Sommer in Grasgrün - Annell Ritter - E-Book

Sommer in Grasgrün E-Book

Annell Ritter

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Beschreibung

Carla erbt überraschend einen Bauernhof in Brägenbeck, einem abgelegenen Dorf in Norddeutschland. Gemeinsam mit ihrer extrovertierten Freundin Lou macht sie sich auf, die Erbschaft zu begutachten. Das Landleben mit seinen rustikalen Gepflogenheiten und schweigsamen Bewohnern ist für die gestandene Münchnerin erst einmal eine Herausforderung. Doch nach einer durchtanzten Nacht auf der Brägenbecker Scheunenparty kommen die Freundinnen zu der Einsicht, dass das Leben außerhalb der Großstadt gar nicht so übel ist. Ein streikendes Cabrio, ein attraktiver Mechaniker und ein arroganter Großbauer später fasst Carla einen weitreichenden Plan.

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Die Autorin Annell Ritter ist das Pseudonym zweier Freundinnen. Seit dem gemeinsamen Studium in Norddeutschland können sie über die gleichen Dinge lachen. Zwar wurden beide durch ihre Jobs in Wuppertal und in München räumlich weit getrennt, trotzdem sind sie stets in Kontakt geblieben. Ihre Liebe zur Literatur brachte sie bei einem ausgedehnten Abendessen auf die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Roman Sommer in Grasgrün. Momentan arbeiten sie an der Fortsetzung, die im Frühjahr 2015 erscheinen wird. Ansonsten verbringen die Freundinnen ihre Freizeit am liebsten vor brodelnden Kochtöpfen oder draußen im Grünen.

Das Buch Carla erbt überraschend einen Bauernhof in Brägenbeck, einem abgelegenen Dorf in Norddeutschland. Gemeinsam mit ihrer extrovertierten Freundin Lou macht sie sich auf, die Erbschaft zu begutachten. Das Landleben mit seinen rustikalen Gepflogenheiten und schweigsamen Bewohnern ist für die gestandene Münchnerin erst einmal eine Herausforderung. Doch nach einer durchtanzten Nacht auf der Brägenbecker Scheunenparty kommen die Freundinnen zu der Einsicht, dass das Leben außerhalb der Großstadt gar nicht so übel ist. Ein streikendes Cabrio, ein attraktiver Mechaniker und ein arroganter Großbauer später fasst Carla einen weitreichenden Plan.

Annell Ritter

Sommer in Grasgrün

Ein Brägenbeck-Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

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Alle Personen, Namen und Ortschaften in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ortschaften sind rein zufällig.

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2014 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © Finepic® Autorenfoto: © Anette Hammer

ISBN 978-3-95818-013-0

Alle Rechte vorbehalten.

1

»Und Frau Carla Schwanenfels erbt das Haus in Brägenbeck.«

Diese monoton vorgetragenen Worte rissen mich aus meinem Dämmerzustand. Ich war gerade damit beschäftigt, meine Haarspitzen auf Spliss zu untersuchen, und stellte mir dabei die Frage, wann mein Pferdeschwanz das letzte Mal einen Friseursalon von innen gesehen hatte.

»Frau Schwanenfels …?«

Als ich aufschaute, blickte ich in das erwartungsvolle Gesicht des Notars, in dessen Kanzlei wir seit einer gefühlten Ewigkeit bei abgedunkelten Fenstern und stehender Luft saßen.

Wir, das waren sieben Verwandte fünften bis zwölften Grades, die mir gänzlich unbekannt waren, und ich, Carla Schwanenfels, Großnichte der verstorbenen Adelheid Kazmarek, auf deren Testamentseröffnung ich mich gerade befand.

Und zwar im abgeschiedenen Meppen circa 700 Kilometer entfernt von meiner Wahlheimat München, wo ich beruflich sehr erfolgreich in einer Wirtschaftskanzlei als Juristin tätig bin und privat ebenfalls sehr erfolgreich vor einem Monat meine Verlobung gelöst habe.

Die Testamentseröffnung meiner verstorbenen Großtante hatte bis zu diesem denkwürdigen Moment bereits zwei Stunden gedauert und Notar Winkelmann, der das Testament verlas, war nicht gerade ein geborener Entertainer. Er erinnerte mich entfernt an Professor Hastig aus der Sesamstraße, der mit wild zu Berge stehenden Haaren nach jedem zweiten Satz ein Nickerchen einlegte. Dank seiner dünnen Altherrenstimme und einer vollkommen monotonen Sprechweise war nach und nach die Hälfte der Anwesenden mit offenen Augen ins Reich der Träume entschlummert. Während ich noch versuchte, wach zu werden, gesellte sich zu dem erwartungsvollen Blick des Notars ein dümmliches Lächeln.

»Na, freuen Sie sich denn gar nicht, Kindchen?«

Kindchen???

Ich hatte vor zwei Monaten erhobenen Hauptes und ohne nennenswerte Stimmungsschwankungen meinen 39. Geburtstag hinter mich gebracht.

Mitten in diesen Gedanken hinein wurde mir schlagartig bewusst, dass ich nun Besitzerin eines Hauses in Brägenbeck war.

