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Spannende Neuigkeiten aus Brägenbeck: Die ehemalige Münchnerin Carla Schwanenfels wohnt seit einem Jahr im idyllischen Emsland. Sie hat sich im Dorf gut eingelebt und kümmert sich in ihrer Pension liebevoll um das Wohl ihrer Feriengäste. Privat muss sich Carla aber mit einigen Problemen auseinandersetzen. Seit sie mit ihrem Freund Kai zusammengezogen ist, kommt es immer wieder zu Konflikten, die die junge Liebe belasten. Als wäre das nicht genug, taucht auch noch ein unliebsamer Bekannter aus Carlas Vergangenheit auf und sorgt für jede Menge Ärger. Zudem wird der dörfliche Frieden in Brägenbeck durch eine Kette geheimnisvoller Vorkommnisse erschüttert. Ein Unbekannter treibt nachts sein Unwesen auf den umliegenden Feldern und hinterlässt eine Schneise der Verwüstung. Dorfpolizist Wendelin Meyerbär steht vor einem kriminalistischen Rätsel. Er bekommt detektivische Hilfestellung von Carla und ihre Freundin Lou sowie der esoterisch angehauchten Gundula. Mit höchst ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden setzt das Detektivkleeblatt alles daran, um den Täter auf frischer Tat zu fassen. Liebe, Landlust, Lesevergnügen - Carla und Lou werden Detektivinnen wider Willen
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Die AutorinAnnell Ritter ist das Pseudonym zweier Freundinnen. Seit dem gemeinsamen Studium in Norddeutschland können sie über die gleichen Dinge lachen. Zwar wurden beide durch ihre Jobs in Wuppertal und in München räumlich weit getrennt, trotzdem sind sie stets in Kontakt geblieben. Ihre Liebe zur Literatur brachte sie bei einem ausgedehnten Abendessen auf die Idee, gemeinsam Romane zu schreiben. Ansonsten verbringen die Freundinnen ihre Freizeit am liebsten vor brodelnden Kochtöpfen oder draußen im Grünen.
Das BuchSpannende Neuigkeiten aus Brägenbeck: Die ehemalige Münchnerin Carla Schwanenfels wohnt seit einem Jahr im idyllischen Emsland. Sie hat sich im Dorf gut eingelebt und kümmert sich in ihrer Pension liebevoll um das Wohl ihrer Feriengäste. Privat muss sich Carla aber mit einigen Problemen auseinandersetzen. Seit sie mit ihrem Freund Kai zusammengezogen ist, kommt es immer wieder zu Konflikten, die die junge Liebe belasten. Als wäre das nicht genug, taucht auch noch ein unliebsamer Bekannter aus Carlas Vergangenheit auf und sorgt für jede Menge Ärger. Zudem wird der dörfliche Frieden in Brägenbeck durch eine Kette geheimnisvoller Vorkommnisse erschüttert. Ein Unbekannter treibt nachts sein Unwesen auf den umliegenden Feldern und hinterlässt eine Schneise der Verwüstung. Dorfpolizist Wendelin Meyerbär steht vor einem kriminalistischen Rätsel. Er bekommt detektivische Hilfestellung von Carla und ihre Freundin Lou sowie der esoterisch angehauchten Gundula. Mit höchst ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden setzt das Detektivkleeblatt alles daran, um den Täter auf frischer Tat zu fassen. Liebe, Landlust, Lesevergnügen - Carla und Lou werden Detektivinnen wider Willen
Annell Ritter
Land aufs Herz
Ein Brägenbeck-Krimi
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
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Die Frau stand vor dem Fenster im Kälberstall und starrte in die Nacht. Ein Geräusch hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen. In ihrer traumumhüllten Erinnerung hatte es wie das Kichern einer Greisin geklungen. »Das war nur der Wind!«, hatte sie sich eingeredet und sich von ihrem Ehemann weggedreht, der nach einem bierseligen Doppelkopfabend grunzte und schnarchte. »Was für ein Loser!«, hatte die Frau verbittert gedacht und sich in eine Fantasiewelt begeben, in der Brad Pitt sie aus einem brennenden Kornspeicher rettete und ihr liebestrunken die wallende, leicht angesengte Haarpracht aus ihrem Gesicht strich. Nun gut, mittlerweile wallte das Haar nur noch mit Hilfe von Hilke Schrötter und ihren Lockenwicklern von diesem Shopping-Sender. Und ›wallen‹ war auch übertrieben, Toupierkamm und Haarspray stellten sich jeden Morgen harten Herausforderungen. Außerdem konnte Brad Pitt locker ihr Schwiegersohn sein. Aber es war ja auch nur ihre eigene, kleine Fantasiewelt …
Eine wohlige Wärme hatte die Frau durchströmt, aber als sie gerade zwischen goldenen und eierschalenfarbenen Hochzeitsschuhen hatte wählen müssen, war es wieder da gewesen. Dieses grauenhafte Kichern. Es hatte Brad Pitt, den Weddingplaner und ihre traumhafte Zukunft mit einem Schlag verscheucht.
Nun stand sie im Bademantel und Hausschuhen vor dem Fenster und schaute in die Dunkelheit. Langsam stapfte sie zum alten Hoftor und öffnete es einen Spalt. Als der Mond hinter den Wolken hervorbrach, nahm sie zunächst nur einen Schatten wahr. Wie aus dem Nichts kam eine Windböe auf, erfasste das Tor und riss es weit auf.
Das quietschende Geräusch ließ der Frau das Blut in den Adern gefrieren. Wieso hatte sie nicht wenigstens das Filetiermesser aus der Küche mitgenommen?
Der Schatten wurde zu einer menschlichen Silhouette, schrie spitz auf und verschwand hinter einer alten Eiche. Etwas klirrte leise, dann war es totenstill.
