor­ge­schwebt hat, und fast je­dem ei­ner, der sich mit dem Be­griff des His­to­ri­kers nicht deckt. Im Al­ter­tum ist es der Rhe­tor. Die lan­gen ein­ge­leg­ten Re­den wa­ren, ob­gleich durch­wegs er­fun­den, die Glanz­lich­ter und Kern­stücke der Dar­stel­lung und ent­schei­den­den Prüf­stei­ne für das Ta­lent des Ge­schichts­schrei­bers. Aber auch die üb­ri­gen Par­ti­en wa­ren nach rhe­to­ri­schen Ge­sichts­punk­ten ge­formt, näm­lich für den lau­ten Vor­trag, der in der An­ti­ke mu­si­ka­li­schen Cha­rak­ter hat­te; sie wa­ren eine Art von Par­ti­tu­ren. Da man künst­le­ri­sche Ein­heit for­der­te, so war al­les ver­pönt, was von ei­ner an­de­ren Per­son und da­her in ei­nem an­de­ren Stil ver­faßt war. Des­halb wur­den Re­den, die so vor­la­gen, wie sie wirk­lich ge­hal­ten wor­den wa­ren, so­wie Brie­fe und über­haupt alle schrift­li­chen Be­le­ge stets um­ge­ar­bei­tet und der Aus­drucks­wei­se des Au­tors an­ge­paßt. Es ist dies eben das rhe­to­ri­sche Prin­zip. Denn in ei­ner Rede stört je­der frem­de Ton.

Die mit­tel­al­ter­li­che Ge­schichts­schrei­bung dient der Er­bau­ung. Sie schil­dert die Ta­ten Got­tes durch Völ­ker und Füh­rer, die ges­ta Dei per Fran­cos. Sie wäre vor dem Ge­dan­ken zu­rück­ge­schau­dert, Selbst­zweck zu sein. Zwi­schen ei­ner Chro­nik und ei­ner Pre­digt be­steht kein Un­ter­schied der Form. Bei­de sind ein Ge­fäß, in das from­mer Sinn sein Ge­fühl er­gießt. Da­rum ver­mei­den sie auch im all­ge­mei­nen das In­di­vi­dua­li­sie­ren. Denn der ho­mo re­li­gio­sus denkt in Uni­ver­sa­li­en. Die­se Art, die Ver­gan­gen­heit zu schau­en, ist mit dem Mit­tel­al­ter nicht ver­schwun­den, sie hat in Bos­su­ets ge­wal­ti­gen Ge­schichts­dich­tun­gen wei­ter­geblüht und lebt noch in dem feu­ri­gen Schwung der zür­nen­den Kan­zel­re­den Car­ly­les.

Die His­to­ri­ker der Re­naissance hin­ge­gen woll­ten span­nen und er­schüt­tern, Furcht und Mit­leid er­we­cken. Ihr ein­ge­stan­de­nes Vor­bild wa­ren die Tra­gö­di­en Sene­cas. Ne­ben die üb­li­chen drei Dich­tungs­gat­tun­gen trat für sie als vier­te die His­to­rie. Wa­ren die an­ti­ken Ge­schichts­wer­ke Par­ti­tu­ren, so wa­ren die ih­ri­gen ge­wis­ser­ma­ßen Li­bret­ti. Auch die­ses Gen­re hat Nachtrie­be her­vor­ge­bracht, zum Bei­spiel in den dra­ma­tisch be­weg­ten Kom­po­si­tio­nen Schil­lers, die eben­falls von der großen Oper her­kom­men. In­des hat schon die Re­naissance noch eine zwei­te Form her­vor­ge­bracht, die am volls­ten von Ma­chia­vel­li ver­kör­pert ist. Für ihn ist die Ge­schich­te Lehr­meis­te­rin der prak­ti­schen Po­li­tik, Ma­ga­zin der Staats­kunst, De­mons­tra­ti­ons­saal für Re­gen­ten und Di­plo­ma­ten. Die­se Art His­to­rio­gra­phie hat bis in die jüngs­te Ver­gan­gen­heit im­mer wie­der Ver­tre­ter ge­fun­den, eben­so wie die der Auf­klä­rungs­zeit, die pi­kant und po­pu­lär, ha­ran­guie­rend und po­le­misch, ak­tu­ell und ten­den­zi­ös, kurz eine Art Zei­tung ist: ihr glän­zends­ter Ver­tre­ter war im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert Vol­taire, im neun­zehn­ten Ma­cau­lay, aber auch die Welt­ge­schich­te von Wells be­wegt sich noch ge­nau in der­sel­ben Rich­tung des ele­gan­ten Leit­ar­ti­kels ei­nes li­be­ra­len Welt­blatts. Aber es hat be­kannt­lich auch eine »ro­man­ti­sche« Ge­schichts­schrei­bung ge­ge­ben, die sich an der Ma­le­rei ori­en­tier­te: ihr Pro­gram­ma­ti­ker war Cha­teau­bri­and, der die Pa­ro­le von der »cou­leur lo­ca­le« aus­gab, und ihre Mus­ter wa­ren die pit­to­res­ken Sit­ten­schil­de­run­gen Wal­ter Scotts; und aus dem Im­pres­sio­nis­mus ist die »na­tur­wis­sen­schaft­li­che« Schu­le her­vor­ge­gan­gen, die im His­to­ri­ker eine Art Eprou­vet­ten­che­mi­ker und Fos­si­li­ena­na­to­men er­blickt: ihr fas­zi­nie­rends­ter Vir­tuo­se war Tai­ne.

