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Darf's ein Mann mehr sein? Antonia von Hoff, genannt Toni, steht mitten im Leben. Naja gut, manchmal stolpert sie über ihre eigenen Füße oder taumelt eher von Mann zu Mann, aber es kann ja nicht immer alles super laufen. Zur moralischen Unterstützung auf der Suche nach dem Richtigen und auch beim ewigen Streit mit ihrer spießigen adeligen Familie hat sie Nachbar Philipp. Der hat immer das richtige Rezept nach einer langen Arbeitswoche oder einem misslungenen Date. Und während Toni ihm ihr Herz ausschüttet, sie gemeinsam kochen und Philipp seine heimliche Schwärmerei für Tonis Freundin pflegt, merkt keiner von beiden, dass das Glück manchmal ganz nahe liegt… Von Annell Ritter sind bei Forever erschienen: In der Reihe Ein-Brägenbeck-Roman: Sommer in Grasgrün Apfelgrüne Aussichten Land aufs Herz Küsse zum Dessert
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Seitenzahl: 273
Die AutorinAnnell Ritter ist das Pseudonym zweier Freundinnen. Seit dem gemeinsamen Studium in Norddeutschland können sie über die gleichen Dinge lachen. Zwar wurden beide durch ihre Jobs in Wuppertal und in München räumlich weit getrennt, trotzdem sind sie stets in Kontakt geblieben. Ihre Liebe zur Literatur brachte sie bei einem ausgedehnten Abendessen auf die Idee, gemeinsam Romane zu schreiben. Ansonsten verbringen die Freundinnen ihre Freizeit am liebsten vor brodelnden Kochtöpfen oder draußen im Grünen.
Das Buch
Darf's ein Mann mehr sein?
Antonia von Hoff, genannt Toni, steht mitten im Leben. Naja gut, manchmal stolpert sie über ihre eigenen Füße oder taumelt eher von Mann zu Mann, aber es kann ja nicht immer alles super laufen. Zur moralischen Unterstützung auf der Suche nach dem Richtigen und auch beim ewigen Streit mit ihrer spießigen adeligen Familie hat sie Nachbar Philipp. Der hat immer das richtige Rezept nach einer langen Arbeitswoche oder einem misslungenen Date. Und während Toni ihm ihr Herz ausschüttet, sie gemeinsam kochen und Philipp seine heimliche Schwärmerei für Tonis Freundin pflegt, merkt keiner von beiden, dass da Glück manchmal ganz nahe liegt…Von Annell Ritter sind bei Forever erschienen: In der Reihe Ein-Brägenbeck-Roman:Sommer in GrasgrünApfelgrüne AussichtenLand aufs HerzKüsse zum Dessert
Annell Ritter
Küsse zum Dessert
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2018 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-264-6 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Es hätte ein perfekter Tag am Strand sein können. Toni räkelte sich auf ihrem Handtuch und versuchte, die Anwesenheit ihres Begleiters zu ignorieren. Sie schloss die Augen. Was ich nicht sehe, das ist auch nicht da, dachte sie wenig überzeugt und konzentrierte sich auf den Wellenschlag des Meeres.
»Komm jetzt endlich! Ich habe Hunger und muss aus der Sonne raus. Oder soll ich ohne dich fahren?«
Toni seufzte. So einfach war das wohl doch nicht. Sie öffnete die Augen und blickte auf Klemens, der breitbeinig und mit verschränkten Armen vor ihr im Sand stand. Nun rasselte er auch noch aggressiv mit den Schlüsseln des Mietwagens. Klemens war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, das verrieten die hohen Zwischensequenzen in seiner eigentlich tiefen Stimme. Toni schloss ihre Augen und atmete durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. So, wie sie es in der einzigen Yoga-Stunde gelernt hatte, die sie vor Jahren zusammen mit ihrer Freundin Pia besucht hatte.
Das Leben war ungerecht! Was konnte sie dafür, dass Klemens lieber am Strand posierte, anstatt sich mit Sonnenschutzfaktor 50 einzucremen und den Schattenplatz unter dem Sonnenschirm zu genießen? Auch Toni war hellhäutig und sommersprossig wie Klemens, doch hatte sie im Laufe der Jahre gelernt, wie sie sich am Strand zu verhalten hatte, ohne mit Verbrennungen dritten Grades den Notarzt aufsuchen zu müssen. Das Testosteron, welches der Aufenthalt in Marbella bei Tonis Begleiter freisetzte, schien seine Vernunft in hohem Maße zu untergraben. Klemens war eindeutig eher der Typ für eine Skandinavienreise. Bevor ihr Bewusstsein in nordischen Traumwelten mit einsamen roten Holzhäusern versank, traf Toni etwas hart an der Schulter. Sie öffnete die Augen und sah ihre Strandtasche neben sich im Sand liegen, die Sonnenmilch und eine Zeitschrift waren herausgefallen. Fluchend erhob sie sich aus ihrem Liegestuhl. Die Liege hatte sie zehn Euro Tagesmiete gekostet, und nun musste Toni nach knapp einer Stunde wieder gehen. Und da ihr unentspannter Begleiter sein Portemonnaie im Hotelzimmer vergessen hatte, war auch seine Strandliege auf ihre Kosten gegangen.