Die Frau blieb wie gelähmt am Hofeingang stehen, doch die Neugierde siegte. Schritt für Schritt entfernte sie sich von dem sicheren Gebäude. Fassungslos starrte sie auf das Massaker zu ihren Füßen.
»Köpfe, überall nur Köpfe…«, murmelte sie entsetzt und erblickte das Messer, das im Mondschein blitzte.
Trotz der sieben Halben und acht Rachenputzer fuhr der Ehemann aus dem Schlaf hoch. Auch er hatte geträumt, von einer Sexbombe im rosa Catsuit und mit wirklich wallendem Haar. Doch wer um alles in der Welt schrie denn mitten in der Nacht auf seinem Hof herum, so dass die Kühe nur noch Buttermilch gaben? Der Mann stolperte die Treppe herunter, durch den Wohntrakt, durch die Stallungen und auf den Hof. Seine Frau kniete im Mondlicht auf dem Feld. »Das letzte Bier war schlecht!«, dachte er irritiert und rieb sich die Augen. Doch die Lichtung dahinter schimmerte weiterhin grün.
»Wenn du die Ferkel verkaufst, dann war ich hier heute das letzte Mal zum Mittagessen, das kannst du mir glauben!« Mit hochrotem Kopf saß Marie Johannsen auf ihrem Stuhl und fuchtelte mit einem Tofuwürstchen vor meiner Nase herum, so dass der Ketchup nur so spritzte.
»Na, das würde mir aber das Herz brechen«, dachte ich ironisch und schaute auf den Berg Couscoussalat, den sich der Teenager auf den Teller geschaufelt hatte. Ich wischte die rote Soße von meiner frisch gewaschenen Bluse und wandte mich wieder Marie zu. Sie funkelte mich aus verschmierten Smokey-Eyes an. Diese hatten vor ihrer Heulattacke einen schönen Kontrast zu dem zerrissenen Goofy-Bigshirt gegeben, sahen nun aber nach übernächtigter Bordsteinschwalbe aus.
»Wir werden schon eine Lösung finden, behalten kann ich sie nicht«, sagte ich bestimmt und stand auf, um den Küchentisch abzuräumen. Genauso bestimmt riss mir Marie die Schüssel mit dem Couscoussalat aus der Hand und stellte sie wieder neben ihren Teller.
»Ich bin noch nicht fertig! Hast du noch Eis oder Pudding da? Zuhause lassen mich meine Alten verhungern, ey!«
»Zuhause beschimpfst du deine Alten auch als Mörder und Tierquäler«, dachte ich gereizt, bekam bei dem Gedanken an Maries familiäre Situation aber sofort ein schlechtes Gewissen. Die Veganerin hatte es wirklich nicht leicht als Kind eines Schweinezüchters. Seufzend begab ich mich zum Kühlschrank, um das Apfelkompott zu holen.
Seit Marie, die einzige Tochter des Großbauern Hermann Johannsen, mit dem Jüngsten meiner besten Freundin Lou liiert war, ging sie täglich bei uns ein und aus, sie zählte quasi schon zur Familie. Die Familie, das waren mein Lebensgefährte Kai, der vor einem halben Jahr zu mir in meine Brägenbecker Pension gezogen war, und die Hausschweine Olli und Olga. Die Liebe der beiden Tiere hatte nun Früchte getragen, und im Stall wuselten sieben rosa Steckdosen um die Mutter herum und wollten jeden Tag etliche Gramm zunehmen. Der Gedanke daran machte mir Angst. Ich hatte schon ohne den Nachwuchs genug Arbeit mit den Pensionsgästen.
Seit die Ferkel auf der Welt waren, stritten Marie und ich jeden Tag aufs Neue um die Zukunft der Kleinen. Ich suchte fieberhaft nach einer Lösung, die weder auf dem Grill noch in meinem Verantwortungsbereich endete. Und Marie beharrte darauf, die Tiere nur hundertprozentig vor einem ungewissen Schicksal schützen zu können, indem man sie selber behielt. Die Arbeit und Kosten, die mit dieser Lösung verbunden waren, interessierten den starrköpfigen Teenager natürlich herzlich wenig.
Diese Auseinandersetzungen waren laut und energieraubend und ich war trotz drohenden Geldmangels froh darüber, im Moment kaum Gäste in der Pension zu beherbergen. Ansonsten hätte ich Marie Hausverbot erteilen müssen. Da ich aber für das angespannte Verhältnis zwischen dem Mädchen und ihren Eltern mitverantwortlich war, kam diese Option für mich nicht in Frage. Ich war der größte Dorn im Auge des Großbauern und hatte ihm mit meiner Flugblattaktion einen erheblichen Imageschaden zugefügt. Die Brägenbecker konnten Johannsen einfach nicht verzeihen, dass er ihnen eine artgerechte und nahezu antibiotikafreie Tierhaltung vorgegaukelt hatte. Die Wirklichkeit sah nämlich ganz anders aus und genau das hatte ich in meinen Flugblättern angeprangert. Kaum ein Brägenbecker bezog noch sein Fleisch bei dem Schweinezüchter.
Im Nachhinein betrachtet fand ich meine folgenschwere Aktion etwas kindisch. Zumal sie eine Retourkutsche auf die Flugblätter des Großbauern gewesen war, mit denen er mich aus dem Dorf hatte vertreiben wollen. Außerdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass es den meisten Menschen hier weniger um das Wohl der Tiere ging. Für sie stand die Tatsache im Vordergrund, dass der Bauer sie belogen hatte. Da verstand die Dorfgemeinschaft keinen Spaß und schnitt die Familie Johannsen, wo sie nur konnte. Kein Wunder, dass der Schweinezüchter mich hasste. Und dass seine heißgeliebte Tochter jetzt mit Lous aufmüpfigen Sohn Augustin zusammen war, machte die Sache nicht besser. Ich seufzte tief. Warum hatte der Mann mich nicht einfach in Ruhe gelassen?
