Lakritz-Sommer - Anna Beringer - E-Book

Lakritz-Sommer E-Book

Anna Beringer

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Beschreibung

Ferien an der Nordsee - Neuer Sommerschmöker für Kinder ab 10 Jahren

Endlich Sommer! Nella freut sich auf ausgedehnte Wattwanderungen und Waffelbacken mit der ganzen Familie. Doch dieses Jahr ist alles anders. Nellas Mutter hat die alte Mühle für Feriengäste umbauen lassen. Ausgerechnet die schöne Mühle, Nellas Lieblingsort! Sie kann die Feriengäste erst mal gar nicht leiden, auch wenn die Zwillinge Kiran und Tasha genauso alt sind wie sie. Bis ein Unglück geschieht und sie gemeinsam eine Robbe retten müssen …

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Mit ihrem Pferd Amalie im Meer schwimmen und beim Wattwandern Opa Ockos Geschichten lauschen – Nella liebt den Sommer zu Hause. Nur dieses Jahr ist alles anders. Ihre Mutter hat auf dem Hof ein Café eröffnet und überall Lakritz-Pflanzen aufgestellt. Nella mag Lakritz genauso wenig wie die Zwillinge Kiran und Tasha, die in ihrer geliebten Mühle Ferien machen. Doch jetzt könnte Nella schon ihre Unterstützung gebrauchen, denn neuerdings schleicht ständig ein Mann im Anzug um das Café. Ist der Sternenhof in Gefahr?

Die Autorin

Anna Beringer, geboren in Freiburg, wuchs an der Küste auf. Nach dem Studium der Kultur- und Medienpädagogik arbeitete sie als Übersetzerin und Journalistin. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Thienemann auf Instagram:https://www.instagram.com/thienemann_kinderbuch

Viel Spaß beim Lesen!

Anna Beringer

Lakritz-Sommer

Thienemann

Wenn der Wind der Veränderung weht,bauen die einen Mauern unddie anderen Windmühlen.

– Chinesisches Sprichwort –

Kapitel 1

Nella lächelt, halb im Schlaf, halb wach, irgendwo dazwischen. Sie versucht sich an ihren Traum zu erinnern. Aber das gelingt ihr nicht so richtig, eigentlich ist nur ein Gefühl übrig geblieben, ein gutes.

Durch das offene Fenster weht eine Brise ins Zimmer herein, bauscht die dunkelroten Vorhänge auf, die wie Fahnen im Wind flattern und die Gardinenringe leise klirren lassen. Nella atmet tief ein. Die morgendliche Brise bringt den salzig-frischen Geruch vom Meer in ihr Zimmer, vermischt mit dem Duft der frisch gemähten Weide und einem Hauch von …

… Lakritz.

Schlagartig ist das gute Traumgefühl wie weggeblasen.

Es riecht nach Lakritz. Und Nella spürt wieder diesen Klumpen im Bauch, den sie seit Monaten mit sich herumträgt, und der sich nicht mal heute auflösen will, obwohl doch heute der erste Sommerferientag ist. Denn alles ist jetzt anders.

Sie setzt sich auf, schlägt das Fenster zu, lässt sich wieder auf die Matratze zurückfallen. Und schließt die Augen. Aber nur kurz. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.

Von einer Unruhe angetrieben, fährt Nella in die Höhe, streift ihre Sandalen über und schleicht aus dem Zimmer, über den Flur, durch die Küche und dann hinaus. 38 Schritte insgesamt. 25 Schritte sind es dann noch über den Hof, wo die Hühner ihr bereits entgegenkommen, weil sie auf Futter hoffen; zwei Schritte durchs Gartentor und auf den sandigen Pfad, der leicht geschlängelt zum Deich führt. Vom Gartentor zum Strand sind es 187 Schritte, wenn man normal geht. Und 142, wenn Nella rennt. Und heute rennt sie. Als ihre Füße den Sand berühren, atmet sie erleichtert die meerfeuchte Luft ein. Kein Lakritz-Duft weit und breit. Nur Frische.

Weißschäumend schiebt sich das Wasser gerade über das endlos scheinende Watt Richtung Ufer und malt mit jeder Welle eine neue Wassergrenze auf den Strand. Die Flut bringt immer Schätze mit und Nella heftet ihren Blick auf den Boden. Ihre Sandalen hat sie längst achtlos hinter sich geworfen. Sie hebt eine Muschel auf.

