Kurzgeschichten ohne Hut - Monika Kubach - E-Book

Kurzgeschichten ohne Hut E-Book

Monika Kubach

4,8

Beschreibung

Scheinbar alltägliche Situationen entwickeln sich in unerwartete Richtungen. Geister, Untote, Werwölfe, Feen und andere Fantasy-Wesen legen gern ungewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag. Schwarzhumorig und immer haarscharf am Genre vorbei erzählt Monika Kubach 19 Kurzgeschichten.

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Seitenzahl: 159

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Über die Autorin:

Monika Kubach wurde 1970 geboren. Dagegen kann man leider nichts mehr unternehmen.

Die Autorin über dieses Buch:

»Something old, something new, something borrowed, something blue and a silver sixpence in her shoe.«

Nach dieser Regel steckte ich Anthologie-Beiträge und unveröffentlichte Geschichten zwischen blaue Buchdeckel und hoffe nun, dass der eine oder andere Leser mir seine Aufmerksamkeit leiht, damit ab und zu ein Sixpence in meiner Abrechnung auftaucht.

Bisher erschienen:

Gut gelaufen, Thisbe! – Ida Obersteyns Tagebuch 2011

ISBN 978-3-8448-1891-8

150 Limericks – Eine Reise durch Deutschland

ISBN 978-3-8482-2790-7

Neues von der Fratze mit Hut – Satiren

ISBN 978-3-7386-0025-4

Die Fratze mit Hut dichtet dich dicht – Satirische Gedichte

ISBN 978-3-7392-0399-7

Inhalt

Ausgrabung

Die Toten von London

Die Moorfrau

Blütenpracht

Mondscheinpicknick

Der Star

Das Haus mit der Nummer 23

Der Verfolger

Das Weidenweibchen

Berge gibt es überall

Tea for two

Das Haus am Fjord

Die Verfolgung

Der kleine Nachbar

Ménage-à-trois

Wind und Wellen

Die drei Eichen

Die Falle

Mein kleines Fleckchen Erde

Ausgrabung

An dem Tag, an dem ich feststellen musste, dass meine Großtante Gerda gar nicht verrückt gewesen war, wurde mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Als kleine Kinder hatten wir ihr die Spukgeschichten noch geglaubt, aber spätestens im Teenageralter hatten wir die Meinung unserer Eltern geteilt, dass sie diese nur erfunden hatte, um sich kleine, anstrengende Übernachtungsgäste vom Leib zu halten. Zwei Monate nach ihrer Beerdigung zog ich in ihr Haus ein und wurde gleich in der ersten Nacht eines Besseren belehrt.

Das Fachwerkhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert lag inmitten eines herrlich verwilderten Gartens. Leider stammten die Möbel hauptsächlich aus den Sechzigerjahren, und es waren überall Holzdecken eingezogen. Die paar Antiquitäten, die sich noch in ihrem Besitz befunden hatten, standen nun bei meinen Schwestern. Wenn man die wunderschöne Haustür öffnete, machte man zwischen draußen und drinnen einen Zeitsprung von zweihundert Jahren.

Als wäre das nicht schon grauenhaft genug, wurde ich in der ersten Nacht von merkwürdigen Geräuschen geweckt. Es klang wie die vorsichtigen Schritte einer leichtgewichtigen Person. Ich saß aufrecht im Bett und war starr vor Angst! Einbrecher! Die Schritte kamen näher. Ich griff nach meinem Mobiltelefon auf dem Nachttisch, aber natürlich war der Akku mal wieder leer. Im spärlichen Licht der Straßenlaterne konnte ich erkennen, wie die Tür vorsichtig geöffnet wurde.

Aber es war gar nicht meine. Es war eine andere, durchscheinende, hinter der man die eigentliche Zimmertür erkennen konnte, die weiterhin geschlossen blieb. Ich hatte das Gefühl, ein doppelt belichtetes Foto zu sehen, und hielt verblüfft den Atem an. In der geöffneten Tür erschien die ebenso durchscheinende Gestalt einer älteren Dame in einem Kleid um 1850. Sie lächelte mich an, und mir wurde klar, dass ich träumen musste. Ich hatte schon häufiger Klarträume erlebt und war daran gewöhnt, aber keiner war bisher so poetisch-sentimental gewesen wie dieser. Ich lächelte in froher Erwartung dessen, was mir meine Fantasie nun wieder vorgaukeln wollte.

