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Schleswig-Holstein, Ende Dezember 1978: In einem nie da gewesenen Schneesturm bleiben Autos liegen, fallen Strom, Telefon und Heizung aus. Während sich der Arzt Dr. Hans Fink im Schneetreiben zu Fuß aufmacht, um seiner Mitarbeiterin bei der Geburt ihres Kindes beizustehen, werden seine Schwägerin Sibylle und ihr Mann Thomas hilflos in ihrem Auto eingeschneit. Der Rentner Moretzka fragt sich, wie er jetzt an Alkohol kommen soll. Und auf dem Truelsenhof wird verzweifelt um das Leben des Viehs gekämpft.
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Seitenzahl: 282
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Julia Heinecke
Land unter Schnee
Roman
Jahrhundert-Schneesturm Tobi ist enttäuscht: Zu Weihnachten ist kein Schnee in Sicht, um seinen neuen Schlitten auszuprobieren. Doch am 28. Dezember 1978 ändert sich das Wetter schlagartig. Innerhalb kürzester Zeit fallen die Temperaturen, eisiger Wind kommt auf. Vier Tage tobt ein Schneesturm unbekannten Ausmaßes und trifft die Menschen völlig unvorbereitet. Nach einem rauschenden Polterabend findet eine Busfahrt mitten in der Nacht ihr abruptes Ende, und statt der Hochzeitsgesellschaft entsteht im »Krog« eine Gemeinschaft aus Wirtsfamilie und Gestrandeten. Dr. Hans Fink macht sich im starken Schneetreiben auf, um seiner Mitarbeiterin bei der viel zu frühen Geburt ihres Kindes beizustehen. Er weiß nicht, dass sich zur gleichen Zeit seine Schwägerin Sibylle und ihr Mann Thomas in hilfloser Lage in ihrem eingeschneiten Auto befinden. Auf dem Truelsenhof wiederum bricht ohne Strom die Viehversorgung zusammen. Und je länger der Schneesturm anhält, desto größer wird Willi Moretzkas Problem: Der Rentner braucht dringend neuen Alkohol.
Julia Heinecke wurde in Berlin geboren, wuchs im nördlichen Schleswig-Holstein auf und erlebte die Schneekatastrophe als Kind mit eigenen Augen. Sie absolvierte eine Übersetzer-/Dolmetscherausbildung und studierte anschließend Kulturwissenschaften. Heute lebt und arbeitet Julia Heinecke als freiberufliche Übersetzerin, Lektorin, Texterin und Autorin in Freiburg im Breisgau. In mehreren Publikationen hat sie sich sowohl auf Sachebene als auch in Romanform mit der Kulturgeschichte des Schwarzwaldes auseinandergesetzt. „Land unter Schnee“ ist ihr erster Roman, der in ihrer alten Heimat Angeln spielt.
www.julia-heinecke.de
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Privatarchiv Julia Heinecke
ISBN 978-3-8392-7406-4
Zum Buch
Impressum
Inhalt
1 Weihnachten 1978
2 Mittwoch, 27. Dezember 1978
3 Donnerstag, 28. Dezember 1978
4 Freitag, 29. Dezember 1978
5 Samstag, 30. Dezember 1978
6 Sonntag, 31. Dezember 1978
7 Montag, 1. Januar 1979
8 Dienstag, 2. Januar 1979
Anmerkung und Dank
Lesen Sie weiter …
Auf dem Satellitenbild sehen wir einen Wolkenwirbel über dem Atlantik und von ihm ausgehend Wolkenbänder nach Nordspanien und Südfrankreich. Sie gehören zu den atlantischen Tiefausläufern, die morgen von Südwesten auf Deutschland übergreifen. Ihnen folgt verhältnismäßig milde Meeresluft. Die Vorhersage für morgen: neblig trüb oder stark bewölkt und zunächst nur vereinzelt leichter Niederschlag. […] Schwacher Wind, vorherrschend aus südlichen Richtungen.
Tagesschau, 23.12.1978
*
»Frohe Weihnachten, Herr Doktor.«
»Danke, Frau Erichsen, Ihnen auch.« Doktor Fink stand auf und schüttelte die ausgestreckte Hand seiner Patientin. Mit seiner linken machte er eine öffnende Geste Richtung Tür.
»Und nochmal vielen Dank.«
»Nichts zu danken. Feiern Sie schön.«
Doktor Hans-Peter Fink schloss die Tür hinter sich und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Er atmete tief durch. Frau Erichsen war die letzte Patientin vor den Weihnachtsfeiertagen. Heute war der 23. Dezember, und wie immer am Sonnabendvormittag gab es in seiner Praxis in Söreby eine Sprechstunde. Jetzt war der Arzt froh, dass es geschafft war und er sich auf die Festtage einstellen konnte. Erst am 27. Dezember würde er wieder regulär öffnen. Und den ersten Bereitschaftsdienst gab es an dem Silvesterwochenende. Vier schöne freie Tage winkten.
Hans schaute aus dem Fenster. Von weißen Weihnachten konnte keine Rede sein. Der Praxisgarten präsentierte sich in einem schlammigen Grün-Braun. Tobi, der jüngste Sohn, würde enttäuscht sein, wenn er morgen seinen Schlitten unterm Weihnachtsbaum vorfinden und nichts damit anfangen konnte. Hans’ Blick verharrte im Garten, während seine Ohren die Hintergrundgeräusche aus dem Anmeldebereich der Praxis wahrnahmen. Er hörte geschäftiges Treiben und fröhliche Stimmen. Schließlich klopfte es an seine Tür. Seine Frau Rena schaute herein.