Ich wusste spontan nicht, ob ich mich freuen sollte. Großtante Adelheid und ich hatten zu ihren Lebzeiten kein ungetrübt gutes Verhältnis gehabt, und ich fragte mich kurz, ob dieses unverhoffte Erbe vielleicht ihre perfide Art war, sich nun posthum an mir zu rächen. Das letzte Mal war ich in meiner Kindheit als Siebenjährige bei ihr in Brägenbeck gewesen, und meine einzige Erinnerung an diesen Aufenthalt hatte mit einer großen Enttäuschung und mit unzähligen Insekten zu tun. Noch heute habe ich den Duft des frischgebackenen goldgelben Napfkuchens in der Nase, den meine Großtante damals stolz im Garten am gedeckten Kaffeetisch servierte. Der Kuchen war dick mit Puderzucker bestreut, und ich durfte mir ein großes Stück nehmen. Gleichzeitig erinnere ich mich lebhaft an meine im selben Moment einsetzenden hektischen Versuche, die Heerscharen dicker Schmeißfliegen abzuwehren, die wie aus dem Nichts auftauchten und alles daran setzten, sich ihren Anteil von meinem Kuchenstück zu holen. Vor Insekten habe ich immer schon eine panische Angst gehabt, und daher endete das Ganze mit Gezeter und Tränen meinerseits und der unrühmlichen Verbannung ins Haus. Der Kuchen wurde währenddessen vom Rest der zahlreichen Familienmitglieder in null Komma nichts bis zum letzten Krümel aufgegessen und ich konnte ihn nicht einmal probieren. Großtante Adelheid flüsterte mir dann abends überflüssigerweise beim ins Bettbringen zu, dass ich ohnehin für mein Alter sehr pummelig sei und mich daher nicht so anstellen solle. »So findest du später nie einen Mann«, bemerkte sie damals noch, bevor sie das Licht löschte. Eine Drohung, mit der ich als Siebenjährige rein gar nichts anfangen konnte, die sich aber doch tief in meinem Unterbewusstsein verankerte. Merkwürdig, dass ausgerechnet diese Frau mich zur Erbin ihres Hauses bestimmt hatte.

Drei Stunden später saß ich mit zwei Exemplaren meiner mir immer noch gänzlich unbekannten Verwandtschaft bei Kaffee, Kuchen und Bier (das Bier war für mich) im ICE Richtung München. Ich rechnete heimlich im Kopf durch, wie viele Minuten ich noch jeden dieser beiden Pfeifen ertragen musste, bis sie endlich meinen Zug Richtung Heimat verlassen würden.

Das Ergebnis erregte, kombiniert mit dem Bier am helllichten Tag, leichte Übelkeit in mir. Ich musste einen Weg finden, das Verwandtenduo vorzeitig abzuschütteln. In diesem Moment richtete Tante Gerda, Erbin einer beeindruckenden Bernsteinkette samt passendem Fingerring, das Wort an mich:

»Sag mal, Kindchen, was macht denn eine Großstadtpflanze wie du mit einem landwirtschaftlichen Hof mitten in der Pampa von Brägenbeck? Zumal der Hof ja seit mindestens zehn Jahren leer steht? Mein Sohn, der Rudi, der macht ja in Landwirtschaft, der könnte …«

Jetzt hatte auch sie mich Kindchen genannt! Ich unterbrach die Gedankengänge von Tante Gerda, die sichtlich unzufrieden mit der Aufteilung der Erbschaft war.

»Keine Landwirtschaft, Tantchen. Du musst viel größer denken: Gehobene Gastronomie, Spa-Bereich, Feng Shui, Ayurveda und Seminarangebote zur Turboerholung für gestresste Manager, das ist mein Plan für Brägenbeck.«

Ich grinste innerlich über den Blödsinn, den ich da von mir gegeben hatte, und nutzte die kurze Sprachunfähigkeit von Tante Gerda, um mich aus karrieretechnischen Gründen zu verabschieden.

»Tut mir leid, ihr Lieben, aber ich wechsle jetzt das Abteil, die Arbeit ruft. Eine dringende Aktensache. Leider benutze ich ein Tonbandgerät, und das würde euch nur beim Plaudern stören. Tschüs denn …«

Mit neuem Antrieb schnappte ich meine sieben Sachen und machte mich fröhlich pfeifend auf die Suche nach dem nächsten Bordrestaurant.

Dort angekommen, setzte ich mich an einen freien Tisch und orderte mir, ohne groß zu überlegen, ein Glas Bordeaux. Machten unerwartete Erbschaften einen etwa zum Alkoholiker? Zur Sicherheit bestellte ich gleich noch eine Portion Königsberger Klopse dazu, ein ehrliches Essen, das mich wieder erden würde. Ich nahm einen Schluck Rotwein und wählte dann fast automatisch die Nummer meiner besten Freundin Marie-Louise Metzger, erfolgreich reich verheiratet, Mutter von zwei Kindern, Regentin einer Villa in Grünwald und von Beruf Angehörige der Münchner Schickeria. Schon nach zwei Rufzeichen meldete sich eine Frauenstimme, die sichtlich bemüht war, verrucht und lasziv zu klingen.

»Hallo, hier ist die Lou«, tönte es mir entgegen.

»Lou, ich bin es«, sagte ich leicht entnervt. Wir kannten uns schon fast zwanzig Jahre, und im Moment stand mir der Sinn absolut nicht nach ihren üblichen Spielchen. Lou versuchte permanent, durch ein besonders extravagantes Auftreten zu kaschieren, dass sie in Wahrheit ein Leben führte, in dem nichts so richtig zusammenpasste. Das fing schon bei ihrem Vornamen Marie-Louise an. Auf diesen Namen war meine Freundin sehr stolz. Sie fand, dass er nach weiter Welt, Haute Couture und Eleganz klang. Umso mehr schmerzte es sie, dass auf diesen schönen Vornamen ein gänzlich unpoetischer Nachname folgte. Marie-Louise war eine geborene Landwedel und gehörte nicht zu den modernen Frauen, die nach der Hochzeit ihren Mädchennamen beibehielten. Daher wurde sie durch die Heirat mit ihrem Dieter zu einer Metzger. Das Zusammenspiel ihres klangvollen Vornamens mit dem eher derben Nachnamen war der einzige, aber dafür große Wehrmutstropfen, den diese Ehe mit sich brachte.

Auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild setzten sich die Gegensätze fort. Lou war groß und schlank, hatte eigentlich eine sehr gute Figur, leider war sie aber ab der Körpermitte vom Bauchnabel abwärts etwas füllig geraten. Unter dieser Birnensilhouette litt sie, seit ich sie kannte. Doch trotz all ihrer fortwährenden Versuche, mit Gymnastik, Ananasdiät und Reistagen abzunehmen, blieb ihr ausladendes Hinterteil ein treuer Begleiter. Um von diesem körperlichen Makel abzulenken, kleidete sich Lou gerne besonders extravagant. Zurzeit hatte sie eine Vorliebe für grelle Knallfarben, die sie in ungewöhnlichen schrillen Kombinationen zusammenstellte. Außerdem überraschte sie mich jeden Monat mit einer neuen Haarfarbe. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, leuchteten ihre langen Locken gerade feuerrot.

Ich mochte Lou aber trotz ihrer Widersprüche und schrägen Vorlieben total gerne. Sie hatte ein Herz aus Gold und vor nichts und niemandem Angst. Ich konnte mich einfach voll und ganz auf sie verlassen, wenn es darauf ankam.

»Ist ja gut«, antwortete Lou nun in ihrer normalen Stimmlage, »man wird ja wohl noch mal einen Witz machen dürfen. Was gibt es denn so Dringendes?«

»Ich hatte dir ja erzählt, dass heute die Testamentseröffnung meiner Großtante Adelheid stattfindet.«

»Ja und? Bist du jetzt stolze Besitzerin eines von Motten zerfressenen Nerzmantels?« Sie kicherte albern.

»Nicht ganz. Lou, stell dir vor, ich habe das Haus meiner Großtante in Brägenbeck geerbt! Es gehört jetzt mir! Was soll ich bloß damit anfangen?«

»In wo?«

»Brägenbeck, das ist ein kleiner Ort im Emsland zwischen Papenburg und Lingen, in dem meine Großtante früher gewohnt hat. Ich habe dir bestimmt schon mal davon erzählt.«

»Wo bitte ist Emsland?«, fragte Lou, die in ihrem Leben noch nicht weit über die Grenzen von München hinausgekommen war.

»Na, halt in Norddeutschland. Da, wo außer Landschaft und Kühen nicht besonders viel los ist.«

»Mooomentchen mal – jetzt bitte noch einmal von vorne und für Blondinen – wo bist du denn jetzt genau?« Lous Stimme klang nun gar nicht mehr lasziv, sondern leicht schrill durchs Telefon.

»Momentan im Bordrestaurant des ICE nach München. Ich komme aus Meppen von einer Testamentseröffnung. Meine Großtante Adelheid ist doch vor einem halben Jahr gestorben und hat mir etwas vererbt …«

»Tante Adelheid ? Aha…Und was ist jetzt mit diesem Brägendorf?«

Oh, Mann. Ich stöhnte laut. Manchmal ist meine beste Freundin Marie-Louise wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte.

Egal. Ich hatte auf jeden Fall soeben spontan den Entschluss gefasst, für ein paar Tage meinem Leben in München zu entfliehen und mir die Besitztümer in Brägenbeck anzuschauen.

Überstunden hatte ich eh genug, Urlaub dagegen seit Jahren nicht gehabt – das ließe sich schon einrichten.

Und für ein paar Tage eine Distanz von mehr als 700 Kilometern zwischen mir und meinem Exverlobten zu schaffen, wirkte auch sehr verlockend – der Plan nahm also Gestalt an.

Marie-Louises Fingernägel – wahrscheinlich perfekt manikürt und passend zum Lippenstift in Knallfarben angepinselt – hämmerten währenddessen ungeduldig Krater in den Art-déco-Tisch ihres Wohnzimmers. Das war sogar trotz mieser Verbindung und Zuglärm nicht zu überhören.

Ich setzte erneut an und erklärte ihr zum zweiten Mal, wo ich wann und weshalb gewesen war. Nach einigen ermüdenden Zwischenfragen und -erklärungen war meine Freundin dann endlich einigermaßen im Bilde.

»Brägenbeck – das hört sich ja putzig an!«

Putzig – wie ich dieses Wort aus Marie-Louises Wortschatz hasste.

»Sag mal, Lou, du magst es doch putzig, wollen wir uns meine Erbschaft in Brägenbeck nicht zusammen anschauen? Ein paar Tage ohne Münchner Chichi und Charity, dafür aber frische Luft und Kuhwiesen – klingt das nicht gut? Nur für ein verlängertes Wochenende … ?«

Vor einem längeren Aufenthalt in Brägenbeck graute es mir dann doch, immerhin war ich ja mehr oder weniger eine waschechte Münchnerin ohne großen Bezug zum Landleben.

»Ist gebongt. Übernächsten Freitag könnten wir fahren. Das klingt wirklich witzig. Fast wie in diesen Romanen. Du erbst von einer entfernten Verwandten ein ganzes Haus! Ich fahre da auf jeden Fall mit dir hin und wir schauen uns alles in Ruhe an. «

Ich stutzte. Das war einfach zu … einfach.

»Hast du keine Termine?«

»Sag ich ab.«

Aha. Ich stutzte noch mal. Marie-Louise sagte selten oder nie Termine ab.

Es folgte eine Gegenfrage ihrerseits: »Seit wann nimmst du dir ein verlängertes Wochenende frei? Arbeitest du nicht grundsätzlich bis samstags in die Puppen?« Womit sie auch recht hatte – mein Wochenende begann in der Regel am Samstagabend und endete am Sonntagnachmittag. »Sag ich ebenfalls ab«, konterte ich kurz und trocken.

Stille auf beiden Seiten.

Ich fand als erste den Weg aus unserer Irritation.

»Musst du die Sache nicht noch mit Dieter abklären? Wegen der Kinder und so?«

»Da gibt es nichts zu klären, wir fahren. Und du? Was ist mit deinem schleimigen Dauerverlobten?«

»Ebenfalls kein Klärungsbedarf. Es hat sich ausverlobt.«

Das sagte ich in einem Tonfall, der selbst Lou klarmachte, dass ich momentan nicht weiter über dieses Thema reden wollte.

»Alles klar, dann lass uns zusammen hinfahren, das wird sicher lustig. Ich habe Lust auf einen Tapetenwechsel, mir fällt hier noch die Decke auf den Kopf. Dieter lebt sowieso nur für seine Arbeit. Ihm und den Kindern fällt bestimmt gar nicht auf, dass ich weg bin. Wir nehmen das BMW-Cabrio, dann sind wir in null Komma nichts oben.«

Die Aussicht auf eine Auszeit mit meiner besten Freundin war verlockend und wir verabredeten unsere Abreise für übernächsten Freitag.

2

Am Freitagmorgen war ich gerade damit beschäftigt, einige Kleidungsstücke in meine Reisetasche zu stopfen, als ich es draußen hupen hörte. Ich schaute aus dem Fenster und da saß Lou mit einem knallbunten Hermestuch, das sie sich wie Grace Kelly als Kopfbedeckung umgebunden hatte, und mit einer riesigen Sonnenbrille abfahrbereit in ihrem roten Cabrio. Natürlich hatte sie ihr Auto wie immer mitten auf dem Fahrradweg geparkt. Ich schulterte meine Reisetasche, warf die Wohnungstür hinter mir zu und rannte hinunter auf die Straße. Lou trug als Kontrast zu ihrem Kopftuch ein giftgrünes Vintage-Designerkleid, das sie sich vermutlich extra für unsere Landpartie zugelegt hatte, und dazu dunkelrote High Heels. Soweit ich das trotz ihrer Kopfbedeckung erkennen konnte, hatte sie sich heute für Platinblond als Haarfarbe entschieden. Ich fragte mich noch kurz, wie die Brägenbecker Dorfbevölkerung wohl auf dieses Outfit reagieren würde, als Lou mich schon erspäht hatte und mir zuwinkte.

»Carla, hierher«, rief sie, als ob es auch nur die geringste Chance gegeben hätte, sie in ihrem Auto zu übersehen. Nach einer ausgiebigen Begrüßung musterte sie mich kritisch.

»Ist alles in Ordnung mit Dir?«, fragte sie besorgt.

»Ja, mir geht es gut. Es war nur einfach alles ein bisschen viel in letzter Zeit. Lass uns doch gleich losfahren«, antwortete ich rasch.

»Weißt du eigentlich, wie wir da am besten hinkommen? Soll ich einfach mal Brägenbeck ins Navi eingeben?«

Nach mehreren vergeblichen Versuchen fanden wir mit Hilfe meines Smartphones den nächstgrößeren Ort, der im Navigationsgerät vorhanden war, und Lou gab Gas.

In der folgenden halben Stunde bugsierte uns Lou gekonnt durch den Münchener Stadtverkehr. Gleichzeitig griff sie nahezu ohne Hinzuschauen im Zweiminutentakt in eine Schokokekspackung. Die Kekskrümel verstreute sie achtlos überall im ansonsten wie geleckt wirkenden Autoinnenraum. Dieses Verhalten gab mir zu denken und schließlich fragte ich irritiert: »Was ist eigentlich los mit dir? Es ist noch nicht einmal zehn Uhr in der Früh und du stopfst eine halbe Packung Kekse mit doppelter Schokoladenfüllung in dich hinein. Widerspricht das nicht deinem Diätplan? Was sagen denn deine Freunde Dr. Pape, Dr. McKenna und Dr. Was-weiß-ich-wie-die-alle-heißen dazu?«

Marie-Louise war nämlich immer noch fanatischer Groupie diverser Diätratgeber und verfolgte genauso konsequent wie auch erfolglos das »Size Zero«-Ziel. Sie lebte normalerweise nach dem Motto: »Möhre statt Marshmallow«.

