Kurzgeschichten über das Leben (2) - Nicht alle Tage scheint die Sonne - Hanne Katz - E-Book

Kurzgeschichten über das Leben (2) - Nicht alle Tage scheint die Sonne E-Book

Hanne Katz

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Beschreibung

Die Geschichten in diesem Buch erzählen von Menschen jeden Alters, die in Frankfurt, Offenbach oder sonst wo leben. Sie alle berichten von alltäglichen Lebenswegen und schicksalhaften Ereignissen. Es sind die kleinen Katastrophen des Alltags, die den unterschiedlichsten Charakteren widerfahren. Zwei befreundete Familien, deren Freundschaft mit der Zeit zerbricht; der ältere Mann, der sich nur für jüngere Frauen interessiert; die Frau, die von den Veränderungen erzählt, die die Corona-Pandemie bewirkt hat; der Freund, der als Lügner entlarvt wird; die alte Dame, die an Alzheimer erkrankt und ihre Umgebung auf Trapp hält; die Frau, die ihrem Stalker entkommen will; die Klimaaktivisten, die nach Mitteln und Wegen suchen, die Regierung zum Handeln zu zwingen u.v.m.

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Inhaltsverzeichnis

Bäumchen wechsel dich

Mein Freund Peter

Beim Psychotherapeut

Wer ist der Lügner?

Alles nur ein Plan?

Schulfreizeit

Tante Gertrud

Eine Reise zum Meer

Freundschaft

Ein anderes Leben

Der Stalker

Traum oder Alptraum

Klimawandel, wir schreiben das Jahr 2024

Wir schreiben das Jahr 2029

Bäumchen wechsel dich

Sie sind Ende der Siebziger geboren, Sandra und Nicole, Michael und Tobias. Die beiden Mädchen begannen ihr erstes Schuljahr in derselben Schule. Sie fürchteten ihre Lehrerin Frau Bauer, die streng und unfreundlich war und sofort die Eltern informierte, wenn eines der Kinder seine Hefte oder das Lesebuch vergessen hatte. Im zweiten Schuljahr übernahm Frau Fischer die Klasse. Sie brachte mit ihren originellen Ideen, das Einmaleins und andere schwierige Rechenaufgaben zu beherrschen, viel Schwung in die Klasse. Sandra und Nicole besuchten diese Schule bis zur vierten Klasse, ohne sich besonders miteinander anzufreunden.

Sandra und ihre beste Freundin Nele wohnten in derselben Straße und schienen unzertrennlich. Nicole dagegen hatte sich gegen Ende des ersten Schuljahres einer Mädchengruppe angeschlossen, deren Mitglieder sich in den Pausen in eine Ecke zurückzogen und miteinander tuschelten. Nach der vierten Klasse wechselten beide Mädchen in jeweils eine andere Schule. Sie begegneten sich gelegentlich, bis sie sich nur noch schwach an einander erinnerten.

Michael kam in seinem zehnten Lebensjahr mit Eltern und Geschwistern in die Stadt. Er verließ die Schule im Alter von sechzehn Jahren, machte eine Lehre als Bürokaufmann und arbeitete später in einer der großen Firmen der Umgebung. Er verdiente gut, trat einem Schachclub bei und widmete sich an den Samstagen dem Spiel.

Tobias war zwei Jahre vor den Mädchen in dieselbe Schule gekommen. Sie waren sich während der Schulzeit sicher gelegentlich begegnet, ohne sich kennen zu lernen. Tobias machte eine Ausbildung als Tierpfleger und arbeitete seitdem im Tiergarten der Stadt und an den Wochenenden spielte er mit Begeisterung Fußball.

Nach ihrer Ausbildung als Kindergärtnerin bekam Sandra eine Stelle in einem Hort nah an ihrem Wohnort. Sie betrieb kein besonderes Hobby, traf sich häufig mit ihren Freundinnen, hauptsächlich um sich die neuesten Filme anzuschauen und um danach gemeinsam darüber zu schwärmen. Nicole lernte Bürokauffrau, nahm an verschiedenen Fortbildungen teil und schaffte es mit Mitte zwanzig, eine gut bezahlte Stelle als Buchhalterin zu bekommen. Sie spielte Handball und liebte besonders den Sommer und das Schwimmen in den nahegelegenen Seen.