Aber ich kannte ja die Antwort auf diese überflüssige Frage. Im letzten Frühjahr hatte ich von meiner Tante Adelheid den alten Bauernhof in Brägenbeck geerbt und war kurzentschlossen von München in das tiefste Emsland gezogen. Neben meinem untreuen Ex-Verlobten und einem gut bezahlten Job als Rechtsanwältin hatte ich noch meine beste Freundin Lou in der Großstadt zurückgelassen. Der Großbauer war von Anfang an gegen mich gewesen. Er hatte auf dem Grundstück von Tante Adelheid seine Mastanlage erweitern wollen. Dies hatte ich erfolgreich verhindert und meine kleine Ferienpension eröffnet. Und seitdem war der Streit mit Johannsen irgendwie außer Kontrolle geraten.
Marie goss einen halben Liter Erdbeersoße über ihr Apfelkompott, verrührte beides zu einer rotbraunen Pampe und schüttete eine Packung Nüsse darüber, die sie aus ihrer Hosentasche gefischt hatte. »Das ist nun auch nicht wirklich lecker, vegan hin oder her«, dachte ich und entschloss ich mich dazu, noch einmal nach den Ferkeln zu sehen.
»Wäre Kai nur hier, der hätte das alles besser im Griff!« Ich führte Selbstgespräche und setzte mich auf einen Schemel neben Olgas Parzelle. Olli hatten wir separiert, um die zarten Ferkel nicht zu gefährden – und er beschwerte sich beleidigt grunzend am anderen Ende des Schweinestalls darüber.
Die rosa Winzlinge dösten unter der Wärmelampe, nur Olga kam an das Gatter, um sich die Flanke kraulen zu lassen.
»Zum Glück ist Kai morgen wieder da, vielleicht kann er Marie zur Vernunft bringen.«
Meine Gedanken wanderten zu meinem Lebensgefährten und die Sehnsucht nach ihm schoss mir heiß in die Herzgegend. Er war für eine Woche mit seinen Kumpels aus Kiel nach Oldenburg zu einem Oldtimer-Treffen gefahren und die Woche kam mir vor wie ein halbes Jahr. Da der Streit mit Marie erst in den letzten Tagen so eskaliert war, fehlte mir Kais ausgeglichener und streitschlichtender Charakter besonders. Er war einfach mein Fels in der Brandung. Der Gedanke, ihn morgen wieder in die Arme schließen zu können, kam mir gerade wie ein Rettungsanker vor. Bei unserem allerersten Besuch in Brägenbeck hatten Lou und ich eine Autopanne gehabt und Kai kennengelernt, der dort mit seiner Schwester eine Kfz-Werkstatt betrieb. Kai war gutaussehend und selbstbewusst, und ich war damals überrascht gewesen, dass er mir, der etwas sperrigen Großstadtpflanze, schnell den Hof gemacht hatte. Bei dem Gedanken an diese romantische Zeit musste ich laut seufzen. Der Alltag und die viele Arbeit hinterließen auch bei uns ihre Spuren. Wir saßen abends immer häufiger im Jogginganzug auf dem Sofa anstatt mit klopfendem Herzen bei unserem Lieblingsitaliener.
Ein leises Rascheln riss mich aus meinen liebestrunkenen Gedanken. Die Ferkel wachten unter der Wärmelampe auf und gähnten ausgiebig. Müdes Gegrunze schwoll in Sekundenschnelle zu einem lauten Quieken an und eh ich mich versah, purzelte die Schar kreuz und quer durch das Stroh. Ich musste bei dem Anblick laut lachen. Die Kleinen waren einfach zu süß, Kindchenschema hin oder her. »Wir finden eine Lösung für euch«, murmelte ich zuversichtlich, »hier kommt keiner auf den Grill, so wahr ich Carla Schwanenfels heiße!«
Der nächste Tag begann kalt, aber sonnig. Der April sorgte dafür, dass das Wetter nie langweilig wurde, und heute sollte noch ein kleines Hoch kommen. Ich hatte mir einen Blaumann und Gummistiefel angezogen und düngte meinen Gemüsegarten mit Schweinemist, als Gundula auf ihrem Hollandfahrrad in die Hofeinfahrt einbog. Gundula war Kräuterexpertin, Esoterikerin und Glaskugel in einem. Sie trug einen knallbunten Wollponcho und türkise Pumphosen, die mich an Aladin mit der Wunderlampe erinnerten. Ihre Haare flatterten hennarot im Wind. Hätte ich mich in den letzten Monaten nicht an den Anblick der Kräuterfee gewöhnt, so wäre ich bei der Farbexplosion vor Schrecken in den Mist gefallen.
»Hallo Gundula, ich bin hier, im Garten!«, rief ich und stützte mich auf meine Mistforke. Gundula stieg von ihrem Fahrrad und schwebte durch das Gartentor. Der schwere Duft nach Patschuli und Moschus wehte zu mir herüber und vermischte sich mit dem Gestank nach Dung. »Andere Menschen müssen halluzinogene Drogen nehmen, um überirdischen Wesen zu begegnen, ich musste nur nach Brägenbeck ziehen«, neckte ich sie und deutete auf den Poncho. »Welchem Regenbogen hast du denn dieses Unikat abgekauft?« Die Kräuterexpertin lächelte stolz.
»Den hat mir meine Freundin Veronica mitgebracht, die war für drei Monate in den Wüsten Mexikos unterwegs, um ihr Energiefeld wieder aufzutanken.«
»Aha …«, kommentierte ich lediglich und hoffte, keinen ausgiebigen Reisebericht doziert zu bekommen. Gundula war schon wieder mit ihrem Look beschäftigt und schaute an dem Poncho herunter.