Wie sie da so neben mir saß, Schokokekse in ihren Mund schob und die Schokoladenreste mit dem Handrücken über ihrem Make-up verteilte, beschlich mich daher das dringende Gefühl, dass bei meiner besten Freundin irgendetwas nicht in Ordnung war.

Nicht, dass ich ein Kontrollfreak wäre – ich stopfe regelmäßig Kekse, Schokolade und Ähnliches in mich hinein und an schlechten Tagen spüle ich das alles mit einer Flasche Rotwein runter – aber ich bin Carla und Marie-Louise ist Marie-Louise, nämlich kontrolliert und beherrscht bis auf die letzte Kalorie.

»Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung, Lou?«, fragte ich daher in Richtung Fahrersitz, ohne dabei die besorgniserregend hohe Verkehrsdichte aus dem Auge zu lassen.

Ich hörte ein Grunzen, gefolgt von einem Husten und Schlucken, und bildete mir ein, dazwischen ein »Nö, nicht wirklich« herausgefiltert zu haben.

»Nein, bei mir ist nichts in Ordnung«, konkretisierte Marie-Louise und schmiss die Kekspackung auf den Rücksitz. »Mein Leben ist fürn Arsch!«

Was? Zugegeben, ich war nicht besonders neidisch auf das perfekte High-Society-Leben meiner Freundin, aber über diese Aussage wunderte ich mich. Marie-Louise war immer sehr stolz auf ihre Familie und ihre gesellschaftliche Stellung samt C-Promi-Status gewesen, und daraus hatte sie auch nie einen Hehl gemacht.

Was sie jetzt sagte, klang so gar nicht nach ihr.

»Hast du irgendwas genommen?«

Klar, die Frage war in der Situation etwas unverschämt, aber nicht unberechtigt.

Meine Freundin liebte ihren Therapeuten Luke – frisch importiert aus Amerika – und sie liebte seine bunten Pillen, die er großzügig verschrieb, um ganz München ein bezauberndes Lächeln ins Gesicht zu meißeln.

»Quatsch – ich war schon lange nicht mehr bei dem Quacksalber, der alles auf meine arme Mutter schiebt. Bei mir läuft es in letzter Zeit einfach nicht so gut.«

Ich schaute verwundert zu meiner Freundin herüber. Bei Marie-Louise lief es in letzter Zeit nicht gut und ich wusste nichts davon?

Insgeheim fragte ich mich, wann wir beide das letzte Mal ernsthaft und mehr als fünf Minuten miteinander gesprochen hatten.

Das musste länger als vier Wochen her sein, da Marie-Louise im Gegenzug nicht wusste, dass ich meinen »schleimigen Verlobten«, wie sie Paul treffend und liebevoll nannte, vor einem Monat verlassen hatte.

Paul hatte sich von mir erwischen lassen, auf seinem Bürostuhl, lediglich bedeckt mit meiner Sekretärin, die wiederum mit gar nichts bedeckt war.

»Sobald wir auf der Autobahn sind, steuerst du die erstbeste Raststätte an. Ich habe das Gefühl, wir müssen uns dringend gegenseitig auf den neusten Stand bringen. »

Lou nickte lediglich, rückte die Locken unter ihrem Hermestuch zurecht und trat aufs Gaspedal.

»Er hat deine Sekretärin flachgelegt? Wieso denn nicht seine eigene?«

Was war denn das jetzt für eine blöde Frage!

Trotzdem beantwortete ich sie bereitwillig: »Seine Sekretärin, Frau Lotterbeck, habe ich ihm persönlich ausgesucht, Paul hat es ja nicht so mit Personalfragen. Sie ist sehr kompetent, aber auch ebenso korpulent. Sie hätte ihn vermutlich schier erstickt mit ihrem Gewicht.«

Jetzt mussten wir doch das erste Mal an diesem Vormittag schallend lachen.

Dann fragt mich Marie-Louise immer noch kichernd: »Und jetzt? Was hast du jetzt vor?«

Ich saß ihr gegenüber in einer Autobahnraststätte und zerkrümelte ein wehrloses Brötchen. Tja, was hatte ich jetzt eigentlich vor?

Ich stellte fest, dass ich mir diese Frage schon lange nicht mehr gestellt hatte, ganz so, als hätte ich die Entscheidungen in meinem Leben nicht selbst getroffen.

Bis vor vier Wochen war bei mir alles in geregelten Bahnen verlaufen. Ich war ehrgeizig und hatte es, wie der Volksmund so schön sagt, zu etwas gebracht. Mit Ende zwanzig hatte ich zwei juristische Staatsexamen in der Tasche und mit Anfang dreißig einen gut bezahlten Job in der renommierten Wirtschaftskanzlei Bangmann und Partner in der Münchener Innenstadt.

In dieser Kanzlei arbeitete auch mein Dauerverlobter Paul, der Traum aller Schwiegermütter. Als ich Paul in der Endphase meines Studiums kennengelernt hatte, war es bei mir Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er saß in der Bibliothek direkt einen Tisch vor mir und ich konnte stundenlang seinen dunkel gelockten Hinterkopf und seinen perfekten Hals bewundern. Dabei war ich wahrlich keine von den Frauen, die nur Jura studierten, um sich an der Uni eine vielversprechende Partie zu angeln und dann zu heiraten. Mir ging es wirklich um die Inhalte, und ich wollte unbedingt einen guten Abschluss machen, um als Rechtsanwältin für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Umso überraschender war es für mich, dass ich mich nicht mehr richtig auf meine Bücher konzentrieren konnte, sobald er vor mir in der Bibliothek saß. Als wir uns schließlich auf einer Semesterparty auch persönlich kennenlernten, ging alles ganz schnell. Wir verbrachten wie selbstverständlich die Nacht miteinander und beschlossen bereits nach einer Woche, dass wir von nun an zusammengehörten. Bis dahin hatte ich außer den üblichen Knutschereien im Teenageralter kaum ernsthafte Erfahrungen mit Männern gemacht. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass ich für das andere Geschlecht mehr der Kumpeltyp war und die Vorhersage meiner Großtante Adelheid somit wirklich in Erfüllung ging. Mit Paul war auf einmal alles anders und ich schwebte auf Wolke sieben. Wir machten unser zweites Staatsexamen und ergatterten dann beide eine der begehrten Stellen bei Bangmann und Partner. Die erste Zeit in der Münchner Wirtschaftskanzlei war hart und wir arbeiteten rund um die Uhr. Ich war abends erschöpft von Gerichtsterminen und kräftezehrenden Mandantengesprächen, aber auch glücklich. Nach einigen Jahren Dauerverlobung zogen wir dann in ein Loft in der Innenstadt. In unserer knappen Freizeit führten wir gerne lange Diskussionen über Zeit, Ort und Größe der geplanten Hochzeit.

Und jetzt? Jetzt stahl ich mich jeden Morgen an Pauls Bürotür vorbei und ging einer Begegnung mit ihm aus dem Weg. Vor drei Wochen war ich aus unserem Loft aus- und wieder in meine kleine Eigentumswohnung eingezogen, die ich als Wertanlage behalten und billig an einen Studenten untervermietet hatte. Auch beim Auszug kam es zu keiner Begegnung – Paul war an dem besagten Wochenende mit meiner Ex-Sekretärin an den Bodensee zum Segeln gefahren. Nun lebte ich zwischen Umzugs- und Pizzakartons und suchte in meinem Inneren verzweifelt nach dem nötigen Antrieb, um mein Leben in andere und schönere Bahnen zu lenken.

Darüber wollte ich aber im Moment nicht weiter nachdenken, ich konnte in der Tat dringend eine Auszeit gebrauchen.

»Weiß nicht«, antwortete ich ratlos auf Lous Frage nach meinen Zukunftsplänen. »Erst mal mit dir nach Brägenbeck fahren. Und reden. Geredet haben wir viel zu wenig in letzter Zeit. Und du? Was hast du vor?«

Marie-Louise zögerte.

»Ich weiß auch nicht. Eigentlich müsste ich doch glücklich sein. Dieter ist ein guter Vater und Ehemann, auch wenn er mich im Moment nicht versteht. Die Kinder machen nicht mehr Ärger als andere, das Haus, das Leben in der Münchener Society – ich bin doch recht weit gekommen, auch ohne meinen Vater. Ich meine, das wollte ich doch immer. Und trotzdem fühle ich mich irgendwie nutzlos und leer.«

Sie zögerte und zerpflückte die letzte Serviette auf dem Tisch.

»Weißt du, manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich damals mein Studium beendet hätte.«

Marie-Louise und ich hatten zur gleichen Zeit unser Jurastudium in München aufgenommen, uns von Anfang gut verstanden und waren nach sechs Monaten aus einem schäbigen Studentenwohnheim zusammen in eine 2-Zimmer-Wohnung gezogen.

Während ich aber bis morgens um zwei Uhr über meinen Lehrbüchern saß und für Klausuren lernte, trieb sich meine kokette Mitbewohnerin in Szenebars herum und verdrehte den Männer den Kopf.

Von Hause aus verwöhnt, fand sie keinen Gefallen daran, in Lehrsälen zu hocken und Paragraphen auswendig zu lernen. Daran änderte auch die späte Einsicht ihres Vaters nichts, die Tochter müsse mit Studienbeginn finanziell kürzer gehalten werden und Disziplin lernen. Vor dem ersten Staatsexamen hatte Lou dann sehr zu meinem Leidwesen ihr Studium abgebrochen, weil sie keinen Sinn mehr darin sah.

»Ich kann lernen und lernen, trotzdem habe ich den Stoff sofort wieder vergessen. Als ob in meinem Kopf ein großes Vakuum ist. Jura ist einfach nicht mein Ding«, war damals der ihr zwar einleuchtende, aber nicht ganz zutreffende Erklärungsversuch.

Marie-Louise arbeitete die nächsten zwei Jahre hart daran, sich ohne weitere Studien und ohne das Geld ihres Vaters einen sozialen Status in München zu erkämpfen. Glücklicherweise lief ihr dann der zwanzig Jahre ältere Dieter über den Weg, damals schon Mitte vierzig, ohne Haupthaar, dafür aber mit dickem Bankkonto. Genauer gesagt hatte Lou Dieter bei einem Arztbesuch kennengelernt, denn sie litt in dieser Zeit ständig unter hartnäckigen Blasenentzündungen, und Dieter war niedergelassener Urologe. Diesen Teil ihres Kennenlernens verschwiegen die beiden aber am liebsten und ich musste schwören, mit keinem Menschen darüber zu reden. Da Dieter als Münchner Prominentenarzt gut verdiente und sein Geld auch gerne mit seiner Ehefrau teilte, kannte Lou keine finanziellen Probleme.

Ich hatte übrigens nichts gegen Dieter – er war das, was man schlichtweg »bodenständig« nennt – nämlich fleißig, ehrlich und kein bisschen abgehoben, dafür aber nicht immer ganz stilsicher in Sachen Knigge.

Ein weiteres Jahr später schleppte Marie-Louise ihren Dieter vor den Traualtar, kurz darauf suchte sie sich in Grünwald ihr Traumhaus aus.

Mittlerweile hat meine Freundin zwei Kinder: Justus, fünfzehn Jahre alt und verwachsen mit dem hauseigenen Tennisplatz, und Augustin, dreizehn Jahre alt, derzeit Hip-Hop-Fan und leidenschaftlicher Skater. Natürlich half Lou zu Hause eine qualifizierte Haushälterin bei den täglichen Pflichten. Das Haus sah jedenfalls immer so aus, als würden im nächsten Moment Reporter von »Schöner Wohnen« zu einem Fototermin erwartet. Um sich in ihrem Luxusleben nicht zu Tode zu langweilen, hatte Lou vor einiger Zeit begonnen, in München auf diversen Wohltätigkeitsveranstaltungen die Schirmherrin zu spielen.

Bis auf ihren Nachnamen und das Birnenthema hatte Lou bis jetzt immer einen sehr zufriedenen Eindruck auf mich gemacht.

Doch der Schein kann trügen.

»Dann also auf nach Brägenbeck«, schloss ich fürs Erste diese düsteren Kapitel unserer Leben.

Einige Stunden später und viele hundert Kilometer weiter hatten wir nähere Bekanntschaft mit zwei weiteren Autobahnraststätten samt Teilen des dort arbeitenden männlichen Personals gemacht. Außerdem waren wir jetzt die neuen Freundinnen eines sehr kontaktfreudigen LKW-Fahrers aus Leipzig, den Lou beim Tanken in der Schlange vor der Kasse kennengelernt hatte. Ihr extravaganter Look hatte eine unglaubliche Wirkung auf ihre Umgebung und es war unmöglich, sie zu übersehen. Trotzdem überraschte sie mich immer wieder. Vielleicht hatte ich auch nur verdrängt, dass sie die Eigenschaft besaß, mit wirklich jedem Mann zu flirten, der ihr über den Weg lief. Besonders gut gefielen ihr heute anscheinend Brummifahrer und in Raststätten Angestellte im Studentenalter. Lou brauchte einfach männliche Aufmerksamkeit wie ein Fisch das Wasser. Sie war aber im Grunde eine treue Seele und wusste die Annehmlichkeiten ihrer Ehe mit Dieter durchaus zu schätzen.

»Also dieser Peter, der war doch ganz süß. Gib‘s zu«, kam es leicht schwärmerisch vom Beifahrersitz, auf dem es sich meine Freundin gemütlich gemacht hatte. Das Fahren überließ sie nach sechzig Anstandskilometern lieber mir. Als typisches Einzelkind hatte Lou einen gewissen Hang zur Bequemlichkeit.

Ich überhörte ihre letzte Bemerkung geflissentlich und hing meinen eigenen Gedanken nach. Was war nur mit mir los? Eigentlich sollte ich mich doch über meine Erbschaft freuen. Der einsetzende Nieselregen passte zwar gut zur norddeutschen Tiefebene, konnte meine Stimmung aber nicht unbedingt aufhellen. Ich beschloss, den trüben Gedanken keine Chance mehr zu geben, und schaltete das Radio an. Klaus und Klaus sangen gerade »An der Nordseeküste«. Noch eine gute Stunde bis Brägenbeck.

Irgendwo vor Papenburg fing unser BMW-Cabrio plötzlich an, Geräusche aus dem Motorraum von sich zu geben. Wir ignorierten das Klackern, aber es wurde stetig schlimmer und steigerte sich zu einem lauten, bedrohlichen Klopfen. Ich fuhr schließlich rechts ran. Um uns herum sah ich nur endloses Ackerland und Felder, weit und breit war keine menschliche Ansiedlung zu entdecken.

»Ich kann nichts feststellen, scheint alles in Ordnung zu sein.« Lou hatte auf meine unmissverständliche Aufforderung hin umständlich die Motorhaube geöffnet und dabei streng darauf geachtet, keinen ihrer neongrün lackierten Fingernägel zu beschädigen. Jetzt schaute sie leicht irritiert in das Autoinnere. »Vielleicht sollten wir den ADAC rufen«, ergänzte sie noch.

Zwei Stunden später sahen wir endlich einen gelben ADAC-Abschleppwagen, der auf der kerzengeraden Landstraße in aller Seelenruhe gemächlich auf uns zu tuckerte.

»Der Fahrer hat auf jeden Fall die Ruhe weg«, bemerkte Lou, während sie bereits ihren Lippenstift nachzog und ihre blonde Lockenpracht aufschüttelte.