2003 heirateten Sandra und Michael. Sie hatten sich zwei Jahre zuvor beim Tanz in den Mai kennen gelernt. Sandra war, weil sie genauso gerne aß, was sie kochte, ein wenig üppig geworden. Sie hatte dunkelblondes glattes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, blaue Augen und volle Lippen. Die beiden bildeten ein schönes Paar. Sie im weißen langen Brautkleid und er zum ersten Mal in seinem Leben in einem dunkelblauen Anzug. Sie wurden gefeiert von den Eltern, Verwandten und Freunden und sie versprachen sich, diesen schönsten Tag in ihrem Leben nie zu vergessen.

Die Tochter Lena kam zwei Jahre nach der Trauung zur Welt. Auf ein zweites Kind mussten sie aus gesundheitlichen Gründen verzichten, worunter Sandra eine Weile sehr litt. Michael, glücklich über seine Tochter, tröstete Sandra und meinte: „Schauen wir mal, wenn wir in einigen Jahren genug verdienen, werden wir ein zweites Kind adoptieren.“

Nicoles Sohn Jan wurde geboren, einige Wochen nachdem ihr langjähriger Freund mit dem Motorrad tödlich verunglückt war, ohne zu erfahren, dass er Vater werden würde. Zwei Jahre später nahm sie den einjährigen Sohn ihres Bruders zu sich, nachdem amtlich festgestellt wurde, dass seine Eltern ihn nicht versorgen konnten. Nicole schlug sich noch einige Zeit mit dem Jugendamt herum, bis Klarheit darüber herrschte, dass sie Tom, so wurde er genannt, bei sich behalten konnte. Ihr Bruder besuchte seinen Sohn ein bis zwei Mal im Jahr, in den Phasen, in denen er teilweise auf den Alkohol verzichtete. Beide Jungens betrachteten Nicole als ihre Mama.

Nicole erbte unerwartet von einem entfernten Verwandten ein heruntergekommenes Einfamilienhaus und ein wenig Geld, mit dem sie das Häuschen renovierte. Tobias lernte sie kennen, als die beiden Jungen in den Kindergarten aufgenommen wurden, und Nicole wieder Vollzeit arbeiten konnte. Kurze Zeit später zog Tobias bei ihr ein und sie fühlten sich alle zufrieden.

Die beiden Familien wohnten in derselben Stadt im Süden des Landes. Michael und Sandra in einer gut geschnittenen Wohnung mit Balkon in einem Mietshaus am Rande der Stadt. Nicole und Tobias in ihrem Schloss, wie sie ihr Haus mit Garten nannten, das am Anfang einer Reihe von Einfamilienhäusern stand.

Die beiden Frauen begegneten sich vielleicht gelegentlich auf der Straße oder einem Kinderspielplatz, ohne einander zu erkennen. Doch eines Tages schlenderte Nicole über den Markt, schaute sich um und überlegte, was sie für das Wochenende einkaufen wollte. Da entdeckte sie gegenüber eine Frau, die sie zu kennen glaubte. Sie grübelte, wo war ihr das Gesicht schon einmal begegnet, aber es wollte ihr nicht einfallen. Kurz entschlossen lief sie zu ihr hinüber. „Verzeihung, aber kennen wir uns nicht?“

