Apfelgrüne Aussichten - Annell Ritter - E-Book

Apfelgrüne Aussichten E-Book

Annell Ritter

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Beschreibung

Einmal Landleben, immer Landleben Die Geschichten aus Brägenbeck gehen weiter: Die ehemalige Großstädterin Carla hat einen abgelegenen Bauernhof geerbt und betreibt dort eine einfache Pension. Sie ist glücklich mit ihrem neuen Leben und der jungen Liebe zum attraktiven Mechaniker Kai. Kleine Missgeschicke nimmt Carla gelassen. Nachdem sie sich und ihre Gäste aber beinahe vergiftet hätte – Pflanzen sehen für die botanisch unbedarfte Carla alle gleich aus – freundet sie sich mit der ungewöhnlichen Selbstversorgerin Gundula an. Nach und nach gewinnt Carla das Vertrauen der Dorfbewohner und fühlt sich immer mehr wie eine waschechte Brägenbeckerin. Auch ihre extrovertierte Freundin Lou ist mit von der Partie und unterstützt sie, wo sie nur kann. Doch nicht alle finden Carlas Anwesenheit gut. Großbauer Johannsen hetzt ihr das Ordnungsamt auf den Hals und schreckt auch sonst vor Intrigen nicht zurück. Aber Johannsens 14-jährige Tochter, Veganerin und Tieraktivistin, schlägt sich auf Carlas Seite. Die holt zum Gegenschlag aus. Liebe, Landlust, Lesevergnügen: Zwei Münchnerinnen im Emsland. Bei Forever sind in der Brägenbäck-Reihe von Annell Ritter erschienen: Sommer in Grasgrün Apfelgrüne Aussichten Land aufs Herz

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Die AutorinAnnell Ritter ist das Pseudonym zweier Freundinnen. Seit dem gemeinsamen Studium in Norddeutschland können sie über die gleichen Dinge lachen. Zwar wurden beide durch ihre Jobs in Wuppertal und in München räumlich weit getrennt, trotzdem sind sie stets in Kontakt geblieben. Ihre Liebe zur Literatur brachte sie bei einem ausgedehnten Abendessen auf die Idee, gemeinsam Romane zu schreiben. Ansonsten verbringen die Freundinnen ihre Freizeit am liebsten vor brodelnden Kochtöpfen oder draußen im Grünen.

Das BuchEinmal Landleben, immer LandlebenDie Geschichten aus Brägenbeck gehen weiter: Die ehemalige Großstädterin Carla hat einen abgelegenen Bauernhof geerbt und betreibt dort eine einfache Pension. Sie ist glücklich mit ihrem neuen Leben und der jungen Liebe zum attraktiven Mechaniker Kai. Kleine Missgeschicke nimmt Carla gelassen. Nachdem sie sich und ihre Gäste aber beinahe vergiftet hätte – Pflanzen sehen für die botanisch unbedarfte Carla alle gleich aus –, freundet sie sich mit der ungewöhnlichen Selbstversorgerin Gundula an. Nach und nach gewinnt Carla das Vertrauen der Dorfbewohner und fühlt sich immer mehr wie eine waschechte Brägenbeckerin. Auch ihre extrovertierte Freundin Lou ist mit von der Partie und unterstützt sie, wo sie nur kann. Doch nicht alle finden Carlas Anwesenheit gut. Großbauer Johannsen hetzt ihr das Ordnungsamt auf den Hals und schreckt auch sonst vor Intrigen nicht zurück. Aber Johannsens 14-jährige Tochter, Veganerin und Tieraktivistin, schlägt sich auf Carlas Seite. Die holt zum Gegenschlag aus.

Annell Ritter

Apfelgrüne Aussichten

Ein Brägenbeck-Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

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Alle Personen, Namen und Ortschaften in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ortschaften sind rein zufällig.

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Anette Hammer

ISBN 978-3-95818-044-4

Alle Rechte vorbehalten.Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Kapitel 1

»Jetzt habe ich Sie endlich erwischt, Frau Schwanenfels! Sie dachten wohl, Sie könnten mit Ihren schäbigen Juristentricks davonkommen. Aber hier in Brägenbeck bin immer noch ich der Boss und sonst niemand.« Mein Erzfeind Bauer Hermann Johannsen stand im Schweinestall wie ein Riese vor mir. Er trug eine Cordhose von gigantischen Ausmaßen und dazu ein monströses Karohemd. Während er aus Leibeskräften brüllte, versuchte er gleichzeitig, mich mit der Mistgabel zu erwischen, die er in seinen riesigen Pranken hielt. Aus mir nicht bekannten Gründen war ich zu einem Winzling in Zwergengröße geschrumpft und hüpfte von einer Ecke in die andere. Ich hatte wegen meiner ungewohnt kurzen Beinchen alle Mühe, den Gummistiefelfüßen und der Mistforke von Johannsen auszuweichen. Lange würde ich der Attacke nicht mehr standhalten können. Genau in diesem Moment durchbrach mit lautem Krachen ein überdimensional großer Polizeiwagen die Scheunentür und hielt direkt vor mir. Darin saßen Brägenbecks Dorfpolizist Wendelin Meyerbär und meine beste Freundin Marie-Luise Metzger, genannt Lou, beide ebenfalls zu Monstergröße aufgebläht und offensichtlich allerbester Stimmung. Sie schunkelten untergehakt im Takt zu »An der Nordseeküste« und lachten ausgelassen. Als Lou meine Notlage erkannte, fackelte sie nicht lange. Schwungvoll warf sie ihre Hermèshandtasche auf den Stallboden und rief: »Schnell Carla, spring da rein.« Ich tat wie mir geheißen und schmiegte mich erschöpft an das weiche Innenfutter. Lou griff die Tasche, schlug die Autotür zu und befahl in Richtung ihres uniformierten Begleiters: »Gib Gummi, Wendelin!« Das ließ sich dieser nicht zweimal sagen, und das Polizeiauto setzte mit quietschenden Reifen zum Rückzug an. Ein uns verdutzt hinterherschauender Großbauer blieb allein im Stall zurück. Ich war in der Handtasche meiner Freundin zwischen süßem Parfum und brombeerfarbenen Lippenstiften endlich in Sicherheit.