Wir se­hen also, wie die Form der Ge­schichts­schrei­bung sel­ber ei­nem ge­schicht­li­chen Wan­del un­ter­wor­fen ist: Sie er­in­nert ab­wech­selnd an eine Arie und ein Fres­ko, eine Ex­hor­te und eine Par­la­ments­re­de, ein Thea­ter­stück und ein La­bo­ra­to­ri­um. Aber mit dem In­halt ver­hält es sich nicht an­ders. Was ist das Ob­jekt der Ge­schich­te? Vi­el­leicht er­hal­ten wir hier­über bei je­ner höchs­ten In­stanz Auf­schluß, die schon in so vie­len Fra­gen der Er­kennt­nis­theo­rie klas­si­sche Ent­schei­dun­gen ge­fällt hat, näm­lich bei der Phi­lo­so­phie Kants.

Die ästhetische Urteilskraft

Kant nennt den »In­be­griff al­ler Ge­gen­stän­de ei­ner mög­li­chen Er­fah­rung« Na­tur und knüpft dar­an die Fra­ge: Wie ist Wis­sen­schaft von die­sem Ge­samt­kom­plex der Er­fah­rung, wie ist Na­tur­wis­sen­schaft mög­lich? Oder mit an­de­ren Wor­ten: Gibt es Be­grif­fe, die für al­le Er­fah­rung Gül­tig­keit ha­ben, und wenn dies der Fall ist, warum gel­ten sie? Es gibt sol­che Be­grif­fe, zum Bei­spiel: Ein­heit des Ich, Sub­stanz, Kau­sa­li­tät; und sie ha­ben em­pi­ri­sche Gel­tung oder, was das­sel­be be­deu­tet, Rea­li­tät, weil sie die Er­fah­rung ma­chen, weil durch sie die Er­fah­rung über­haupt erst mög­lich wird. Kant nennt sie »rei­ne« Be­grif­fe, weil sie der Er­fah­rung nicht be­dür­fen, viel­mehr oh­ne Zu­hil­fe­nah­me der Er­fah­rung in uns ent­stan­den sind, und das Ver­mö­gen, sie zu bil­den, »tran­szen­den­tal«, weil es, als blo­ße Mög­lich­keit der Er­fah­rung, vor al­ler Er­fah­rung liegt, ihr vor­her­geht. Alle Er­fah­rung wird nach­träg­lich, a pos­te­rio­ri, ge­won­nen, die­se Be­grif­fe aber sind als die aprio­ri­sche Aus­stat­tung un­se­res Ver­stan­des in uns al­len von An­fang an vor­han­den, und eben­da­rum ha­ben sie all­ge­mei­ne, not­wen­di­ge und ob­jek­ti­ve Gel­tung; aber bloß für uns. Sie gel­ten, so­weit die Er­fah­rung reicht; und nur so weit. Der Ver­stand schöpft sei­ne Ge­set­ze nicht aus der Na­tur, viel­mehr ver­hält es sich ge­ra­de um­ge­kehrt: er dik­tiert sie ihr. Da aber die ge­sam­te Na­tur durch die sub­jek­ti­ve Or­ga­ni­sa­ti­on des Men­schen (nicht des In­di­vi­du­ums, aber der Gat­tung) be­dingt, be­stimmt und vor­aus­be­stimmt, da sie ein Pro­dukt sei­ner Denk­for­men ist, so trägt sie den Cha­rak­ter der blo­ßen Er­schei­nung.

