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Es gibt in jedem Leben Tage, gelegentlich Wochen oder Monate, die - wie man so schön sagt - unvergesslich sind. Die Erinnerungen an solche Tage tauchen häufig urplötzlich auf. Man fragt sich, warum gerade jetzt!? Man erlebt noch einmal Minuten oder Stunden dieser Ereignisse. Was an diesen Tagen geschah, bleibt ein fester Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von Menschen verschiedenen Alters, die in Frankfurt am Main oder ähnlichen Städten leben. Die Tage, an denen die Lebensereignisse geschehen, bleiben im Gedächtnis. Die meisten Menschen von deren Erlebnissen erzählt wird, befinden sich in einer Situation, die entweder neu für sie ist oder schon länger andauert. So oder so geht es um Veränderung, grundlegende Entscheidungen oder darum, alles so zu belassen, wie es ist. Letzteres, so viel weiß man, ist aber auch nicht wünschenswert. Also muss sich am Ende doch irgendetwas ändern - aber was und wie? So geht es den beiden Männern, die von wenig Frührente und Hartz 4 leben und plötzlich 125.000 Euro im Lotto gewinnen. Sie stehen plötzlich vor der Entscheidung, was sie mit dem vielen Geld machen sollen!? Die beiden suchen nach einer Lösung und verwickeln sich dabei in ein Gespräch. Die Putzfrau, die nur für ihren Ehemann schuften muss, hat sich bereits entschieden. Sie wird das Land und damit natürlich auch ihn verlassen. Leicht fällt es ihr dann aber nicht. Der junge Künstler, der davon überzeugt ist, dass er der beste Designer weit und breit ist, versteht nicht, warum er keinen festen Arbeitsplatz findet. Hat es mit seiner Schüchternheit zu tun? Oder mit seinen erotischen Träumen? Die alte Dame, die sich trotz all ihrer Aktivitäten manchmal eben doch besonders einsam fühlt, teilt ihre Wünsche dem Fernsehgerät mit. Wie reagiert die Frau, die nach über zwanzig Jahren ihrer großen Liebe wiederbegegnet, den Mann trifft, der sie einst, so glaubt sie irrtümlich, schmählich verlassen hat. Was soll der Junge machen, der von seinen Mitschülern gemobbt wird? Was hat es zu bedeuten, wenn der Mann, der die junge Frau vor drei Monaten verlassen hat, plötzlich nachts um elf Uhr vor ihrer Tür steht.
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Seitenzahl: 174
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Der Lottogewinn
Eine Gutenachtgeschichte
Die Beerdigung
Ein Gespräch
Alles ist irgendwie anders
Endlich
Der Schwarzfahrer
Der dünne Mann
Auf dem Schiff
Ein heißer Tag
Nur ein Großmaul?
Der Hauptkommissar
Nur von hier weg
Das alte Märchenbuch
Der große Bruder
Freitag, der Bewerbungstag
Der entfernte Verwandte
Der Profi
Sie trafen sich an der U-Bahn-Station. Tobi hatte sich eben eine von den dünnen krummen Zigaretten gedreht – die er mit seinen klammen, unbeweglichen Fingern geradeso hinkriegte – und in den Mund gesteckt, als Harry auftauchte. Sie waren beide gepflegt abgerissen, will heißen, die Jeans abgewetzt, die Pullover zu weit und die Jacken hatten schon ein Jahrzehnt auf dem Buckel. Aber alles war sauber. Harry sorgte auch dafür, dass Tobi diesbezüglich ausreichend auf sich achtete, denn der neigte manchmal eher dazu, sich gehen zu lassen. Beide trugen sie neue Schuhe mit dicker Sohle, ein Geschenk der Kirche. In Kleidung und Größe waren sie sich ähnlich, sonst wenig. Toby wirkte wie ein tapsiger Bär mit einem rundlichen Körper auf kurzen Beinen. Gesicht und Glatze leuchteten rötlich. Er bewegte sich langsam und eckig, wegen seiner Probleme mit den Beinen. Ein taubes Gefühl oder Schmerzen, er wusste nicht, was ihn mehr störte. Er war Bauleiter gewesen, hatte jahrzehntelang einen guten Job gemacht, bis er vor sieben Jahren in einen Massenauffahrunfall verwickelt wurde. Neben zwei Beinbrüchen hatte es die Wirbelsäule ziemlich mitgenommen und Tobi kam, obwohl die ärztlichen Prognosen ziemlich gut waren, nicht mehr so recht auf die Beine. Dann folgte die Kündigung, die Augen wurden schlechter, niemand konnte sagen, ob dies eine Unfallfolge war. Für die Arbeit taugte er nicht mehr, dann folgte der Abstieg. Sein Erspartes hatten die Unfallfolgen geschluckt.