Schweißgebadet erwachte ich. Wie konnte man nur so einen Blödsinn zusammenträumen? Ich schälte mich aus dem Bett und ging an das Zimmerfenster, um auf das Pflanzenmeer im Garten hinunterzuschauen. Langsam beruhigte sich mein Atem, und ich erfreute mich an dem schönen Anblick.

Der Hochsommer in Brägenbeck steuerte auf sein Ende zu. Nach einem heißen und trockenen August versprach der September ebenfalls viel Sonnenschein. Der Lavendel in meinem Kräutergarten leuchtete lila neben goldgelben Johanniskrautbüschen. Der üppige Garten hinter meinem Haus war zu meiner größten Leidenschaft geworden. Ich verbrachte jede freie Minute zwischen Zucchinis und Stachelbeeren, immer gewappnet mit der drei Kilo schweren Gartenfibel, die mir mein Freund Kai nach ersten niederschmetternden Ernteergebnissen im Frühsommer aus Meppen mitgebracht hatte.

Freie Minuten hatte ich allerdings in den letzten Wochen kaum gehabt. Während der Sommerferien waren die fertigen Gästezimmer in meiner neu eröffneten Pension dank der Werbekampagne meiner Freundin Lou in München fast durchgehend von Familien besetzt gewesen. Sogar gestresste Führungskräfte hatten in meinem kleinen Paradies schon zu ihrem inneren Gleichgewicht zurückgefunden. Obwohl ich in Sachen Gastronomie und Urlauberbetreuung überhaupt keine Erfahrung vorweisen konnte, machte ich meine Sache erstaunlich gut. Alle Gäste hatten bei mir eine schöne Zeit verbracht und waren gut gelaunt und entspannt wieder abgereist. Um das gemeinsame Frühstück kümmerte ich mich, die anderen Mahlzeiten bereiteten alle zusammen zu. Zum Glück wurde ich täglich mit frischen Lebensmitteln und Getränken beliefert, das Gasthaus »Zur Post« aus dem Nachbarort hatte mich einfach an seine Lieferanten angedockt. Es gab Kräuterwanderungen und gemeinsame Kochabende und ich hatte mit den Gästen eine Menge Spaß. Mein früheres Leben als erfolgreiche Anwältin in einer Münchner Wirtschaftskanzlei erschien mir mittlerweile weit entfernt und ich hatte es noch keine Minute vermisst.

Auch wenn der Erfolg meiner Pension in den letzten Wochen zu stressigen und manchmal chaotischen 14-Stunden-Arbeitstagen geführt hatte, so war ich doch mächtig stolz auf mich und meine kleine Herberge. Voller Tatendrang plante ich schon die Renovierung der nächsten Zimmer, um noch mehr Gäste aufnehmen zu können. Für mich selber wollte ich den Dachstuhl ausbauen und mir dort eine kleine 3-Zimmer-Wohnung einrichten. Kai hatte bereits detaillierte Skizzen erstellt und mit einem befreundeten Architekten gesprochen. Zurzeit hauste ich in einer Kammer im Obergeschoss, die wir in einer Hau-Ruck-Aktion bewohnbar gemacht hatten. Als einzigen Luxus hatte ich mir ein kleines Badezimmer entwerfen lassen, in das ich mich während meiner raren Mußestunden zurückzog.

Außerdem plante ich, jemanden zur Unterstützung einzustellen. Meine Freundin Lou hatte wieder ihre gewohnten Aktivitäten in München aufgenommen und wollte erst Mitte September für ein paar Tage nach Brägenbeck kommen. Kai half mir zwar in jeder freien Minute, aber auch er hatte mit seiner Autowerkstatt genug zu tun und schlief regelmäßig im Stehen ein. Ich konnte mich ebenfalls an manchen Tagen kaum auf den Beinen halten. Diesem permanenten Schlafentzug musste ein Ende gesetzt werden.

Ich saß am Küchentisch und schlug das ledergebundene Kochbuch auf, das mir meine italienische Freundin Emilia mit feuchten Augen zum Abschied überreicht hatte. All ihre Familienrezepte hatte sie ihrem Sohn Beppo diktiert, der sie in seiner schönsten Handschrift und einem manchmal eigensinnigen Deutsch (»Spaghetti alla Mama mit Klopse von Hacke«) in das Buch geschrieben hatte. Ich las zum zehnten Mal die liebevolle Widmung:

»Liebe Carla,zu Deinem neuen Leben in Brägenbeck wir wünschen Dir alles Gluck der Welt und schenken Dir alle unsere Lieblingsessen traditionelle, damit Du hast Spaß und Freude mit Deinen Gästen!Deine Freunde aus Italien«

Über fünfzig Rezepte mehrerer Generationen hatte mir Emilia anvertraut, nachdem ich bei einem der zahlreichen Abendessen im Kreise der Fortezzas feierlich in die Familie aufgenommen worden war. Nun studierte ich die Zutaten des Wildkräuterpestos à la Emilia, das ich mit den nächsten Feriengästen zubereiten wollte. Für das kommende Wochenende hatten sich drei Manager aus Hamburg zur Entschleunigung angekündigt.