Ge­ge­ben sind uns nur die Ein­drücke oder Emp­fin­dun­gen. In­dem wir die­sen dunklen Stoff durch die uns in­ne­woh­nen­de An­schau­ung in eine zeit­li­che und räum­li­che Ord­nung, durch un­se­ren Ver­stand in eine ge­setz­mä­ßi­ge Ver­knüp­fung brin­gen, ent­steht erst Na­tur, Er­fah­rung, Rea­li­tät. Was wir hin­zu­brin­gen, ist le­dig­lich die Form: Zeit und Raum, Kau­sa­li­tät und die an­de­ren Ka­te­go­ri­en. Aber die Form ist für die Er­fah­rung al­les, ohne sie wäre nichts da, oder viel­mehr: wir kön­nen nicht im ge­rings­ten sa­gen, was dann noch da ist. Was zu­rück­bleibt, ist das »Ding an sich«, das Ding, wie es, ab­züg­lich al­ler Ap­per­zep­ti­on, die wir von ihm ha­ben, an sich selbst ist, das Ding ohne un­se­re Vor­stel­lun­gen, also das voll­kom­men Un­vor­stell­ba­re.

Wäh­rend die Kri­tik der rei­nen Ver­nunft sich mit der Un­ter­su­chung be­faßt: was ist Wahr­heit?, be­ant­wor­tet die Kri­tik der Ur­teils­kraft die Fra­ge: was ist Schön­heit? Der Ge­dan­ken­gang ist hier wie­der­um ein ganz ähn­li­cher. Wie die Na­tur­ge­set­ze ein Pro­dukt un­se­res Ver­stan­des, so sind die äs­the­ti­schen Ge­set­ze ein Pro­dukt un­se­res Ge­schmacks, ei­ner ganz be­stimm­ten Be­trach­tungs­art, durch die die Ob­jek­te erst un­ter die Ka­te­go­rie des Schö­nen ge­bracht wer­den. Schön­heit ist ein Prä­di­kat, das wir den Din­gen ver­lei­hen, das ih­nen eben­so hin­zu­ge­fügt wird wie der Be­griff der Kau­sa­li­tät dem Stoff un­se­rer Er­fah­rung; nicht die Din­ge sind äs­the­tisch, son­dern un­se­re Vor­stel­lun­gen von ih­nen, un­se­re Ur­tei­le über sie. Das Ver­mö­gen, sol­che Vor­stel­lun­gen zu bil­den, nennt Kant die »äs­the­ti­sche Ur­teils­kraft«. (Die Be­zeich­nung ist nicht sehr glück­lich ge­wählt, so we­nig wie die Aus­drücke »rein«, »tran­szen­den­tal«, »Ding an sich« und über­haupt die meis­ten Vo­ka­beln der kan­ti­schen Ter­mi­no­lo­gie; aber man darf sich durch sie nicht ab­schre­cken oder be­ir­ren las­sen: es ver­hält sich hier ähn­lich wie mit ge­wis­sen Ort­schaf­ten, bei de­nen im Ba­ede­ker die War­nung steht: »man ach­te dar­auf, daß bis­wei­len die Stra­ßen­ta­feln ver­tauscht sind«; des­halb kön­nen die Stra­ßen noch im­mer vor­züg­lich an­ge­legt und ge­führt sein.)