Das Geld, das er als Frührentner bekam, war nicht besonders üppig. Harry dagegen war knochig und dürr. Er trug seine Haare, die sich an der Stirn schon etwas lichteten, schulterlang zusammengebunden als Pferdeschwanz. Sein dichter dunkler Schnurrbart war von einigen Silberfäden durchzogen. Er war mal was gewesen, wie er immer betonte, Geschäftsführer der Tochterfirma einer Eisenwarengroßhandlung. Zwanzig Jahre hatte er die Geschäfte geleitet, als ihn der Affe juckte, seine Frau wollte die Scheidung, er hatte gezockt und verloren. Als er sah, dass fast die Hälfte seines Geldes weg war und er die andere Hälfte mit seiner Frau teilen musste, die unbedingt weg von ihm wollte, da kündigte er seine Stelle und hockte Monate allein zu Hause, bis ihn ein Freund aus der Wohnung zerrte und mit ihm redete. Er verordnete ihm, mindestens eine Stunde am Tag spazieren zu gehen. Er tat es widerwillig, lief jeden Tag am Fluss entlang. An einem späten Vormittag, es war schon Herbst, beobachtete er ein Kind, das sich im Gebüsch des Ufers verheddert hatte und in den Fluss plumpste. Er rannte zu der Stelle. Das Kind schrie und zappelte im Wasser. Er sprang rein und zog den Jungen raus. Nicht nur das Kind wurde gerettet, auch für ihn war es eine Rettung. Denn er begann wieder zu leben und über sich nachzudenken. Er begab sich auf Reisen, lernte die halbe Welt kennen. Bis sein Geld aufgebraucht war. Dann kehrte er zurück, arbeitete mal hier mal da, bis ihn keiner mehr wollte. Jetzt lebte er von Hartz 4.
Harry stolzierte aufrecht mit hoch erhobenem Kopf, während Tobi etwas krumm mit dem Kopf nach unten neben ihm her trottete. Beide hatten die sechzig schon fast erreicht. Kennengelernt hatten sie sich vor zwei Jahren im Arbeitsamt und seitdem führten sie ein gemeinsames Leben in getrennten Wohnungen. Gelegentlich gab es kurzfristig eine Frau bei einem der beiden, dann sahen sie sich für eine Weile seltener.
„Komm mit“, sagte Harry. „Was ist los?“ „Hier lang. Ich lade dich jetzt ein. Bier, Schnitzel, Kartoffeln, was du willst. Du könntest auch was Feineres haben. Sushi oder Kaviar und Sekt. Aber das schmeckt dir eh nicht, also gehen wir was Handfestes essen.“ „Du machst es spannend. Wer zahlt?“ „Ich natürlich.“ „Wo hast du das Geld her?“ „Erzähl ich dir später. Lass uns rein gehen.“ „Ich komm mir komisch vor. Ich war seit fünf Jahren nicht mehr in so ´nem Laden.“ „Du musst dich einfach auf einen Stuhl setzen, ich bestelle und dann musst du essen. Das kannste doch oder?“ „Ja schon, aber.“ „Los rein mit dir.“
Eine warme biergeschwängerte Luft hüllte sie ein. Tobis Brille beschlug. Er nahm sie ab und blieb ratlos stehen. „Komm.“ Harry zog ihn ins Innere und suchte einen Platz in der Ecke. „So, gib mir deine Jacke und jetzt setz dich.“ Tobi wischte seine Brille mit dem Ärmel sauber und setzte sie wieder auf. „Wau, das ist aber ´n schicker Laden. Haste wirklich so viel Geld?“ „Jetzt hör auf rum zu quengeln, sonst fallen wir noch auf.“
„Was wünschen die Herren?“ Die Bedienung schaute sie missmutig an. „Also, zwei Bier und die Speisekarte bitte.“ Sie bestellten Fleisch, Kartoffeln, Salat und eine Suppe vorab. Tobi rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Harry beobachtete die Leute. Die beiden löffelten schweigsam ihre Suppe. Aber dann, nach dem ersten Bier, nachdem Fleisch und Kartoffeln fast aufgegessen waren, redeten sie wieder.