Es war bereits Donnerstag, die Zimmer waren hergerichtet und der Kühlraum gefüllt, jetzt brauchte ich nur noch schönes Wetter für die geplante Kräuterwanderung am Samstagnachmittag. Und ich musste erneut einen intensiven Blick in meinen Pflanzenführer werfen, um Vergiftungen vorzubeugen. In Sachen Wildkräuterkunde war ich leider noch unsicher. In meinem alten Leben als Juristin in München hatte ich kaum einen Bezug zur Natur gehabt, und so war es kein Wunder, dass ich mich als frischgebackene Kräuterexpertin noch schwertat.

Am Samstagmorgen rauschte ein schwarzer Audi in meine Einfahrt. Ich trat auf den Hof, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Aus dem Wagen stiegen drei schlanke Männer um die vierzig in Armani-Anzügen. Sie nahmen nahezu synchron ihre teuren Sonnenbrillen von den Nasen und kamen mir im geschäftlichen Eilschritt entgegen. Ich sah gleich, dass hier bei der Entschleunigung etwas nachgeholfen werden musste. Die Herren befanden sich trotz des Umgebungswechsels immer noch im Hamsterrad der Großstadt.

»Guten Tag, Frau Schwanenfels. Ich bin Martin Jennsen und das sind meine Kollegen Claas Junghans und Owe Friedrichs. Wir kommen im Auftrag unseres Arbeitgebers, der Stahlmann AG, um uns hier von einem nervenaufreibenden Geschäftsabschluss zu erholen.« Der Fahrer des BMWs war auf mich zugelaufen und hielt mir seine rechte Hand entgegen. Sein linkes Augenlied zuckte leicht und sein Blick irrte unruhig über mein Anwesen. Ich bemerkte, dass ihn diese Idylle verunsicherte, und unterdrückte den Drang, ihm beruhigend über den Kopf zu streicheln.

»Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, Sie hatten eine entspannte und staufreie Fahrt! Kommen Sie doch herein und ich zeige Ihnen das Haus und Ihre Zimmer.«

Die Männer nahmen ihre Reisetaschen und trotteten im Gänsemarsch hinter mir her.

»Hier riecht es aber lecker…«, bemerkte Owe Friedrichs und folgte schnuppernd dem Duft nach Frischgebackenem, der aus der Küche kam.

»Ich habe heute Morgen Brot gebacken«, erwiderte ich stolz. »Falls Sie nach der Reise Lust auf ein zweites Frühstück haben, frische selbstgemachte Kirschmarmelade gibt es auch. Und der Kaffee läuft gerade durch die Maschine.«

Die Männer strahlten mich an und verloren langsam ihre urbane Skepsis. »Mensch, das riecht hier wirklich wie bei meiner Oma Gustel damals in den Sommerferien«, frohlockte Claas Junghans und lockerte seine Seidenkrawatte, »da bekommt man gleich einen Mordshunger!«

»Das höre ich gerne!« Fröhlich deutete ich in Richtung Treppe zu den Gästezimmern. »Sie können sich jetzt frisch machen und etwas Bequemes anziehen. Ich bereite derweil im Garten ein richtig schönes, altmodisches Frühstück zu.«

Eine halbe Stunde später war der Tisch auf meiner Terrasse reichhaltig gedeckt und ich stand in der Küche, um den Kaffee in Thermoskannen zu gießen. Durch mein Fenster schallte eine Diskussion, die mir aus meinem Leben als Rechtsanwältin noch sehr bekannt vorkam.

»Irgendwo wird es hier doch wohl ein Netz geben. Ich muss unbedingt Sabine wegen der Präsentation am Montag anrufen.«

Ich schaute hinaus und sah Owe Friedrichs im Hawaiihemd und in Karoshorts durch meinen Garten rennen. Das Handy hielt der Geschäftsmann Richtung Himmel, als wolle er den lieben Gott anklagen, dass dieser nicht überall auf der Welt für ein anständiges Netz gesorgt hatte.

Amüsiert betrachtete ich das extrovertierte Outfit des Hamburgers, das so gar nichts mehr mit der Eleganz der Großstadt zu tun hatte. Auch an meinem Ex-Verlobten Paul hatte ich früher besorgt beobachtet, dass dieser den Spagat zwischen Businesslook und Casual nicht immer elegant lösen konnte. Er trug anthrazitfarbene Hugo-Boss-Anzüge in den Geschäftsräumen, schämte sich aber nicht, in pinken Polohemden mit geschmacklosen Orchideenmotiven auf »seiner Yacht« von San Tropez zu träumen. Lächelnd betrat ich den Garten.

»Frau Schwanenfels, wo gibt es denn hier ein vernünftiges Handynetz?« Owe Friedrichs hielt mir anklagend und unglücklich sein iPhone entgegen.

»Das ist etwas schwierig. Manchmal ist der Empfang bei den Scheunen besser«, erwiderte ich, »aber Sie können mein Festnetztelefon nehmen, wenn Sie dringende Telefonate führen müssen.«

Bei dem Wort »Festnetz« erntete ich einen irritierten Blick. Es schien fast so, als würde in Hamburg lediglich mit iPhones kommuniziert werden.

»Ich schau mal bei den Scheunen, ob ich da Glück habe«, brummelte mein Gast vor sich hin und verschwand in Richtung Stallungen.

Kopfschüttelnd betrat ich die Terrasse und erblickte Martin Jennsen und Claas Junghans, die ebenfalls in bunten Hemden und Tennishosen am Frühstückstisch saßen.

»Und was ist mit Ihrem WLAN?« Die Männer hatten meinen liebevoll angerichteten Frühstückstisch zum Teil wieder abgedeckt, um Platz für ihre Laptops zu schaffen.

Das ging mir jetzt doch zu weit. Das war hier ein Erholungsort und kein Seminarraum im Grünen!

»Natürlich habe ich WLAN, Sie sind ja nicht in die Vergangenheit gereist! Allerdings hat Ihr Vorgesetzter mir strengstens verboten, Ihnen die Zugangsdaten zum Arbeiten zu geben. Sie sollen sich hier erholen. Also nehmen Sie bitte die Laptops von meinem Frühstückstisch und genießen die Ruhe und die Natur!«

Die jungen Geschäftsmänner schauten mich entsetzt an. »Und was sollen wir das ganze Wochenende machen?« In Martin Jennsens Stimme schwang Panik mit.

»Gibt es hier vielleicht einen Segelclub oder einen Golfplatz?«, fragte mich Claas Junghans hoffnungsvoll.

»Hier gibt es Wildkräuterwanderungen und gemeinsame Kochabende. Hat Ihr Chef Ihnen das nicht gesagt?« Fröhlich nahm ich den beiden Urlaubern die letzten Illusionen. »Der nächste Badesee liegt in Megenbeck, ist jetzt aber stark von pubertierenden Schülern frequentiert. Und irgendwo gibt es auch eine Minigolfanlage, da bin ich mal mit dem Fahrrad dran vorbeigefahren…«

Claas Junghans fand als Erster seine Stimme wieder. »Dann wird das hier eben wie bei Oma Gustel in den Sommerferien. Da war es auch immer schön.« Energisch klappte er sein Laptop zu und griff nach dem Brotkorb. »Und jetzt lasst uns frühstücken, bevor Owe zurückkommt und uns nichts mehr übrig lässt.«

Nach einem ausgiebigen Frühstück begaben sich meine Gäste auf die Sonnenliegen im Garten und raschelten geschäftig mit irgendwelchen Unterlagen. Fünfzehn Minuten später hörte ich sie in verschiedenen Tonlagen schnarchen. Die Laptops lagen im Gras, die Handys waren den gestressten Managern aus den Händen gerutscht. Lächelnd brachte ich das technische Equipment in Sicherheit und nahm mir noch einmal meinen Pflanzenführer vor, um die Wildpflanzen für das Pesto am Abend zu studieren.

Am späten Nachmittag war es dann so weit. Drei ausgeruhte Urlauber in bunt gemusterten Hemden und Gummistiefeln standen erwartungsvoll auf meinem Hof, bewaffnet mit ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen und je einem Weidenkörbchen. Gummistiefel gehörten bei mir zum Service dazu wie Fahrräder und Regenmäntel. Im Gegensatz zu den Familien, die bei mir anreisten, waren die Führungskräfte aus den Großstädten eher schlecht für Landpartien ausgestattet. Nach den ersten ruinierten Berluti-Schuhen eines Augsburger Geschäftsmannes hatte ich zehn Paar Gummistiefel in allen Größen bei der Megenbecker Genossenschaft erworben und meinen Gästen zur Verfügung gestellt.

Ich schnappte mir ebenfalls ein Weidenkörbchen und gab letzte Instruktionen, während wir Richtung Schelmer Gehölz schlenderten. In den Tiefen dieses Waldes wimmelte es an einem kleinen Flusslauf nur so von Kräutern aller Art.

»Und nehmt euch vor dem Jakobskreuzkraut in Acht. Es sieht aus wie Johanniskraut, ist aber sehr giftig!«

Wir waren mittlerweile schon beim »Du« angekommen.

»Und wie bitte sieht Johanniskraut aus? Ich dachte, das gibt es nur in Pillenform«, wandte Martin Jennsen ein. »Meine Schwiegermutter schluckt solche Pillen immer, wenn sie sich über meinen missratenen Schwager aufregt.«

»Beides blüht gelb. Also Finger weg. Wir konzentrieren uns auf Sauerampfer, Scharbockskraut und Beifuß«, erwiderte ich altklug. »Auf der Wiese hinter dem Wald blühen noch Gänseblümchen, die schmecken auch gut im Pesto. Schaut einfach in mein Pflanzenbestimmungsbuch, wenn ihr unsicher seid. Oder fragt mich…«, setzte ich noch leise in der Hoffnung hinterher, nicht in die Pflicht genommen zu werden.

Innerlich wunderte ich mich wieder einmal über meinen Mut, hier in Brägenbeck ein neues Leben im Einklang mit der Natur anzufangen. Oder auch über meine Naivität, das kam ganz auf den Blickwinkel an. Während ich mich aber in meine Rolle als Pensionswirtin gut eingefunden hatte, machte mir die einheimische Botanik immer noch größere Probleme.

Trotzdem war die Wildkräuterwanderung ein voller Erfolg. Die Männer legten nach kurzer Zeit einen enormen Ehrgeiz an den Tag, ihre Körbchen zu füllen. Sie reichten sich gegenseitig den Pflanzenführer weiter, diskutierten die Form der Wildblätter und freuten sich wie kleine Kinder, wenn sie auf Sauerampfer oder Giersch stießen. Zwei Stunden später kehrten wir mit gut gefüllten Körben und einem Mordshunger zu meiner Herberge zurück.