Das habe ich jetzt davon, dachte Toni zerknirscht und stopfte die mit Sand panierten Gegenstände zurück in ihre Tasche, kein Mensch verreist mit einem wildfremden Mann und erwartet ein romantisches Abenteuer. So etwas gibt es nur im Fernsehen. Aber Antonia von Hoff, die muss ja mal wieder aus der Reihe tanzen!
Toni nannte sich selber nur bei vollem Namen mit Adelstitel, wenn sie mit sich im Unreinen war, und das geschah in letzter Zeit häufig. Von Hoff …, echote es in ihrem Kopf, den sie verärgert schüttelte. Adelstitel, aber keinen Cent zu viel in der Tasche. Und dass Klemens ständig sein Geld auf dem Zimmer vergaß, machte die Sache auch nicht einfacher!
Beim Gedanken an die fehlinvestierte Miete für die Liegen seufzte sie erneut tief. Für Toni waren zwanzig Euro viel Geld, und sie hasste jede Form von Verschwendung. Angriffslustig fixierte sie den in der Sonne wartenden Klemens, der langsam die Farbe einer Languste annahm. Toni hätte eigentlich Mitleid haben müssen, stattdessen machte sich ein angenehm wohliges Gefühl der Schadenfreude in ihrer Magengegend breit. Sie musste unwillkürlich lächeln. Mit seiner zu engen neongelben Shorts und den rot angelaufenen Beinen sah er wirklich erbärmlich aus.
Klemens bemerkte Tonis scheinbar freundlichen Blick und lächelte einfältig zurück. »Sorry wegen der Tasche …«, murmelte er versöhnlich. Toni winkte resigniert ab und schubste ihren Begleiter in Richtung Mietwagen.
Es war ihr ein Rätsel, wie sie diesen Mann vor kurzer Zeit noch hatte attraktiv finden können. Zumindest würden ihr durch seinen Sonnenbrand abendliche Annäherungsversuche erspart bleiben, das war in diesem Fall wirklich ein Trost. Speziell diesen Aspekt der gemeinsamen Reise hatte Toni sich zu Hause in Hamburg anders vorgestellt. Augen auf bei der Partnerwahl, so hieß es doch! Und ausgerechnet wegen dieses Losers hatte sie ihren geliebten Hund Napoleon in fremder Obhut zurückgelassen. Na gut, ihr Nachbar Philipp war nicht wirklich ein Fremder, sondern ihr bester Freund. Trotzdem, man ließ seinen Hund nicht zurück, nur weil ein neuer Mann auftauchte. Aber Klemens hatte diese schlimme Hundehaarallergie, und sie wollte damals mit ihm von Anfang an alles richtig machen. Wie hatte sie nur so unbedacht handeln können? Aber ja – Toni wusste es! Natürlich waren mal wieder ihre Mutter und ihre Schwester Freya an allem schuld gewesen. Wahrscheinlich wäre sie mit Donald Trump in den Harz zum Wandern gefahren, um einem Urlaub mit den beiden zu entgehen. Aber das half ihr im Moment nicht weiter. Tonis Hauptproblem war, dass sie Klemens überhaupt nicht mehr mochte, nicht einmal das kleinste bisschen. Das machte das Fortsetzen eines gemeinsamen Strandurlaubs nahezu unmöglich. Schon allein seine in emotionaler Erregung feucht werdende Aussprache war eine Zumutung. Außerdem hatte er trotz seiner jungen Jahre bereits eine deutliche Tendenz zu Geheimratsecken. Bestimmt würde er frühzeitig kahlköpfig werden. Hinzu kam sein schlimmer Geiz, er hatte immer dann sein Portemonnaie vergessen, wenn es irgendwo ans Bezahlen ging. Als sie an die vier noch vor ihr liegenden Urlaubstage dachte, wurde Toni übel. Und das passiert mir, einer aufstrebenden Werbetexterin aus der Medienmetropole Hamburg und zudem noch begehrter Single-Frau, jammerte sie innerlich weiter vor sich hin, als sie im Wagen saß und ihr Gesicht in den warmen Fahrtwind hielt.