Nella mag ihn, den frühen Morgen am Strand, alles ist ruhig. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Nicht mal ihre Schwester Tilke, die oft zu dieser Zeit hier joggen geht. Einfach ruhig. Nicht still und doch beruhigend. Die Wellen rauschen, die Möwen schreien und die Schafe auf dem Deich blöken gelegentlich.

Aber jetzt kommt noch ein Geräusch hinzu. Ein Rufen, kaum lauter als die Brandung.

Nella dreht sich um.

Oben auf dem Deich steht Tilke. Bereits größer als Mama, nur blonder, schlaksiger. Es ist, als hätte Nella ihre ältere Schwester mit ihren Gedanken hergerufen, überlegt sie, und ärgert sich, dass sie überhaupt an sie gedacht hat. Gerade heute hätte sie noch gerne etwas Zeit für sich gehabt.

Trotzdem macht Nella bei dem Ruf ihres Namens ganz automatisch ein paar Schritte auf den Deich zu.

»Nella! Kommst du? Wir müssen noch –« Tilkes restliche Worte werden von der Meeresbrise davongetragen und Nella würde am liebsten so tun, als hätte sie gar nichts gehört.

Sie schaut den Deich hinauf. Hinter Tilke ragt die Windmühle empor, die mitten auf ihrem Hof steht. Sie ist sogar von hier aus zu sehen, die riesigen Mühlenräder zum Himmel gestreckt. Als winkten sie Nella zu.

Sie kneift den Mund zusammen und umklammert die Muschel in ihrer Hand. Normalerweise würde Nella diesen Schatz in die Mühle bringen. Denn eigentlich ist es ihre Mühle.

Nein, das ist falsch.

Es war ihre Mühle. Seit immer schon baufällig und zutrittsverboten war es ihr geheimer Geheimraum gewesen. Denn was konnte geheimer sein als ein verbotener Raum?

Zwischen dem uralten Mühlengerät, dem Staub und den Spinnweben hatte sie alle ihre Bilder und Kostüme versteckt, die Tagebücher ebenso, und ihre kleine Schatzkiste hatte dort immer sicher verstaut unter alten Dielen auf sie gewartet.

Jetzt aber liegt alles durcheinander unter ihr Bett gestopft. Unbeachtet, am falschen Platz, als hätten die Schätze mit dem Umbau der Mühle ihre Magie verloren.

Nella merkt, dass sie die Muschel viel zu fest hält. Rote Ränder zeichnen sich auf ihre Handfläche. Sie lässt die Muschel in den Sand fallen, hebt die Sandalen auf und geht auf Tilke zu. So energisch stakst sie den Deich hinauf, die Treppe ist zu weit weg, dass die Schafe dort auseinanderstieben und empört blöken.

Tilke lächelt. »Du siehst nicht nur schlecht gelaunt aus, Nella. Du läufst sogar schlecht gelaunt.«

Nella antwortet nicht. Wer schlecht gelaunt ist, muss nicht antworten, richtig?

Kaum haben sie das Tor geöffnet, stürmt Mama ihnen entgegen, ihr langes helles Sommerkleid wirbelt dabei um ihre Beine. »Da seid ihr ja!«, ruft sie und klingt, als hätte sie händeringend auf sie gewartet. »Tilke, kümmerst du dich gleich um das Café?«

Sie deutet hinter sich zur alten Scheune, deren ehemals schwere, hölzerne Flügeltüren nun große Glasfenster sind, in denen sich jetzt leuchtend-orange das morgendliche Sonnenlicht spiegelt. Davor die Terrasse mit ihren kleinen, runden, gusseisernen Tischchen, auf die Tilke bunte Blumentöpfe gestellt hat, alles versteckt hinter enormen Kübelpflanzen, dicht wie eine Hecke.

Es sieht hübsch aus, so hübsch, dass man sich dort hinsetzen, die Nase in die Sonne strecken und sich leckeren Kuchen und kalten Kakao bringen lassen will. Oder Eis.

Aber Nella denkt nur an all die fremden Leute, die von nun an auf ihrem Hof herumlaufen, in ihrer alten Scheune Kaffee trinken und in ihrer Mühle schlafen werden.

»Habt ihr Ocko gesehen?«, fragt Mama.

Nella hebt die Schultern, Tilke schüttelt den Kopf und Mama knetet ihre Hände.