Kai und ich hatten neben meiner Terrasse eine kleine Laube gebaut, die als Outdoor-Küche diente. Diese war zwar etwas improvisiert eingerichtet, hatte aber schon den ganzen Sommer über gute Dienste geleistet. So stand neben einem kleinen Kühlschrank ein komplett eingerichteter Küchenblock. Die Herd-Backofenkombination war das Herzstück der Laube und konnte problemlos ein 3-Gänge-Menü meistern. Es gab sogar in der Ecke der Laube eine kleine Spülvorrichtung. Ich reichte meinen Gästen drei kühle Bier aus dem Kühlschrank und wies sie an, erst einmal in Ruhe anzustoßen, bevor es an das Kräuterputzen ging.

Nach und nach fanden sich die Geschäftsmänner in der ungewohnten Umgebung zurecht. Sie scherzten und lachten, iPhones und Laptops waren schnell in Vergessenheit geraten. Da alle drei nicht vor Küchenarbeit zurückschreckten, war das Pesto schnell mit Emilias Olivenöl und viel Parmesan angerührt. Die Spaghetti brodelten im Topf vor sich hin und der Rotwein stand ebenfalls bereit, als Kai mit seinem alten Mercedes auf den Hof fuhr.

»Was für ein Timing!« Lächelnd trat ich auf meinen Freund zu und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

»Darf ich vorstellen? Das ist mein Lebensgefährte Kai Fechtenkötter, der es bis zu seiner Werkstatt riecht, wenn hier gekocht wird.«

Die Männer stellten sich gegenseitig vor und waren sofort beim »Du«. Claas Junghans öffnete den Kühlschrank und drückte Kai kumpelhaft ein Bier in die Hand. Fünf Minuten später standen die Männer um Kais Mercedes herum und fachsimpelten über Originalfelgen. Ich lächelte entspannt und schaute über mein Anwesen. Die Sonne ging hinter den Apfelbäumen unter, und der Abend versprach ein voller Erfolg zu werden.

Doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn gegen drei Uhr in der Nacht ging es dann los. Ich wurde durch Geräusche im Erdgeschoss geweckt, eine Toilettenspülung rauschte, und nackte Füße tapsten durch den Flur, begleitet von einem Fluchen und Stöhnen. Ich richtete mich auf und bemerkte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Kai stand neben meinem Bett und hielt mir vorsorglich einen Eimer vor das Gesicht.

»Ich glaube, mit dem Pesto war irgendetwas nicht in Ordnung«, bemerkte er sachlich, »mir ist jedenfalls ziemlich übel.« Sein Gesicht schimmerte grünlich in der Dämmerung.

»Was ist mit meinen Gästen?« Entsetzt richtete ich mich auf, kam aber nicht weit, da sich alles drehte.

»Denen geht es etwas besser als uns beiden, jedenfalls können sich alle drei auf den Beinen halten. Sie klagen allerdings über eine leichtes Ziehen in der Magengegend«, erwiderte Kai und setzte sich auf den Bettrand.

»Meinst du, wir sollten einen Arzt rufen?« Ich schnellte wieder empor, sah aber nur Sterne und fiel zurück in die Kissen.

»Lass uns erst einmal bis morgen abwarten. Wir haben uns eben den Magen verdorben. So schlimm wird es schon nicht werden. Das kann schon mal vorkommen. Wir warten noch eine Stunde ab und wenn es dann nicht besser wird, rufe ich den Arzt.«

»Ach Kai, ich weiß wirklich nicht, wie ich das alles schaffen soll!«

Am nächsten Tag saß ich mit meinem Freund vor Kamillentee und Salzstangen in der Sonne. Die Bauchschmerzen waren zwar in der Nacht besser geworden, doch quälte mich ein schlechtes Gewissen. »Glücklicherweise ist den Männern nichts Ernsthaftes passiert. Aber wie hätte ich als Anfängerin auch wissen sollen, dass es sich bei dem Wiesengewächs um das giftige Adonisröschen gehandelt hat? Das habe ich erst später in meinem Kräuterbestimmungsbuch aus der Bücherei nachgelesen.«

Ich zerbröselte verzweifelt eine Salzstange. Ganz so einfach war es anscheinend doch nicht, übergangslos von der Anwältin zur Pensionswirtin und Kräuterexpertin umzuschulen. Ich hatte mich wohl etwas überschätzt und ließ jetzt deprimiert den Kopf hängen.

»Ohne echtes Fachwissen kann ich die Wanderungen in Zukunft nicht mehr durchführen. Wir haben Glück gehabt, dass meine Gäste aus Hamburg so gutmütig waren und mich nicht verklagt haben. Bei den Bauchschmerzen hätten sie allen Grund dazu gehabt. Wenn sich das herumspricht, kann ich meinen Laden hier dicht machen.«

Nach dieser Jammertirade hielt ich erschöpft inne. Auch Kai schwieg nachdenklich und überlegte, wie er mir helfen könnte. Auf einmal hellten sich seine Gesichtszüge auf und er rief: »Carla, ich glaube, ich habe eine gute Idee. Im Nachbardorf wohnt Gundula Brömstrupp, eine alte Bekannte vor mir. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und haben seitdem sporadischen Kontakt gehalten. Gundula war immer schon ein ziemlich wildes Huhn und ist nach dem Abi erst mal für längere Zeit in einen Aschram nach Indien gegangen. Sie wollte sich dort selber finden.«