»Riecht etwas nach Schaf, hält aber sehr warm.« Jetzt roch ich es auch und von dem Duftpotpourri wurde mir leicht schwindelig.
»Komm mit in die Küche, ich mach uns einen Tee«, lud ich sie ein und stellte die Forke an die Hauswand.
Auf einmal war ich sehr froh, dass Gundula mich besuchen kam. Kai war in Oldenburg, meine beste Freundin Lou in München, und ich brauchte dringend jemanden zum Reden. Gundula war mir in der Vergangenheit oft eine große Hilfe gewesen. Ihr verdankte ich den mittlerweile sicheren Umgang mit Wildkräutern und Pilzen. Noch vor einem halben Jahr hatte ich Gästen aus Hamburg ein Kräuterpesto vorgesetzt, von dem die Männer die halbe Nacht auf der Toilette hatten verbringen müssen. Gundula machte Kräuterwanderungen mit meinen Feriengästen und brachte ihnen die Natur näher, alle waren fasziniert von ihrer spirituellen Ader und ihrem umfangreichen Wissen. In den Wintermonaten hatte sie außerdem mit großem Erfolg ein Seminar zur Einführung in die Astrologie für meine Gäste angeboten. Ab und zu wurde mir Gundulas spirituelle Ader aber auch zu viel. Dann musste ich ihr das Pendel aus der Hand reißen, wenn sie damit vor meiner Nase herumschwang, um die Anzahl meiner noch nicht geborenen Kinder auszupendeln.
Aber heute freute ich mich auf ein gemütliches Teekränzchen mit Gundula. Ich erzählte ihr von meinen Sorgen und den ewigen Streitereien mit Marie, während Gundula ein frisch gebackenes Vollkornbrot auspackte und aufschnitt.
»Hast du Butter?«, unterbrach sie mich und stand selber auf, um Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank zu holen. Sie schmierte eine Scheibe Brot und legte sie mir auf den Teller. »So, und nun isst du erstmal etwas nach der harten Gartenarbeit.« Sie tunkte das Messer erneut in die Marmelade. »Du kümmerst dich viel zu wenig um dein eigenes Karma und rennst den Sorgen hinterher, meine Liebe!«, dozierte sie nun doch und ertränkte ihre Brotscheibe in der Erdbeermarmelade.
»Die Sorgen rennen hinter mir her, Gundula, nicht anders herum!«, setzte ich mich kläglich zur Wehr.
»Ihr Städter seid furchtbar«, Gundula biss herzhaft in ihr Brot, »alles verwandelt ihr in Probleme wie ein Kohlekraftwerk Kohle in Energie. Kannst du dich nicht einfach mal über das Wunder der Geburt freuen?« Ich starrte Gundula ungläubig an. Konnte diese Frau denn nie praktisch denken?
»Das ist ja alles schön und gut mit diesen Wundern der Natur!«, konterte ich bissig. »Ich überlasse sie dir gerne, die kleinen rosa Wunder! Aber wundere du dich dann bitte nicht in einem halben Jahr, wenn du – oh Wunder – die Bude voller Schweine hast!«
»Ist ja gut«, beschwichtigte mich die Kräuterfee und goss sich Tee nach, »ich mein ja nur, man kann das alles auch etwas positiver angehen …« Sie lehnte sich zurück und dachte nach. »Jeder größere Ort hier in der Gegend hat seinen eigenen Streichelzoo. Die freuen sich bestimmt über Zuwachs und über kleine Spenden …« Gundula zückte ein ledernes Adressbuch. »Einen Besitzer in Meppen kenne ich sogar, den Axel. Mit dem verband mich einst eine romantische Begegnung.«
Die Kräuterfee schaute verklärt durch das Küchenfenster. Eine romantische Begegnung? Meinte sie ein Date? Ich schüttelte den Kopf und dachte über Gundulas Vorschlag nach. Streichelschweinchen im Meppener Kleintierzoo – das war doch endlich mal eine Idee, mit der ich etwas anfangen konnte.
»Schmeckt übrigens super!«, lobte ich zufrieden Gundulas selbstgebackenes Mitbringsel und biss herzhaft in mein Marmeladenbrot.
Am nächsten Morgen räumte ich meine Küche auf und stellte etwas bedrückt fest, wie sehr mir trotz Gundulas Hilfe meine Freundin Lou fehlte. Kais Rückkehr aus Oldenburg war leider in Sachen Romantik ein kompletter Reinfall gewesen. Ich hatte mir mein Lieblingskleid angezogen und einen Tisch bei unserem Italiener in Megenbeck reserviert. Nur war Kai auf der Autobahn in einen Jahrhundertstau geraten und hatte mich gegen zehn Uhr abends total zerknautscht im Tiefschlaf auf dem Sofa vorgefunden. Da ich für unser Wiedersehen all meine Pflichten als Pensionswirtin im Eiltempo hinter mich gebracht hatte, war ich abends dementsprechend k.o. gewesen. Selbst zu einem Begrüßungschampagner hatten Kai und ich uns nicht aufraffen können, als mein Freund dann endlich Zuhause eintraf. Die Flasche stand immer noch unberührt im Kühlschrank.
Und nun lag Kai seit fünf Uhr morgens unter einem alten Audi, der ihm Ärger machte. Und ich musste gleich auf den Markt und für die nächste Mahlzeit sorgen. Ich seufzte tief. »Ach Lou …«, murmelte ich traurig und stellte mein Laptop auf den Küchentisch, um E-Mails zu checken.