„Also, ich erzähl dir jetzt was und du versprichst mir, du bleibst ruhig sitzen, schreist nicht, setzt einfach dein ganz normales Lächeln auf, ohne zu übertreiben. Verstanden?“ „Mach es nicht so spannend.“ „Also, es ist eine längere Geschichte. Ich hab neulich einen Zehner gefunden.“ „Der Zehner reicht hier aber nicht Harry.“ „Lass mich mal zu Ende reden. Also, ich denke mir, was tu ich mit dem Zehner, spend ich ihn den armen Kindern in Afrika oder schenk ich ihn einem Penner und all sowas.“ Tobi schaut ihn etwas verwirrt an.
„Also, spielte ich Lotto.“ „Mit dem ganzen Geld?“ Harry nickte. „Und du selbst hast mir vorgerechnet, wie blöd das Lottospielen ist und wer wirklich absahnt, und jetzt verspielst du den ganzen Zehner?“ „Ich wollt mir halt auch mal was gönnen! Und jetzt warte doch ab. Entgegen meinen Vorhersagen habe ich doch tatsächlich gewonnen.“ „Was???“, schrie Tobi. „Willst du dich wohl sofort beruhigen, sonst sag ich keinen Ton mehr.“ „Gut, gut. Wie viel?“ Er zitterte, der Schweiß stand ihm plötzlich auf der Stirn. „Keine Million. Das heißt wir sind aus dem Schlamassel nicht raus.“
„Wie viel?“ Tobi hatte aufgehört zu essen, die Fäuste umklammerten Messer und Gabel.
„Tobi, du bist mir ein guter Freund und ich hab dich eingeladen, damit wir in Ruhe über die Sache diskutieren können, wenn du jetzt durchdrehst, müssen wir das verschieben.“ „Gut, gib mir Zeit, ich beruhige mich.“ „Wir essen jetzt zu Ende, bestellen noch ein Bier, ein letztes und dann reden wir weiter.“ Schweigend essen sie. Tobi glitt langsam wieder in seine alte Form zurück. Die Augen wurden kleiner, sein dunkelroter Kopf bekam die normale Röte. Er kratzte die letzten Reste vom Teller. Harry bestellt ein Eis für beide.
„Kein Bier mehr“, sagte Tobi plötzlich, „wir gehen zu mir, unterwegs besorgen wir zwei Flaschen, aber nicht mehr.“ „Was ist mit dir los? Willst du die Geschichte nicht hören?“ „Doch, doch, aber nicht hier. Bei so was kriegen alle schnell große Ohren und noch größere Augen.“ „Eigentlich bin ich der Klügere von uns beiden“, sagte Harry, „aber du hast offensichtlich in manchen Dingen mehr Erfahrung.“ Tobi lächelte.
„Zahlen bitte“, rief Harry in den Raum. Er zahlte nicht mit dem großen Schein, den er eingesteckt hatte, sondern kratzte alles aus seinem Geldbeutel zusammen und musste sich letztendlich noch zwei Euro von Tobi borgen. Eine halbe Stunde später saßen sie in Tobis Bude, eineinhalb Zimmer, Kochmöglichkeit und Dusche teilte er sich mit drei anderen auf der Etage, da rückte Harry endlich mit der Summe raus. „Also, ich habe“ und er lässt sich das Wort auf der Zunge zergehen, „einhundertfünfundzwanzigtausend Euro gewonnen.“ Tobi wiederholt die Summe ehrfurchtsvoll.
„Warum sind wir damit nicht aus dem Schneider?“ „Ich habe gerechnet. Wenn ich es auf die Bank gebe und es allen sage, dann bekomme ich kein Hartz 4 mehr, dann kann ich vielleicht sieben Jahre davon leben, noch um einiges weniger, wenn ich dir auch was zustecke. Danach bin ich in Rente und habe auch nicht viel. Wir können auch ein bis zwei Jahre großkotzig leben, was mir einen Riesenspaß machen würde, aber dann wäre alles wieder so wie heute.“
„Du kannst doch einhundertfünfund… – na ja – das Ganze Geld nicht in ein bis zwei Jahren ausgeben?“ „Der Herr A., mein Lieber, der verdient jeden Monat das Zehnfache und gibt es auch aus.“ „Du meinst den Bankfuzzi.“ „Den mein ich.“ „Der gibt das doch nicht aus.“ „Du meinst, der steckt‘s ins Sparschwein? Das müsste aber schon so groß wie ein Schwimmbecken sein. Vermutlich würde er dann manchmal davor stehen und sich einen runterholen. Nein mein Lieber, der gibt ziemlich viel davon aus.“ „Wofür denn? Soviel kann ein Mensch nicht ausgeben.“ „Das, was wir beide jeden Monat kriegen, das schmeißt er jeden Monat als Trinkgeld um sich.“ „Glaub ich nicht. Die beiden Jahre, die ich als Nachtportier aushilfsweise für vierhundert Euro gearbeitet habe, haben mir gezeigt, die mit den meisten Flocken geben am wenigsten Trinkgeld.“ „Trotzdem, er gibt es aus. Wir können das ja mal kurz zusammenrechnen. Haste Papier und Bleistift? Und bring mir das zweite Bier bitte. Also, Miete, er muss ja irgendwo wohnen und mindestens in einem Haus. Und dann hat er noch eins fürs Wochenende und eins für die Ferien.“ „Aber die hat er alle gekauft.“ „Auch richtig. Also, wir müssen das ganze systematischer angehen, erst mal die monatlichen Ausgaben und dann die jährlichen. Häuser kaufen gehört zu den jährlichen.“ „Aber die Umlagen?“ „Gut, wir sagen für drei bis fünf Häuser dreitausend, fürs Personal noch mal zehntausend.“ „Und wenn er da nicht wohnt?“ „Aber das Personal muss immer bereit sein, falls er kommt, muss alles sauber sein. Bettflasche gewärmt, Kühlschrank gefüllt und so weiter.“
„Also gut, dann Klamotten. Er kauft sich wahrscheinlich einmal im Monat alles neu, sagen wir tausend?“ „Was, glaubst du, er geht in den Kaufhof? Der lässt sich seine Anzüge in London oder New York schneidern, das kostet mindestens zehntausend. Und Schuhe, Hemden und seidene Unterwäsche noch mal zehntausend.“ „Ist er so verschwenderisch?“ „Ich nehme es an. Dann das tägliche Essen ist auch viel besser als bei unsereins.“ „Aber fett ist der nicht.“ „Aber der Kaviar zum Frühstück und der Hummer zum Abendessen und der Sekt zwischendurch und von allem das Beste. Und was da in den Mülleimer geht, weil es nicht aufgegessen wird, davon könnten wir beide uns ernähren. Also sagen wir dreitausend.“ „Wollten wir nicht eigentlich über deinen Lottogewinn sprechen?“ „Lass uns das erst zu Ende bringen, das ist doch spannend.“ „Aber…“ „Ich denke, danach bin ich klarer im Kopf und kann über mein kleines Vermögen nachdenken.“ „Also gut. Wenn es sein muss.“ „Dann noch mal zehntausend, wenn er ausgeht mit Freunden, mit Frauen oder Geschäftsleuten, da muss er doch spendabel sein.“ „Meinst du, er geht auch in den Puff?“ „Naja, das will ich ihm nicht unterstellen, aber wir sagen mal, noch einen Zehntausender für Geschenke für die Reisesekretärin, die kleine Affäre am Wochenende.“ „Aber ich denke, er muss viel arbeiten für die viele Kohle.“ „Fürs Vögeln ist immer Zeit. Außerdem sagt man, er arbeitet mit dem Kopf. Denken kann man in jeder Situation.“ „Glaubst du, er denkt dabei an seine Geschäfte?“ „Manchmal könnte man das glauben. Aber wir wollen nicht über sein Sexualleben plaudern, lass uns weiter machen.“ „Fahrtkosten.“ „Das sagt man nur bei uns, wenn wir die Monatskarte kaufen. Dort heißt es Reisekosten. Benzin, Hotel usw.“ „Kein Auto?“ „Das kommt ins Jahresbudget.“
„Also, Benzin und Chauffeur, da müssen wir die Personalkosten noch mal erhöhen. Das wird zweitausendfünfhundert nicht übersteigen, aber die Hotels, das wird teuer. Ein Tausender für eine Nacht ist da nichts.“ „Aber das zahlt doch die Bank.“ „Hast du auch wieder Recht und Privates und Geschäftliches wird da ganz schön vermischt. Sagen wir trotzdem fünftausend, schon wegen der Steuer.“ „Was haben wir noch monatlich?“ „Versicherungen?“ „Richtig. Unfall-, Pflege- und Kranken-Versicherung usw. mehr als vier- oder fünftausend im Monat wird er dafür nicht berappen.“ Harry denkt nach.
„Gut jetzt kommen die jährlichen Ausgaben. Ein Haus in der Stadt, eins auf dem Land, eins am Meer, ein Appartement für die Geliebte oder die verlassene Geliebte? Das scheint realistisch, er wird ja auch immer mal wieder eins verkaufen, trotzdem sagen wir fünf Millionen jährlich für Häuser.“ „Und Autos? Eins im Jahr?“ „Ich würde sagen drei, es gibt ja Frau und Tochter. Also fünfhunderttausend.“ „Ach, das ist der mit den Superschlitten. Ich hab mich immer schon gewundert wer diese teuren Dinger kauft. Meinste, er hat auch einen Flieger?“ „Mindestens drei – also zwei Millionen.“
„Du schmeißt aber ganz schön mit seinem Geld um dich.“ „Dann die anderen Versicherungen, die man jährlich zahlt Lebens-, Feuer-, Diebstahl-, Bestattungs-, Hausrat-Versicherungen und was sonst noch, sind auch hunderttausend.“
„Sag mal, was machen wir da eigentlich?“, fragt Tobi plötzlich. „Wollen wir nicht endlich...“ „Jetzt lass mich mal zu Ende rechnen.“ Harry ist eifrig am Schreiben. „Sind wir nicht etwas bescheuert, die Kosten von diesem, diesem Großkotz…“ „Beherrsche dich, der Feind hört mit. Jetzt machen wir das auch zu Ende. Also, hier haben wir fünfhundertfünfzigtausend und dann die Jahressumme geteilt durch zwölf, also noch mal zweihunderttausend, sind sagen wir rund schlappe siebenhundertfünfzigtausend, die er monatlich ausgibt.“ „Mensch, wenn du drei Nullen wegnimmst, kriegen wir davon die Hälfte im Monat und wenn du zwei abziehst, soviel hab ich nicht in meinen besten Zeiten verdient, und du vielleicht, aber höchstens in DM.“ „Er würde jetzt sagen, das kann man so nicht vergleichen. Die einen leben von Geld, die anderen von Bröseln.“ „Scheiße ist das.“ „Aber er verdient doch eine Menge mehr im Monat. Was macht er mit dem Rest?“ „Wollen wir das nicht lassen. Mir wird davon ganz übel.“ „Na, vielleicht hat er doch ein Schwimmbecken mit dem ganzen Geld und manchmal badet er auch drin.“