Die äs­the­ti­schen Ur­tei­le grün­den sich auf ein uni­ver­sel­les Ge­fühl, das Kant den äs­the­ti­schen Ge­mein­sinn nennt: eben weil es uni­ver­sell ist, ist es auch all­ge­mein mit­teil­bar. Da­durch, daß die äs­the­ti­schen Vor­stel­lun­gen auf ei­nem a­prio­ri­schen Ge­fühl be­ru­hen, un­ter­schei­den sie sich ei­ner­seits von den lo­gi­schen Ur­tei­len, die sich auf Funk­tio­nen des Ver­stan­des stüt­zen, und and­rer­seits von den Prä­di­ka­ten der Nütz­lich­keit wie der An­nehm­lich­keit, da die­se aus der Er­fah­rung ge­schöpft, also apo­ste­rio­risch, au­ßer­dem sub­jek­tiv und in­di­vi­du­ell, also nicht all­ge­mein­gül­tig sind. Das äs­the­ti­sche Ur­teil aber tritt mit ei­nem Ge­fühl der Uni­ver­sa­li­tät und Be­glau­bi­gung auf: »Die Lust, die wir füh­len, mu­ten wir ei­nem je­den an­de­ren im Ge­schmacks­ur­tei­le als not­wen­dig zu.« Ge­schmacks­ur­tei­le sind al­ler­dings nicht be­weis­bar, weil sie eben nicht auf Be­grif­fen be­ru­hen. De gus­ti­bus non est dis­pu­tan­dum. Aber da­durch ent­zie­hen sie sich auch dem Streit.

Die teleologische Urteilskraft

Der zwei­te Teil der Kri­tik der Ur­teils­kraft han­delt von der »te­leo­lo­gi­schen Ur­teils­kraft«. Die­se ist das uns ein­ge­pflanz­te Ver­mö­gen, die Na­tur un­ter dem Aspekt der Zweck­mä­ßig­keit an­zu­se­hen. Sie ist nicht Na­tur­er­kennt­nis, son­dern blo­ße Na­tur­be­trach­tung, eine Ma­xi­me der Na­tur­be­ur­tei­lung. Sie hat wie alle an­de­ren Ver­mö­gen ihre Wur­zel in der Ein­rich­tung un­se­rer Ver­nunft, in ei­ner be­stimm­ten Be­schaf­fen­heit un­se­res Er­kennt­nis­ver­mö­gens, die be­wirkt, daß wir uns die Phä­no­me­ne der or­ga­ni­schen Na­tur nicht aus bloß me­cha­ni­schen Ur­sa­chen er­klä­ren kön­nen, son­dern nur durch die Idee der Zweck­mä­ßig­keit. Die Prin­zi­pi­en der te­leo­lo­gi­schen Ur­teils­kraft sind heu­ris­tisch, »re­gu­la­tiv«, in­dem sie nicht Ge­set­ze ge­ben wie die Ka­te­go­ri­en, son­dern nur Richt­li­ni­en.

Er­ken­nen kön­nen wir nur me­cha­nisch wir­ken­de Ur­sa­chen. Aber be­grei­fen kön­nen wir die Le­bens­er­schei­nun­gen nur durch eine te­leo­lo­gi­sche Be­trach­tungs­wei­se. Die­ses ist ein »als ob«, aber dar­um doch vom Ran­ge der All­ge­mein­gül­tig­keit und Ob­jek­ti­vi­tät, denn sie ist eine ver­nunft­not­wen­di­ge An­sicht. Die Zweck­mä­ßig­keit wird eben­so wie die Schön­hei­ten, die Kau­sa­li­tät zu den Din­gen hin­zu­ge­bracht, hin­zu­ge­dacht, aber zwin­gend: durch die Struk­tur un­se­rer Ap­per­zep­ti­on. Die For­mel für Fra­ge und Ant­wort die­ses Ka­pi­tels der kan­ti­schen Kri­tik wür­de dem­nach etwa lau­ten: wie ist Bio­lo­gie mög­lich? durch un­se­re Zwe­cke set­zen­de te­leo­lo­gi­sche Ur­teils­kraft.

Die historische Urteilskraft

Es lie­ße sich nun sehr wohl den­ken, daß Kant auch eine »Kri­tik der his­to­ri­schen Ur­teils­kraft« ver­faßt hät­te. Wie sei­ne »tran­szen­den­ta­le Ana­ly­tik« die Fra­ge un­ter­sucht: wie ist Na­tur, oder auch: wie ist Na­tur­wis­sen­schaft mög­lich?, so hät­te es sich hier um die Fra­ge ge­han­delt: wie ist Ge­schich­te, wie ist Ge­schichts­wis­sen­schaft mög­lich? Nach Kant ist, was wir Er­fah­rung nen­nen, ein Pro­dukt un­se­res Ver­stan­des und sei­ner Ver­knüp­fungs­be­grif­fe, Sitt­lich­keit ein Pro­dukt un­se­rer prak­ti­schen Ver­nunft (denn auch der ka­te­go­ri­sche Im­pe­ra­tiv ist aprio­risch), Schön­heit ein Pro­dukt un­se­rer äs­the­ti­schen Ur­teils­kraft und Zweck­mä­ßig­keit ein Pro­dukt un­se­rer te­leo­lo­gi­schen Ur­teils­kraft. Und eben­so ist Ge­schich­te ein Pro­dukt un­se­rer his­to­ri­schen Ur­teils­kraft.