Von meiner besten Freundin hatte ich außer gelegentlichen SMS schon länger nichts mehr gehört. Das war nicht weiter ungewöhnlich zwischen uns. Ich war ohnehin der Ansicht, dass es in einer langjährigen Freundschaft nicht auf die Häufigkeit der Kontakte ankam. Wir wussten beide, dass wir uns aufeinander verlassen konnten, wenn es wichtig war. In Gedanken waren wir miteinander verbunden, auch wenn wir uns lange nicht trafen.
Durch Lous kurze Nachrichten hatte ich erfahren, dass ihr Mann Dieter in jüngster Zeit viel zu viel in seiner Arztpraxis war und dringend Erholung brauchte. Dieters langjährige Sprechstundenhilfe hatte überraschend gekündigt und nun wuchs ihm die Arbeit über den Kopf. Darunter litten nicht nur Dieter und Lou, sondern das gesamte Familienleben der Metzgers wurde in Mitleidenschaft gezogen. Natürlich hatte ich Lou zurückgeschrieben, dass sie und ihre Familie bei mir in Brägenbeck jederzeit willkommen waren. Seitdem herrschte wieder Funkstille zwischen mir und meiner Freundin.
»Carla, du hast Post aus deiner alten Heimat München.« Mit diesen Worten kam Kai in seinem wie üblich ölverschmierten Blaumann in die Diele. Ich war gerade dabei, diverse Spammails zu löschen, die mir neben Geldgewinnen auch eine Penisverlängerung und Treffen mit einsamen Frauen aus meiner Nähe in Aussicht stellten. Kai grinste mich fröhlich an und gab mir einen schmatzenden Kuss zur Begrüßung. Er zerwuselte mir das Haar und flüsterte in mein Ohr: »Heute Abend kommst du mir nicht so glimpflich davon, meine Liebe, wir holen alles nach, versprochen!« Mein Herz machte vor Freude einen Satz und ich lächelte Kai entrückt an. Der war schon wieder in der Wirklichkeit angelangt und wedelte mit der Post vor meiner Nase herum. Ich erkannte eine bunte Postkarte, die vorne als Motiv den Münchner Viktualienmarkt im Frühling zeigte.
»Die Postkarte ist bestimmt von Lou, gibst du sie mir? Ich bin gespannt, was sie schreibt.« Mit diesen Worten war ich erfreut aufgestanden und versuchte, dem immer noch grinsenden Kai die Karte aus der Hand zu nehmen. Das war nicht so einfach, denn er wartete stets, bis ich mich der Karte ganz dicht genähert hatte, und zog dann seine Hand im letzten Moment zurück. Anschließend amüsierte er sich mit lautem Lachen über seinen Trick.
»Hier ist doch die Karte, komm, hol sie dir«, rief er mir dann ermutigend zu. Natürlich wiederholte sich bei meinem nächsten Versuch alles und ich ging wieder leer aus. Mein Freund liebte solche kleinen Spielchen, das hatte ich während unseres Zusammenlebens bereits mehrfach festgestellt. Aus seiner Sicht traf der Spruch »Was sich liebt, das neckt sich« auf uns mit Sicherheit hundertprozentig zu. Kai ließ keine Gelegenheit aus, um mich zu necken, da war er wie ein großes, freches Kind. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich kurz zu ärgern und dann gute Miene dazu zu machen. Ich wollte nicht als Spielverderberin gelten, hätte auf diese Form der Unterhaltung aber gerne verzichten können.
Wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich mir unser Zusammenleben in meinem Haus wirklich etwas anders vorgestellt. Wir waren beide nur noch damit beschäftigt, unseren turbulenten Alltag zwischen Kais Autowerkstatt und meiner kleinen Pension zu organisieren. Wenn wir dann endlich Zeit hatten, waren wir so erschöpft, dass einer von uns garantiert sofort einschlief. So blieb einfach zu wenig Gelegenheit für verliebte Stunden und für uns als Paar. Besonders vermisste ich unsere Ausflüge zu zweit ins Grüne, die ich früher so genossen hatte. Mit einem Picknickkorb voller Köstlichkeiten waren wir in der Anfangszeit unserer Liebe zu unserem Lieblingsbaum geradelt und hatten den Alltag hinter uns gelassen.
Nur Kai schien das alles nicht zu stören, der arbeitete sich gut gelaunt durch den Tag und fand immer eine Gelegenheit, mich aufs Korn zu nehmen. Eigentlich liebte ich den Humor meines Freundes, im Moment nervte mich sein Verhalten aber. Ich nahm mir wieder einmal halbherzig vor, bei passender Gelegenheit mit ihm über dieses Thema zu sprechen.
Kai, der von meinen trüben Gedanken nichts ahnte, wurde sein Spiel mit mir nun offensichtlich zu langweilig, denn er überließ mir großzügig die Postkarte. Dann lief er auch schon im Eilschritt die Treppe hoch, Richtung Badewanne.
Ich seufzte kurz auf und wandte mich meiner Beute zu. Die Postkarte war tatsächlich von meiner Freundin Lou und sie war bereits vor einer Woche in München abgestempelt worden. In ihrer geschwungenen Schönschrift hatte Lou nur zwei Sätze auf die Rückseite geschrieben. »Liebste Carla, die Familie Metzger braucht dringend eine Auszeit und freut sich schon sehr auf die gute Landluft bei dir. Bis ganz, ganz bald, Bussi, deine Lou.«
Ich merkte, wie mich gleichzeitig Freude und ein leichter Schock durchfuhren. Wenn ich bedachte, wann die Postkarte von Lou losgeschickt worden war, musste ich nun jederzeit mit dem Eintreffen von Familie Metzger bei mir rechnen. Der Text war hinsichtlich Datum und Dauer eines Besuchs mehr als vage gehalten.