„Harry! Es reicht!“ „Gut, wenden wir uns unserem Geldproblem zu. Wir sollten das wirklich versuchen.“ „Was versuchen?“ „Ob wir es schaffen, die hunderttausend in einem Monat in Mallorca auf den Kopf zu hauen?“ „Das schaffen wir in zwei Tagen.“ „Was?“ „Weil uns jeder ansieht, was wir in der Tasche haben und sie uns es wegnehmen, sobald wir es einen Moment nicht festhalten.“ „Glaubst du wirklich?“ „Ich weiß es. Aber ich war schon mal auf Mallorca, ist `ne Ewigkeit her, in meinem vorigen Leben, und ich sag dir, fünftausend reichen und nach drei Wochen müssen wir eh wieder zurück.“ „Ich würde gern alles auf den Kopf hauen.“ „Wir haben zu viel getrunken. Das letzte Mal bei deinem Sechzigsten, nachdem wir uns zugesoffen haben, hatten wir uns vorgenommen, nie mehr...“ „Ich erinnere mich. Aber dies ist wie Weihnachten…“ „Ich mache uns jetzt einen heißen Kaffee und du pennst bei mir!“
„Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen angenehmen Abend Herr Hofer.“ Franziska schaltet den Fernseher aus und räkelt sich auf dem Sofa. Wäre doch schön, wenn er oder Linda Z. oder Susanne D. mir persönlich einen letzten Gruß am Abend schicken würde, nicht nur mir, auch anderen, die allein vor dem Fernseher sitzen. Damit will ich nicht andeuten, ich sei einsam, nein, nach fast dreißig Jahren Ehe lebe ich gerne allein. Es war eine gute Zeit mit Kurt, und sein Tod brachte mich zeitweise aus dem Gleichgewicht, ich war sehr unglücklich und manchmal vermisse ich ihn heute noch. Aber jetzt, nach vielen Jahren des Allein-Lebens, geht’s mir gut.
Wie gesagt, einsam bin ich nicht. Mindestens zweimal im Monat gehe ich mit Lola ins Kino, sie ist Gott sei Dank genau so fit wie ich. Freitag bin ich mit Grete im Schwimmbad, Mittwoch Gymnastik, Samstag Laufen im Park, zugegeben, da schwänze ich öfter. Gelegentlich ein Treffen mit den früheren Kolleginnen und ab und zu werde ich eingeladen. Das Leben im Alter ist anstrengend, das glaubt ja keiner, man muss sich fit halten, vernünftig essen, das Gedächtnis trainieren, viel lesen, um auf dem Laufenden zu bleiben, sich um Politik kümmern. Macht man all dies nicht, wird man krank, alt und hässlich. Das möchte ich auf keinen Fall.
Aber zurück zu den Nachrichten. Die Technik vermag heute so vieles, die Heizung kann mich bespitzeln, sie sind in der Lage jedes Telefonat zu belauschen, ein Computer identifiziert mich, wenn er mein Gesicht im Fokus hat. Also müsste es doch möglich sein, dass der Sprecher oder die Sprecherin der Abendnachrichten mir persönliche Grüße sendet, die dann nur ich selbst an meinem eigenen Fernsehgerät empfange. Also, sagt Susanne D. dann nach den Nachrichten zu mir: „Liebe Franziska, ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.“ Das wäre doch etwas für alle, die am Abend allein die Nachrichten sehen. Denn es gibt sie natürlich, die Tage, die ein wenig traurig enden. Man denkt an die Verstorbenen, hat wieder einmal eine Todesanzeige erhalten oder fühlt einen Schnupfen nahen. Ich glaube, viele meiner Freundinnen würden sich darüber freuen.
Ich vermute, es gibt mehr Menschen, als man gemeinhin denkt, die mit dem Mann oder der Frau im Fernsehen sprechen. Etwa so: Heute sind Sie aber sehr schick angezogen Linda, das gefällt mir. Oder: die Nachrichten waren fad und so heruntergeleiert, muss das sein? Oder: das ist schön von Ihnen, dass sie dieses Unglück so mitnimmt. Oder: Was tun Sie jetzt, geht’s nachhause oder gehen Sie noch einen trinken? Man kann sich viele Sprüche zu diesem Thema ausdenken. Ich dagegen erwidere nur den Wunsch nach einem angenehmen Abend. Ansonsten, bin ich allein und spreche mit mir selbst. Tat ich schon immer.