Sandra, in Gedanken beim sonntäglichen Mittagessen, schaute sie erstaunt an. „Ich weiß wirklich nicht… aber doch… sag, bist du nicht Nicole?“ „Richtig, waren wir nicht zusammen in derselben Klasse?“ „Doch, jetzt fällt es mir ein, du bist Sandra, die beste im Aufsatzschreiben.“ „Und du bist die Nicole, die fantastische Handballspielerin.“ Die beiden stellten fest, wie sehr sie sich verändert hatten und erinnerten sich der Jahre, als sie noch mit Pferdeschwanz und kurzen Röcken auf dem Schulhof herumtollten. Jetzt standen sich zwei verheiratete Frauen Ende zwanzig gegenüber. Nachdem Überraschung und Wiedersehensfreude abgeklungen waren, schlenderten sie gemeinsam zu einem Stand, der Kaffee und Kuchen anbot, setzten sich, um einander zu erzählen, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen war. Es verging gut eine halbe Stunde, als beide erschrocken auf die Uhr blickten und sich daran erinnerten, dass sie längst zuhause erwartet wurden. Sie trennten sich, nachdem sie ihre Telefonnummern ausgetauscht und einander versichert hatten, sich bald wieder zu treffen. Es dauerte einige Wochen, der Herbst hatte sich bereits angekündigt, als Nicole sich entschloss, Sandra anzurufen und zum Sonntagnachmittagskaffee einzuladen.

An einem späten Frühlingstag wurde Sandra mit ihrem Mann und der Tochter erwartet. Nicole hatte sie bereits entdeckt, als sie am Gartenzaun entlang spazierten. Sie lief ihnen entgegen, um das Gartentor zu öffnen. Zunächst stand man sich für einen Moment abwartend gegenüber. Nicole lud sie mit einer Geste ein, an dem bereits gedeckten Tisch Platz zu nehmen. Die Kinder, alle drei noch keine fünf Jahre alt, setzten sich an den sogenannten Kindertisch. Die Väter wechselten einige Allgemeinsätze und versuchten sich gegenseitig einzuschätzen, während die Frauen Kaffee und Kuchen heraustrugen und verteilten. Tobias hielt eine kurze Willkommensrede, die heftig beklatscht wurde. Während des Essens und Trinkens wurden nur wenige Worte gewechselt. Später zeigten die beiden Jungen dem fremden Mädchen den Garten und bald sah man sie alle drei über die Wiese laufen. Die Erwachsenen redeten über dies und das und stellten bald fest, dass sowohl ihr Alltag als auch ihre Interessen und Meinungen sich in vielen Punkten ähnelten. Die Eltern arbeiteten, die Kinder waren im Kindergarten untergebracht, gelegentlich ging man ins Kino, sonntags wurden häufig Ausflüge in die nähere Umgebung unternommen. Der Nachmittag zog sich bis in die frühen Abendstunden. Die Sonne hatte sich zurückgezogen, ein schwacher, kühler Wind wehte durch den Garten. Sandra mahnte zum Aufbruch. Man würde sich bald wieder treffen, das wünschten sich alle, auch die Kinder.

Im Nachhinein betrachteten die beiden Ehepaare dieses erste Treffen als sehr gelungen. Man hatte sich für drei Wochen später zum Grillen im Schrebergarten von Sandra und Michael verabredet. Die beiden Männer, beide schlank und groß, Tobias mit sportlicher Figur, schmalem Gesicht, großer Nase und häufig wechselndem Gesichtsausdruck. Michael sah gut aus. Er strich sich häufig die langen Haare aus dem Gesicht und pfiff leise vor sich hin, was ihm ein spitzbübisches Aussehen verlieh. Die beiden Männer unterhielten sich gern über Fußball, die Frauen gaben sich Tipps über günstige Einkaufsgelegenheiten und erzählten von ihren Kindern. Gelegentlich diskutierte man über aktuelle Themen, meistens über die Stadtpolitik, die Lebensmittelpreise oder den miserablen Zustand der öffentlichen Spielplätze. Ein halbes Jahr später traf man sich bereits jedes zweite Wochenende in dem einen oder anderen Garten. Vor den Sommerferien diskutierte man über einen eventuellen gemeinsamen Urlaub, aber die persönlichen Vorlieben waren in diesem Punkt zu verschieden. Sandra und Michael schwärmten von ihren jährlichen Ferien am Meer, während Nicole und Tobias sich meist an einem der Seen in den Bergen tummelten.