»Kommst du, Hans? Wir haben den Sekt schon rausgeholt, und ein paar Häppchen gibt es auch.«
Hans lächelte Rena gedankenverloren an.
»Ja, sicher, sofort, ich bin gleich da. Ich muss noch kurz was aufschreiben.«
»In Ordnung.«
Die Tür fiel wieder ins Schloss. Hans nahm einen Kugelschreiber und griff nach der Karteikarte von Frau Erichsen. Er musste noch notieren, was sie besprochen hatten. Frau Erichsen hatte Diabetes, und dass sie bei Angeliter Sahnetorten nicht widerstehen konnte, sah man leider an ihrer Figur und an ihren Zuckerwerten. Sie würde das Insulin wieder mal erhöhen müssen, dabei, war Hans überzeugt, müsste sie einfach nur sorgfältiger und weniger üppig essen. Ein paar Kilos abspecken. Aber da konnte er mit Engelszungen reden, so viel er wollte, bis jetzt hatte er bei seiner Patientin noch nichts erreichen können.
Hans klappte die Karte schließlich zu, klopfte einmal mit ihr auf seinen Tisch und verließ sein Sprechzimmer.
In der Anmeldung goss Rena gerade den Sekt in die aufgereihten Gläser und im dahinterliegenden Pausenraum richteten die Arzthelferinnen Schinken- und Käsebrote und Keksteller. Auch die Putzfrau Frau Andersen war gekommen.
»Da sind Sie ja, Herr Doktor«, rief Annemarie, die älteste Mitarbeiterin, die schon zwanzig Jahre bei seinem Vorgänger gearbeitet hatte. »Das ging ja fink, äh, flink.« Sie lachte laut über ihren Witz.
»Haha«, erwiderte Hans, der diesen Kalauer über seinen Namen langsam nicht mehr hören konnte.
»Mein Gott, Annemarie«, sagte Michaela, die zweite Angestellte, »der Spruch hat echt soooo’n Bart.« Sie machte eine entsprechende Handbewegung.
»Käseschnitte oder Plätzchen?«, fragte Maike, die Auszubildende im dritten Lehrjahr. Sie streckte ihm einen Keksteller entgegen.
»Pfeffernüsse von Frau Erichsen?«, fragte Hans erwartungsvoll. Maike nickte.
Erfreut griff er zu. Diese Pfeffernüsse schmeckten einfach legendär, und sie wurden alle Jahre wieder von der Praxismannschaft erwartet. Und auf Frau Erichsen, zu hoher Blutzucker hin oder her, war Verlass. Hans stopfte sich gleich eine ordentliche Portion in den Mund. Dann nahm er das Sektglas, das ihm Rena reichte, und schluckte die Pfeffernüsse herunter.
»Sind alle da?« Er schaute sich um.
»Gunda fehlt noch«, erinnerte Annemarie an die vierte Arzthelferin.
»Ja, kommt sie denn noch? Sie war ja schon ewig nicht mehr in der Praxis«, wollte Michaela wissen.
»Sie muss liegen«, erklärte Rena. »Sonst kommt das Kind zu früh.«
»Also, dann lasst uns einfach anfangen. Wer nicht kommt, hat Pech gehabt.« Annemarie lachte laut. »Trinken darf sie in ihrem Zustand ja sowieso nix mehr.«
»Also«, Hans räusperte sich, er war kein großer Redner, »dann nutze ich die Gelegenheit und bedanke mich für die gute Zusammenarbeit, für Ihren Einsatz in diesem Jahr und wünsche allen ein schönes Weihnachtsfest. Prost!«
»Prost, Chef!«
Sie stießen miteinander an. Rena und Hans schauten sich dabei in die Augen. Endlich Feierabend, dachte Hans. Endlich ein bisschen Zeit für uns, bevor morgen der Sturm losgeht und die Verwandtschaft einfällt. Er hoffte auf einen entspannten freien Nachmittag und Abend mit seiner Frau und den drei Kindern. Noch zwanzig Minuten, und er konnte den Anrufbeantworter einstellen. Dann übernahm der Kollege aus der Nachbarpraxis fünfzehn Kilometer entfernt den Notdienst bis zum Morgen des 27. Dezembers.
Zur gleichen Zeit, als Michaela mit ihrem Chef und ihren Kolleginnen auf das bevorstehende Weihnachtsfest anstieß, lag ihr Schwiegervater Otto auf dem Scheunenboden und fluchte. Er wusste nicht, ob vor Schmerzen oder aus Ärger über seine eigene Dummheit. Er spürte, wie die Spitzen der Mistgabel in seinen Allerwertesten stachen. Gleichzeitig brummte ihm der Schädel, denn den Kopf hatte er sich auch noch am Forkenstiel gestoßen, als er sich durch die Unordnung in der alten Scheune wühlte. Nur deshalb war er überhaupt ins Straucheln geraten, hatte die Mistgabel, die an der Wand lehnte, bei seinem Versuch, sich abzustützen, mitgerissen und war so unglücklich gestürzt, dass er genau auf der Forke landete.
Es war unglaublich, dass Achim und Michaela hier so einen Verhau hinterließen. Nichts fand man wieder. Otto ächzte.
»Gerdi!«, rief er laut.
Als wenn sie ihn hören würde.
»Achim!« Jetzt brüllte er.
Otto langte mit seiner rechten Hand an seinen Hintern und griff nach der Mistgabel. Er biss die Zähne zusammen und zog das Arbeitsgerät aus seiner Haut. Diese Bewegung kostete den alten Bauern alle Kraft, die er aufbringen konnte. Er stöhnte und tastete. Als er die Hand wieder vorzog, war sie rot. Es sah nicht gut aus. Mit der ihm typischen Willenskraft richtete Otto sich auf.