Doch wenn Toni ehrlich darüber nachdachte, wann sie das letzte Mal einen halbwegs attraktiven Mann ohne Neurosen kennengelernt hatte, musste sie länger in ihrem Gedächtnis kramen, als es ihr lieb war. Ihre kurzen Affären mit Taxi-Karsten und mit dem letzten Praktikanten konnte man ja nicht mitzählen. Von »begehrt« konnte also nicht so recht die Rede sein. Doch rein statistisch gesehen hatte Toni mit ihren dreißig Jahren jede Menge Chancen beim anderen Geschlecht. Das hatte sie noch am Vortag in der neuen Ausgabe der Cosmopolitan gelesen. Und Frauenzeitschriften hatten grundsätzlich recht, zumindest dann, wenn sie Tonis eigene Neurosen besänftigten. Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht und betrachtete kritisch ihr Profil im Seitenspiegel, während Klemens irgendetwas über seine letzte Italienreise und Dolce Vita faselte. Doch – sie konnte zufrieden sein. Toni nahm ihre kupferrote Lockenmähne zusammen und drehte sie zu einem Dutt hoch. Einzelne Locken lösten sich und fielen ihr vor die grünen Augen. Okay – ihre Ohren waren zu groß geraten und standen seitlich ab und die Sommersprossen bedeckten das ganze Gesicht – doch mit Make-up und der richtigen Frisur ließen sich diese Probleme schnell beheben. Aber auch sonst hatte Toni einiges zu bieten. Zum Beispiel ihren Job bei Joy & Success, einem der momentan angesagtesten Start-ups in Hamburgs Werbebranche. Das war zumindest der Originalwortlaut ihres Chefs Curt gewesen, als sie im Vorstellungsgespräch für ein Volontariat vor ihm gesessen und er sie durch seine wuchtige Hornbrille gemustert hatte. Und nun arbeitete Toni als Volontärin für Joy & Success, auch wenn sie sich manchmal eher wie das Mädchen für alles fühlte. Aber das würde sich auch noch ändern – im Großen und Ganzen ging es ihr also gut. Fakt war allerdings auch, dass in Sachen Männer schon lange nichts mehr gelaufen war, als sie Klemens vor zwei Wochen bei einem Casting für einen Werbespot kennengelernt hatte. Getroffen hatte sie ihn in einer schlecht ausgeleuchteten, muffigen Abstellkammer, die bei Joy & Success als Garderobe diente und in die eine mitleidige Seele einen einzelnen Stuhl und einen wackeligen Tisch gequetscht hatte. Es war Tonis Aufgabe als Mädchen für alles, für einen reibungslosen Ablauf bei den Castings zu sorgen. Das ärgerte sie neben dem Kaffeekochen besonders, da sie Texterin war und keine Betreuerin extrovertierter Werbe-Models. Ihr Chef Curt war an diesem Tag aber mal wieder ganz besonders schlecht gelaunt gewesen, weshalb sich Toni einfach in ihr Schicksal ergeben hatte. Curt hatte während des Castings kaum von seinem Smartphone hochgeschaut und nach jedem Bewerber nur geräuschvoll und gelangweilt seinen Naseninhalt hochgezogen. Als endlich alle Teilnehmer bis auf einen vorgesprochen hatten, hatte Toni hektisch in der Garderobe nach diesem letzten Kandidaten gesucht, laut seiner Set-Card ein gewisser Klemens Schadler. Sie hatte ihn zitternd und bleich in der Abstellkammer vorgefunden. Er war bei Tonis Eintreten zusammengezuckt und hatte nur leise stammeln können: »Bin ich etwa schon dran? Oh mein Gott, oh mein Gott! Warum mach ich das bloß immer wieder? Ich glaub, mir wird schlecht.« Toni hatte der Fremde auf der Stelle leidgetan. Auch seine blauen Augen waren für ihr weiteres Handeln ausschlaggebend gewesen. Daher hatte sie sich wie eine fürsorgliche Krankenschwester verhalten und ihn, seinen Rücken tätschelnd, in Richtung Casting-Raum gezogen.
Nach dem Vorsprechen, das für alle Kandidaten gleichermaßen erfolglos zu Ende gegangen war, hatte Herr Schadler zu Tonis Überraschung vor dem Firmengebäude auf sie gewartet. Sie hatte kaum die Eingangstür des Bürogebäudes passiert, da hatte ihr vierbeiniger Begleiter bereits dem wartenden Klemens sein Hundespielzeug vor die Füße gelegt und auffordernd mit dem Schwanz gewedelt. Toni und ihr Malteser Napoleon waren unzertrennlich, und die Tatsache, dass Curt nichts gegen einen Hund am Arbeitsplatz hatte, war für sie damals der Beweis für sein gutes Herz gewesen. Diese Einschätzung hatte sie mittlerweile revidieren müssen. Aber zurück zu Klemens. Als er so lässig an der Wand gelehnt auf sie gewartet hatte, war ihr noch einmal sein gutes Aussehen aufgefallen: welliges Haar, ein durchtrainierter Körper und stahlblaue Augen. Bei Tonis Anblick hatte er gewinnend in ihre Richtung gelächelt, eine Tatsache, die Toni gänzlich davon überzeugt hatte, mit Klemens spontan etwas trinken zu gehen.
Im Hamburger Grindelviertel reihte sich eine Trend-Location an die andere. Sie hatten sich nach wenigen Metern für das Bistro des Abaton Kinos entschieden und eine Flasche Rotwein bestellt. Beim zweiten Glas war Klemens auf seinen Urlaub zu sprechen gekommen. Mit einem theatralisch deprimierten Unterton hatte er von seiner bereits bezahlten Pauschalreise nach Marbella erzählt, die er wie jedes Jahr für sich und seinen besten Freund Ludger gebucht hatte. Da besagter Ludger wegen einer OP ausgefallen war und die beiden keine Reiserücktrittversicherung abgeschlossen hatten, hatte Klemens händeringend einen Ersatz gesucht, selbstredend zu einem enorm reduzierten Reisepreis. Toni hatte nicht lange überlegen müssen, wie gesagt, sie hasste Verschwendungen. Und sie hatte für die kommende Woche bereits Urlaub eingereicht. Eigentlich war ein Aufenthalt mit der ganzen Familie auf einem Gestüt in Mecklenburg-Vorpommern geplant gewesen, alles arrangiert von ihrer Mutter und ihrer Schwester Freya. Aber davor graute es Toni schon seit Monaten. Ihre Mutter ließ in letzter Zeit keine sich bietende Gelegenheit aus, um Toni endlich von den Vorzügen einer standesgemäßen Verbindung zu überzeugen. Sicher wäre auch bei diesem gemeinsamen Familienurlaub wieder wie durch Zufall ein adeliger Junggeselle auf dem Gestüt aufgetaucht. In diesem Punkt hatten sich die Regeln ihrer Familie über Jahrhunderte hinweg nicht geändert. Dann doch lieber ein romantischer Abenteuerurlaub mit einem fremden Mann!, hatte sie gedacht und ihre Urlaubspläne spontan geändert.