Aber ich hatte noch genug Zimmer frei, das war also kein Problem. Die Hauptsaison in meiner Pension war der Sommer und der Frühherbst. Für den August war ich jetzt schon nahezu ausgebucht. Besonders freute ich mich darüber, dass sich langsam auch Stammgäste entwickelten. So wie die mit Kai befreundete Rollerfahrerclique vom letzten Sommer, die sich schon für einen neuen Besuch bei uns angemeldet hatte. Jetzt im April war die Lage noch entspannt.
Ein älteres Ehepaar aus dem Ruhrgebiet war gerade abgereist und mein einziger Pensionsgast war im Moment ein Mann Anfang fünfzig, der sich mir mit dem Namen Harald Schuster vorgestellt hatte. Herr Schuster war vor einigen Tagen ohne Voranmeldung und nur mit einer kleinen Reisetasche als Gepäck eingetroffen. Er wollte drei Wochen bleiben. Mein Gast hatte ein vernarbtes Gesicht und graue Haare, die wirr zu den Seiten abstanden. Seine Figur war kräftig mit einem ausgeprägten Bauchansatz und er war für einen Mann relativ klein geraten. Zu einer ausgeblichenen Jeans trug er ein Paar derbe Schnürschuhe und einen abgewetzten Parka. Im Gespräch vermied Herr Schuster nach Möglichkeit den Blickkontakt mit mir. Beim Reden hielt er sich eine Hand vor den Mund, als wolle er ein schadhaftes Gebiss verdecken. Mir war bei unserer Begrüßung aufgefallen, dass seitlich an Herrn Schusters Reisetasche ein Fernglas an einer Kordel baumelte. Ich hatte daher vermutet, dass es sich bei meinem Gast um einen Naturliebhaber handelte, der hier die norddeutsche Tierwelt studieren wollte. Seit seiner Ankunft hatte ich nichts mehr von Herrn Schuster gehört oder gesehen. Nachdem er mir mit brüchiger Stimme bei der Anmeldung knapp mitgeteilt hatte, dass er nicht am Frühstück teilnehmen möchte, fehlte jedes Lebenszeichen von ihm. Er ging in aller Frühe aus dem Haus, denn wenn ich morgens die Schweine fütterte, war er bereits verschwunden. Nun ja, mir sollte es recht sein. Herr Schuster hatte gleich bei seiner Ankunft für die vollen drei Wochen bezahlt und in meiner Pension durfte jeder nach seiner Façon glücklich werden.
Ich freute mich auf ein Wiedersehen mit Lou. Vielleicht fanden wir beide ja auch eine ruhige Minute für uns, in der ich ihr von meinem momentan etwas stockenden Liebesleben erzählen konnte. Sie hatte im Gegensatz zu mir reichhaltige Erfahrungen mit Männern gesammelt. Ich konnte mir daher gut vorstellen, dass sie den einen oder anderen Tipp für mich parat hatte. Außerdem würde es mir einfach guttun, mich mal wieder mit meiner besten Freundin auszusprechen.
Genau in diesem Moment meldete sich mein Handy, ich hatte eine neue SMS erhalten. Als ich auf das Display schaute, musste ich unwillkürlich schmunzeln.
»Sind soeben am Flughafen Münster/Osnabrück gelandet. Wo bleibst du denn? Holst du uns ab? Wir sind alle hundemüde und brauchen Erholung … Alles Liebe, Lou und Familie.«
Mir war völlig unklar, warum Lou mir nicht wenigstens gestern kurz mitgeteilt hatte, dass sie heute meinen persönlichen Fahrservice für sich und ihre Familie erwartete. Andererseits waren chaotische Spontanaktionen schon immer das Markenzeichen meiner Freundin gewesen. Mit Grausen erinnerte ich mich zum Beispiel noch an die Überraschungsparty, die Lou während unserer gemeinsamen Studienzeit zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag für mich organisiert hatte. Zwar waren damals alle unsere Freunde gekommen und hatten auf Kommando »Überraschung« gerufen, als ich nach einem harten Tag in der Jurabibliothek spät abends das Licht in unserer WG-Küche eingeschaltet hatte. Die Party-Organisatorin Lou hatte aber als Verpflegung nur eine einzige Kiste Bier und drei Tüten Chips für über vierzig Gäste besorgt. Meine Geburtstagsfeier hatte sich daher rasch in eine nächtliche Freiluftparty auf dem Grünstreifen vor der nächsten Tankstelle mit 24-Stunden-Service verwandelt, die nicht allzu weit von unserer WG entfernt mitten in einem Wohngebiet lag. Natürlich hatten wir bald Besuch von der bayrischen Polizei bekommen, denn die Anwohner waren nicht gerade begeistert davon gewesen, dass wir weit nach Mitternacht noch draußen vor ihren Fenstern feierten. Auf diesen nächtlichen Kontakt zur Staatsmacht hätte ich als angehende Juristin liebend gerne verzichtet. Meine Freundin Lou hatte das damals allerdings weitaus lockerer gesehen und gleich versucht, mit einem der beiden Polizisten zu flirten. Ob es an Lous Charme gelegen hatte oder an der Tatsache, dass die Ordnungshüter um diese Zeit einfach keine Lust gehabt hatten, eine Horde Betrunkener mit auf das Revier zu nehmen – wir waren damals jedenfalls mit einer Verwarnung davongekommen.
Ein Blick auf meine Uhr beförderte mich in die Gegenwart zurück. Selbst bei freien Straßen würde ich mindestens eine Stunde bis zum Flughafen in Münster/Osnabrück benötigen, daher war nun Eile geboten. Ich entschied, mich nicht weiter über Lou zu ärgern, und griff stattdessen nach den Autoschlüsseln.