»Ach, das ist aber schön, dass ich so freundlich empfangen werde«, sagte die Dame und kam näher. »Ich hatte ein bisschen Angst vor unserer ersten Begegnung. Die liebe Gerda ist ja sehr alt geworden, und ich bin an Neuankömmlinge gar nicht mehr gewöhnt.«

Ich kicherte und fragte mich, ob das mit dem alten Haus oder den schwer verdaulichen Kartoffelklößen, die ich mir als Abendessen angebraten hatte, zusammenhing, dass mein Gehirn so abdrehte.

Die alte Dame fragte: »Darf ich mich setzen?«

»Ist ja irre!«, dachte ich und lachte laut, als sie sich formvollendet und mit knarrenden Korsettstangen auf meiner Bettkante niederließ. Der Traum war eine Wucht! Obwohl sie dort saß, konnte man keine Delle in der Bettdecke sehen. Plötzlich fiel mir auf, dass das ganze Zimmer mit durchscheinenden Möbeln eingerichtet war. Selbst an der Stelle meines Betts stand ein zweites Bett, auf dem sie saß. Die Szenerie erinnerte mich an diese albernen Geschichten über Paralleluniversen. Es war einfach zu komisch!

»Ich bin übrigens mit dir verwandt. Leider habe ich vergessen, wie viele Generationen zwischen uns liegen. Nenn mich einfach Urgroßtante Agathe.« Sie reichte mir die Hand, die ich aus Spaß ergriff, während ich mich ebenfalls vorstellte: »Mein Name ist Monika.« Ich erschrak fürchterlich! Ihre Hand war eiskalt!

»Ich weiß, Monika. Ich habe die liebe Gerda beraten, als sie ihr Testament verfasste. Sie hat mich häufig um Rat gefragt. Keiner kannte ihre Gäste so gut wie ich. Man kann mich zwar außerhalb der Geisterstunde nicht sehen, aber ich bin trotzdem hier. Und wenn ich eines nicht leiden kann, dann sind es so gehässige Frauenzimmer wie deine Schwestern. Wie kommen sie dazu, sich hier Möbel auszusuchen und die besten Stücke abzutransportieren? Du bist Alleinerbin! Aber du hast ja schon als Kind immer nachgegeben. Da kann man wohl nichts machen. Ich verabschiede mich jetzt, damit du wieder schlafen kannst. Gute Nacht!« Sie ging, wie sie gekommen war, und ich saß zitternd im Bett. Der Schweiß auf meiner Stirn fühlte sich fast so kalt an wie ihre Hand. Aber nur fast.

An Schlaf war natürlich nicht zu denken! Erst gegen Morgen übermannte mich wohl die Müdigkeit, und ich schlief traumlos in den Vormittag hinein. Den Rest des Tages versuchte ich, mich abzulenken, aber das Erlebte hielt mich fest umschlungen wie eine Anakonda. Was war nur los mit mir? Natürlich war das ein Traum! Aber die eiskalte Hand? Teil des Traums! Aber ich hatte das noch nie so erlebt! Einmal ist immer das erste Mal!

Natürlich kam sie in der nächsten Nacht wieder. Und in der übernächsten. Und in allen weiteren Nächten. Es lief immer nach dem gleichen Schema ab: Sie wünschte mir einen guten Abend und verbrachte den Rest der Geisterstunde, indem sie in allen möglichen Schränken, Truhen und Kommoden wühlte, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Wenn ich Pech hatte, führte sie diese Suchaktion in meinem Schlafzimmer durch, und ich konnte zwischen zwölf und eins kein Auge zumachen. Wenn ich Glück hatte, nahm sie sich eines der anderen Zimmer gründlich vor, und ich hatte eine reelle Chance weiterzuschlafen, wenn sie nicht zu viel Lärm machte.

Irgendwann gab ich das Grübeln auf und fügte mich in mein Schicksal. Wahrscheinlich war ich verrückt wie Großtante Gerda. Ihre Geistergeschichten, von denen ich als Kind regelmäßig Albträume bekommen hatte, hatten sich möglicherweise in meinem Unterbewusstsein fest mit diesem Haus verbunden und waren beim Umzug zum Vorschein gekommen. Und wie!

Jeden Morgen nahm ich mir aufs Neue vor, endlich mal meinen Hausarzt darauf anzusprechen, aber die Scham war natürlich groß. Deshalb probierte ich alle möglichen Einschlaftricks aus, weil ich lange Zeit dachte, dass ich in Wirklichkeit an Schlafproblemen litt. Aber es war gut, dass ich dieses Vorhaben ständig auf die lange Bank schob, denn eines Nachts setzte sich Urgroßtante Agathe plötzlich wieder auf meine Bettkante und sah mir mit besorgter Miene in die Augen. »Du siehst blass und müde aus, meine Liebe! Du solltest mehr schlafen!«

Das war doch die Höhe! »Ich könnte wunderbar schlafen, wenn ich nicht ständig von dir träumen und mich darüber aufregen würde.«

»Ach? Du glaubst, ich sei ein Traum? Also das können wir ganz leicht klären, meine Liebe. Dafür haben Gerda und ich vorgesorgt.« Sie kicherte vergnügt und fuhr dann fort: »Am Ende des Flurs findest du eine lose Diele. Darunter befindet sich ein Brief von Gerda für dich. Das müsste eigentlich genügen.«

Ich sprang wütend aus dem Bett. Wütend auf sie, weil sie mich nicht in Ruhe ließ, und wütend auf mich, weil ich den Mist, den mir mein Gehirn vorgaukelte, glaubte. Ich fand unter dem losen Dielenbrett einen staubigen Brief mit folgendem Wortlaut: »Liebe Monika, Du bist nicht verrückt. Hier spukt es wirklich. Mach Dir keine Sorgen, denn sie ist sehr freundlich und hilfsbereit. Mit der Zeit wirst Du Dich auch an ihren Humor gewöhnen. Alles Liebe! Deine Großtante Gerda« Ich nahm den Brief mit ins Schlafzimmer und legte ihn auf meinen Nachttisch. Urgroßtante Agathe war verschwunden.

Am nächsten Morgen lag dieser Brief leider noch immer auf dem Nachttisch, und der Arztbesuch hatte sich von selbst erledigt. Sie setzte sich von da an öfter einmal an mein Bett und schien ein Gefühl dafür zu haben, wenn mich etwas beschäftigte. Ihrer geschickten Fragetechnik konnte ich mich einfach nicht entziehen. Anscheinend beobachtete sie mich tagsüber und erkannte an meinem Gesicht oder Verhalten, ob ich glücklich oder traurig war. Diese Erkenntnis verursachte anfangs einen starken Anfall von Paranoia, aber der Mensch gewöhnt sich anscheinend an alles. Und so kam es, dass es mich nicht mehr störte und ich sie häufiger mal um Rat fragte. Sie hatte eine hervorragende Menschenkenntnis und half mir aus so mancher scheinbar ausweglosen Situation.

Wenn sie nur nicht jede Nacht laut herumgewühlt hätte! Eines Tages nahm ich meinen Mut zusammen: »Urgroßtante Agathe, darf ich dich etwas fragen?«

»Natürlich, meine Liebe! Was hast du auf dem Herzen?«

»Wonach suchst du eigentlich jede Nacht?«

Sie blickte verlegen lächelnd auf ihre Hände. »Nach einer goldenen Venusstatuette. Ich hatte sie an einem sicheren Ort versteckt und kann mich einfach nicht mehr erinnern, wo das war.«

»Kann ich dir irgendwie helfen? Du hast doch sicherlich schon unzählige Male das ganze Haus gründlich abgesucht. Hier kann sie doch eigentlich gar nicht sein.«