Doch nun hätte Toni ihr geplündertes Sparbuch dafür hergegeben, Pferdenasen zu streicheln und Tee aus hauchdünnen Porzellantassen zu trinken. Ihren Vater hätte sie auch gerne mal wiedergesehen, das letzte Treffen war schon viel zu viele Wochen her. Und dem muffigen Adelsgetue und heiratswilligen Junggesellen wäre Toni schon irgendwie entwischt, irgendeine Gelegenheit ergab sich immer. Und dann hätte sie auf Kreidefelsen sitzen und die Ostsee betrachten können. Tonis Caspar-David-Friedrich-Fantasien verwandelten sich blitzschnell in ein Hieronymus-Bosch-Szenario, als Klemens stark abbremste, um einem panisch aufbellenden Straßenhund auszuweichen, der auf der Straße entlangtrottete.
»Die Sauerei hätte ich nicht von den Felgen gekratzt! So ein dummes Vieh!«, schimpfte Klemens und gab ungerührt erneut Gas.
Was für ein blöder Arsch!, dachte Toni im Gegenzug und überlegte augenblicklich, wie sie den Rest des Tages ihrem Begleiter aus dem Weg gehen könnte.
Für den Abend war in der hoteleigenen Disco eine Karaokeveranstaltung geplant. Beim Anblick der Werbeplakate, die großzügig die Wände der Hotellobby schmückten, gruselte es Toni. Abgebildet war ein verschwitzter Ruhrpott-Elvis im weißen Polyesteranzug, der dem Schriftzug nach Love Me Tender in das Mikrofon schmetterte und damit eine üppige Blondine in Ekstase versetzte. Klemens blieb vor einem Plakat stehen.
»Da können wir doch nach dem Abendessen zusammen hingehen und die Sau rauslassen«, schlug er vor und sah auf die Uhr, »eine kleine Siesta ist vorher auch noch drin. So stelle ich mir einen perfekten Urlaubstag vor!« Er lächelte Toni erwartungsvoll an.
»Da geh mal schön alleine hin«, erwiderte diese, woraufhin das Lächeln ihres Begleiters sofort erlosch, »ich gehe jetzt auf mein Zimmer, und wir sehen uns morgen beim Frühstück. Wenn es sich nicht vermeiden lässt!« Mit diesen Worten warf sich Toni ihre Strandtasche über die Schulter und stolzierte in Richtung Treppenhaus, um die fünf Etagen zu ihrem Zimmer zu erklimmen.
Oben angekommen, warf sie sich atemlos auf das quietschende Bett. »Scheiß defekter Fahrstuhl«, murmelte sie und schälte sich aus dem verschwitzten Strandkleid. Bei der Aussicht auf einen ruhigen Abend in ihrem Zimmer bekam sie aber gleich wieder bessere Laune. Von dem kleinen Balkon aus hatte Toni einen herrlichen Blick über das Meer, außerdem verfügte das Zimmer über einen Flachbildfernseher, eine üppige Minibar und eine Speisekarte, sie konnte sich einen Imbiss direkt ins Bett ordern. Und so, wie sie das Niveau der Hotelgäste einschätzte, wären diese die nächsten Stunden damit beschäftigt, das hoteleigene Buffet zu plündern und anschließend bei der Karaokeveranstaltung die All-inclusive-Pina-Coladas in sich hineinzuschütten. Mit etwas Glück hätte Toni den sonst überfüllten Pool für sich alleine.
Bei dieser Abendplanung konnte sie sogar Frieden mit dem fürchterlichen Strandtag mit Klemens schließen. Love Me Tender pfeifend drehte sie den Wasserhahn der Dusche auf, um ihr Wellnessprogramm zu starten.
Drei Stunden später lag Toni wie ein zufriedener Braunbär nach einem Topf Honig in ihrem Bett und schaute eine alte Folge Friends, die zu ihrer großen Freude an diesem Abend im Fernsehen lief.
Auf dem wackeligen Nachtschränkchen standen die Reste einer vorzüglichen Käseplatte und eine angebrochene Flasche Weißwein. Toni hatte sich gegen den Pool und für einen Drink in der menschenleeren Hotelbar entschieden. Wäre sie in Stimmung gewesen, hätte sie sich sogar auf einen Flirt mit dem attraktiven Barkeeper eingelassen. Doch durch die Tage mit Klemens war ihr Jagdtrieb fürs Erste auf Eis gelegt. So hatte Toni ihren Gin-Tonic genossen und den jungen Mann einsam hinter seiner Theke zurückgelassen, um zum Zimmer zurückzukehren.