Kais immer noch fahle Wangen röteten sich vor Begeisterung. Er fuhr fort:

»Nach einigen Jahren bei ihrem Guru ist sie dann aber enttäuscht nach Deutschland zurückgekommen. Gundula hat in Oldenburg Biologie studiert und wohnt seit zwei Jahren wieder im Nachbardorf. Dort lebt sie mit ihren vier Katzen, einem Pferd und einem riesigen Gemüsegarten nahezu als Selbstversorgerin. Außerdem gibt sie in der Volkshochschule alle möglichen Kurse. Ich bin mir sicher, dass sich Gundula in unserer hiesigen Natur hervorragend auskennt und dir bestimmt helfen kann. Wenn du willst, fahre ich später mal bei ihr vorbei. Sie hat nämlich kein Telefon und auch kein Handy oder Internet.«

Ich war so erleichtert! Froh über diesen vielversprechenden Vorschlag stimmte ich sofort zu.

Als am nächsten Morgen meine beiden zahmen Hausschweine Olli und Olga gefüttert werden wollten, erblickte ich am Gartentor eine zierliche Frau, die energisch auf mich zukam. Ich konnte die Besucherin sofort als das »wilde Huhn« Gundula Brömstrupp identifizieren. Frau Brömstrupp war um die vierzig und bot einen optisch beeindruckenden Anblick. Zu einem weiten, blau gebatikten Bauernrock trug sie als einzige Oberbekleidung ein enges Strickwams, das mich entfernt an Robin Hood erinnerte. Ihre nackten Füße waren mit verschlungenen Hennaornamenten bemalt und steckten als Kontrast dazu in derben Holzschuhen. Darüber trug sie an jedem Fußgelenk mehrere silberne Fußkettchen. Auch ihre Handgelenke waren mit allerlei Armreifen geschmückt. In die langen, hennarot gefärbten Haare hatte sie bunte Tücher sowie Perlen und Federn geflochten. Als einziges Make-up waren Gundulas Augen dramatisch mit schwarzem Kajalstift betont und wirkten dadurch unnatürlich groß in einem ansonsten hübschen Gesicht. Die Frau wurde bei jeder ihrer Bewegungen von einem leichten Geruch nach Moschus und Patschuli umweht.

»Guten Tag, ich bin Carla Schwanenfels, die Hausbesitzerin und die Freundin von Kai. Sie müssen Gundula Brömstrupp sein.« Ich hielt der Frau die Hand hin. »Kai hat mir schon von Ihnen erzählt. Das ist ja ein schöner Zufall, dass Sie gleich im Nachbarort wohnen und so spontan für mich Zeit haben«, begrüßte ich meine Besucherin freundlich.

»Es gibt keine Zufälle im Leben, Frau Schwanenfels. Alles ist Bestimmung, und ob wir wollen oder nicht, wir alle folgen einem kosmischen Plan. Glauben Sie mir, unsere Begegnung heute hat einen tieferen, verborgenen Sinn, den wir beide jetzt nur noch nicht erkennen können.«

Gundula Brömstrupp hatte diese Worte mit bedeutungsschwangerer Stimme an mich gerichtet und dabei jede einzelne Silbe lang gedehnt. Nach einer kleinen Kunstpause fragte sie mich dann in einer überraschend normalen Stimmlage: »Wie kann ich Ihnen denn helfen?«

»Kai hat mir erzählt, dass Sie Biologie studiert haben und sich gut in der heimischen Natur auskennen. Ich komme aus München und betreibe hier seit Neuestem eine kleine Pension. Gerne möchte ich meinen Gästen auch Kräuterexkursionen mit anschließenden Kochkursen anbieten. Wie ich nun leider schmerzhaft feststellen musste, reicht es nicht aus, das Wissen dazu aus Büchern zu beziehen.«

»Wie wahr, wie wahr. Alles Bücherwissen ist stets nur blanke Theorie. Die wirklich entscheidenden Dinge müssen wir mit unseren Herzen erspüren«, erwiderte Gundula sofort in ihrer sonoren Bassstimmlage. Nach einer erneuten kleinen Redepause fragte sie mich wieder in normalem Tonfall: »Was genau haben Sie sich denn vorgestellt? Natürlich helfe ich Ihnen gerne, wenn ich kann.«

Ich überwand meine Verwirrung und beschloss, die Aufmachung und auch die irritierenden Wechsel in der Sprechweise meines Gastes zu ignorieren. »Wollen wir uns nicht duzen? Ich bin Carla.«

»Gerne. Ich bin Gundula. Also Carla, was kann ich für dich tun?«

Nachdem ich Gundula einen kurzen Abriss meiner momentanen Situation gegeben und dabei auch die leichte Vergiftung meiner Gäste nicht unerwähnt gelassen hatte, bot sie mir sofort ihre Hilfe an.