Die his­to­ri­sche Ur­teils­kraft hat dar­in Ähn­lich­keit mit der äs­the­ti­schen Ur­teils­kraft, daß sie auch eine be­stimm­te Be­trach­tungs­art ist, die die Er­schei­nun­gen erst zu his­to­ri­schen macht. Auch sie wur­zelt in ei­nem Ge­fühl, das uni­ver­sell und eben­da­rum auch all­ge­mein mit­teil­bar ist. Das äs­the­ti­sche Ur­teil ist, wie je­der­mann weiß, wan­del­bar, aber den­noch für das je­wei­li­ge Zeit­al­ter oder Ge­schlecht, aus dem es ge­bo­ren ist, sta­bil; eben­so ver­hält es sich mit dem his­to­ri­schen Ur­teil: Es gibt eine Art »his­to­ri­schen Ge­schmack«, der, ob­schon zeit­ge­bun­den, das Ge­prä­ge der Not­wen­dig­keit und All­ge­mein­gül­tig­keit trägt, es gibt einen »his­to­ri­schen Ge­mein­sinn«. »In je­der Geis­te­s­pe­ri­ode«, sagt der hol­län­di­sche Kul­tur­his­to­ri­ker Hui­zin­ga, »be­steht eine tat­säch­li­che Ho­mo­ge­ni­tät des his­to­ri­schen Wis­sens … eine ge­wis­se Ka­tho­li­zi­tät der Er­kennt­nis«. Es herrscht in je­dem ein­zel­nen Kul­tur­zeit­al­ter ein un­ter­ir­di­scher Kon­sen­sus über den gan­zen Vor­stel­lungs­kom­plex »Welt­ge­schich­te«: sei­ne Haupt­pro­ble­me, sei­ne Ent­wick­lungs­li­ni­en, sei­ne großen Etap­pen, sei­ne re­prä­sen­ta­ti­ven Ge­stal­ten. Im gan­zen acht­zehn­ten Jahr­hun­dert re­gier­te das Schlag­wort vom »fins­te­ren Mit­tel­al­ter«: selbst Her­der spricht von der »Nacht der mitt­le­ren Zei­ten«, und Ro­berts­on ge­braucht »Dark Age­s« ge­ra­de­zu als Syn­onym für Mit­tel­al­ter. Um den Be­ginn des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts wird das Mit­tel­al­ter ro­man­tisch, und zu An­fang des zwan­zigs­ten wird es ex­pres­sio­nis­tisch. Es war na­tür­lich nichts von al­le­dem; aber für die Zeit­ge­nos­sen die­ser Stich­wör­ter war dies sei­ne un­leug­ba­re Rea­li­tät. Die Ad­jek­ti­ve »ba­rock« und »go­tisch« wa­ren lan­ge Zeit all­ge­mein ge­brauch­te Schimpf­na­men: wir spre­chen ja auch heu­te noch von ei­nem »ba­ro­cken Stil« und mei­nen da­mit, daß er schrul­len­haft, bi­zarr, ver­schnör­kelt ist, und der jun­ge Goe­the be­kennt: »Un­ter die Ru­brik go­tisch häuf­te ich alle syn­ony­mi­schen Miß­ver­ständ­nis­se, die mir von Un­be­stimm­tem, Un­ter­ge­ord­ne­tem, Un­na­tür­li­chem, Zu­sam­men­ge­stop­pel­tem, Auf­ge­flick­tem, Über­la­de­nem je­mals durch den Kopf ge­gan­gen wa­ren«: go­tisch be­deu­te­te da­mals noch das­sel­be wie bar­ba­risch. Jo­han­nes Duns Sco­tus, das Schul­haupt der Sco­tis­ten, we­gen der Fein­heit und Schär­fe sei­ner Di­stink­tio­nen doc­tor sub­ti­lis ge­nannt, war ei­ner der ori­gi­nells­ten und geist­volls­ten Den­ker des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters; er wur­de aber von der or­tho­do­xen Scho­las­tik we­gen sei­nes No­mi­na­lis­mus be­kämpft, und in­fol­ge­des­sen war in Deutsch­land lan­ge Zeit Duns der Spitz­na­me für einen ein­fäl­ti­gen, auf­ge­bla­se­nen Men­schen, und in Eng­land ist dun­ce noch jetzt ein Wort für Dumm­kopf. »Sha­ke­s­pea­risch« ist heu­te wohl der lo­bends­te Ehren­na­me, den man ei­nem dra­ma­ti­schen Pro­dukt er­tei­len kann, aber vor zwei­hun­dert Jah­ren war es noch ein sehr be­denk­li­ches Prä­di­kat: es be­deu­te­te so­viel wie roh, chao­tisch, kunst­los; ein Pa­vi­an, sag­te ein an­ge­se­he­ner eng­li­scher Kunst­kri­ti­ker aus der Zeit der Kö­ni­gin Anna, be­sit­ze mehr Ge­schmack als Sha­ke­s­pea­re, und noch Vol­taire nann­te ihn einen trun­ke­nen Wil­den und go­ti­schen Ko­loß, wo­bei go­tisch na­tür­lich wie­der­um im her­ab­set­zen­den Sin­ne ge­meint ist. »So­phis­tes« heißt der »Wei­se­ma­cher«, also so­viel wie der Wei­se, und da­für gal­ten auch ur­sprüng­lich die Leh­rer der So­phis­tik, wäh­rend »Phi­lo­soph« bloß der »Weis­heit­lie­ben­de« war; aber un­ter dem Ein­fluß des Pla­to­nis­mus ha­ben die­se bei­den Vo­ka­beln ihre Rang­ord­nung ge­tauscht: So­phis­tik be­deu­tet spä­ter ge­ra­de­zu das Ge­gen­teil von Weis­heit. »Li­be­ra­lis­mus« war im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert das edle Be­kennt­nis zu Fort­schritt und Frei­heit; heu­te be­fin­det sich das Wort schon ganz merk­lich auf dem Wege zur Ehren­be­lei­di­gung. »Je­suit« be­zeich­net das höchs­te Ide­al, das über­haupt ei­nem Ir­di­schen vor­zu­schwe­ben ver­mag, näm­lich Ge­nos­se Jesu; aber die­sen Wort­sinn fühlt heu­te nie­mand mehr, viel­mehr muß man, wenn man den Aus­druck nicht als Krän­kung ge­braucht wis­sen will, dies aus­drück­lich hin­zu be­mer­ken.

Der Autor der Geschichte

Es han­delt sich aber in die­sen und zahl­lo­sen an­de­ren Fäl­len nicht um Pri­va­t­ur­tei­le, aus­tausch­ba­re Ge­sichts­win­kel, Wahl­an­sich­ten, auch nicht um die An­schau­un­gen ge­wis­ser Grup­pen, die etwa durch tiefe­re Ge­schichts­er­kennt­nis oder um­fas­sen­de­res Ge­schichts­wis­sen zu neu­en Er­geb­nis­sen ge­langt wä­ren, son­dern um die Mei­nung des Zeit­al­ters sel­ber. Sie kommt und geht; aber wo­durch sie sich ver­än­dert, warum sie sich über­haupt ver­än­dert, das wis­sen wir nicht. Die Ver­wand­lung ih­res Ant­lit­zes ist ein eben­so großes Rät­sel wie das Ver­schwin­den der Sau­ri­er, die Ge­burt der Spra­che, das Auf­leuch­ten ei­nes neu­en Sterns.

Man kann also sa­gen: Ge­schich­te ist Dich­tung und ihr Au­tor das Men­schen­ge­schlecht. Aber dies be­deu­tet nicht etwa, daß sie eine be­lie­bi­ge »Phan­ta­sie« ist, viel­mehr trägt sie, wie Jede ech­te Dich­tung, den Cha­rak­ter der Not­wen­dig­keit. Was Kant in der Dia­lek­tik der äs­the­ti­schen Ur­teils­kraft