Sie steckte sich ein Stück Käse in den Mund und tastete nach der Fernbedienung, als sie ein Poltern im Flur vernahm. Kurz darauf hämmerte jemand gegen die Zimmertür. Toni zog den Bademantel enger um ihre Hüften und verließ widerwillig das Bett, um die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. Vor ihr stand ein völlig derangierter Klemens im rosa Satinanzug. Toni stöhnte auf. Ihr Urlaubsbegleiter hatte bei der Karaokeveranstaltung offensichtlich alles gegeben! Die schwarze Lockenperücke hing Klemens schief ins Gesicht, und das bronzefarbene Make-up lief ihm in dunklen Schlieren den Hals herunter. Die obligatorische »Nora-Kette« hatte sich in der Perücke verfangen und saß dadurch bedenklich eng an Klemens Hals. Was dieser aber nicht zu bemerken schien.
»Isch hab gewonnn«, nuschelte er und zog eine pinke E-Gitarre aus Schaumgummi hinter seinem Rücken hervor, »und das feirrn wir beiden Hübschn jez … Ich bin nemlich der Bezzzte un ein waaaahrer Künsler …« Bevor Toni reagieren konnten, stand Klemens im Zimmer, spielte wild Luftgitarre und stimmte Cheri, Cheri Lady an. Sein Katzengejammer ließ Toni das Blut in den Adern gefrieren, doch dann schnellte ihr Puls vor Wut in die Höhe. Wie konnte Klemens einfach sturzbetrunken an die Tür hämmern und ihr den ersten schönen Abend versauen, den sie während dieses Urlaubs hatte?
Kurzerhand nahm sie ihm die Schaumstoffgitarre ab, warf sie in den Flur und schubste den verblüfften Künstler hinterher.
»Wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich die Security! Und das meine ich todernst!« Toni warf die Tür hinter sich zu und horchte gebannt in die Stille. Ein paar Sekunden tat sich gar nichts, dann stellte sie zufrieden fest, dass sich Klemens fluchend und mit schlurfenden Schritten von ihrem Zimmer entfernte. Lächelnd goss sie sich ein Glas Weißwein ein und machte es sich wieder auf dem Bett bequem, bereit für eine weitere Folge Friends.
***
Als Toni einige Tage später wieder in Hamburg am Flughafen ankam, verlief der Abschied von Klemens erwartungsgemäß frostig. Seit dem Karaokeabend hatten Toni und Klemens nur noch die nötigsten Worte miteinander gewechselt und waren sich so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Beide waren insgeheim froh, dass die gemeinsame Zeit zu Ende war. Die Stimmung zwischen ihnen hatte sich jeden Tag weiter verschlechtert. Klemens schmollte, weil Toni seine künstlerische Ader nicht gebührend bewundert hatte, und Toni fand Klemens’ grenzüberschreitendes Verhalten vor ihrer Zimmertür unverzeihlich. Am letzten Abend hatten sie sogar ihr Abendessen an getrennten Tischen im Hotel eingenommen. Umso glücklicher war Toni, als sie die Haustür zu ihrem Mietshaus aufschloss und schon von unten Napoleons aufgeregtes Gebell aus Philipps Wohnung im obersten Stockwerk hörte. Sie nahm mehrere Stufen auf einmal und rannte oben fast Philipp um, der ihr die Tür öffnete und leicht zerzaust nur mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet im Eingang stand. Drinnen ließ sie sich geräuschvoll aufs Sofa fallen und stöhnte vor Erleichterung laut auf. Napoleon sprang ihr sofort auf den Schoß und hüpfte aufgeregt hin und her.
»Da bist du ja endlich wieder, mein süßer, süßer Schatz. Hast du mich sehr vermisst? Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.« Während sie weiter auf Napoleon einredete, holte Toni eine Tüte Hundeleckerli hervor und fütterte ihren vierbeinigen Freund damit.
Der Malteser war ein Geschenk ihrer Mutter zum Abitur gewesen, und er konnte laut seiner Zuchtpapiere auf einen jahrhundertelangen Stammbaum zurückblicken. Diese Tatsache war Toni allerdings egal, sie hätte Napoleon genauso geliebt, wenn er ein verlauster Straßenhund aus Neapel gewesen wäre. Mildred hatte insgeheim gehofft, ihre Tochter durch einen Hund doch noch zu Verantwortung und Disziplin erziehen zu können. Napoleon und Toni waren zwar seit dem ersten Tag unzertrennlich gewesen, zu dem erhofften Zuwachs an Disziplin hatte das bei Toni aber nicht geführt.
»Hallo, Toni, ich habe dich auch vermisst.« Diese Worte kamen von Philipp, der die Wiedervereinigung zwischen Hund und Frauchen von seinem Platz im Türrahmen aus beobachtete.
Toni stand auf, lief auf ihren Freund zu und umarmte ihn. Dann kniff sie ihn in seinen kleinen Bierbauch und wuselte durch Philipps ohnehin schon windschiefe Frisur, sodass seine Brille halb von der Nase rutschte.
»Ach Philipp, sorry, nimm mir nicht übel, dass ich dich noch nicht begrüßt habe. Du hast ja keine Ahnung, was ich durchmachen musste. Ich bin so froh, wieder hier bei euch zu sein.«
Philipp grinste. »Ich lass euch beiden Zeit, um euch in Ruhe zu begrüßen. Außerdem willst du bestimmt auch erst mal in deiner Wohnung nach dem Rechten schauen. Danach treffen wir zwei uns oben auf unserem Stammplatz, und du erzählst mir alles, okay?«
Toni nickte dankbar, ging in den schmalen Hausflur und schloss die gegenüberliegende Wohnungstür auf.