Ihre Augen leuchteten, und sie war mit einem Mal ganz aufgeregt: »Das ist wahr! Und weißt du was? Mir fällt plötzlich ein, wo ich sie vergraben hatte! Im Garten! Dort, wo sich jetzt dieser fürchterlich hässliche Geräteschuppen befindet. Früher stand da ein Birnbaum mit herrlichen Früchten! Aber dein Großonkel Egon hat ihn gefällt und diese Augenbeleidigung hingestellt. Gräbst du die Venus bitte aus? Ich bin hier an dieses Haus gebunden und kann es nicht verlassen.«

»Ich schau mal, was ich tun kann. Der Schuppen ist so morsch, dass er bald von allein zusammenbricht. Aber für die Betonplatte brauche ich sicherlich einen Presslufthammer.«

»Die Platte ist nicht dick. Er kippte da nur ein wenig von diesem Zeug hin. Das kannst du bestimmt selbst zertrümmern und wegräumen.«

Am folgenden Samstag machte ich mich ans Werk. Ich räumte die noch brauchbaren Gartengeräte und Werkzeuge in den Keller und zerlegte den Schuppen mit einem Brecheisen. Die Betonplatte war wirklich nicht sehr dick und im Laufe der Jahre in mehrere Teile zersprungen. Mit einem großen Hammer zerschlug ich sie in kleinere Stücke, die ich mit einer Spitzhacke herauswuchtete. In der darauffolgenden Nacht schlief ich wie ein Murmeltier. Urgroßtante Agathe hatte das Wühlen und Suchen anscheinend aufgegeben, da der Schatz ja lokalisiert war.

Am nächsten Morgen grub ich an der Stelle mit einem Spaten ein großes Loch, aber ich konnte nichts finden. Obwohl ich hundemüde war, konnte ich am Abend ums Verrecken nicht einschlafen und lag bis Mitternacht wach. Urgroßtante Agathe kam lächelnd in mein Zimmer und setzte sich wie immer an mein Bett. Ich erzählte ihr von der erfolglosen Suche und wunderte mich, dass ihr Lächeln immer breiter wurde. Als ich meinen Bericht beendet hatte, rief sie: »April! April!«

Ich starrte sie an und konnte es zuerst nicht glauben. »Das war nur ein Scherz?«

»In einem anständigen Haus gibt es keine nackten Venusstatuetten! Der Schuppen war mir schon immer ein Dorn im Auge, weil er mir die Sicht auf das Nachbarhaus versperrte. Du glaubst gar nicht, wie langweilig es hier tagsüber ist! Und jetzt habe ich endlich wieder freie Sicht in das Nachbarküchenfenster.«

Mir fiel plötzlich ein Satz aus Großtante Gerdas Brief ein: »Mit der Zeit wirst Du Dich auch an ihren Humor gewöhnen.«

Die Toten von London

Meist muss erst ein Unfall passieren, bevor man die Augen öffnet und begreift, was um einen herum geschieht. So war es auch an dem Wochenende, das Michael und ich in London verbrachten. Ich beachtete brav die Schilder, die einen aufforderten, auf der Rolltreppe zur U-Bahn rechts zu stehen, damit die Eiligen links gehen konnten, als mich plötzlich ein junger Mann mit einer breiten Sporttasche überholte. Wie es genau geschah, kann ich eigentlich gar nicht mehr sagen, aber er blieb an meiner Handtasche hängen, zog mich mit und brachte mich zu Fall. Alles ging so rasend schnell. Ein paar Meter weiter unten bremste eine Frau meinen Sturz, die sich durch Michaels Schreckensschrei gewarnt am Handlauf festgeklammert hatte. Jemand drückte auf den Notschalter, die Rolltreppe blieb stehen, und ich blickte in lauter erschrockene Gesichter: ein bekanntes und ein Dutzend unbekannte. Langsam setzte ich mich auf, bewegte alle Glieder, wischte mir mit einem Taschentuch die Stirn ab und stand auf, um vorsichtig die letzten Stufen nach unten zu gehen.