»Ich habe hier an der VHS schon häufig Wildkräuterwanderungen durchgeführt und kenne einige sehr leckere Rezepte für den anschließenden Kochkurs. Mit Wildkräutern, Beeren und Pilzen koche ich fast jeden Tag. Meine Walnussklöße und meine Waldpilzfrittata sind legendär, auch das Weißdorn-Gelee und der Brombeersenf sind immer gut bei den Teilnehmern angekommen.«

Gundula schüttelte selbstgefällig ihr perlengeschmücktes Haupt und fuhr fort: »Eine Verwechslungsgefahr mit giftigen Pflanzen ist bei mir ausgeschlossen, denn ich kenne die heimischen Wiesen und Wälder seit Kindheit an und besitze fundiertes botanisches Fachwissen. Ich kann dir also sehr gerne behilflich sein. Wie oft bräuchtest du mich denn pro Woche?«

Ich freute mich zwar prinzipiell über dieses Angebot, reagierte aber zunächst aufgrund meiner irritierenden Wahrnehmungen etwas zurückhaltend. »Für den Anfang würde mir ein Tag pro Woche ausreichen. Schließlich kennen wir beide uns noch gar nicht, und wir müssten schauen, wie wir zurechtkommen. Ich würde dich auch gerne auf den ersten Wanderungen begleiten, um von dir zu lernen. Dann kann ich gleich sehen, wie es mit dir und meinen Gästen klappt. Danach könnten wir dann besprechen, wie es so läuft und gegebenenfalls deine Stunden noch aufstocken.«

Ganz die Anwältin setzte ich hinterher: »Außerdem müssen wir uns ja erst mal auf dein Honorar einigen.«

Anstatt nun ihren Stundensatz zu nennen, sah mich Gundula durchdringend an und bemühte dann wieder ihre tiefe Mystikerinnenstimme. »Ah, diese Skepsis ist ganz typisch für die analytisch denkende Jungfrau. Immer auf Sicherheit bedacht und die möglichen Risiken fest im Blick. Carla, du hast bestimmt Anfang September Geburtstag, richtig? Ich erkenne eine klassische Jungfrau, wenn sie vor mir steht.«

Jetzt wurden nach dem Karma auch noch Sternzeichen bemüht. Das wurde ja immer besser. Was kam wohl als Nächstes?

»Nein, ich habe im November Geburtstag und bin als Sternzeichen Skorpion. Daran glaube ich aber sowieso nicht…«

Gundula ließ sich von meiner Antwort nicht aus ihrem astrologischen Konzept bringen und dozierte unbeirrt weiter: »Dann hast du mit Sicherheit die Jungfrau im Aszendenten. Ganz bestimmt, da täusche ich mich fast nie.«

»Jetzt führe ich dich erst einmal herum und zeige dir alles«, antwortete ich und versuchte gleichzeitig, unser Gespräch wieder in normalere Bahnen zu lenken. Gundula war sichtlich interessiert an diesem Vorschlag, und so starteten wir zu einer kleinen Besichtigungstour über mein Anwesen. Als Erstes führte ich sie in den Gemüsegarten und präsentierte stolz meine üppigen Kräuterbeete mit Lavendelbüschen und verschiedenen Basilikum- und Estragon-Sorten. Gundula zeigte sich gebührend beeindruckt, und schon bald waren wir in eine gärtnerische Fachsimpelei über verschiedene Gartenkräuter eingetaucht. Ich war froh über die Normalität, die unser Gespräch nun angenommen hatte. Fast schon wollte ich an einen schlechten Start für mich und Gundula glauben, als diese auf einmal mitten im Satz erstarrte. Sie machte einen Schritt vorwärts, blieb dann bewegungslos direkt vor meinem Gurkenbeet stehen und deutete anklagend auf die zugegebenermaßen kümmerlichen Pflänzchen.

»Was ist denn da los? Das ist ein Verbrechen an Mutter Natur. Die Gurkenpflanzen können sich ja gar nicht entfalten, sie stehen eindeutig über einer Wasserader oder sind Erdstrahlen ausgesetzt. Darum der spärliche Wuchs und die kümmerliche Form. Das hier ist energetisch auf jeden Fall eine ganz schlechte Stelle, Carla. Um sicher zu gehen, würde ich gerne mein Pendel zur Hilfe nehmen.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, hatte Gundula aus einer Seitentasche ihres weiten Bauernrocks ein kleines Silberpendel an einer filigranen Kette hervorgeholt. Dieses Gerät hielt sie genau über eine meiner Gurkenpflanzen und schaute mich dann bedeutungsvoll an.

»Mein Pendel kann im Grunde nur zwei Zustände anzeigen, nämlich ›ja‹ und ›nein‹. Ich lege zunächst fest, wie sich das Pendel bei ›ja‹ bewegen soll und wie bei ›nein‹. Bei mir bedeutet ›ja‹, wenn das Pendel senkrecht auf mich zu pendelt, ›nein‹ bedeutet es, wenn das Pendel sich vor mir hin und her bewegt.« Diese mich noch mehr verwirrende Erklärung gab mir Gundula wieder mit ihrer tiefen Bassstimme.

»Hab ich mir‘s doch gedacht, eindeutig eine Wasserader und auch noch Erdstrahlen«, kam wenige Minuten später die Diagnose. »Siehst du den Ausschlag des Pendels in meine Richtung? Hier ist kein Irrtum möglich, wir stehen direkt über einem starken Energiefeld. So können die Gurkenpflänzchen nicht gedeihen. Setze sie an einen anderen Ort und du wirst staunen.« Sie streichelte liebevoll ein mickriges Exemplar und fuhr unbeirrt fort: »Man nimmt die Pflanze in die eine Hand und das Pendel in die andere Hand und konzentriert sich auf die Frage: ›Wo fühlt sich diese Pflanze wohl?‹ Das Pendel schwingt dann automatisch in die Richtung des richtigen Standorts und beginnt dort zu kreisen. Deine Pflanzen werden es dir mit einem gesegneten Wachstum und mit einer reichen Ernte danken.«

»Wie wäre es jetzt erst einmal mit einem schönen Eistee für uns beide?«, fragte ich meine Besucherin in dem verzweifelten Bemühen, das Gesprächsthema zu wechseln. Für meinen Geschmack waren das etwas zu viele esoterische Techniken an einem Tag. Wahrscheinlich würde mich Gundula später noch darüber aufklären, dass mein Hausschwein Olli in Wahrheit die Wiedergeburt eines französischen Landadeligen aus dem 16. Jahrhundert war. Zum Glück geschah nichts mehr in dieser Richtung, und wir konnten unser Gespräch bei Eistee und Keksen in der kühlen Diele entspannt beenden. Gundula versprach mir, in zwei Tagen wieder zu kommen, um dann gemeinsam die erste Kräuterwanderung zu planen.