Home, sweet home, an diesen Spruch musste Toni denken, als sie die Wohnungstür hinter sich schloss und ihren Koffer mit einem Fußtritt in eine Ecke des Flurs beförderte. Mit neuem Elan ließ sie sich auf ihr Fünfzigerjahre-Sofa fallen. Nachdem sie mit einem energischen Ruck den dazu passenden Nierentisch von einem Stapel alter Klamotten befreit hatte, streckte sie ihre nackten Füße auf der Glasplatte aus. Ihr Blick fiel auf ihre Zehennägel und den abblätternden Nagellack. Da musste etwas getan werden, so viel Zeit würde ja wohl noch drin sein …
Während Toni auf dem Fußboden sitzend gleichzeitig dabei war, eine Express-Gesichtsmaske einwirken zu lassen, sich die Fußnägel schwarz zu lackieren, Napoleon seinen Stofflöwen zuzuwerfen und an einem Bagel zu kauen, klingelte in der Küche das Telefon. Sie zögerte kurz und setzte sich rhythmisch robbend in Richtung Küche in Bewegung. Tatsächlich schaffte sie es, ohne Nagellack und Crememaske zu zerstören, auf dem Hosenboden in der Küche anzukommen. Das Telefon lag praktischerweise noch unter einem Stapel Zeitschriften auf dem Boden. Dort hatte Toni vor ihrem desaströsen Kurzurlaub ein Dauergespräch mit ihrer Freundin Pia geführt. Wieder einmal dachte sie erfreut, dass Ordnung allgemein überbewertet wurde. Sie klemmte sich den Hörer des Telefons geschickt zwischen Ohr und Schulter und meldete sich mit »Toni Hoff«.
»Antonia Gräfin von Hoff, heißt das. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Du hast solch einen prachtvollen Namen von uns bekommen, mein Schatz. Bitte verleugne ihn nicht.« Am anderen Ende war ihre Mutter Mildred, die sich stets darüber ärgerte, wenn Toni am Telefon eine bürgerliche Kurzform ihres Namens benutzte. Toni hatte es schon vor Jahren sattgehabt, sich dumme Sprüche zu ihrem Adelstitel anhören zu müssen, und war darum dazu übergegangen, sich Toni Hoff zu nennen. Das wurde auch allgemein akzeptiert, außer von der eigenen Familie, die darin eine Schändung der Traditionen sah. Toni liebte eigentlich ihr altmodisches oranges Wählscheibentelefon aus den Siebzigerjahren. Wie ihr in diesem Moment wieder einmal klar wurde, war sein größter Nachteil, dass sie vorher nie wusste, wer am anderen Ende war. Toni hatte Pia erwartet und biss sich verärgert auf die Unterlippe.
Mildred wartete keine Erwiderung ihrer Tochter ab, sondern kam direkt auf das Thema ihres Anrufs zu sprechen.
»Warum ich anrufe: Wie konntest du unseren gemeinsamen Urlaub ausfallen lassen, Antonia? Das war really nicht nett von dir. Wir hatten so eine schöne Zeit dort, und ich habe mich so darauf gefreut, mit euch allen als Family zusammen zu sein.«
Toni hatte sich längst daran gewöhnt, dass ihre Mutter trotz vieler Jahrzehnte in Deutschland hin und wieder englische Vokabeln in ihre hochgestochene Redeweise einbaute. Mildred war eine geborene Lady McAllister. Sie stammte aus einer schottischen Adelsfamilie, die ihren Reichtum vor langer Zeit ganz bodenständig mit der Destillation von Whisky erlangt hatten. Tonis Eltern hatten sich nach einem Reitunfall ihrer Mutter kennengelernt, bei dem sie sich einen komplizierten Bruch zugezogen hatte, der eine Behandlung in Deutschland erforderlich gemacht hatte. Tonis Vater Karl war damals als Rechtsanwalt für Erbrecht tätig, und er war mit dem Prominentenarzt befreundet, der die Behandlung von Mildred übernommen hatte. Als Karl seinen Freund zum gemeinsamen Mittagessen hatte abholen wollen, war ihm Mildred mit ihrem Gipsbein auf dem Krankenhausflur unfreiwillig in die Arme gestolpert. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und die beiden waren sich schnell nähergekommen. Sicher hatte dabei auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass Tonis Vater als Graf von Hoff eine standesgemäße Wahl für die junge Mildred McAllister war. Toni seufzte bei dem Gedanken an die lang vergangene Romantik zwischen ihren Eltern, um sich dann wieder auf das Gespräch mit ihrer Mutter zu konzentrieren.
»Aber dann ist doch alles gut, Mom. Es freut mich, dass ihr eine schöne Zeit hattet. Bestimmt habt ihr gar nicht bemerkt, dass ich nicht dabei war. Ich hatte dir doch vorher Bescheid gesagt. Ich wäre ja wirklich gerne mitgekommen, aber ich hatte einfach zu viel Arbeit in der Agentur.«
Trotz dieser kleinen Notlüge gelang es Toni nicht, ihre Mutter zu besänftigen. Mildred sprach weiter und hatte dabei Mühe, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Es gehörte zu einem der ungeschriebenen Gesetze in Adelskreisen, dass das Ausleben großer Emotionen nicht standesgemäß war.