»Bleib stehen! Du hast einen Schock, Schatz!« Michael hielt mich am Arm fest.

»Ach, Quatsch! So schlimm war das gar nicht. Ein paar blaue Flecke vielleicht. Mehr nicht.« Die Gruppe der Schaulustigen hatte sich inzwischen aufgelöst, und ich ließ mich in der Menge treiben, die zum Bahnsteig strömte. Michael trabte hinter mir her und redete in einer Tour auf mich ein, aber ich hörte kaum zu, denn irgendetwas Merkwürdiges ging hier vor. Die Menschen bewegten sich wie Automaten. Nicht alle, aber die meisten. Sie hatten dieselbe Schrittgeschwindigkeit, denselben leeren Gesichtsausdruck und denselben starren Blick, der entweder nach vorn oder auf ein Smartphone gerichtet war. Ich versuchte, mit ihnen Schritt zu halten, was anfangs gar nicht so einfach war. Auf dem Bahnsteig sah ich mich verstohlen um und versuchte vergeblich, mit einer dieser Personen Blickkontakt aufzunehmen. Aber entweder starrten sie geradeaus auf die Werbetafeln, die an der Wand jenseits der Gleise angebracht waren, oder auf ihre Smartphones. Keiner sah mir in die Augen. Und nun wusste ich auch warum: Ihr Blick war leer und ohne Leben. Sie waren tot.

»Blödsinn!«, war Michaels Reaktion, als ich ihm aufgeregt meine Beobachtung zuflüsterte. »Das Kind da drüben ist keinesfalls tot. Das ist aber mal so was von lebendig!« Damit hatte er natürlich recht. Das kleine Mädchen zappelte und schrie sich die Lungen aus dem Leib. Doch die Mutter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und starrte auf die Anzeigetafel.

Auch der Teenager neben mir blickte vor sich auf den Boden und wippte rhythmisch mit einem Fuß. Unter seiner Zottelfrisur konnte man die Ohrstöpsel seines MP3-Players erahnen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Er erinnerte mich an die Blechfigur auf einem Musikautomaten, den ich einmal in einem Museum bewundert hatte. Eine alte Frau mit wachem Blick bahnte sich ihren Weg durch die wartende Menge, rempelte ihn versehentlich an und entschuldigte sich auf landestypische Weise. Ein Ohrstöpsel war ihm dabei herausgerutscht und lag auf meiner Schulter, doch das schien ihm gar nicht aufzufallen. Er wippte weiter mit dem Fuß. Ich starrte ihn an. Es war keine Musik zu hören. Mir war eiskalt.

Ich riss mich zusammen und ließ mir nichts anmerken. Eine U-Bahn fuhr ein, wie betäubt folgte ich Michael und quetschte mich zwischen die anderen Fahrgäste. Nur nicht auffallen! Aus den Augenwinkeln konnte ich hier und da ein paar wache Augen erkennen, aber die meisten Blicke waren leer und tot. Was geschah hier?

Oxford Circus. Wir stiegen aus. Trotz der Hitze in den U-Bahn-Schächten fröstelte es mich und ich hatte plötzlich eine unbändige Lust auf eine schöne, heiße Tasse Tee.

»Tee? Um diese Zeit? Mir ist mehr nach Mittagessen zumute«, nörgelte Michael, aber ich ignorierte ihn und ließ mich flotten Schrittes von der Menge treiben. Zum Glück war im Café Liberty noch ein Tisch frei. Während Michael fröhlich feststellte, dass dort auch Lunch serviert wurde, trommelte ich nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Endlich nahm eine Kellnerin mit toten Augen unsere Bestellung entgegen.

»Bist du dir sicher? English Breakfast Tea? Mittags? Du magst doch gar keinen Schwarztee!« Warum konnte mich Michael nicht einfach in Ruhe lassen? Soll er doch seinen Grüntee schlürfen. Ich hatte eben plötzlich Lust auf etwas Handfestes.