»Er wollte Amalie auf die Weide bringen«, fährt Mama fort, ihre Stimme zu hoch, sorgenvoll. »Aber da ist er nicht und Amalie ist noch in ihrem Stall.«

»Ich suche Opa«, sagt Nella sofort. Das ist wichtiger, als Tilke im Café zu helfen. Wozu auch, die Eröffnung ist doch erst am Nachmittag.

Mama nickt und setzt gerade an, noch etwas zu sagen, da hört Nella eine unbekannte Stimme, hinter den riesigen Kübeln.

»Riechst du das auch, Kiran? Hier riecht’s nach Lakritz«, sagt ein Mädchen.

Nella schaut überrascht zu Mama.

»Sie sind schon da«, wispert die. Mit riesigen, aufgerissenen Augen sieht Mama kurz aus wie ein erschrockenes Reh im Scheinwerferlicht. »Unsere allerersten Gäste sind hier.«

»Jetzt schon?« Es kann nicht viel später als zehn Uhr morgens sein.

»Sie sind die Nacht durchgefahren, um den Ferienstau zu umgehen!« Mama knetet wieder ihre Hände und steht noch immer unschlüssig vor den Kindern.

»Dann mach was mit ihnen«, zischt Nella. Es war schließlich Mamas Idee gewesen, aus ihrem Zuhause einen Ferienbauernhof zu machen. Nicht ihre. »Ich suche Opa.«

Nella dreht sich um und geht los, über den Hof Richtung Pferdestall. Sie zählt ihre Schritte und ist gerade erst bei sieben angelangt, als eine weitere, leisere Stimme hinter den Kübeln erklingt. Zu leise. Nella versteht kein Wort.

»Ich hasse Lakritz«, erwidert da schon die Mädchenstimme von vorhin, näher jetzt und lauter.

Nella seufzt. Das ist etwas, was sie sehr gut nachvollziehen kann. Für einen Moment ist sie neugierig auf diejenige, die das gesagt hat. Aber dann fällt ihr ein, dass sie noch im Schlafanzug ist. Und erinnert sich, dass sie ganz und gar gegen Ferienbesuch auf ihrem Hof ist.

Schnell dreht sie sich um und geht in die andere Richtung davon, Opa suchen.

Kapitel 2

Von der Hofmitte bis zum Pferdestall sind es 76 Schritte, denn Nella muss einmal um die Mühle herum, hinter das Wohnhaus und am ehemaligen Schweinestall vorbei, der längst ein Geräteschuppen ist. An seiner Holzwand ranken sich rosarote Kletterrosen empor, so hoch, dass ihre Blütenkopfe über den Rand des Daches schauen.

Ein Schuppen für Dornröschen, denkt Nella und bleibt dann stehen. Aus den Augenwinkeln hat sie beim Vorbeigehen nämlich eine Bewegung gesehen, fast unbeachtet und winzig. Sie läuft zurück.

Die Tür zur Mühle steht offen und klappert leicht im Wind. Nella hält die Luft an und lugt vorsichtig hinein. Wie haben es die Gäste geschafft, unbemerkt an ihr vorbeizulaufen und vor ihr hier zu sein?

Mitten im achteckigen Raum der alten Windmühle aber steht kein Fremder. Es ist Opa Ocko, er schaut zur Decke, über die sich dicke, freigelegte und uralte Holzbalken spannen. Nella findet, Opa sieht aus, wie sie sich jedes Mal fühlt, wenn sie ihren ehemaligen Rückzugsort betritt: verwundert darüber, wie der früher so verwunschen-dustere Raum nun mit einem Mal hell und sauber aussehen kann, ganz und gar geheimnislos. Denn nur ein paar Stufen die offene Treppe hinauf befinden sich über dem achteckigen Wohnraum nun keine Spinnweben und alte Mühlräder mehr, sondern Schlafzimmer, eine Küchenzeile und ein Bad. Der leichte Geruch von Wandfarbe hängt noch immer in der Luft.

»Opa?« Nella tritt ein.

Opa fährt erschrocken zusammen und dann herum. »Nella«, sagt er nach einem Zögern. Dann nichts mehr. Noch einmal dreht er sich um die eigene Achse und schaut wieder nach oben, die Stirn gekräuselt, unentschlossen. Als wüsste er nicht, warum er hier ist.

Nella atmet tief durch. Sie stellt sich neben ihn und hakt sich bei ihm ein, so wie sie es als kleines Mädchen immer getan hatte, wenn Opa sie im Spiel gnädige Dame nannte. Seit Opa beim Arzt war, vor Monaten schon, weiß Nella, dass es eine Krankheit ist, mehr als normale Vergesslichkeit, mehr als Unachtsamkeit, Opas Gedanken verschwinden einfach. Und es geschieht immer öfter.