»Arbeit in der Agentur, wenn ich das schon höre. Antonia my dear, wie kann denn eine Arbeit wichtiger sein als das Zusammensein mit deiner Familie? Eines will ich dir jetzt einmal sagen, meine Tochter …«
Toni wusste, dass nun eines der vielzitierten Sprichworte ihrer Mutter folgen würde. Dazu kam es immer, wenn ihre Mutter verärgert war und sie in diesem speziellen Tonfall mit »meine Tochter« anredete. Und tatsächlich, Mildred holte tief Luft, als würde sie vor einer sportlichen Höchstleistung stehen. Dann entließ sie ihre Botschaft mit nachdrücklicher Stimme in den Hörer: »Antonia, mein Kind, ich habe dir immer wieder gesagt, dass wir von Hoffs durch die jahrhundertelange Familiengeschichte eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft haben. Aus unseren Privilegien resultieren auch Pflichten, you know?« Sie machte eine Atempause und redete bedächtig weiter. »Wir sind nun einmal anders als andere Familien, und es war und ist für uns wichtig, die Traditionen zu pflegen. Wie schon dein Großvater gesagt hat: Essen und Schlafen machen noch keinen zum Grafen. Denk einmal darüber nach, noch ist es nicht zu spät. Auch dein Vater würde sich freuen, wenn du dich ein klein wenig mehr auf deine Abstammung besinnen würdest. Werbetexterin, das ist doch wirklich kein Beruf für eine von uns.«
Toni merkte, wie sie langsam dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Speziell der letzte Satz war wieder eine kaum verdeckte Spitze ihrer Mutter gewesen, die sich nicht damit abfinden konnte, dass Toni trotz ihrer guten Abiturnoten nicht BWL oder wenigstens Jura studiert hatte. Diese Gespräche hatte sie zu oft geführt, und dass ihre Mutter nun noch ihren Vater mit hineinzog, regte sie mehr auf, als sie zugeben wollte. Auch die arrogante Borniertheit, die aus der Aussage ihrer Mutter sprach, war fast zu viel für Toni. Sie ermahnte sich zur Ruhe und antwortete mit bemüht freundlicher Stimme: »Aber das ist doch genau der springende Punkt, Mama. Ich will gar keine Privilegien haben. Akzeptier doch einfach, dass ich hier in Hamburg mein eigenes, ganz normales Leben leben möchte. So wie jeder andere auch. Mir macht die Arbeit in der Werbebranche nun mal Spaß. Außerdem hast du doch für die Traditionspflege immer noch Freya und Benedict an deiner Seite. Die machen doch immer alles richtig.«
Die Erwähnung ihrer jüngeren Schwester und ihres Fast-Schwagers war ein taktischer Fehler gewesen, das merkte Toni nun. Ihre Mutter nahm den Themenwechsel sofort auf und widmete die nächsten fünfzehn Minuten einem euphorischen Lobesgesang auf Freya und ihren fantastischen Verlobten. Das Gespräch endete schließlich mit Tonis halbherzigem Versprechen, am nächsten Wochenende zu ihren Eltern aufs Land zu kommen.
Sie wusste schon länger, dass dann die jährliche Schleppjagd auf Gut Travenhorst stattfinden würde. Toni war als überzeugte Tierschützerin heilfroh, dass von ihrer Familie keine Jagden auf echte Tiere mehr veranstaltet wurden. Bei der Schleppjagd lief alles vollkommen unblutig ab, und es wurde mit Pferden und Hunden nur eine künstlich gelegte Duftspur verfolgt. Natürlich konnte Toni seit ihrer frühen Kindheit reiten. In adeligen Kreisen gehörte das auch heute noch zum guten Ton. Außerdem waren die Pferdezucht und das Jagdreiten die großen und zugleich auch einzigen Leidenschaften ihrer Mutter Mildred. Trotzdem hatte Toni nicht die geringste Lust auf das Event, denn die Aussicht auf ein Wiedersehen mit der adeligen Verwandtschaft war alles andere als verlockend. Alle würden da sein, und dabei beinhaltete das Wort alle auch Tonis jüngere Schwester Freya samt ihrem Verlobten Benedict. Wenn Toni nur an die beiden dachte, bekam sie automatisch schlechte Laune. Es war wirklich kaum zu glauben, dass zwei Schwestern, die optisch so große Ähnlichkeit miteinander hatten, derartig unterschiedliche Menschen sein konnten. Toni schob den Gedanken an ihre Schwester beiseite und ging weiter die Gästeliste der jährlichen Schleppjagd durch. Mit Sicherheit waren auch Onkel Hubsi und Tante Maggi eingeladen. Diese beiden waren besonders unangenehme Vertreter des Geschlechts derer von Hoff und schon für sich genommen ein Grund, dort nicht hinzufahren. Sie hießen mit vollem Namen Graf Hubert Josef Gustav und Gräfin Margaretha Elisabetha Regina von Hoff. Ihre Spitznamen waren kein Ausdruck einer besonders lässigen Gesinnung. Beide legten in der Öffentlichkeit allergrößten Wert darauf, immer korrekt mit ihren vollen Titeln angesprochen zu werden. Weil man aber für die stattliche Nachkommenschaft der Familie von Hoff schon seit Jahrhunderten die immer gleichen traditionellen Vornamen auswählte, die dann natürlich mehrfach innerhalb der Verwandtschaft vorkamen, brauchte man intern andere Mittel zur Unterscheidung. Daher die Spitznamen Hubsi und Maggi, die beide schon als Kinder von der Familie verpasst bekommen hatten. Wenn sie die anderen zur Auswahl stehenden Alternativen bedachte, konnte Toni mit ihrem Vornamen sehr zufrieden sein. Ein Blick auf die Uhr ließ Toni zusammenzucken. Bestimmt wartete Philipp schon längst oben auf sie.