»Was ist los mit dir, Schatz?« Er ließ nicht locker. »Bist du sauer, weil ich dich vorhin nicht ernst nahm?«

Ich hatte keine Lust mehr auf eine Diskussion, deren Ausgang ich mir denken konnte, und sah mir die Törtchen in der Vitrine hinter ihm an. Endlich kam der Tee. Ich goss mir sofort eine Tasse ein und trank sie in einem Zug leer. Ohne Milch und ohne Zucker. Michael sah mich so merkwürdig an und sagte irgendetwas von wegen »viel zu heiß«, aber der Rest ging im Stimmengewirr unter.

Schweigend verspeiste er seinen Lunch, während ich auf seinen Teller starrte und nur meinen Tee trank. Ich bestellte noch ein zweites Kännchen und konnte gar nicht verstehen, warum ich bisher immer nur grünen oder weißen Tee getrunken hatte. Dieser schwarze war der beste Tee, den ich je gekostet hatte, und ich fühlte, wie ich mit jedem Schluck neue Energie tankte.

Danach ließen wir uns wieder in der Menschenmenge zur U-Bahn-Station treiben. Es war ein angenehmes Gefühl, sich sozusagen im Gleichschritt mit den anderen zu bewegen. Die Leute in London waren viel flotter unterwegs, als ich es in Deutschland gewohnt war, und man kam sehr gut voran, ohne überholen zu müssen.

Vor der Station legte mir Michael den Arm um die Schultern und versuchte, meinen Kopf zu sich zu drehen. »Jetzt sei mir doch nicht mehr böse! Ja, die meisten Leute haben irgendwie einen merkwürdigen Blick. Da hast du völlig recht. Aber das bedeutet ja nicht, dass sie tot sind. Sie sehen nur tot aus. Wir haben da aneinander vorbeigeredet.«

»Du verstehst mich nicht«, flüsterte ich und sah mir das Plakat mit Werbung für ein Musical an, das schräg hinter ihm hing. Ich fühlte mich von dem Bild auf geheimnisvolle Weise angezogen, obwohl ich genau wie Michael Musicals auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Von hinten wurde ich angerempelt und das übliche »Sorry« klang wie aus weiter Ferne. Ich fühlte mich mitgerissen und ließ mich von der Menge in Richtung der Rolltreppen treiben. Kurz davor hielt mich Michael am Arm fest und zog mich in eine ruhigere Ecke. Irgendetwas sagte er noch, während ich die Menschen betrachtete, die an uns vorbeigingen. Die meisten mit totem, leerem Blick. Mit der Zeit wurden es weniger. Der große Pulk war wohl vorüber. Worauf warteten wir hier eigentlich?

Ich ging zur Rolltreppe, Michael überholte mich auf den letzten paar Metern, stellte sich auf die Stufe vor mir und machte auf der Fahrt nach unten irgendwelche Faxen, wahrscheinlich um mir ein Lächeln zu entlocken, während ich die Werbeplakate an der Wand betrachtete. Ich gab ihm einen kräftigen Stoß, und er fiel, sich mehrfach überschlagend, den Rest der Rolltreppe hinunter.

Diesmal drückte niemand den Notschalter. Als ich endlich unten ankam, hatte er sich schon aufgerappelt und sah mich so merkwürdig an. Ich reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er sich das Blut von der Stirn wischte. Mit der linken Hand, denn sein rechtes Handgelenk schien gebrochen zu sein. »Nur ein paar blaue Flecke vielleicht. Mehr nicht«, murmelte er.

»Verstehst du jetzt, was ich meine?«, fragte ich ihn, und er nickte. Sein Genick knirschte dabei.

»Hier unten ist es plötzlich so kalt«, flüsterte er und sah sich mit leerem Blick um.

»Wir könnten zurück ins Liberty und Tee trinken. Ich könnte auch noch einen vertragen«, schlug ich vor.

»Gute Idee! Ich probiere jetzt auch mal den English Breakfast Tea aus. Eigentlich kann ich das Zeug ja nicht ausstehen, aber diese Rolltreppen machen durstig und Lust auf was Kräftiges.«