So vergingen die Jahre. Es entwickelte sich eine solide Freundschaft zwischen den Ehepaaren. Ohne darüber zu sprechen, gab es ein stillschweigendes Übereinkommen, nichts über die eigene Ehe anzudeuten oder gar zu erzählen. Die Streitereien, die Kränkungen, die zärtlichen Stunden, die Gefühle füreinander wurden während der gemeinsamen Unternehmungen niemals erwähnt.

Sandra ärgerte sich oft über ihren Michael. Er war so gutmütig und so nachlässig in allem. Wenn sie irgendetwas störte, zuckte er mit den Schultern, so nach dem Motto: was kann ich machen? Und was sie manchmal, wie sie selbst sagte, in den Wahnsinn trieb, er betrachtete das Leben und alles, was passierte, mit Humor. Er konnte über sich selbst und seine Schwächen lachen, aber auch über die der anderen. Wenn sie gelegentlich voller Zorn über ihre Kolleginnen schimpfte, dann sagte er kopfschüttelnd: „Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregen musst?“

Nicole dagegen beobachtete mit Sorge, dass Tobias oft und gern zu viel trank. Er war nicht der Typ, der nach einigen Gläsern Alkohol aufsässig wurde, sie anschrie oder ähnliches. Nein, das Gegenteil passierte, er zog sich zurück und war nicht mehr ansprechbar. Er brummelte nur leise vor sich hin. Und er wünschte, in Ruhe gelassen zu werden.

Nicole hatte es oft angesprochen, morgens oder mittags, wenn er noch nichts getrunken hatte. Aber vergeblich, er schien gar nicht zuzuhören. „Ja, lass mich in Ruh“, brummte er nur.

Die beiden Männer schienen mit ihrer Situation recht zufrieden zu sein. Sie lebten für ihren Job, den Fußball, das Schachspiel. Sie liebten die Kinder, die gemeinsamen Grillnachmittage und nahmen das Leben so, wie es eben ist.

Die beiden Ehepaare schlenderten gerade ins neunte Jahr ihrer Bekanntschaft, da überschattete eine plötzliche Attacke ihre enge Freundschaft. Eigentlich schien das tägliche Leben eher leichter geworden, die Kinder waren nun Teenager und brauchten längst nicht mehr die ständige Betreuung. Alle vier Eltern arbeiteten Vollzeit und verdienten genug. Man konnte sich einiges leisten. Doch da schlich sich etwas Neues, noch nicht Erkennbares wie ein kühler giftiger Wind in die Beziehung der beiden Paare. Es gab schon mal ein harsches Wort, eine beleidigte Miene, einen stummen Protest, aber nichts Greifbares, nur kleine Störungen.

Bis Anfang Mai Sandra plötzlich die Nerven verlor. Es begann so überraschend, dass die anderen drei sie kopfschüttelnd anstarrten. Sie beschimpfte sie alle, sie würden so verlogen sein und sich etwas vormachen, aber eigentlich sei alles Lüge. Michael schickte die Kinder weg. „Geht spazieren oder spielt miteinander“, meinte er. Sie folgten widerstrebend, aber zogen sich dann doch zurück. Sandras anfängliches Toben richtete sich hauptsächlich gegen Nicole. Sie schrie, sie wisse schon, was Nicole plane, ohne zu sagen, was sie damit meinte. Dann plötzlich verwandelte sich ihre Wut in heftiges Weinen. Tobias gelang es nur mühsam heraus zu finden, was mit ihr los war. Er legte den Arm um sie und ging mit ihr ein paar Schritte weiter. Sie erzählte ihm unter Tränen, dass Nicole eine heimliche Beziehung mit ihrem Michael anstrebe. Tobias schüttelte den Kopf. „Nein, du irrst, das hätte ich doch bemerkt.“ Da begann Sandra sofort wieder zu schreien und Nicole lautstark zu beschuldigen. „Gib es doch zu; du bist hinter ihm her. Das merke ich schon eine Weile und dein Tobias geht dir schon lange wegen seiner Trinkerei auf den Nerv.“