Nachdem ich Gundula verabschiedet hatte, wollte ich gerade meine Gurkenpflanzen umsetzen, als das Telefon im Flur laut und durchdringend klingelte. Ich zog mir die Gartenhandschuhe aus und betrat das Haus.

»Ach Carla, du hast ja keine Ahnung, wie ich dich um dein Leben in deiner ländlichen Idylle beneide. Hier in München läuft nichts so, wie es sollte…« Lous Stimme am Telefon klang für ihre Verhältnisse in der Tat ziemlich niedergeschlagen. Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie auch schon zu näheren Erläuterungen angesetzt: »Seit sich Stéphane wegen eines zwanzigjährigen Schauspielers von Jacques getrennt hat, ist mit dem Mann rein gar nichts mehr anzufangen. Stell dir vor, gestern hätte er mich fast mit meiner frisch aufgetragenen Haarfarbe unter der Trockenhaube vergessen. Gar nicht auszudenken, welchen Effekt das auf meine Locken gehabt hätte. Anstatt die Farbe nach 45 Minuten auszuwaschen, hat Jacques lieber in einem Nebenzimmer stundenlange Telefonate geführt und dabei hin und wieder laut aufgestöhnt.«

Der arme Jacques! Gebrochene Herzen kannte ich aus meiner eigenen Vergangenheit und ich wusste, dass dieser Schmerz mit nichts vergleichbar war. Letztlich half da nur die Zeit. Ich wollte noch etwas Tröstliches sagen, als Lou schon weitersprach:

»Und das Allerschlimmste weißt du ja noch gar nicht. Unser Sohn Augustin ist seit kurzem in einer Graffiti-Sprayer-Gang aktiv und es vergeht fast kein Tag, ohne dass die Polizei bei uns anruft.« Lou machte eine dramatische Kunstpause. »Gestern hat er mit seinen Freunden in der Nacht die halbe Bavaria-Statue besprüht. Diese Sprayer haben ja alle ein ganz individuelles Tag, das sie am Tatort hinterlassen. Das von unserem Augustin ist ein großes A. Noch einfacher kann man es den Strafverfolgungsbehörden kaum noch machen! Dieter und ich haben schon alles versucht, aber wir haben fast keinen Einfluss mehr auf den Jungen.«

Das klang nun wirklich besorgniserregend. Ich versuchte, so gut es ging, meine Freundin am Telefon zu trösten. Lou hörte mir aber kaum noch zu und sagte nur abrupt: »Carla, ich halte es hier nicht mehr aus. Außerdem fehlst du mir immer mehr. Ohne dich ist es in München total langweilig. Dieter meint ebenfalls, dass eine ordentliche Prise Landluft genau das Richtige für meine angegriffenen Nerven wäre. Ich habe bereits alles arrangiert und kann schon übermorgen zu dir kommen. Freust du dich?« Was war denn das für eine Frage! Meine beste Freundin war quasi auf dem Weg zu mir – ich freute mich riesig!

Kapitel 2

Zwei Tage später reiste Lou an.

Ich beaufsichtigte gerade meine Hausschweine Olli und Olga, die schnüffelnd ihren alltäglichen Rundgang über das Grundstück machten, und hörte die nahende Ankunft meiner Freundin schon von Weitem. »Das mit den Gängen lernt sie nie…«, murmelte ich grinsend vor mich hin, als der BMW auch schon mit quietschenden Reifen auf dem Hof hielt. Die Fahrertür flog auf. Glücklich über unser Wiedersehen lief ich meiner besten Freundin entgegen, um sie in die Arme zu schließen. Diese rannte aber schnurstracks an mir vorbei und begrüßte lauthals die beiden Schweine, die vor Begeisterung quietschten und grunzten.

»Naaahh, ihr süßen Grunzer, habt ihr Mutti sehr vermisst?« Sie kraulte Olli hinter dem Ohr und zauberte einen Bund Möhren aus ihrem überdimensionalen Hermès-Shopper. »Ja, fein, ab jetzt werdet ihr wieder verwöhnt…«

Ich stemmte meine Hände in die Hüften. »Hallo Lou, ich freu mich auch sehr, dich zu sehen. Nur gut, dass du endlich da bist, die Tiere hatten Depressionen ohne deine Fürsorge und Liebe.« »Das glaube ich gerne«, zwitscherte meine Freundin, wie immer immun gegen jede Ironie, und streckte mir die Arme entgegen: »Carla, ich habe euch alle soooo sehr vermisst. Es ist so schön, dich zu sehen!«

Erst jetzt, als sie vor mir stand, merkte ich, wie sehr mir meine beste Freundin in den letzten Wochen gefehlt hatte. Vor lauter Arbeit hatte ich kaum Zeit für Sozialkontakte gehabt. Auch wenn es mir mittlerweile gelungen war, zumindest mit einigen Brägenbecker Ureinwohnern in Kontakt zu kommen, im Grunde blieb ich hier doch immer noch die zugezogene Großstädterin.