***
»Ich dachte schon, du wärst eingeschlafen«, maulte ihr Philipp entgegen, als Toni die schmale Stiege zur Dachterrasse erklomm. Dachterrasse war allerdings eindeutig zu viel gesagt, bei der Location handelte sich um das Dach des Mietshauses, auf dem sich Philipp und Toni regelmäßig trafen, um bei einem Bier über die Lichter der Stadt zu schauen und den Tag Revue passieren zu lassen. Die Ausstattung war schlicht und ohne Komfort, eine alte Weinkiste diente als Tisch und zwei Klappstühle als Sitzgelegenheiten. Da das Betreten des Daches vom Hausmeister strengstens verboten war, bevorzugten Toni und Philipp ein unauffälliges Hausbesetzer-Mobiliar, das, hinter dem Schornstein gestapelt, quasi unsichtbar war. Der Blick über Hamburg und auf die im Mondlicht entfernt glitzernde Elbe machte das karge Ambiente auf dem Dach wieder wett. Antonia war von dem Panorama, das sich ihr allabendlich offenbarte, immer wieder aufs Neue beeindruckt. Toni liebte ihr Stadtviertel über alles und wäre für kein Geld der Welt hier wieder weggezogen. Dass sie die Wohnung damals überhaupt bekommen hatte, war ein echter Glücksfall gewesen, und sie freute sich bis heute darüber. Ihre Vermieterin hatte sie aus knapp hundert Interessenten ausgewählt, weil sie selber einen Malteser hatte und sofort Napoleons Charme erlegen war.
»Ich musste noch telefonieren«, erwiderte Toni und balancierte ein vollgepacktes Tablett vor sich her, »meine Mutter scheint förmlich zu wittern, wenn ich meine Wohnung betrete.«
»Oh, Frau von und zu«, witzelte Philipp und studierte neugierig die Teller und Schüsseln, die Toni auf dem Tablett aufgetürmt hatte, »wo hast du denn um diese Uhrzeit die ganzen Leckereien her? Das ist ja Wahnsinn!« Er holte zwei Bier aus einer Kiste hervor und öffnete sie mit einem lauten Plop.
»Ich liebe dieses Geräusch«, seufzte Toni und hielt ihrem Gegenüber eine Schale mit Sardinenfilets vor die Nase, »alles frisch eingeflogen aus Marbella, in den letzten zwei Tagen habe ich mich vor Klemens verstecken müssen und daher jeden Markt und Delikatessenladen durchforstet.« Sie lächelte müde. »Klemens hält nix vom Kochen, er sitzt lieber in Restaurants und kramt dann erfolglos nach seinem Portemonnaie, wenn es ums Bezahlen geht.«
Philipp schnaufte und tunkte ein Stück Brot in Olivenöl. »Sehr sympathisch, dein Don Juan. Vielleicht solltest du demnächst besser hinschauen, bevor du solche Risiken eingehst.« Er griff nach einer Dattel und biss genüsslich hinein.
Für Tonis Geschmack zu genüsslich. »Besser ein Risiko eingehen und auf die Schnauze fallen, als risiko- und freudlos durch das Leben zu schleichen, bis Gevatter Tod einen holt.« Philipp blickte empört auf, was Toni aber lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung quittierte. »Lass gut sein, Phil, ich bin viel zu müde, um mich zu streiten.«
Doch Philipp konnte das nicht auf sich sitzen lassen. »Ich habe ihr ein Gedicht geschrieben, und das werde ich morgen in den Briefkasten werfen!«, setzte er an und bekam seine berühmten roten Wut-Ohren, die sich in einem aberwitzigen Kontrast von seiner schwarzen Hornbrille abhoben.
Toni atmete tief ein. »Du schreibst ihr schon ewig Gedichte, Phil! Jede Woche mindestens eins. Und anstatt sie abzuschicken, hast du sie mir alle vorgelesen und dann in den Müllschlucker geworfen. Wenn du mir noch ein einziges Liebesgedicht an Nele vorliest, brauche ich eine Schrei-Therapie, ehrlich!« Philipp schaute betreten zu Boden und schwieg. Als Toni merkte, wie sehr sie ihn getroffen hatte, nahm sie seine Hand und drückte sie fest in ihre Faust. Eigentlich liebte sie es ja, seine Gedichte von ihm vorgetragen zu bekommen. Sie fand es schön, wenn Männer eine romantische Seite hatten. »Entschuldige bitte, das war nicht so gemeint«, sagte sie, »der Urlaub hat mich einfach geschafft. Das war nicht fair, dich als Ventil zu benutzen.«