Michael packte während des Geschreis ihre Sachen zusammen, schickte die Tochter zum Auto, nahm Sandra beim Arm und zog sie mit sich fort. Nicole und Tobias atmeten auf. „Und?“, fragte er schließlich, „sagte sie die Wahrheit? Ist da was dran?“ Nicole schüttelte den Kopf. „Aber wer hat ihr erzählt, dass ich trinke? Das kannst doch nur du gewesen sein.“ Nicole erwiderte: „Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, das weiß mittlerweile die ganze Stadt.“ Tobias nahm wortlos seine Jacke und verschwand. Die beiden Buben kamen völlig erhitzt vom Fußballspielen angerannt. „Was ist los? Habt ihr Streit?“ „Das kann man so sagen, aber ich weiß noch nicht genau warum.“ „Man weiß doch, warum man streitet, oder?“ „Na manchmal auch nicht. Kommt rein, ich mache Abendessen.“ Tobias kam nach einer halben Woche ziemlich runtergekommen wieder zuhause an. Er roch nach Alkohol, seine Augen waren verquollen und seine Gesichtshaut schien gespenstisch weiß. Er erzählte von einem Freund, bei dem er übernachtet hätte. Nicole schickte ihn ins Bad. Am nächsten Morgen, Tobias sah immer noch zerknittert und elend aus, sprach Nicole die Sache an. „Sandra hat da was ins Rollen gebracht. Ich habe nie mit dem Michael geflirtet, aber es gibt ein größeres Problem, ich habe genug von deiner Trinkerei. Entweder du unternimmst etwas dagegen oder du kannst ausziehen.“ „Ist das dein Ernst?“ „Ja“, sagte sie und räumte den Frühstückstisch ab. Tobias murmelte etwas von, „das täte dir so passen, aber ich denk gar nicht dran“, und zog sich zurück ins Schlafzimmer. Nicole verbrachte eine unruhige Nacht. Einerseits machte sie sich Vorwürfe, weil sie Tobias so hart herausgefordert hatte, andererseits wollte sie schon der Kinder wegen keinen Trinker mit durchfüttern. Sie befürchtete, er würde in kürzester Zeit seinen Job verlieren. Sie ahnte nicht, dass sein Chef ihm schon ein Ultimatum gestellt hatte. „Entweder sie nehmen eine Auszeit mit Alkoholentzug oder sie sind entlassen.“

Tobias stellte sich schlafend, als Nicole die Schlafzimmertür am nächsten Morgen behutsam hinter sich schloss. Sie frühstückte gemeinsam mit den Kindern, bevor sie alle drei das Haus verließen. Der Tag dehnte sich unendlich, obwohl sie sich genug Arbeit aufgeladen hatte, gelang es ihr kaum zu verhindern, dass sie sich in Gedanken immer neue Szenarien ausdachte, wie alles mit Tobias enden würde. Nach der Arbeit erledigte sie noch rasch den Einkauf. Schon bevor sie die Gartentür öffnete, umfing sie die Einsamkeit des Hauses. „Das bildest du dir nur ein“, sagte sie laut zu sich selbst. Aber sie irrte sich nicht. Das Haus öffnete sich ihr kalt und leer. Tobias hatte den blauen Koffer und einen Teil seiner Kleidung mitgenommen. Eine plötzliche Wut überschwemmte Nicole. Sie packte den alten braunen Koffer, schritt ins Schlafzimmer und warf seine restlichen Hosen, Hemden und Strümpfe hinein, schloss ihn und stopfte dann seine Schuhe in einen Plastiksack und stellte beides in den Flur. „Mama, was machst du denn da?“ Plötzlich standen die beiden Jungen vor ihr. Sie schwieg. „Ist er abgehauen?“ Sie nickte. „Mama, mach dir nichts draus. Wir bleiben bei dir“, tröstete sie Tom der Ältere. „Ja, wir werden dich auch beschützen“, fügte Jan eifrig hinzu.