In der jetzigen Situation konnte ihre Vorliebe für das männliche Geschlecht eigentlich nur zu unserem Vorteil sein. Ich hatte jedenfalls wenig Lust, hier noch weiter im Auto herumzusitzen. Vielleicht konnte Lou ihren Charme spielen lassen und dafür sorgen, dass alles ein bisschen schneller ging.

»Na, wo fehlt es denn? Kein Benzin mehr?« Die weibliche Stimme hatte einen leicht spöttischen Unterton und stammte von unserem ADAC-Mann, der in diesem Fall eine ADAC-Frau war.

»Sehr witzig. Wir sind ja nicht blöd«, antwortete Lou leicht entnervt. »Es handelt sich um eine echte Panne, für die wir überhaupt nichts können. Plötzlich hat das Auto ganz komische Geräusche gemacht.«

»Soso, dann wollen wir mal schauen«, kam es schon etwas versöhnlicher zurück. Nun konnte ich die ADAC-Frau richtig erkennen, denn sie war jetzt vollständig aus ihrem Wagen ausgestiegen und näherte sich unserem Cabrio. Unsere Retterin war klein und stämmig, hatte ein wettergegerbtes Gesicht mit ausgeprägten roten Wangen und war ungefähr Mitte fünfzig. Sie trug eine ausgebeulte Latzhose, die mit einem derben Ledergürtel in der Taille festgehalten wurde. Eine ölverschmierte Wollmütze bedeckte ihre Haare. Als sie bei uns angekommen war, musterte sie zunächst meine Freundin mit einem langen und irritierten Blick und wandte sich dann mir zu.

»Brigitte Fechtenkötter«, stellte sie sich vor. »Meinem Bruder und mir gehört die einzige Autowerkstatt hier im Umkreis. Heute ist ziemlich viel los auf der Straße. Daher hat alles etwas länger gedauert«, fügte sie noch entschuldigend hinzu.

Sie beugte sich über die Motorhaube und sagte dann lange gar nichts. Lou und ich standen im Nieselregen und warteten mehr oder weniger geduldig auf das Urteil.

»Das Getriebe ist wahrscheinlich hin«, kam es dann nach einigen, scheinbar endlosen Minuten von irgendwo tief aus dem Motorraum. »Ohne neue Kardanwelle läuft da gar nichts mehr.«

Lou starrte die ADAC-Frau ungläubig an.

»Wie kann das denn sein? Das ist ein fast nagelneuer BMW. Der geht doch nicht einfach so kaputt. Kennen Sie sich mit dem Modell überhaupt aus?« Meine Freundin war sichtlich aufgebracht.

»Ruhig Blut. In Autos steckt man nicht drin. Ich schleppe ihren Wagen gerne bis zu unserer Werkstatt ab. Die ist zwanzig Kilometer entfernt von hier in Brägenbeck. Mein Bruder ist Mechaniker und kann sich das Auto dann am Montag mal in aller Ruhe anschauen.«

Ich versuchte, das Beste aus den Umständen zu machen: »In Brägenbeck? Das ist ja Glück im Unglück. Da wollen wir nämlich auch hin.«

Nach einer gefühlten Stunde zu dritt im engen Fahrerhäuschen des ADAC-Abschleppwagens und mit dem BMW im Schlepptau, verkündete uns ein gelbes Ortschild, dass wir an unserem Ziel angekommen waren. Jetzt mussten wir nur noch das Haus von Großtante Adelheid finden und dann konnten wir uns erst mal ausruhen.

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»Das ist wirklich mit Abstand das verschlafenste und reizloseste Kaff, das ich je gesehen habe«, kommentierte Lou vom Beifahrersitz aus wenig einfühlsam unsere Ankunft in Brägenbeck.

»Und wie das hier riecht! Wie ein einziger großer Misthaufen!«

Für diese Bemerkung handelte sich meine Freundin einen vorwurfsvollen Blick unserer ADAC-Frau ein, die als Ortansässige einen gewissen Lokalpatriotismus zu besitzen schien. Die beiden lagen einfach nicht auf einer Wellenlänge, so viel war klar.

Ich dachte noch kurz, dass die weitere Fahrt ja heiter werden könnte, als Brigitte Fechtenkötter den ADAC-Abschleppwagen samt unserem BMW auch schon geschickt in die Auffahrt einer sichtlich in die Jahre gekommenen Autowerkstatt manövrierte. Wir stiegen aus und folgten ihr durch den Nieselregen in eine Reparaturhalle, die von oben bis unten mit Regalen voller Ersatzteile gefüllt war. An der einzigen freien Wand der Halle hing ein vergilbtes Exemplar des Pirelli-Autokalenders, von dem uns das August-Kalendergirl 2005 nur mit einem Schutzhelm bekleidet neckisch zuzwinkerte.

Aus einer Ecke der Werkstatt kamen rhythmische, metallische Geräusche. Plötzlich war ein wütender Schmerzensschrei zu hören und danach einige undeutlich zu verstehende Flüche.

»Das ist mein Bruder Kai«, sagte Brigitte Fechtenkötter entschuldigend, »er versucht schon seit drei Tagen, seinen alten Benz ans Laufen zu bringen.«

Besagter Kai hatte nun anscheinend unsere Anwesenheit bemerkt, denn er krabbelte flink unter dem Auto hervor, richtete sich auf und klopfte sich den Staub von seiner Latzhose. An seiner linken mit Wagenschmiere überzogenen Hand prangte unübersehbar eine frische Schürfwunde.