„Was hast du gesagt Franziska?“, fragte mein Mann mich einmal im ersten Jahr unserer Ehe und ich sagte: „Ich habe nicht mit dir gesprochen, mein Lieber.“ „Aber mit wem denn dann?“ „Mit mir selbst.“ „Du kannst doch nicht mit dir selbst sprechen. Das ist doch verrückt.“ „Gut, dann bin ich eben verrückt. Aber jetzt lass mich in Ruhe. Ich muss das mit mir zu Ende diskutieren“. Er schüttelte den Kopf, aber er gewöhnte sich daran.
Heute ist es einfacher auch auf der Straße mit sich zu sprechen, die Menschen denken, man plappert in ein kleines Gerät. Aber früher schauten sie oft kopfschüttelnd hinter mir her. In der Not oder in Verzweiflung sagt man oft einige Worte vor sich hin, so wie: Ich halte das nicht aus oder das kann doch nicht wahr sein oder wie habe ich das verdient. Ansonsten denken die meisten Menschen wahrscheinlich nach über das, was sie bewegt. Und ich spreche es halt aus. Ich diskutiere mit mir, manchmal schimpfe ich auch mit mir. Merk dir doch endlich, wo du die Brille hinlegst. Ich vermute, ich habe eine vernünftige Seite und eine emotionale und wenn ich etwas zu entscheiden habe oder ein Problem lösen will, dann ist es doch fair und richtig, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Einmal gewinnt die eine Seite und dann die andere. Wenn ich mit mir spreche, laut spreche, bin ich gezwungen, mich verständlich und gut auszudrücken, ganze vollendete Sätze zu formulieren, so wird der besprochene Gegenstand klarer und eine Entscheidung fällt leichter.
Es gibt neben den persönlichen meist kleinlichen Differenzen mit sich selbst wahrlich genug Probleme in der heutigen Welt, mit denen man sich beschäftigen kann und über die immer wieder diskutiert werden muss. Wenn dieser Planet bewohnbar bleiben soll, ist jeder einzelne dazu aufgerufen, sich an den Lösungen der Probleme zu beteiligen. So, jetzt habe ich dem Fernsehgerät eine lange Rede gehalten. Jetzt werde ich noch ein wenig lesen, bevor ich mich zur Ruhe begebe.
Ellen fand, sie hätte schon an zu vielen Beerdigungen teilgenommen. An der von ihrem Großvater, als sie noch ein Kind war. An der von ihrer Mutter, die viel zu früh ging. Und an der ihres Ehemanns, bei der sie allein mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern bei stürmischem Regenwetter zitternd und frierend vor dem Grab stand, bis der Pfarrer sie heimgeschickt hatte.
Sie zögerte lange an diesem Tag der Kollegin mit der sie viele Jahre zusammen gearbeitet hatte, die letzte Ehre zu erweisen – wie man so schön sagt. Sie hatte nach einer Ausrede gesucht, aber sich schließlich doch aufgerafft. Es versprach ein schöner Tag zu werden. Die Sonne hatte sich heraus gewagt und Ellen wünschte sich, mit Anna im Freien in einem Café zu sitzen und zu schwätzen. Aber stattdessen schlüpfte sie in ihr dunkelblaues Kostüm. Von Anna würde nur ein Häuflein Asche und die Erinnerung an viele gemeinsame Tage übrigbleiben, dachte sie betrübt.
In der Trauerhalle herrschten gedämpfte Laute, leise Stimmen, Schluchzen, Schritte, die über den Gang huschten auf der Suche nach einem freien Platz. Als die Türen sich schlossen, verstummte der Saal. Ellen saß, die Arme verschränkt, die Augen geschlossen, lauschte den Reden, ohne sie zu verstehen.