Sandra ließ sich nicht beirren. Da spielte sich etwas ab zwischen Nicole und Michael. Aber sie vermied einen weiteren Streit und reagierte auch nicht auf seine Sticheleien. Michael zeigte nie seine Wut. Er rächte sich durch kleine scharfe Attacken. „Bist du eifersüchtig? Oder in Wahrheit neidisch auf Nicole? Ist es das, was dich wütend gemacht hat?!“ Sandra reagierte nur mit einem „Lass mich in Ruhe.“

Michael begann nachzudenken. „Irgendwie“, so sinnierte er, „ist unsere gemeinsame heile Welt zerbrochen, aber das lag nicht an Nicoles Verleumdungen, das muss sich schon eine Weile angebahnt haben. Aber was ist geschehen? Haben wir uns gelangweilt? Waren wir einander überdrüssig?“ Er fand keine Antwort, aber er lockerte leise und heimlich ein wenig das Band, das ihn und Nicole zusammen hielt. Oder hatte es sich schon gelockert? Und ist es dies gewesen, was sie spürte? Vermisste sie die Höhepunkte in ihrer Ehe? Ist die Vertrautheit verloren gegangen? War Sandra deshalb darüber so in Wut geraten? Die beiden lebten die nächsten Wochen neben einander und haderten gleichzeitig über die fehlende Nähe.

Die Sommerferien nahten, Tochter Lena plante, mit ihrer Sportgruppe zum Zelten an die Ostsee zu fahren. „Und was macht ihr?“, fragte sie eines Abends. Die Eltern, ein wenig betreten, schüttelten die Köpfe. „Wir wissen es noch nicht“, meinte Sandra. „Nein“, widersprach Michael, „ich bin mit Bert zum Segeln in Griechenland verabredet.“ Sandra schüttelte irritiert den Kopf und stolperte aus dem Zimmer. Michael signalisierte der Tochter, es gäbe keinen Grund zur Aufregung, er würde das regeln und lief ihr nach. Die Auseinandersetzung zwischen beiden in den nächsten Minuten läutete das Ende ihrer Ehe ein. Sie hatten es beide nicht gewollt, es passierte einfach, es wurde nicht geschrien, es fielen nur selten böse Worte. Nachdem Michael so dahingesagt hatte, dass er allein in Urlaub fahren würde, zerbrach ihre Ehe. Später versuchten sie sich zu erinnern, was eigentlich wirklich geschehen war. Sie fanden keine Erklärung. Danach verlor man sich aus den Augen, Sandra reiste mit einer Freundin nach Sylt, Michael nach Athen und die Tochter zum Zelten. Als Sandra nach drei Wochen erholt und entspannt die gemeinsame Wohnung betrat, war Michael schon ausgezogen. „Vorübergehend“, wie er ihr in einem kurzen Brief schrieb. Sie überlegte, die Scheidung einzureichen.

Nicole blieb in diesem Sommer zuhause. Mit ihren beiden Jungens baute sie den Garten rund ums Haus vollständig um. Das Gartenhäuschen wurde entrümpelt und gestrichen. Die Grenze zum Nachbarn endlich mit dicken Büschen zugebaut, ein zweites Erdbeerbeet wurde eingerichtet. Die Jungen gruben heimlich ein tiefes Loch und füllten es mit Wasser, aber es versickerte, doch mit Hilfe eines Freundes entstand tatsächlich ein kleiner Teich, den sie Nicole zum Geburtstag schenkten. Abends radelten sie zu dritt an den einige Kilometer entfernten See zum Schwimmen und Erholen. Später unter der Dusche überlegte Nicole, in welch verkommener Absteige Tobias wohl untergekommen war und wie und wo er lebte. Befand er sich in einem scheinbar nie endenden Rausch oder hatte er sich einmal zusammengenommen und über sich nachgedacht?

In den nächsten Monaten wurde beiden Paaren bewusst, dass auch ihre Freundschaft zu Ende war. Es gab keine gemeinsamen Sonntage, kein Grillen, keine Telefonate, besonders die beiden Frauen mieden den Kontakt miteinander. Die Kinder fragten immer seltener, wann man denn wieder zusammen etwas unternehmen würde, bis sie es aufgaben.

Drei Monate später, Anfang Dezember an einem Samstagabend, klingelte es bei Nicole. Jan der ältere sprang auf, denn er erwartete einen Freund. Draußen stand