»Opa«, sagt Nella also schnell. »Wir wollen Amalie auf die Weide bringen.«

»Richtig«, Opa nickt und spielt das alte Spiel mit: »Nach Ihnen, Gnädigste«, sagt er mit einem schiefen Lächeln, das nicht ganz echt wirkt. »Mir gefällt dein Modestil«, fügt er hinzu.

»Das ist der Ferienlook, ein Schlafanzug steht für Entspannung, stimmt’s?«, entgegnet Nella und macht einen Knicks.

Opa lacht jetzt doch noch sein richtiges Lachen, mit leuchtenden Augen und knittrigem Gesicht. »Ich hole die alte Stute aus dem Stall und du ziehst dir schnell was an, was meinst du?«

»Ist vielleicht besser«, murmelt Nella, die nur zustimmt, weil bereits die Besucher da sind. Vorbei ist es mit ihren geliebten Ferien-Schlafanzugtagen.

Kaum treten sie aus der Mühle, hört Nella sie auch schon, die Besucher. Sie huscht hinter den knorrigen Kirschbaum, der wie ein dicker Mast mitten auf dem Grundstück schnurgerade in die Höhe ragt, bleibt dahinter stehen und schaut um den Stamm herum.

Tilke führt die Gäste zu ihrer Ferienwohnung in der Mühle. Es sind zwei Erwachsene, Eltern, die Tilke nickend zuhören, während diese hierhin und dorthin zeigt und ohne Punkt und Komma zu reden scheint.

Hinter ihnen, langsamer, die beiden Kinder, die höchstens so alt sind wie Nella. Das Mädchen, dunkelhaarig, zieht ihren Koffer so, wie ihre Stimme eben klang – energisch. Er rumpelt laut über den unebenen Boden und übertönt Tilkes Erklärungen.

Das andere Kind ist ein Junge, schmal und blass, der stehen geblieben ist, als die Hühner angelaufen kommen, weil sie Menschen bemerkt haben. Menschen bedeuten für sie schließlich: Futter. Ganz offensichtlich hat Opa Ocko auch die Hühner heute Morgen vergessen. Hungrig scharen sie sich um den Jungen, der noch weißer wird und die Vögel schreckensbleich anstarrt.

»Mensch, Kiran!« Das Mädchen blickt sich um. »Jetzt guck nicht wieder wie ein Glubschfrosch im Sturm. Das sind nur Hühner. Komm endlich.«

Selbst aus der Entfernung hört Nella den Stoßseufzer des Mädchens, das dann in der Mühle verschwindet. Aber Kiran kommt nicht. Er rührt sich nicht von der Stelle. Nella gibt nun einen eigenen Seufzer von sich und tritt hinter dem Baum hervor. Der Junge starrt die Tiere, die ihn umringen, so gebannt an, dass er Nella erst bemerkt, als sie sagt: »Die haben nur Hunger.«

Keine Antwort. Obwohl er seine Lippen bewegt, als würde er sprechen.

»Geh ruhig weiter«, sagt Nella. Sie macht es ihm vor, läuft einfach so durch die Hühnerschar, woraufhin die Hühner gackernd zur Seite rennen.

»Okay.« Ganz leise, ein Wort. Und ein Lächeln, als er wirklich weitergeht.

Nella nickt. Dreht sich um und flitzt zum Haus.

Angezogen und mit geputzten Zähnen steht Nella, nachdem sie Amalie nach draußen auf die saftig grüne Weide gebracht hat, in der Küche. Durch das offene Fenster beobachtet sie für einen Augenblick das Pferd, wie es den Kopf senkt und glücklich frisst. Nella seufzt.

Unschlüssig macht sie drei Schritte Richtung Haustür, bleibt stehen, dreht sich wieder um. Rausgehen heißt, im Café helfen müssen. Oder schlimmer, sich um die Besucher kümmern.

Drinbleiben bedeutet, bestimmt gleich von Mama gesucht zu werden, oder von Tilke. Und das alles dann trotzdem tun zu müssen. Nella fühlt sich wie ein Fisch im Netz. Durchs Fenster weht der Lakritz-Duft herein und sie weiß, es hilft alles nichts. Sie kann sich nicht verstecken.

»Also gut«, gibt sie sich einen Ruck, »ich …«

Aber weiter kommt sie nicht. Ein hoher Schrei ertönt von irgendwo da draußen. Er klingt nach Schrecken und Furcht und Nella sprintet los. So schnell, dass sie sogar vergisst, ihre Schritte zu zählen.

Auf dem Hof aber ist es ruhig, selbst die Hühner sind nicht mehr da. Da stolpert der Junge, Kiran, aus der Mühle, dicht gefolgt von dem Mädchen. »Mensch, Kiran. Das war nur eine Katze!«

Gleichzeitig entdecken sie Nella und stoppen abrupt. Das Mädchen mustert Nella von oben bis unten – und zurück, der Junge schaut nur neugierig.

»Ferris«, sagt Nella und schaut sich um, aber von dem Kater ist keine Spur mehr zu sehen. »Er darf nicht in die Mühle.«

Kiran guckt erleichtert, seine Schwester enttäuscht und fragt: »Wieso nicht?«

»Wegen der Fledermäuse«, antwortet Nella und sieht, wie dem Jungen die Erleichterung buchstäblich aus dem Gesicht fällt. »Was für Fledermäuse?«, fragt er heiser.

Nella geht genau vier Schritte auf die beiden zu und deutet hoch, zu den Mühlenflügeln. »Im Mühlendach wohnen Fledermäuse. Sie sind unter Naturschutz, deswegen ist das Dach nicht ausgebaut worden.«

Kiran bewegt wieder seine Lippen, sagt aber nichts.

Seltsam, findet Nella.

»Mann«, stöhnt das Mädchen. »Das ist hier ja die reine Wildnis.«

»Genau«, sagt Nella.

Sie dreht sich um und läuft zum Café.

37 Schritte lang.

Kapitel 3

Ferris sitzt vor dem Tresen und schaut Tilke erwartungsvoll an, die dahinter steht und stirnrunzelnd zwei Kaffeetassen in den Händen hält.

Der kleine schwarze Kater fängt an zu miauen, als er Nella sieht, läuft auf sie zu und streift ihr so um die Beine, dass sie aufpassen muss, nicht über ihn zu stolpern.

»Warum hast du Ferris noch nicht gefüttert?«, erkundigt sich Nella, aber Tilke hört kein Wort. Aus der neuen, hochmodernen Kaffeemaschine ertönt nämlich plötzlich ein dröhnendes Brummen und Tilke lässt vor Schreck eine Tasse fallen.

Das wiederum lockt Mama aus der Küche, die hinter einer neu eingezogenen Wand direkt neben dem Tresen eingebaut wurde und von dort nun durch eine Schwingtür erreichbar ist. Mama trägt eine Schürze über dem Sommerkleid, die Haare zerzaust, als wäre sie in einem Sturm gewesen, die Hände schon wieder nervös ineinander verschränkt.

Da die Maschine so laut ist, kann Nella nicht verstehen, was die beiden sagen. Tilke aber fängt an, alle Knöpfe auf der Maschine zu drücken, während Mama sich durch die Schubladen unterm Tresen wühlt, endlich die Gebrauchsanweisung findet und sie hektisch durchblättert. Mit einem Mal hört das Brummen auf und von irgendwo aus der Maschine ertönt ein Zischen. Es fängt an zu dampfen.

Nella bückt sich, hebt rasch den miauenden Kater auf, läuft zur Steckdose, und zieht kurzerhand den Stecker des Kaffeeautomaten heraus.

Es ist plötzlich still, so still, dass Nella von draußen irgendwo eine Möwe schreien hört.

»Ist die Kaffeemaschine kaputt?«, fragt sie. »Es riecht so verbrannt hier.«

»Verdammt!« Jetzt flucht Mama und zerzaust ihre Sturmfrisur noch mehr. »Die Brötchen!« Sie drückt Tilke die Bedienungsanleitung in die Hände, die überrumpelt auch noch die zweite Tasse fallen lässt, und rennt zurück in die Küche.

Nella und Tilke schauen auf die Scherben am Boden, dann legt Tilke die Bedienungsanleitung weg, seufzt und beginnt die Bruchstücke aufzuheben. »Scherben bringen Glück«, meint sie dabei. »Und die können wir zur Café-Eröffnung heute Nachmittag ziemlich gut gebrauchen, findest du nicht?«

Eine Café-Eröffnung ohne Kaffee, denkt Nella.

»Das Ding hat mehr Knöpfe als ein Flugzeugcockpit«, fährt Tilke fort und deutet mit dem Kinn zur Gebrauchsanweisung. »Ich habe es einfach noch nicht geschafft die 200 Seiten durchzulesen.«

Nella sagt nichts dazu, sie streicht über Ferris’ Rücken, der sich bereits erneut beklagt. Weil er nicht auf dem Arm sein will, weil er Hunger hat.

»Nella, könntest du …«, beginnt Tilke, als Mama durch die Schwingtüren rauscht und gleichzeitig ruft: »Nella, kannst du bitte …?«

Ein Huhn flattert ins Café, gackert empört, unterbricht die beiden.

»Ich fütter jetzt die Hühner«, verkündet Nella. »Und Ferris.« Schlagartig hört der Kater auf zu miauen. Das hat er verstanden. Nella lässt ihn herunter und er läuft schon einmal vor, Richtung Wohnhaus und zur Küchentür, seinem Futterplatz.

Es dauert einen Augenblick, bis Nella es schafft, das Huhn einzufangen, deswegen kommen Mama und Tilke doch noch dazu, zu sagen, was sie von Nella wollen: »Wischst du die Tische ab, Nella«, sagt Tilke und klingt ein bisschen befehlshaberisch, findet Nella. Doch dann grinst ihre große Schwester und deutet auf die kleinen Blumentöpfchen, die sie auf dem Tresen aufgereiht hat. »Und die müssen hier drin dann noch verteilt werden und …«

»Nellalein!«, ertönt gleichzeitig Mamas Stimme aus der Küche, übertönt Tilke. Leicht hektisch fragt sie: »Könntest du Brötchen holen, so schnell kann ich keine neuen backen und den Gästen haben wir doch Frühstück versprochen.«

Mit dem Huhn auf dem Arm murmelt Nella, dass sie es doch nicht war und niemandem irgendwas versprochen hätte. Sie geht zur Terrasse. Es ist windstill hier hinter den großen Pflanzenkübeln, längst zu heiß für einen frühen Morgen, der Lakritz-Duft hängt schwer in der Luft.

»Ich fahre zum Bäcker«, verkündet Nella nach einer kurzen Pause, laut genug, damit Tilke und Mama es hören. Sie will draußen sein.

Ohne eine Antwort abzuwarten läuft sie los, setzt das Huhn ab, holt das Hühnerfutter aus dem winzigen Verschlag, der an der Rückwand der Café-Scheune ist. Noch bevor sie die Tür wieder verschlossen hat, scharen sich die Hühner bereits erwartungsvoll um sie.

In der Mitte vom Hof steht Kiran, unschlüssig, ganz so, als wüsste er nicht, warum er eigentlich hier ist. Er schaut Nella an, als könne sie es ihm sagen.

Nella seufzt, sie hebt die Futterdose in die Höhe: »Willst du mal?« Und macht es ihm vor. Sie holt eine Handvoll Maiskörner hervor und streut sie – in weitem Bogen – vor sich auf den Boden.

Der Junge beobachtet die Hühner, als wären sie Außerirdische, seine Lippen bewegen sich, aber Nella hört keinen Ton. Trotzdem macht er zwei Schritte auf Nella zu.

»Die tun nichts«, wiederholt Nella, weil sie an seinen angsterfüllten Blick von vorhin denkt, und hält ihm noch einmal die Dose hin.

Plötzlich kommt das Mädchen angelaufen, greift statt Kiran nach dem Futterbehälter und klaubt eine faustvoll daraus hervor. Dann noch eine.

»Nicht so viel«, will Nella sie aufhalten. »Das reicht schon.«

Das Mädchen beachtet sie nicht, streut noch mehr Futter in die Hühnerschar.

»Tasha«, sagt Kiran leise. »Hör auf.«

Nella greift entschlossen zu und zieht der überraschten Tasha die Dose aus den Händen. »Von zu viel Futter können sie krank werden.«

»Klar«, sagt das Mädchen Tasha in einem Tonfall, als würde sie sich mit Hühnern auskennen und Nella nicht. Sie rümpft die Nase. »Und was machen wir jetzt?«, fragt sie unvermittelt, ob Nella oder Kiran, ist nicht ganz klar.

Nella aber erwidert nichts weiter. Sie klemmt sich die Dose vor den Bauch und läuft Richtung Haus, wo Ferris sie ungeduldig – und längst beleidigt, ganz nach Katzenart eben – erwartet.