»So’n Schiet aber auch!«
Mühsam und gebückt quälte er sich zum Ausgang. Am Tor hielt er sich fest und stöhnte laut. Otto sah hinüber zum großen Wohnhaus, das auf der anderen Seite des Hofplatzes stand. Genau dazwischen ragte die jahrhundertealte Eiche mit ihrem mächtigen Stamm und dem dichten Geäst in den Himmel, und direkt davor stand die Bank, auf der er und Gerdi in den Sommermonaten gerne saßen. Bis dorthin musste er es schaffen. Er setzte sich in Bewegung.
Der Schmerz in seinem Gesäß war so stark, dass Otto aufpassen musste, nicht ins Taumeln zu geraten.
»Aua«, schrie er.
Er konnte sich nicht aufrecht halten, zu sehr pochte und zog es. Schließlich ließ er sich auf alle viere nieder. Wie ein nasser Hund verharrte er und versuchte, Kraft zu schöpfen. So, in dieser Position, wollte er bestimmt nicht gesehen werden.
»Vadder? Was machst du denn da auf dem Boden?«
Otto hatte seinen Sohn Achim nicht kommen sehen, und er konnte ihn immer noch nicht entdecken. Die Stimme kam von hinten.
»Quatsch nich’ rum, hilf mir lieber.«
»Was ist denn passiert, du bist ja hinten voll mit Blut.« Achim klang entsetzt.
»Deswegen wollte ich ja ins Haus.«
»Wo kommt das her?«
»Verfluchte Mistgabel, die ihr nicht wegräumt«, knurrte Otto unwirsch. »Nu’ hölp mi!«
»Du musst zum Arzt, das sieht bös aus. Wart hier, ich hole das Auto und sag Mudder Bescheid.«
Sein Sohn ließ ihn einfach so auf alle vieren hocken. Otto wünschte, er könnte seine Position ändern. Aber er wusste nicht, wie.
Im Pausenraum ließ sich Hans gerade das zweite Glas Sekt einschenken. In diesem Moment hatte sein Feierabend angefangen, das Telefon war umgeleitet, nichts sollte ihn jetzt noch in seiner Entspannung aufhalten. Die Stimmung war ausgelassen, alle lachten und sprachen angeregt miteinander.
»So, jetzt muss ich gehen.« Annemarie stellte schwungvoll ihr geleertes Glas auf den Tisch. »Mein Mann wird sauer, wenn ich ihn so kurz vorm Fest mit den Kindern so lange allein lasse. Gibt ja noch genug zu erledigen.«
»Deine Kinder sind doch schon groß«, meinte Michaela, »was soll ich da sagen?«
»Immerhin hast du die Schwiegereltern im Haus«, entgegnete Annemarie.
»Auch nicht immer einfach«, fand Michaela und lachte.
In diesem Moment klingelte und klopfte es an der Praxistür.
»Das klingt dringend.« Hans schaute sein volles Sektglas bedauernd an, während Michaela zur Tür ging.
»Was macht ihr denn hier?«, hörte man sie rufen. Wenige Augenblicke später schaute sie in den Aufenthaltsraum.
»Chef? Meinen Schwiegervater müssten Sie sich mal dringend anschauen, er hat sich eine Forke in den Hintern gehauen.«
»Oha!« Annemarie lachte auf.
Hans seufzte so leise, dass es keiner hören konnte. Sein verdienter Feierabend verschob sich nach hinten. »Ich komme. Assistieren Sie mir?«, fragte er Michaela.
»Ja, klar.«
»Also«, Hans erhob sich, »dann wünsche ich allen noch mal frohe Weihnachten. Wahrscheinlich sind Sie ja schon weg, wenn wir damit fertig sind. Bis nächste Woche. Schönes Fest.«
»Schönes Fest, Herr Doktor.«
»Ich komme gleich, Rena.« Hans drückte seiner Frau kurz die Hand, die sich daran machte, die Sektgläser zum Spülen zusammenzustellen.
Hans-Peter Fink war Landarzt aus Leidenschaft, aber bevor er seiner Frau zuliebe hierher aufs Land nahe der dänischen Grenze gezogen war, hatte er in Frankfurt lange in der Chirurgie gearbeitet, und er verstand sein Handwerk so gut, dass ihm die Patienten auch bei großen Verletzungen vertrauten. Nun besah er sich die Wunden von Bauer Truelsen, der mittlerweile mit blankem Hinterteil auf der Liege in dem kleinen OP lag. Die Mistgabel war offensichtlich tief ins Gesäß eingedrungen und hatte drei massive Wunden hinterlassen, aber es war nichts, was Hans vor große Herausforderungen stellte.
»Die Wunde muss auf jeden Fall nicht genäht werden«, stellte er fest. »Es reicht, wenn ich eine gründliche Wundreinigung vornehme.«
»Dann machen Sie hinne.«
»Wann hatten Sie denn Ihre letzte Tetanusimpfung?«
»Was weiß ich denn.«
»Dann bekommen Sie jetzt vorsorglich eine.«
Während Otto Truelsen noch über sein Missgeschick jammerte, reichte Michaela Hans die aufgezogene Tetanusspritze, die er gleich verabreichte.
»Ist gleich vorbei«, tröstete er.