Der Flughafen in Münster war einer der kleinsten Flughäfen, die ich kannte. Er erinnerte mich immer ein wenig an eines der Bauwerke aus Liliput in Gullivers Reisen. Schon lange gab es Gerüchte, dass seine Tage gezählt waren und angesichts der gähnenden Leere, die hier herrschte, war das auch kein Wunder. Selbst die Parkplatzsuche war kein Problem. Als ich die Ankunftshalle des Flughafens betrat, sah ich in der Halle einen Berg aus unterschiedlich großen Koffern, vor dem meine Freundin nervös wie ein Hütehund auf und ab stöckelte. Lou trug zur Feier des Tages ein zitronengelbes Seidenensemble mit passenden zitronengelben High Heels. Zusammen mit ihrer momentan feuerrot gefärbten Lockenpracht setzte sie deutliche Farbakzente in der ansonsten tristen Flughafenhalle. Auf der Bank neben den Koffern kauerte eine männliche Gestalt. War das etwa Dieter? Ein Stück weiter entfernt konnte ich auch Lous Sohn Augustin erkennen, der offensichtlich gerade dabei war, die Ankunftshalle des Flughafens in eine Skateboardbahn umzufunktionieren.
Als mich meine Freundin erblickte, kam sie trotz ihrer Zehnzentimeterabsätze erstaunlich flink auf mich zugelaufen und setzte schon im Gehen zu einer Schimpftirade an: »Mein Gott Carla, da bist du ja endlich! Ich dachte schon, wir müssen hier übernachten. Wir sind alle total fertig und brauchen unbedingt Ruhe. Schau dir nur meinen Dieter an, der ist vollkommen am Ende und schläft schon im Sitzen ein.« Noch während ihres Wortschwalls hatte mich meine Freundin erreicht und busselte mich nach echt Münchner Art von oben bis unten ab. Dabei redete sie unablässig weiter auf mich ein: »Ach Carla, du machst dir ja kein Bild, was bei uns in München los war. Seit Frau Adler gekündigt hat, schuftet Dieter von morgens bis abends in seiner Praxis wie ein Hamster im Rad.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete kopfschüttelnd ihren Gatten. »Und nachts macht er dann noch den Papierkram und die Abrechnungen. Schau ihn dir an, der Mann ist ja nur noch ein Schatten seiner selbst. So konnte es nicht weitergehen, daher habe ich ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und ihm und uns eine ordentliche Prise Landluft verordnet.«
Ich nutzte die kurze Pause, die Lou zum Atmen einlegen musste, um meinen ersten Satz zu sagen: »Lou, Dieter, ich freue mich wirklich, dass ihr da seid. Allerdings hatte ich keine Ahnung, dass ihr heute mit dem Flugzeug kommen wolltet, sonst hätte ich euch hier natürlich erwartet. Warum hast du dich denn nicht vorher gemeldet, Lou?«
Während die so Angesprochene nur mit den Schultern zuckte, war Dieter durch die Erwähnung seines Namens kurz aus seiner Apathie hochgeschreckt und brachte immerhin eine Umarmung zustande, bevor er auf der Bank erneut zusammensackte. Er bot mit seinen geröteten Augen und dem an ihm herunterschlotternden Sakko einen besorgniserregenden Anblick. Ehe wir zu einem weiteren Gespräch ansetzen konnten, kam aus der hinteren Ecke der Flughafenhalle ein wie immer finster dreinschauender Augustin auf seinem Skateboard auf uns zugerast. Genau vor meinen Füßen bremste er scharf ab und beförderte das Board mit einer fließend eleganten Bewegung unter seinen Arm.
»Hey, Tante Carla. Geht es jetzt endlich los? Ich habe Hunger und der Fraß im Flieger war echt ungenießbar.«
Ich beschloss, alle weiteren Gespräche auf später zu verschieben, und auf mein Signal hin setzte sich unsere Reisegruppe in Bewegung Richtung Parkplatz.
Die folgende Stunde war nervenaufreibend, und kurz vor dem Brägenbecker Ortsschild hätte ich Lou und ihren Sohn am liebsten aus dem Auto geworfen. Die Mittagssonne schien im April schon heiß auf das Dach meines alten VW Golfs, der natürlich keine Klimaanlage hatte. Bereits direkt auf dem Flughafengelände durfte ich mir daher allerlei anhören. Beim Anblick des alten Wagens ließ Lou ihre Louis-Vuitton-Tasche auf Dieters Füße fallen.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, legte sie konsterniert los, »mit ‘nem Kfz-Mechaniker und Schrauber zusammen und dann immer noch die alte Rostlaube unter dem Hintern!«
Kopfschüttelnd lief sie um den Golf herum, den mir meine Eltern zum Examen geschenkt hatten. Ich liebte dieses Auto, auch wenn es nicht klimatisiert war und die Sitze nach 90er-Jahre-Muff rochen. Und Kai akzeptierte meine Liebe zu dem PKW, immerhin redete er mit seinen Oldtimern wie andere Menschen mit ihren Rauhaardackeln.
»Du kannst ja gerne zu Fuß gehen, dann bist du in circa einer Woche in Brägenbeck!«, konterte ich genervt und fing an, die komplette Kollektion an Louis-Vuitton-Taschen in den Kofferraum zu hieven.
»Eher in zwei Wochen«, grinste Augustin und deutete auf die High Heels meiner Freundin, »Louise war gestern noch shoppen!«
»Nenn mich nicht beim Vornamen!«, fuhr Lou ihren Sohn an und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Ich bin und bleibe deine Mutter, auch wenn du nicht mehr mit Bauklötzen spielst.« Augustin grinste leicht frivol und erntete einen entsetzten Blick seiner Eltern, selbst Dieter war für einen kurzen Moment aus dem Sekundenschlaf erwacht.
