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Wie entstehen Märchen? Märchen, so sagt man, entstehen aus uralten Legenden, die auf noch älteren Ereignissen beruhen. Ereignissen, so unvorstellbar lange her, dass von den daran Beteiligten, ja selbst von den Orten der Begebenheiten nichts als Staub und eine verblassende Erinnerung geblieben ist. In der Überlieferung verändern die Geschehnisse dann ihre Bedeutung – jede Generation macht ihre eigenen Erfahrungen, hat ihre eigene Sicht auf die Welt. Dinge, die einmal für jeden so selbstverständlich waren, dass sie keiner Erklärung bedurften, werden unverständlich, sie werden „märchenhaft“. Manchmal verändert sich eine Geschichte so sehr, dass aus einer Bestie ein Biest wird. Ein Biest, das sich sein Schloss mit singenden Kerzenständern teilt. Diese Erzählung ist der Versuch, einem alten Märchen seinen (möglichen) ursprünglichen Sinn zurückzugeben. Um ihr das Mystische, das „Märchenhafte“ zu nehmen, spielt sie vor nicht allzu langer Zeit, einer Zeit, die für die meisten von uns noch greifbar ist. Und es ist nicht Belles Geschichte – es ist die Geschichte der Bestie.
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Seitenzahl: 24
La bête et la belle
Impressum
„Love is the answer and you know that for sure
Love is a flower you got to let it grow
[...]
I want you to make love, not war
I know you've heard it before“
John Lennon, „Mind Games“, 1973
Er wachte schweißgebadet auf, so wie in den Nächten zuvor, und die Dunkelheit und die Stille der kleinen Kammer vertrieben das qualvolle Bild des schmerzhaft blauen Himmels und das schrille Pfeifen sich zerteilender Luft. Die Verdunkelung hatte manchmal auch angenehme Seiten. Der Traum hallte noch eine Weile in ihm nach, während er fühlte, wie der Schweiß auf seiner Stirn langsam trocknete. Es war wohltuend, sich auf dieses Gefühl konzentrieren zu können. Der dritte Tag war es gewesen. Er wollte nicht daran denken, aber es gelang nicht – nicht solange das Herz wild in seiner Brust klopfte und das Blut in seinen Ohren rauschen ließ. An etwas anderes denken, etwas Schönes, sich ablenken, solange die Möglichkeit bestand, solange die Bilder zu schwach waren, seine Gedanken vollständig in Beschlag zu nehmen. Er dachte an Marie, seine Marie – der einzige Gedanke, der ihn ablenken, ihn beruhigen konnte.
Er hatte sich damals mit siebzehn Jahren freiwillig gemeldet, wie so viele seiner Altersgenossen auch, hatte gegen die Catholiques kämpfen wollen, wie sein Großvater und Vater vor ihm. So wie es der preußisch-hugenottischen Familientradition entsprach. Sein Vater hatte es ihm halbherzig ausreden wollen, hatte auf den Familienbetrieb verwiesen, aber im Grunde hatte er ihn gern ziehen lassen, denn Vater hasste die Franzosen. Nicht aus einem historischen Pflichtgefühl heraus, sondern ehrlichen Herzens.
Drei Monate an der Front hatten ausgereicht, ihn seine Entscheidung verfluchen zu lassen, denn das Töten und Sterben war nicht edel, und es war auch nicht heldenhaft. Möglicherweise war es das einmal gewesen, in früheren Kriegen vielleicht. Er glaubte nicht daran. All die epischen Gedichte, die Heldengesänge aus seiner Schulzeit, die Erzählungen seines Vaters, in denen der Krieg stets geklungen hatte, wie ein abenteuerlicher Ausflug mit Freunden, all das waren Lügen gewesen. Lügen für die Daheimgebliebenen, die die Wahrheit weder verstehen konnten, noch ertragen würden. Der Krieg stank, er stank nach Blut, nach Exkrementen, er stank nach Verwesung. Und all diese Dinge besudelten einem nicht nur Hände und Uniform, sondern auch die Seele. Zu Hause hatte es noch Überwindung gekostet, ein Huhn zu schlachten, nun aber schlachtete er Menschen und fühlte kaum etwas dabei. Er hatte sich danach gesehnt, nach Hause zurückzukehren, zurück in die friedliche kleine Stadt, die ihm so eng und erdrückend erschienen war und die ihm nun in ihrer Ereignislosigkeit wie das Paradies auf Erden erschien. Stattdessen hatte er weiter seine Pflicht getan, weil er dazu erzogen worden war, weil er seine Familie mit Stolz erfüllen wollte und weil ihm nichts anderes übrig blieb, um zu überleben.