»Ich bin aber auch ein Dösbaddel«, fluchte Otto. »So dumm kann doch keiner sein.«
»Das kann jedem passieren«, beruhigte Michaela ihren Schwiegervater, während sie den Bereich um die Wunde großräumig mit Desinfektionsmittel bestrich. »Und so schlimm sehen die Wunden gar nicht aus.«
»Mach dich nur lustig über mich! Jetzt lieg ich hier mit blankem Hinterteil, und du lachst.«
Michaela tauschte mit Hans einen vielsagenden Blick und schwieg. Hans wusste, dass sie es in ihrer angeheirateten Familie nicht immer leicht hatte. Der alte Truelsen konnte nicht loslassen, meckerte an allem herum und kommandierte seine Frau und seinen Sohn umher. An seiner Schwiegertochter, die nicht von einem Bauernhof stammte und damit keine Bäuerin war, wie Otto es vorschwebte, biss er sich die Zähne aus. Auf dem Hof lebten die Alten im selben Haus, zwar etwas abseits in ihrem eigenen Wohnteil, doch für Michaela immer noch zu nah. Mit ihrer Schwiegermutter kam sie zurecht, aber um Otto machte sie lieber einen Bogen.
»So, jetzt wollen wir mal sehen«, meinte Hans. »Geht es mit den Schmerzen?«
»Jaja, legen Sie endlich los.«
»Gut.« Hans schaute sich die Wunden genau an und reinigte sie sorgsam. Er war beeindruckt, wie tief eine simple Mistgabel durch eine dicke Stallhose dringen konnte. Aber in der Landwirtschaft gab es nichts, was es nicht gab. Hans hatte schon die kuriosesten Verletzungen erlebt, seit er hier oben im Norden seinen Dienst tat.
»So, geschafft«, sagte er kurz darauf zufrieden. »Mit dem Sitzen könnte es vielleicht ein bisschen schwierig werden. Das wird wohl eher ein Weihnachtsfest im Liegen.«
»Auch das noch. Schöne Bescherung.«
»Wird schon nicht so schlimm«, beruhigte Michaela und grinste Hans an, ohne dass es ihr Schwiegervater bemerkte.
»Ich gebe Ihnen Schmerzmittel mit. Und ein Antibiotikum, damit es nicht noch Entzündungen gibt. Nach den Feiertagen kommen Sie dann zur Kontrolle. Und Sie haben ja Glück, dass Michaela Ihnen bei Bedarf die Verbände wechseln kann. Ich gebe Ihnen noch Verbandsmaterial mit, damit Sie über die Feiertage kommen«, wandte er sich an seine Arzthelferin.
»Das fehlt noch, das kann auch meine Frau machen.«
»Kein Problem, Otto, ich reiß mich nicht drum«, erwiderte Michaela. »So, jetzt steh mal auf.«
Sie hielt ihren Schwiegervater fest, während dieser langsam von der OP-Liege herunterkroch.
»Die olle Stallhose mit dem ganzen Blut ziehst du jetzt nicht mehr an.« Michaela hielt Otto aufrecht, der schwankte. »Du musst jetzt in Unterhose nach Hause. Aber keine Sorge, hier ist niemand mehr, der dich sehen könnte. Und besonders kalt ist es draußen ja auch nicht.«
Langsam gingen sie in den vorderen Bereich der Praxis, wo Michaelas Mann vom Stuhl aufsprang.
»Alles gut, Herr Truelsen«, beruhigte Hans ihn, »Ihr Vater muss sich nur ein bisschen ausruhen. Und er sollte nicht auf seinen Wunden sitzen. Nach Weihnachten kommen Sie dann wieder mit ihm vorbei. Frohe Weihnachten.«
»Danke, Herr Doktor. Und frohe Weihnachten.«
Später, nach dem Mittagessen, setzte sich Hans im Wohnzimmer aufs Sofa und schaute aus dem Fenster. Das Wetter hatte sich nicht geändert, der Himmel blieb heute wolkenverhangen und grau, die Temperaturen waren im deutlichen Plusbereich. Hans liebte den Ausblick in den Garten und darüber hinaus. An sein Grundstück grenzte ein schmales Feld, und jetzt im Winter konnte man dahinter in der Ferne einen schmalen Streifen der Ostsee erkennen. Die gefällige flache und mitunter leicht hügelige Landschaft mit ihren zahlreichen Knicks hatte es Hans angetan, und er war sehr gerne von Frankfurt hierhergezogen. Er vermisste die lärmige und dreckige Großstadt kein bisschen.
Zwei Jahre lang hatte er noch im Flensburger Krankenhaus gearbeitet, bevor er in dem kleinen Ort Söreby die Praxis übernommen hatte. Hans und Rena hatten nach der Übernahme ihr Haus direkt daneben gebaut – mit viel Glas, Terrassen auf drei Seiten und genügend Platz für die Kinder und ihre Hobbys. Besonders stolz war Hans auf den offenen Kamin, den er jetzt auf der linken Seite gut im Blick hatte. Nachher würde er noch Holz hereinholen und ein Feuer machen, später dazu einen guten Wein öffnen und mit Rena anstoßen. Und dann wartete er ab, was kommen sollte.
Zunächst würden sie gemeinsam mit den Kindern beim Feuerschein den Weihnachtsbaum schmücken, der jetzt schon auf der Terrasse auf seinen Einsatz wartete. Sie machten das immer gemeinsam, also vor allem Rena mit der zwölfjährigen Mascha, dem neunjährigen Oliver und dem siebenjährigen Tobias. Hans’ Aufgabe bestand lediglich darin, dafür zu sorgen, dass der Baum in seinem Ständer festen Halt hatte. Stand der Weihnachtsbaum, war Hans bereit für den Besuch und alles Weitere, was Weihnachten so mit sich brachte. Selbstverständlich kamen Renas Eltern, sie wohnten ja im Nachbardorf und waren oft bei ihnen, weil sie sie bei der Betreuung der Kinder unterstützten. Rena, die eigentlich Renate hieß, diesen Namen aber hasste, arbeitete als gelernte Krankenschwester in der Praxis mit.
Es hatten sich außerdem Renas jüngere Schwester Sibylle und ihr Mann Thomas aus Hannover angekündigt. Sie waren zwar beide recht unterhaltsam, fand Hans, aber zusammen manchmal schwer zu ertragen. Oft stritten sie oder, ganz das Gegenteil, schwiegen sich an. Nur hin und wieder wechselten dann zynische Bemerkungen hin und her. Kinder hatten sie keine. Egal, es war schön, Weihnachten in der erweiterten Familie zu feiern, und Hans freute sich drauf. Rena und die Kinder sowieso.
Rena setzte sich zu ihrem Mann aufs Sofa und kuschelte sich an ihn.
»Schön ruhig«, meinte sie.
»Die Ruhe vor dem Sturm«, erwiderte Hans.
»Die Verwandtschaft kann kommen, ich bin bereit. Meine Mutter hilft mir bei der Gans. Ihr könnt währenddessen ja in die Kirche gehen.«
»Die Kinder werden es nicht mögen, wenn ihr nicht mitkommt.«
Rena lachte. »Ich weiß, aber ich liebe diesen Moment, in dem ihr alle verschwindet und Mama und ich unsere Ruhe haben.«
»Wann kommt deine Schwester?«
»Heute Abend – und sie schlafen bei uns und nicht bei meinen Eltern, haben wir beschlossen.«
Hans schaute erstaunt. »Das wusste ich ja gar nicht.«
»Stimmt, hatte ich vergessen, dir zu sagen.« Rena hielt den Blick ihres Mannes. »Hast du was dagegen?«
Hans seufzte. »Nein, natürlich nicht. Aber sie streiten ständig. Und wenn sie nicht streiten, dann behandeln sie sich gegenseitig wie Luft. Es ist anstrengend.«
»Du übertreibst«, widersprach Rena. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Na ja …« Hans sah seinen gemütlichen Abend in Gefahr.
»Sie wollen auch mitschmücken.«
»Wunderbar, dann kann ich ja sitzen bleiben.«
»Kannst du, Hans, kannst du.«
Der 24. Dezember zeigte sich ebenfalls in keiner Weise winterlich.
»Es gibt überhaupt keine weißen Weihnachten«, beklagte Mascha am Frühstückstisch.
»Dafür kommt der Weihnachtsmann und bringt Geschenke«, entgegnete Sibylle.
»Hahaha«, lachte Tobi. »Wer glaubt denn noch an den Weihnachtsmann?«
»Na, du natürlich«, fand Oliver.
»Ich doch nicht«, erklärte Tobi. »Den Weihnachtsmann gibt es gar nicht. Das ist bloß eine Erfindung. Oder es ist irgendein Onkel, der den spielt.«
Sein Onkel Thomas lachte. »Ich habe nicht die Absicht, heute zu verschwinden, um mich zu verkleiden, darauf kannst du dich verlassen.«
»Sei dir da mal nicht so sicher mit dem Weihnachtsmann.« Hans blinzelte Rena über die Köpfe der Kinder verschwörerisch zu. »Nachher gibt es ihn doch, und ihr habt kein Gedicht auswendig gelernt.«
Die Jungen machten große Augen.
»Seit wann müssen wir das denn?«, fragte Tobi.
»Bis jetzt hat es gereicht, dass wir was zusammen singen«, erklärte Oliver.
»Na, es wäre doch schön, wenn ihr uns ein Gedicht vortragen würdet – oder dem Weihnachtsmann, wenn er kommt.«
»Ihr spinnt ja.« Oliver zeigte einen Vogel. »Können wir aufstehen?«
Die beiden Brüder hatten es jetzt eilig, den Tisch zu verlassen. Nachher kamen ihre Eltern echt noch auf die Idee, sie sollten wirklich ein Gedicht lernen. Da war es besser zu verschwinden.
Mascha blieb sitzen. »Ich kann ein Gedicht, aber ich sag es nicht auf, wenn die Jungs nichts machen«, erklärte sie bestimmt.
Sie hatte als Älteste immer das Gefühl, mehr als ihre Brüder leisten zu müssen.
»Wir werden ja sehen«, erwiderte Rena vielsagend, »sollte der Weihnachtsmann wirklich kommen, bist du wenigstens vorbereitet.«
Mascha schaute erst ihre Mutter, dann ihren Vater, die beide grinsten, an und schüttelte schließlich den Kopf. Wovon redeten sie? Bei ihnen lagen die Geschenke einfach unter dem Baum, wenn sie von der Kirche zurückkamen, und Mascha war sich ziemlich sicher, dass es niemand anderes als ihre eigene Mutter sein konnte. Warum sonst ging sie wohl nie mit in die Kirche? Was sollten also die ständigen Hinweise auf den Weihnachtsmann?
Am Nachmittag stieg die Spannung aus Kindersicht ins Unermessliche. Schon vor der Kirche sprangen alle drei Kinder nervös herum. Vor allem Tobi konnte die Spannung kaum aushalten und ging allen mit seiner Hibbeligkeit auf die Nerven. Als Hans endlich zum Aufbruch rief, war er der Erste, der in der Haustür stand und loslaufen wollte, während Rena im Haus blieb, um die Gans im Ofen nicht aus dem Blick zu lassen.
Früher als erwartet kehrte die Familie zurück.
»Tobi und Oli haben so gedrängelt, dass Papa sich nach der Kirche gar nicht mehr unterhalten konnte«, gab Mascha im Flur Bericht ab.
»Seid froh, dass ihr nicht dabei wart«, meinte Sibylle, während Thomas ihr aus dem Mantel half. »Die Kirche war rappelvoll. Was für ein Gedränge.«
»Und die öde Predigt eures monotonen Pfarrers war auch nicht gerade geistreich«, ergänzte Thomas.
»So schlimm war sie nun auch wieder nicht«, widersprach Sibylle. »Nur, weil er monoton spricht, war seine Predigt inhaltlich doch nicht schlecht.«
»Es war grausam langweilig, und du weißt es, Bille«, entgegnete Thomas von oben herab.
»Hoffentlich finden deine Schüler deinen Unterricht interessanter«, gab Sibylle zurück.
Die beiden Jungs rannten ins Wohnzimmer, Mascha folgte etwas langsamer.
»Da sind ja gar keine Geschenke!«
»Wir zünden jetzt die Kerzen an und trinken erst mal einen schönen Tee. Der Weihnachtsmann wird schon noch kommen«, erklärte Rena.
Die Verwunderung in den Augen der Kinder war groß, aber sie sagten nichts mehr und setzten sich folgsam an den Tisch, während Hans zum ersten Mal an diesem Weihnachten die Kerzen am Baum entzündete.
»Was für ein toller Weihnachtsbaum«, lobte Hermann, Renas Vater, überschwänglich, »das ist der schönste Baum, den wir je hatten.«
Der Rest der Familie hörte kaum auf ihn, denn diese Aussage traf Hermann jedes Jahr aufs Neue. Oma Lisbeth goss allen Tee oder Kaffee ein und reichte Plätzchen und Stollen. Tobi biss in einen Keks und zappelte so sehr auf seinem Stuhl herum, dass er schließlich mit ihm umfiel. Es gab einen ordentlichen Schlag und schließlich Schweigen.
»Alles in Ordnung, Tobi?«, fragte Rena besorgt.
Der Junge startete seinen üblichen Heulton, der bedeutete, dass ihm zwar nichts Schwerwiegendes passiert war, er aber Beistand benötigte. Der Schreck war größer als der Schmerz. Seine Mutter zog ihn vom Boden hoch und nahm ihn tröstend in den Arm.
»Heulboje«, meinte Oliver.
»Wann gibt es die Geschenke?«, fragte Tobi mit zittriger Stimme.
»Das weiß ich nicht. Der Weihnachtsmann hat heute ja ziemlich viel zu tun.«
»Hört doch mal auf mit dem Weihnachtsmann«, jaulte er auf.
»Aber du willst doch Geschenke? Jetzt hab noch etwas Geduld.« Rena strich über den Rücken ihren Jüngsten. »Komm zurück an den Tisch.«
Langsam kletterte Tobi wieder auf seinen Stuhl und griff nach einem weiteren Keks. Die Erwachsenen setzten ihre Unterhaltung fort. Tobi schaute verunsichert Oliver und Mascha an, die selbst etwas verwirrt guckten.
»Den Weihnachtsmann gibt es doch gar nicht«, erklärte Oliver zum wiederholten Male, allerdings nicht mehr so überzeugt wie am Vormittag.
»Wir haben jedenfalls keine Geschenke«, meinte Hans, »also bleibt uns nichts, als abzuwarten.« Er biss in ein Vanillekipferl.
»Gibt es dieses Jahr keine?« Langsam wurde auch Mascha nervös.
»Glaub ich nicht«, antwortete Rena, »du warst doch die meiste Zeit brav.«
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Mascha drehte sich zu ihren Brüdern um. Alle drei wirkten wie erstarrt.
»Jemand muss öffnen«, stellte Oma Lisbeth fest.
Die drei sprangen von ihren Stühlen und rannten zur Haustür. Durch das bodenlange schmale Fenster links neben der Tür blickte jemand, der tatsächlich wie ein Weihnachtsmann aussah. Die Geschwister bremsten abrupt, drehten sich gleichzeitig auf der Stelle um und rannten zurück ins Wohnzimmer.
»Da ist echt ein Weihnachtsmann«, brüllte Oliver aufgeregt.
»Ja, wollt ihr ihm denn gar nicht aufmachen?«, fragte Rena.
Erstaunlicherweise rührten sich Mascha, Oliver und Tobi nicht vom Fleck.
»Jetzt kommt«, meinte Hans, »wir müssen den Weihnachtsmann doch reinlassen.«
Er lief voran, vorsichtig gefolgt von seinen Kindern, die angstvoll schauten, als ihr Vater die Tür öffnete.
»Guten Abend, lieber Weihnachtsmann«, begrüßte Hans ihn, »komm doch bitte rein. Du wirst schon erwartet.« Hans drehte den Kopf zu seinen Kindern und grinste breit. »Soll ich beim Tragen helfen? Es sind ganz schön viele Geschenke.«
»Ho, ho, ho«, erwiderte der Weihnachtsmann, »sehr gerne.«
Kreischend rannten die drei Kinder zurück ins Wohnzimmer.
»Der Weihnachtsmann kommt wirklich!«, rief Mascha.
Schwer beladen trat dieser hinter Hans ein. In seiner Rechten hielt er seine Rute. Die Geschenke wurden abgelegt, und der Weihnachtsmann schaute interessiert in die Runde.
»Guten Abend«, sagte er. »Hier sieht es ja gemütlich aus. Ich hoffe, ich störe nicht.« Nun drehte sich der Weihnachtsmann zu den drei Kindern um. »Für euch habe ich natürlich Geschenke dabei. Aber bevor ihr sie bekommt, muss ich noch mit euch sprechen. Ich habe hier ein paar Notizen«, und damit zog er ein dickes gebundenes Buch aus seinem Sack, »da steht drin, wie ihr euch in diesem Jahr so betragen habt. So, mit wem fangen wir denn an?«
Durchdringend blickte er die Geschwister an, von denen sich keiner vordrängelte.
»Du bist Mascha, die Älteste? Gut, dann geht es mit dir los.« Der Weihnachtsmann blätterte in seinem Buch. »Ah ja. Hier steht, Mascha war in diesem Jahr sehr fleißig und gut in der Schule. Ihr Zimmer ist fast immer ordentlich und aufgeräumt. Wenn es Streit gibt, versucht sie zu schlichten. Ja, Mascha«, jetzt blickte der Weihnachtsmann freundlich, »dann kannst du mir doch bestimmt ein Gedicht aufsagen?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Mascha sichtlich aufgeregt. Schnell, aber fehlerlos trug sie Die Heiligen Drei Könige vor.
»Sehr schön«, lobte der Weihnachtsmann. »Ich lese hier, dass du sehr gerne reitest, stimmt das?«
Mascha nickte.
»Dann habe ich hier ein paar schöne Geschenke für dich. Frohe Weihnachten, liebe Mascha.«
Mascha strahlte, als sie die eingepackten Schachteln in Empfang nahm. Sie legte sie zur Seite und lief erleichtert zu ihrer Mutter. Mit dem Auspacken wartete sie lieber noch, bis der Weihnachtsmann wieder weg war.
»So, jetzt kommen wir zu Oliver. Das bist sicher du. Komm doch mal zu mir«, forderte der Weihnachtsmann den Jungen auf.
Oliver trat schüchtern vor. Er war noch nervöser als Mascha und brachte kein Wort heraus.
»Oliver.« Der Weihnachtsmann schaute streng, und der Junge trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Hier steht: Oliver ist ein sehr aufgeweckter Junge, der sich für viel interessiert. Aber leider ist er sehr unordentlich. Sein Zimmer sieht immer schrecklich aus, und auch wenn seine Eltern ihn bitten, doch bitte aufzuräumen, passiert – nichts.« Jetzt schaute er noch strenger, während Oliver verlegen lachte.
Der Weihnachtsmann klappte das Buch zu. »Also, Oliver, dann kannst du mir bestimmt ein schönes Gedicht aufsagen.«
Oliver schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe gar keins gelernt.«
»Na, na, na. Ob du da Weihnachtsgeschenke verdient hast oder doch eher die Rute?« Jetzt griff der Weihnachtsmann nach ihr und schwenkte sie bedrohlich. Mascha und Tobi kreischten, während Oliver sich zusammenriss und loslegte:
»Lieber guter Weihnachtsmann, guck mich nicht so böse an, stecke deine Rute ein, ich will auch immer artig sein!«
Der Weihnachtsmann hielt in der Bewegung inne. »Das war knapp. Ein kurzes Gedicht, aber immerhin. In meinem Buch steht übrigens auch, dass du ein großer Autofreund bist. Vielleicht habe ich da etwas für dich.« Und damit übergab er Oliver ein großes Geschenk. Es war das zweitgrößte, das der Weihnachtsmann mitgebracht hatte, Oliver konnte es fast nicht tragen. Erleichtert setzte er sich damit neben Mascha auf den Fußboden.
»So, und jetzt kommen wir zu Tobias. Wo steckt er denn?« Der Weihnachtsmann blickte fragend umher. »Tobi?«
Der Junge hatte sich hinter dem Rücken seines Vaters versteckt, der ihn mit sanftem Druck nach vorn schob. Aufgeregt stand Tobi da und fürchtete nichts mehr als die Rute.
»Tobi. Dann wollen wir mal sehen, was du im letzten Jahr so angestellt hast. Oder warst du etwa immer brav?« Der Weihnachtsmann blätterte wichtig in seinem Buch und hielt inne. »So, so. Tobias kann überhaupt nicht stillsitzen und springt selbst beim Essen herum. Ja, warum machst du das?«
Tobi zog die Schultern hoch, grinste verängstigt und sagte gar nichts.
»In der Schule ist Tobi fleißig«, fuhr der Weihnachtsmann fort, »aber er könnte etwas ordentlicher sein. Fast immer lässt er seine Brille irgendwo liegen.« Er blickte von seinem Buch hoch. »Wenn ich das hier so lese, dann muss ich doch sagen, dass ein Gedicht das Mindeste ist, wenn du nicht die Rute spüren willst.«
Tobi sah aus, als würde er jeden Moment losheulen. »Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an, stecke deine Rute ein, will auch immer artig sein!«, leierte er, so schnell er konnte, herunter.
»Das hat ja schon dein Bruder aufgesagt. Kannst du noch ein anderes?«
Tobi schüttelte stumm und verzweifelt den Kopf.
»Na schön«, meinte der Weihnachtsmann. »Dann will ich es mal gut sein lassen. Schau, das größte Geschenk ist für dich.«
Tobi strahlte, als er es in Empfang nahm und gleich abtastete. Die Vorfreude in seinem Gesicht war ihm jetzt deutlich anzusehen.
»Also, liebe Familie Fink. Jetzt muss ich weiterziehen. Ich habe ja noch viele Geschenke mehr, auf die Kinder warten. Ich wünsche euch noch ein schönes Weihnachtsfest.«
»Danke, lieber Weihnachtsmann«, riefen alle drei Kinder im Chor.
»Ich bring den Weihnachtsmann noch zur Tür«, erklärte Hans.
An der Haustür gab er ihm die Hand und lachte. »Das haben Sie wunderbar gemacht, Herr Andersen, vielen Dank. Hier ist Ihre Gage.«
»Danke auch«, erwiderte der Ehemann der Putzfrau und steckte den Geldschein in seine Hosentasche. »Die Kinder waren schwer beeindruckt. Hat Spaß gemacht.«
»Haben Sie noch viele Stationen?«, wollte Hans wissen.
»Zwei Familien noch, dann geht es nach Hause. Rechtzeitig zum Abendessen.«
»Dann noch ein schönes Fest. Und grüßen Sie Ihre Frau ganz herzlich von uns.«
Hans schloss die Tür und kehrte zurück ins Wohnzimmer, wo sich die Kinder über ihre Geschenke hermachten.
»Eine Carrerabahn«, jubelte Oliver. »Können wir die gleich aufbauen?«
Mascha zog ihre neue Reithose und die Reitstiefel an. Tobi, jetzt wieder mit Oberwasser, schaute triumphierend, als er den Schlitten auspackte.
»Das hab ich gleich gewusst«, rief er. »Jetzt muss es nur noch schneien!«
Am späten Nachmittag ging Achim mit seinen Söhnen, dem sechsjährigen Arne und dem siebenjährigen Carsten, in den Stall, um die Kühle zu melken und das Jungvieh und die Schweine zu füttern. Trotz ihres Alters halfen die beiden Jungen schon viel und gerne mit. Als alle Arbeit erledigt war, füllte Achim einen Eimer voll Wasser und einen Korb voll Heu.
»Hier«, er reichte beides seinen Söhnen, »für Knecht Ruprecht und seinen Esel. Damit sie für ihre Mühen auch belohnt werden.«
Gemeinsam liefen sie zum Wohnhaus. Vor der Tür stellte Arne den Korb mit dem Heu und Carsten den Wassereimer ab. Im Haus angekommen, roch es schon nach Gänsebraten und Rotkohl. Alle duschten schnell und zogen sich zur Feier des Tages ein weißes Hemd an.
Nach dem Essen gab es Bescherung, und Carsten und Arne spielten schon längst unter dem zimmerhohen Weihnachtsbaum mit ihrem neuen Spielzeug, während die Erwachsenen noch ihre Geschenke auspackten.
Otto Truelsen hatte sich von seinem Unfall mit der Mistgabel insoweit erholt, als dass er schon wieder seine schlechte Laune an seiner Familie ausließ. Sitzen konnte er nur auf der rechten Pobacke, und das lediglich für kurze Zeit, höchstens für die Dauer einer Mahlzeit, dann wurde es ihm zu ungemütlich, und er musste sich wieder auf die Seite legen. Das Herumliegen ohne Sinn und Tätigkeit war rein gar nichts für den Bauern. Und so wünschten sich längst alle, dass Otto schon bald wieder herumlaufen und arbeiten konnte, damit er ihnen nicht weiter auf die Nerven ging.
Jetzt lag er längs auf dem Sofa, den rechten Arm aufgestützt, und schaute zu, wie Gerdi ein Geschenk von Achim und Michaela auspackte.
»Was ist das?« Neugierig zog Gerdi eine Art Topf mit Stiel aus der Schachtel.
»Das ist ein Fondue«, erklärte Michaela, »damit kann man am Tisch Fleisch oder Käse kochen.«
»Was soll das denn sein?«, schoss Otto dazwischen. »Auf dem Esstisch kochen.«
Gerdi betrachtete unterdessen die Einzelteile ihres Geschenks und hob eine Spießgabel in die Höhe. »Sieht interessant aus«, meinte sie.
»Pass auf, ich zeig’s dir.« Michaela rückte an ihre Schwiegermutter heran. »Hier«, sie stellte das Rechaud auf den Tisch, »man hat ein Stövchen, da füllt man Spiritus ein, dann brennt das, und man stellt den Topf drauf. Darin kann man Brühe oder Fett erhitzen, und jeder hält mit den Spießen kleine Fleischstücke hinein. Sehr lecker. Und es macht Spaß, weil alle zusammen das Essen zubereiten. Oder man macht es mit geschmolzenem Käse und tunkt Brot hinein.«
»Wie bei Heidi?«, fragte Carsten, der dazugekommen war und interessiert schaute.
»Genau, wie bei Heidi«, antwortete Michaela. »Dazu gibt es Gemüse oder saure Sachen und leckere Soßen.«
»Das ist richtig gut«, ergänzte Achim, »wir haben das vor Kurzem bei Müllers gegessen, das war toll.«
»Ich will doch kein rohes Fleisch auf dem Tisch und es selber kochen«, lehnte Otto ab.
»Wat de Buur nich’ kennt, dat freet er nich’«, entgegnete Michaela genervt. »Du könntest es zumindest mal probieren, statt gleich gegen alles zu sein.«
»Ich finde das eine schöne Idee, und ich möchte es gerne ausprobieren«, erklärte Gerdi schnell, und es klang ehrlich. »Vielen Dank für das schöne Geschenk.«
»Wir können es gemeinsam an Silvester machen. Das macht gute Laune, ihr werdet sehen«, schlug Achim vor.
»Sehr gerne.« Gerdi sah ihren Mann an. »Das wird dir schon schmecken.«
»Und wenn nicht, kann man sich auch an trocken Brot satt essen«, fügte Michaela hinzu.
Achim legte seine Hand beruhigend auf ihren Arm. »Nu’ lass man gut sein. Ist schließlich Weihnachten.«