Auch während der Autofahrt gab es genug zu meckern. Lou jammerte über die schlechte Luft im Wagen, den Fahrtwind, der ihre Frisur ruinierte, und die alten Sitze, die sämtliche Rückenwirbel stauchten. Und Augustin schimpfte auf der Rückbank vor sich hin, eingequetscht zwischen seinem Vater und Lous Necessaires. Er hatte versucht, Marie über das Handy zu erreichen, und die Erfolglosigkeit seines Unterfangens trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Nur Dieter war still und schlief mit offenem Mund, den Kopf an die Schulter seines Sohnes geschmiegt.
Und so war ich froh, als wir auf meine Hofeinfahrt fuhren. Kai kam uns schon mit einem Tablett entgegen. Er hatte kurzerhand eine Flasche Sekt geköpft, um die Gäste zu begrüßen.
»Du bist meine Rettung!«, murmelte ich in dem Wissen, wie beruhigend Sekt und Champagner auf die Nerven meiner Freundin wirkten.
»Den brauch ich jetzt auch!« Sie war schon aus dem Auto gesprungen, umarmte Kai kurz und schnappte sich ein Sektglas, das sie in einem Zug herunterkippte. Augenblicklich entspannten sich ihre Gesichtszüge, und sie hielt meinem Freund divenhaft das leere Glas hin, als wäre er der Butler aus dem Haus am Eaton Place. »Kinder, ist das schön, wieder hier zu sein!« Lou strahlte in die Runde, ihre schlechte Laune war wie weggeblasen. Mit einem erneut gefüllten Glas bewaffnet stöckelte sie elegant in Richtung Stallungen, um unsere neuen Mitbewohner zu begrüßen.
Ich sah Lou lächelnd nach und stellte ebenfalls meinen Sektkelch ab, um mich dem Gepäck zu widmen. Langsam hatte ich mich daran gewöhnt, dass sich meine Freundin grundsätzlich in Luft auflöste, wenn die Koffer in die erste Etage meines Bauernhauses mussten. Kai nahm sich eine große Reisetasche und hievte sie zur Haustür.
»Mensch Augustin, hat deine Mutter ihren gesamten Kleiderschrank in die Modehochburg Brägenbeck geschleppt?«, witzelte er und lächelte den Jungen an. Dieter schlief immer noch auf der Rückbank und schnarchte leise vor sich hin. Doch Augustin schnaufte lediglich genervt und hämmerte auf sein Smartphone ein. Mittlerweile waren auch seine Ohren tiefrot – ein schlechtes Zeichen.
»Was hast du denn?«, fragte ich ihn und ließ versehentlich eine Hutschachtel fallen. Irritiert betrachtete ich das Gepäckstück im Staub. Was in aller Welt wollte Lou hier mit einer Hutschachtel?
»Marie hat ihr Handy aus!«, brach es aus dem Jungen heraus. »Dabei wollte sie doch mit zum Flughafen!« Augustin stopfte sein Smartphone in die tief hängende Gesäßtasche. Tränen der Enttäuschung schimmerten in seinen Augen, als er sich ebenfalls einen Rucksack aus dem Kofferraum schnappte. »Wenn die Schluss macht …«, begann er den Satz, verschluckte aber den Rest.
Das ging dann doch zu weit! Ich trat meinem Freund gegen das Schienbein, dem der Schalk förmlich aus den Augen blitzte.
»Tu was!«, zischte ich ihn an, »siehst du denn nicht, wie der Junge leidet?«
»Autsch!« Kai rieb sich theatralisch das Bein und räusperte sich.
»Äh Gus, geh doch mal in die Küche, ich glaube, da liegt ein Brief für dich!« Der Junge erstarrte in der Bewegung.
»Ich wusste, dass sie Schluss macht!« Abrupt ließ er den Rucksack fallen und stürmte durch die Haustür.
»Danke. Da geht’s ihm doch gleich viel besser!«, moserte ich und stemmte die Hände in meine Hüften. »Musste das sein? Was habt ihr beiden euch denn dabei gedacht?« Erst jetzt merkte mein Freund, dass er über das Ziel hinausgeschossen war.
»Marie hat doch nicht mehr in deinen Golf gepasst.« Kleinlaut fuhr er sich durch das dunkle Haar. Diese kurze Bewegung ließ mein Herz einen Satz machen und ich betrachtete fasziniert den gutaussehenden Mann, der sich vor mir zu rechtfertigen versuchte. Machte er diese Bewegung eigentlich extra immer dann, wenn ich sauer auf ihn war? Darauf musste ich in Zukunft achten! »Und Marie meinte, dass sie ihn doch überraschen könnte …« In dem Moment hörte ich Augustin begeistert aufschreien. Ich sah durch das Küchenfenster, wie der Junge seine Freundin im Kreis herumwirbelte. Dann hörte ich Porzellan brechen, worauf schuldbewusste Stille folgte.
»Das war meine Teekanne«, seufzte ich und ging auf Kai zu, um ihn zu küssen, »und ich weiß auch schon, wer mir eine neue kauft!« Ich musste lachen, als mein Freund mich ebenfalls hochhob und durch die Luft wirbelte.
Zwei Stunden später standen meine Freundin und ich geschäftig in der Küche und schnitten Gemüse klein. Kai hatte spontan unsere Freunde aus dem Dorf zum Grillen eingeladen, als ich zum Flughafen unterwegs gewesen war. Anders als in München hatte in Brägenbeck ausnahmslos jeder Zeit, wenn spontan eingeladen wurde, und so freuten wir uns auf eine Menge Gäste. Ich genoss es, mit meiner besten Freundin die Feier vorzubereiten und uns dabei zu unterhalten.
»Mei, Carla, deine Ferkel sind ja wirklich zu putzig. Ich freu mich schon drauf, sie alle hier aufwachsen zu sehen.« Jetzt fing sie auch noch damit an. Putzig, das durfte ja nicht wahr sein! Während ich innerlich mein Schicksal verfluchte, hatte Lou abrupt das Thema gewechselt und schlug auf einmal einen ernsten Tonfall an: