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Leah Cavendish liebt ihre große Schwester, die seit einem verheerenden Verkehrsunfall im Koma liegt, von ganzem Herzen. Ihre Liebe reicht so tief, dass Leah keinen anderen Ausweg mehr sieht, als ihren Job als Barchefin des Sons of Devil MC an den Nagel zu hängen und ihren Körper zu verkaufen, um das nötige Geld für die Behandlung ihrer Schwester zu verdienen und ihr somit das Leben zu retten. Als sie ihre Dienste in Chicagos Elite-Herrenclub anbieten möchte, trifft sie ausgerechnet auf Landon Ward, Roadcaptain der Sons of Devil, der ihr ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ausschlagen kann. Beziehungen? Hochzeiten? Liebe? Keine Chance! Für Landon sind das Fremdwörter, denn der muskelbepackte Vollblut-Biker liebt nichts mehr als seine Freiheit. Doch als ihn persönliche Umstände dazu zwingen, seine Lebenseinstellung noch einmal zu überdenken, geht er ein Arrangement ein, das nicht nur sein Leben völlig durcheinanderwirbelt. Taucht ein in die gefährliche Welt des Sons of Devil Motorcycle Clubs und begleitet Landon auf seinem turbulenten Weg. Liebe, Spice und Action - dieses Buch hat alles, was das Herz eines jeden Fans von spannenden Motorradgeschichten höherschlagen lässt.
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Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Arizona Moore
Sons of Devil MC Teil 2: Landon
© 2025 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg
(www.art-for-your-book.de)
ISBN Print: 978-3-86495-722-2
ISBN eBook: 978-3-86495-723-9
Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Dieser Roman darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.
Triggerwarnung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Autorin
Liebe Leserinnen und Leser,
bevor ihr in die Geschichte von Leah und Landon eintaucht, möchte ich euch darauf hinweisen, dass in diesem Roman Themen behandelt werden, die emotional aufwühlend sein können. Diese sind: Der Verlust eines Kindes, Gewalt, Folter, Krankheiten und der Tod.
Ich möchte euch dazu ermutigen, auf eure Gefühle zu hören, denn eure mentale Gesundheit hat oberste Priorität.
Leah
Fette Regentropfen, die gefühlt so groß sind wie Golfbälle, prasseln auf die Windschutzscheibe des Wagens ein. Meine Schwester, Lilly, die die nigelnagelneue Chevrolet Corvette Stingray lenkt, die uns mein Bruder ausgeliehen hat, folgt konzentriert dem Verlauf der kurvigen Straße. Lilly ist zwar schon fünfundzwanzig Jahre alt, hat aber erst vor Kurzem den Führerschein gemacht.
Wieso erst vor Kurzem, könnte man sich fragen. Träumt nicht jede Sechzehnjährige davon, den Lappen in der Tasche zu haben und die unendlichen Weiten Amerikas mit dem Auto zu erkunden? Sicher, wenn man nicht die Tochter einer erfolgreichen Unternehmerin ist, in deren Fußstapfen man zu treten gedenkt.
Anstatt ihre Jugend zu genießen, Partys zu feiern, Jungs zu treffen und über die Stränge zu schlagen, wurde Lilly zu Moms Schatten, der deren komplettes Wissen in sich aufgesogen hat. Für Freizeit, Spaß und wilde Knutschereien blieben neben der Schule – und später der Uni – sowie der Arbeit keine Zeit.
Da es mir heute nicht so gut ging – ich hatte mit Kreislaufproblemen zu kämpfen – und mein Freund dienstlich nach Asien gereist ist, um neue Kunden zu akquirieren, bot Lilly mir an, mich zu meinem Frauenarzttermin zu fahren. Ich bin nämlich in der dreißigsten Woche schwanger und freue mich schon wahnsinnig darauf, meinen Sohn oder meine Tochter kennenzulernen.
Mein Freund und ich haben uns dazu entschieden, dass wir uns, was das Geschlecht unseres Kindes anbelangt, überraschen lassen. Aus diesem Grund habe ich bisher nur geschlechtsneutrale Strampler und Söckchen geshoppt. Ich weiß, dass er insgeheim auf einen Stammhalter hofft, wohingegen mir das Geschlecht wirklich absolut egal ist. Wie sagt meine bessere Hälfte immer so schön? Hauptsache, er ist gesund.
Lilly stellt die Scheibenwischer auf die höchstmögliche Wischstufe ein, da wir aufgrund des nicht nachlassenwollenden Starkregens nicht einmal mehr die verdammte Fahrbahnmarkierung sehen können, und nimmt den Fuß vom Gaspedal. Doch auch das Verringern des Tempos ändert nichts an der beschissenen Sicht. Wegen der enormen Wassermengen auf den Straßen – die Gullys kommen mit dem Schlucken nicht mehr hinterher – ist der Teer verflucht rutschig.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen, sodass die Scheinwerfer der Corvette unsere einzige Lichtquelle sind, denn Straßenlaternen gibt es weit und breit nicht. Selbst für mich als Beifahrerin ist es anstrengend, den Verlauf der Straße mitzuverfolgen. Doch Lilly macht das klasse. Sie fährt sehr vorausschauend. Richtig so, denn sie hat wertvolle Fracht an Bord.
Vorsichtig tippt sie aufs Gaspedal des Sportwagens, wenn die Straßenverhältnisse dies zulassen, oder wird langsamer, wenn wir uns einer Kurve nähern. Sie hat sogar das Radio ausgestellt, weil sie meinte, sich so besser konzentrieren zu können.
„Verdammt, Lilly, pass doch auf“, kreische ich, als sie sich in einer Kurve verschätzt, viel zu spät abbremst und das Lenkrad verreißt.
„Scheiße, die Bremsen funktionieren nicht. Ich kann nicht lenken. Ich habe keine Kontrolle über den Wagen“, schreit meine große Schwester und versucht mit aller Gewalt, Herrin der Lage zu werden.
Ihre Versuche scheitern. Das Auto verliert an Bodenhaftung. Ich beobachte, wie meine Schwester probiert gegenzulenken, doch das Lenkrad bewegt sich keinen Millimeter. Plötzlich beginnt sich alles zu drehen. Ich fühle mich wie eine Socke, die während des Schleudergangs in der Waschmaschinentrommel umhergewirbelt wird, und verliere die Orientierung.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schleuderns sehe ich, dass wir einem großen, massiven Baum gefährlich nahekommen. Instinktiv kneife ich die Augen zusammen, spanne jeden Muskel in meinem Körper an und bete, dass der Wagen rechtzeitig zum Stehen kommt und wir nicht mit der Eiche kollidieren. Kaum habe ich das Gebet gedanklich zu Ende gesprochen, höre und vor allem spüre ich, wie die Corvette meines Bruders mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen den Baum kracht.
Dann herrscht Stille.
Totenstille.
Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, was soeben passiert ist.
Mir dröhnt der Kopf, als würde jemand mit einem Presslufthammer auf meine Schädeldecke einwirken. Zudem fühle ich, wie kalte Schweißperlen meine Stirn benetzen. Meine Atmung geht flach und ungleichmäßig, dafür rast mein Herz wie verrückt. Das Positive ist, dass ich keinerlei Schmerzen verspüre, was ich als gutes Zeichen werte.
Das nächste, das ich bewusst wahrnehme, ist eine warme Flüssigkeit, die mir über die linke Wange rinnt. Ich fasse mir ins Gesicht.
Blut.
Es ist Blut.
Mein Blut.
Mit wildklopfendem Herzen versuche ich, den Ursprungsherd auszumachen, bin allerdings nicht in der Lage, mich zu rühren. Mein Körper verweigert mir jedweden Befehl, was bestimmt daran liegt, dass ich unter Schock stehe.
Ächzend versuche ich, das Ausmaß unseres Unfalls einzuschätzen.
Die Frontscheibe ist in tausend kleine Kristalle zersplittert, die Fahrertür ist nach innen eingebeult und eine pechschwarze, dicke Rauchwolke steigt aus dem Motorraum empor.
Scheiße, mein Bruder wird uns zu Hackfleisch verarbeiten, weil wir seinen brandneuen, einhunderttausend Dollar teuren Sportwagen geschrottet haben, kommt mir ironischerweise in den Sinn.
Doch dann wird mir klar, wie unwichtig seine blöde Karre ist. Meine Familie hat Kohle wie Heu und könnte ihm ohne Weiteres zwanzig neue Flitzer vor die Haustür stellen. Viel wichtiger ist, dass wir so schnell wie möglich aus dem Auto herauskommen, bevor die Corvette in die Luft fliegt.
Plötzlich vernehme ich einen wimmernden Laut. Von Panik erschüttert, durchfährt ein beißender Schmerz all meine Glieder. Unter größter Kraftaufwendung drehe ich den Kopf zur Seite und blicke in die weitaufgerissenen Augen meiner Schwester. Mit aller Macht probiere ich, mich von meinem Sicherheitsgurt zu befreien, doch er sitzt bombenfest in der Verankerung. Wie eine Wahnsinnige zerre ich an der Sicherheitsvorrichtung, aber die will sich partout nicht öffnen lassen.
„Lilly? Liebes? Ist alles in Ordnung bei dir? Bitte, bitte, sprich mit mir“, krächze ich.
Meine Schwester reagiert nicht auf meine Worte.
Während die Minuten der Hilflosigkeit verstreichen, vielleicht sind es auch bloß Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, spüre ich immer deutlicher meinen eigenen Puls, der schneller und schneller rast.
„Lilly, komm schon. Sag doch was“, flehe ich, bekomme aber erneut keine Antwort von ihr.
Verdammt.
Verdammt.
Scheiße.
Ich starte einen weiteren Befreiungsversuch und versuche wirklich alles, um mich irgendwie aus dem Sitz zu schälen, mich aus dem Gurt zu winden. Doch meine Anstrengungen sind vergebens. Zum einen, weil der Sicherheitsgurt wie festzementiert in der Verankerung sitzt, und zum anderen, weil mir mein runder Bauch im Weg ist.
Scheiße … mein Baby.
Die Machtlosigkeit und die Angst, die mich in diesem Moment bis ins Mark erschüttern, bringen mich fast um. Es ist nicht auszuhalten, nicht zu wissen, ob es meinem ungeborenen Kind gut geht, und dass meine Schwester ohne Bewusstsein zu sein scheint.
„Fuck“, brülle ich aus voller Kehle und lehne mich weinend in meinem Sitz zurück.
Ich schlage mir eine Hand vors Gesicht und muss sogleich feststellen, dass diese ebenfalls blutig ist. Das ist mir jedoch vollkommen egal. Meine Verletzungen sind zweitrangig. An erster Stelle stehen mein Baby und Lilly.
Als ich höre, dass die Atemgeräusche meiner Schwester immer schwerfälliger und röchelnder werden, tue ich das Einzige, was ich in diesem Moment für sie tun kann: Ihr beistehen, sie spüren lassen, dass sie nicht allein ist. Also hebe ich eine Hand und lege sie auf Lillys Wange.
In der Ferne vernehme ich die leisen Laute von Sirenen oder auch nicht. Vielleicht spielt mir mein Verstand nur einen Streich, weil ich mich so sehr nach Rettung sehne. Aktuell kommt mir alles so irrational vor.
„Halte durch, Schwesterherz. Du musst nur noch ein paar Augenblicke lang stark sein. Hörst du? Hilfe ist unterwegs“, wispere ich und hoffe, dass meine Worte bis in ihr Bewusstsein vordringen.
Ich suche ihre Hand und drücke sie, um ihr zu vermitteln, dass alles wieder in Ordnung kommen wird. Als ich ihre zarten Finger zu fassen bekomme, stelle ich erschrocken fest, dass sie eiskalt sind.
Zeitgleich setzen heftige Krämpfe in meinem Unterleib ein, die kaum auszuhalten sind. Sie fühlen sich an, als würde mir jemand eine glühende Schwertspitze in meine Gebärmutter rammen. Meine Welt steht aufgrund der starken Schmerzen für einen Moment völlig still.
Der Druck in meinem Bauch ist nicht mit Worten zu beschreiben. Es ist, als ob eine unsichtbare Hand, die unbarmherzig und unerbittlich ist, meinen Unterleib zusammenpresst. Jeder Atemzug bringt eine neue Welle des Schmerzes mit sich, die vom Rücken bis in die Beine zieht. Ich fühle, wie sich mein Körper verkrampft, wie meine Muskeln sich gegen den inneren Sturm stemmen.
Die Schmerzen scheinen nicht nur physisch zu sein, denn sie durchdringen mein ganzes Sein. Tränen rinnen mir unkontrolliert über die Wangen, Gefühle von Leere und Verzweiflung machen sich in mir breit.
Die Freude auf mein Baby verwandelt sich abrupt in einen brennenden Knoten, der sich in meinem Bauch zusammenzieht. Mit jedem wehenähnlichen Krampf realisiere ich, dass mein Traum auseinanderbricht. Mit einem Mal bekomme ich nicht mehr ausreichend Sauerstoff zum Atmen, und die nicht auszuhaltenden Kontraktionen in meinem Unterleib lassen mich aufschreien. Tränen vermengen sich mit kaltem Schweiß, der mir aus jeder Pore bricht.
Die nicht zu fassende Erkenntnis, dass ich als Folge des Unfalls vermutlich mein Baby verlieren werde, ist nicht zu ertragen.
Mir wird kotzübel.
Die Panik gewinnt die Überhand und sorgt dafür, dass mein Herz galoppiert. Dies ist der Moment, in dem ich selbst aufgebe, da es keinen Grund mehr für mich gibt, zu kämpfen. Bereitwillig lasse ich zu, dass meine Augenlider immer schwerer und schwerer werden. Ich hoffe inständig, dass ich diesen Unfall nicht überleben werde.
Leah
Wie jeden Tag statte ich auch heute vor meinem Arbeitsbeginn bei den Sons of Devil, einem Motorradclub, bei dem ich die Bar schmeiße, der privaten Pflegeeinrichtung, in der meine Schwester untergebracht ist, einen Besuch ab. Seit unserem Unfall vor ein paar Jahren liegt Lilly im Koma und ist ein Pflegefall.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich zu den Sons of Devil gekommen bin. Es war einer dieser Abende, an denen mich das Leben zermalmen wollte. Mit einem abgebrochenen Jura-Studium hatte ich kaum Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Also bin ich von Bar zu Bar gestreift, von einem Club zum nächsten, um irgendeinen Job zu ergattern. In der letzten Kneipe wurde ich, wie bei allen anderen zuvor, auch abgewiesen. Der Besitzer war ein schmieriger Kerl, dessen Augen mehr auf meinem Körper als auf mein Anliegen konzentriert waren.
Ich bin ich Tränen ausgebrochen. Nicht weil er mir keine Arbeit geben wollte, sondern weil ich so verzweifelt war. Ich brauchte Arbeit, und niemand schien bereit zu sein, einer Studienabbrecherin einen Job zu geben. Die Tränen kamen wie eine Flut, und ich konnte nichts dagegen tun. Sie liefen mir über die Wangen, und ich stand da, mitten in dieser dreckigen Bar, zwischen stinkenden Biergläsern, Barhockern und lattenstrammen Kerlen.
Plötzlich hörte ich einen Mann sagen, dass, wenn ich die Zutaten eines Old Fashioned kennen würde und mit rauen Kerlen umgehen könnte, er vielleicht einen Job für mich hätte. Ich habe meinen Kopf gehoben und ihn angesehen. Das war Cole gewesen. Er saß am Tresen, ein breitschultriger Kerl. Natürlich wusste ich nicht, wie man einen Old Fashioned mixt. Ehrlich gesagt, hatte ich weder Ahnung von Cocktails noch davon, wie man sich in einer Bar verhält, die von Kerlen wie ihm frequentiert werden. Trotzdem habe ich genickt und gelogen.
Cole hat mich eine Weile gemustert und schließlich gemeint, ich solle am nächsten Tag im Clubhaus vorbeikommen. Das wars. Kein großes Interview, keine Fragen nach meinem Lebenslauf oder meinen Fähigkeiten. Einfach bloß ein kurzer Blick.
Am nächsten Abend stand ich vor dem Clubhaus der Devils. Mir war sofort klar, dass das nicht irgendeine Bar, sondern die Zentrale eines Motorradclubs war – eines berüchtigten, um genau zu sein. Die Sons of Devil sind in der Gegend bekannt und gefährlich. Aber ich war nicht mehr die Leah von früher, die dachte, sie könnte die Welt erobern. Ich war eine Frau, die sich an irgendetwas festklammern musste, um nicht endgültig unterzugehen.
Nachdem ich das Clubhaus betreten hatte, schlug mir der Geruch von Leder, Bier und Zigarettenqualm entgegen. Der Raum war düster, die Musik laut, und die Männer, die an den Tischen saßen, wirkten wie Raubtiere. Jeder von ihnen trug eine Kutte mit dem Clubemblem. Bevor ich einen Rückzieher machen konnte, kam Cole auf mich zu. Er begrüßte mich nicht, lächelte mir nicht zu. Stattdessen trug er mir auf, anzufangen.
Ich hatte keine Zeit, nervös zu sein. Die ersten Stunden waren das reinste Chaos. Bestellungen prasselten auf mich ein, und ich hatte keine Ahnung, was ich tat. Cole hat mich die ganze Zeit über beobachtet und mir knappe Anweisungen gegeben, die ich befolgt habe. Und dann, irgendwann in der Nacht, orderte jemand ein Old Fashioned.
Ich habe improvisiert. Whiskey, Zucker, ein Spritzer Bitteres, eine Orangenscheibe und ein paar Eiswürfel. Obwohl der Drink nicht perfekt ausgesehen hat, stellte ich ihn vor ihm ab. Der Kerl hob die Augenbrauen, nahm einen Schluck, und für einen schrecklichen Moment dachte ich, er würde mir das Glas ins Gesicht werfen. Aber das ist nicht passiert. Stattdessen hat er ihn ausgetrunken, mir zugenickt und ist gegangen. Und so wurde ich Teil der Devils-Welt.
Ich atme tief durch und schüttle die Erinnerungen ab. Nachdem ich das Zimmer meiner Schwester betreten habe, begrüßt mich die Schwester, die sich um Lilly kümmert, mit einem freundlichen Lächeln.
„Happy Birthday, Leah. Ich wünsche dir nachträglich von Herzen alles Gute zu deinem Geburtstag“, sagt sie.
„Dankeschön, Penny“, entgegne ich und gebe mein Bestes, zurückzugrinsen, was mir in diesen Räumlichkeiten ganz besonders schwerfällt.
Geburtstag.
Mein sechsundzwanzigster.
Yeah.
Eigentlich hätte ich den gestrigen Tag mit meiner Familie verbringen sollen, anstatt alleine vor dem Fernseher zu hocken und tonnenweise Schokolade in mich hineinzustopfen. Aber meine Familie existiert nicht mehr. Na ja, es gibt sie schon noch, denn sie ist nicht tot oder so, aber unser Verhältnis ist … schwierig.
Die Bindung zerbrach an jenem schicksalhaften Abend, an dem Lilly und ich verunfallten, ich mein Baby und meine Schwester das Bewusstsein verlor. Zwischen Dad, meinem Bruder und mir bildete sich eine Kluft, tiefer als jede Schlucht, gefüllt mit unausgesprochenen Worten und Vorwürfen sowie dem unheilbaren Schmerz des Verlusts.
Verlust … o ja, damit kenne ich mich bestens aus.
Ein paar Wochen vor unserem Unfall hatten wir bereits Mom verloren, die an Gebärmutterhalskrebs erkrankt war und die Familie wie Klebstoff zusammengehalten hatte. Zehn Wochen nach ihrem Begräbnis knallten Lilly und ich gegen einen Baum, woraufhin von meiner Schwester nichts weiter als ihre leblose Hülle übrig geblieben ist. Und als wären das nicht schon ausreichend Verluste, musste ich zudem noch mein totes Kind gebären und wurde von meinem Freund verlassen.
Wie gesagt, was das Thema Verluste anbelangt, macht mir niemand etwas vor. Ich bin sozusagen die Königin der Verluste.
Als mein Dad nur wenige Wochen nach Moms Tod wieder heiratete, war das der endgültige Genickbruch für unsere Beziehung. Mom lag noch keine drei Monate unter der Erde, als er seinem Dummchen – Melissa – einen Antrag machte. Mein Unverständnis darüber, wie er, scheinbar ohne richtig getrauert zu haben, mit seinem Leben weitermachen konnte, nagte an mir, allem voran an unserem Verhältnis.
Mein Vater kann mir nicht erzählen, dass er binnen weniger Wochen seine Trauer überwunden, eine neue Frau kennengelernt und sich Hals über Kopf verliebt hat. Ich glaube, dass er Mom schon länger mit Melissa betrogen hat. Dad war oft geschäftlich unterwegs und hat sich nur noch selten daheim blicken lassen. Er hat sozusagen mit Abwesenheit geglänzt. Mom hat dies nie kommentiert, aber ich habe ihr angemerkt, wie sehr sie unter Dads Fernbleiben gelitten hat.
Wie dem auch sei, die neue Frau an Dads Seite ist alles andere als das, was man sich als Stiefmutter wünscht. Melissa hat sich nie für uns interessiert, ist bloß auf unsere Kohle scharf, liebt teure Autos, Luxusurlaube und Shoppen. Und das macht die Situation noch schwerer zu ertragen.
Mit der Hochzeit schien Dads Interesse an meiner Schwester wie ausgelöscht zu sein. Die Tatsache, dass Lilly im Koma liegt und ihre Zukunft ungewiss ist, wurde für ihn zur Nebensache. Stattdessen rückte Melissa, ein kühler, berechnender Drache, in den Fokus, der all seine Sorgen scheinbar in den Hintergrund drängte. Auf mich machte es den Eindruck, als hätte Dad die Realität gemutet und nur noch ihre Interessen im Sinn.
Während er vor der Hochzeit jede freie Minute in der Pflegeeinrichtung verbrachte und Geld in Lillys Rehamaßnahmen investierte, distanzierte er sich nach der Trauung völlig von seiner Tochter. Er kam nie wieder her, strich die finanziellen Mittel und konzentrierte sich einzig und allein auf Melissa. Ich erkannte und erkenne meinen Vater kaum wieder. Mittlerweile ist er mir fremd.
Lillys Arzt glaubt nicht mehr daran, dass meine Schwester je wieder zu sich kommen wird. Seit dem Tag, an dem sie ins Koma gefallen ist, reagiert sie weder auf Impulse noch auf Reize. Ihre Augen sind seither fest geschlossen.
Neulich meinte ihr Arzt zu mir, dass sich das Gehirn, wenn der Zustand der Bewusstlosigkeit zu lange andauert, nie wieder vollständig erholen würde, da zu viele Hirnzellen geschädigt worden wären.
Rational betrachtet verstehe ich, was er mir damit sagen wollte: Sie wird nie wieder zu mir zurückkehren. Emotional gesprochen will und werde ich das nicht akzeptieren. Solange die Chance besteht, dass sie wieder aufwacht, auch wenn sie noch so klein ist, werde ich meine Schwester nicht aufgeben.
Niemals.
Vor Kurzem ist mir zufällig eine Studie in die Hände gefallen, die an sechshundert Komapatienten durchgeführt wurde. An diese klammere ich mich wie eine Ertrinkende, denn demnach betrug die Wahrscheinlichkeit des Aufwachens nach mehreren Jahren im Koma immerhin noch zwölf Prozent.
ZWÖLF PROZENT.
Zweiundsiebzig von sechshundert.
Also nicht aussichtslos.
Ich glaube, wenn die Einrichtung Lillys Bett einem Patienten geben könnte, bei dem die Chancen vielversprechender wären, würden sie dies tun. Zu dumm, dass sie sie nicht in eine staatliche Pflegeeinrichtung verlegen lassen dürfen, weil ich noch dazu in der Lage bin, die Rechnungen für ihre Unterbringung zu bezahlen.
In ein staatliches Pflegeheim will ich meine Schwester nicht verlegen lassen. Nicht weil ich glaube, dass man sie dort schlecht versorgen würde, sondern weil ich der Meinung bin, dass sie hier bessere Möglichkeiten zur Genesung hat. Ihr Arzt ist großartig, und die Schwestern nehmen sich viel Zeit für die Patienten. Ich finde, dass das Personal in privat geführten Einrichtungen nicht unter so großem Druck steht wie in staatlichen, da die Angestellten weniger Patienten haben, um die sie sich kümmern müssen. In vielen staatlichen Einrichtungen hat niemand Zeit, etwas außer der Reihe zu tun. Die Pflege ist streng durchgetaktet. Das soll kein Vorwurf sein, sondern spiegelt bloß meine Erfahrungen wider.
Hier kommt beispielsweise zweimal am Tag ein Physiotherapeut bei Lilly vorbei, der mit ihr arbeitet. Er hält ihre Muskeln, Bänder und Sehnen agil. Zudem hat sie ein Einzelzimmer, das sie sich mit niemandem teilen muss. Auch wenn meine Schwester nichts davon hat, ist ihr Raum modern eingerichtet und wunderschön dekoriert. Penny, ihre Pflegekraft, stellt ihr regelmäßig frische Schnittblumen ans Bett.
Seit vielen Jahren liegt Lilly nun schon hier. Meine geliebte Schwester, meine beste Freundin. Und ich bin die Einzige, die noch die Hoffnung hat, dass sie eines Tages ihre grünen Augen wieder aufschlagen und mir zulächeln wird.
Leider befinde ich mich in einem Wettlauf gegen die Zeit. Wie lange werde ich ihr all die Annehmlichkeiten noch ermöglichen können, bis mir das Geld dazu ausgeht?
Als ihr Arzt das Zimmer betritt und sich räuspert, werde ich aus den Gedanken gerissen. „Guten Abend, Miss Cavendish. Wie geht es Ihnen?“
„Ich kann nicht klagen, Doktor Richards. Die Frage sollte wohl eher lauten, was die Gesundheit meiner Schwester macht. Finden Sie nicht auch, dass sie sehr blass aussieht?“
Er seufzt. „Genau aus diesem Grund bin ich hier, Miss Cavendish. Leider ist es nicht so gut um das Befinden Ihrer Schwester bestellt. Lilly hat sich eine Lungenentzündung eingefangen. Der Beatmungsschlauch, der Lilly mit Sauerstoff versorgt, hindert sie am Räuspern und Abhusten, was jedoch völlig normale Körperfunktionen sind, die dafür sorgen, dass Krankheitserreger aus der Lunge abtransportiert werden. Geschieht dies nicht, können sich die Lungenbläschen und das Lungengewebe mit Viren und Bakterien infizieren, was nun leider passiert ist.“
„Was heißt das im Detail?“
„Eine Lungenentzündung stellt für einen Komapatienten eine lebensbedrohliche Situation dar. Insbesondere wegen des hohen Fiebers. Es zieht die Organe in Mitleidenschaft, der Kreislauf könnte versagen. Im schlimmsten Fall verschlechtert sich das Krankheitsbild derart, dass lebenswichtige Organe versagen. Aus diesem Grund empfehle ich eine umfassende Antibiotikatherapie. Mit einem ganz speziellen, hochwirksamen Antibiotikum.“ Der Doc bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick. „Es wird immer schwerer, den Zustand Ihrer Schwester vor Verschlechterungen zu bewahren. Mit den andauernden Infektionen, gegen die wir zu kämpfen haben, sind hohe, zusätzliche Kosten verbunden.“
Nun bin ich diejenige, die nickt, da ich genau weiß, worauf er hinauswill. „Ich verstehe, Doktor Richards. Allerdings bin ich noch nicht dazu bereit, sie aufzugeben. Außer mir hat sie niemanden mehr, der an sie glaubt. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie eines Tages wieder aufwachen wird. Natürlich komme ich für alle anfallenden Kosten auf.“
Doktor Richards seufzt abermals.
Mir ist bewusst, dass er sie, obwohl er ihr Arzt ist, schon lange abgeschrieben hat. Allerdings steht es ihm nicht frei, seinen Willen durchzusetzen. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie in ein Hospiz verlegen, das Beatmungsgerät abstellen lassen und auf ihren Tod warten.
„Ganz, wie Sie wünschen, Miss Cavendish. Unterschreiben Sie bitte die Formulare für die Kostenübernahme der speziellen Antibiotikatherapie“, sagt er und zaubert ein Klemmbrett mit Dokumenten nebst einem Kugelschreiber unter seinem Kittel hervor. Ohne mir die Papiere durchzulesen, unterzeichne ich, da ich ohnehin nur einen Bruchteil dessen verstehe, was im Behandlungsvertrag niedergeschrieben ist. „Stellen Sie sich bitte darauf ein, dass sich die Kosten in diesem Monat auf einige Tausend Dollar belaufen werden.“
Nachdem der Arzt die unterzeichneten Dokumente wieder an sich genommen hat, verabschiedet er sich und lässt Penny und mich mit meiner Schwester allein.
Ich seufze auf.
In diesem Monat muss ich mit einer Rechnung von mindestens fünftausend Dollar rechnen. Vor ein paar Jahren hätte ich wegen dieser Summe nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Sie wäre Peanuts für mich gewesen.
Früher, sozusagen in einem anderen Leben, besaß ich teure Designerhandtaschen, edlen Schmuck und Markenklamotten in Hülle und Fülle. Ich lebte in Saus und Braus, ging regelmäßig zur Maniküre, Pediküre, ins Spa und gönnte mir Massagen. Ich flog mindestens viermal im Jahr in den Urlaub, besuchte regelmäßig Sternerestaurants und ließ mir von sehr bekannten Friseuren die Haare machen.
Das Geld war meine geringste Sorge.
Meine Familie, oder genau gesagt Mom, war sehr wohlhabend. Ich bin gewissermaßen mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen, umgeben von Überfluss, der nicht nur materiell war, sondern auch Möglichkeiten und Privilegien einschloss, die nur Reichtum bieten können. Es war meine Mom, die noch während ihres Studiums den Mut hatte, ein Start-up-Unternehmen zu gründen. Sie hatte die eine Idee, die als Funke begann und sich binnen weniger Monate als Waldbrand entpuppte. Innerhalb kürzester Zeit trugen ihre Bemühungen Früchte, die sie zur Multimillionärin machten.
Kurz nachdem meine Mutter den harten Kampf gegen den Krebs – das blöde Arschloch – verloren hatte, wurde ihr Testament eröffnet. Mom war alleinige Gründerin, Inhaberin und Geschäftsführerin eines weltweit agierenden Online-Versandhandels mit mehr als eintausend Angestellten allein hier in Chicago. Im Testament war, was nicht sonderlich überraschend gewesen ist, Lilly als ihre Nachfolgerin eingesetzt worden. Ich hatte mich für Lilly gefreut, die unermüdlich darauf hingearbeitet hatte, in Moms Fußstapfen zu treten.
Direkt nach ihrem Collegeabschluss hatte Mom Lilly zu ihrer rechten Hand herangezogen. Lilly hat rund um die Uhr in der Firma geschuftet, um alle Prozesse, Abläufe und Informationen wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Von dem Moment an habe ich sie nur noch selten zu Gesicht bekommen, da sie andauernd in Meetings, Verhandlungen, Mitarbeiter- und Handelspartnergesprächen oder auf Geschäftsreisen war. Trotz ihres stressigen Alltags hat sie sich jedoch immer Zeit freigeschaufelt, um mit mir zu telefonieren oder einen Kaffee zu trinken. Sie hat mich jederzeit spüren und wissen lassen, wie lieb sie mich hat.
Ich hatte nie Ambitionen, in der Firma Karriere zu machen, auch wenn Mom das sicherlich gern gesehen hätte. Mein Traum war es schon immer, Jura zu studieren, um vor Gericht für das Recht meiner Mandanten einzustehen. Ich hatte bereits mit dem Studium angefangen, als ich ungeplant schwanger wurde. Meine Idee war es, das Kind zur Welt zu bringen, das Studium für eine gewisse Zeit zu pausieren und wieder einzusteigen, wenn sich daheim alles eingependelt hätte.
Mein Bruder hingegen hätte liebend gern im Chefsessel des Unternehmens platzgenommen. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie unfair er es findet, dass Mom Lilly dermaßen fördert und fordert, während man ihn außen vor lässt. Zumindest, was die Geschäftsführung anbelangt. Mom hat seine Beschwerden belächelt und gemeint, dass er genug mit der Leitung des Marketingteams zu tun hätte.
Das Marketing ist das Herz eines jeden Unternehmens. Nur durch die Macht der Emotionen gewinnt und bindet man langfristig Kunden, hat Mom wieder und wieder betont.
Wie dem auch sei, Dad hat es weniger gut aufgenommen, dass Mom ihm keine Firmenanteile, sondern lediglich das Haus, Aktien und Wertpapiere sowie eine hohe Summe an Geld hinterlassen hat. Ich glaube, dass er insgeheim darauf spekuliert hat, der neue CEO von Cavendish E-Commerce Ltd. zu werden.
Mein Bruder, der faule Sack, hat ebenfalls eine fette Stange Geld geerbt, das er mit beiden Händen eifrig zum Fenster hinauswirft. Ich hatte gehofft, dass zumindest er mich finanziell bei Lillys Pflege unterstützen würde. Ich hatte geglaubt, er sei auf meiner Seite, aber Pustekuchen. Ich konnte nicht falscher liegen. Seine Freundin, korrigiere Frau, hat ihre Krallen so tief in ihm, dass sie ihn überzeugen konnte, dass alles, was ich tue, reine Zeit- und Geldverschwendung sei. Ich erkenne Phil kaum wieder. Seit er mit Izzy zusammen ist, hat auch er sich um einhundertachtzig Grad gedreht.
Scheinbar sind die Cavendish-Jungs allesamt Frauen verfallen, die Menschen beeinflussen, ohne dass diese es bemerken.
Auf Dads Unterstützung kann ich leider genauso wenig bauen, denn seiner Ehefrau ist auch nichts heiliger als das liebe Geld. Seit der Hochzeit mit Marissa hat Dad seine im Koma liegende Tochter abgehakt.
Fünftausend Dollar.
Fick die Henne.
Diesen Monat habe ich zum allersten Mal keine Idee, wie ich für Lillys Behandlungskosten aufkommen soll. Auf meinem Bankkonto herrscht mittlerweile gähnende Leere. Alles, was ich zu Geld machen konnte, habe ich bereits verscherbelt. In den letzten vier Jahren habe ich mehr als fünf Millionen Dollar für Lillys Rechnungen hingeblättert. Und fünf Millionen war exakt die Höhe meines Treuhandfonds, den Mom mir hinterlassen hatte.
Ich bin am Arsch.
Ich trete an das Bett meiner Schwester und nehme ihre Hand in meine. Jeden Tag, wenn ich mit dem Daumen über ihre Finger streiche, hoffe ich darauf, dass sie meine Anwesenheit irgendwie spürt.
„Lilly, bitte“, wispere ich. „Du musst aufwachen. Tu mir das nicht länger an. Weißt du, ich gebe mein Bestes, um für dich zu sorgen, aber ich habe absolut keine Ahnung, wie ich diesen Monat genug Kohle für deine Behandlungen auftreiben soll. Ich bin total abgebrannt. Also, bitte, wach auf. Bitte“, flehe ich.
Egal, wie sehr ich mir auch wünsche, dass sie ihre bezaubernden Augen aufschlägt, es passiert rein gar nichts. Ein Teil von mir muss darauf vertrauen, dass sie zu mir zurückkommt, wenn sie hört, dass ich am Arsch bin, aber realistisch betrachtet, wird das wohl nicht geschehen.
Wenn ich doch nur dazu in der Lage wäre, meine verdammten Gefühle abzuschalten. Wenn ich nur wüsste, welche Knöpfe ich drücken muss, damit ich nichts mehr fühle. Wenn ich doch nur mein Herz genauso erkalten lassen könnte wie Dad oder Phil, dann wäre das hier so viel leichter zu ertragen.
„Das … das tut mir so leid, Leah“, höre ich Penny hinter mir flüstern. Ich hatte total vergessen, dass ich nicht allein mit Lilly bin. Scheiße. „Ich wusste nicht, dass du so große Geldsorgen hast.“ Sie tritt an mich heran und legt mir eine Hand auf die Schulter, um leicht zuzudrücken.
Ich gebe mir Mühe, ihr dankend zuzulächeln, aber es misslingt. Ich bin so unfassbar müde, ständig so tun zu müssen, als würde es mir gut gehen, als würde ich mit alldem hier klarkommen.
„Es wird von Monat zu Monat schwieriger für mich“, gestehe ich ihr und spreche zum ersten Mal aus, was mich bedrückt. „Es könnte sein, dass ich diesmal nicht genug Geld zusammenbekomme, um die Rechnungen für Lillys Unterbringung zu bezahlen. Und selbst wenn es mir gelingt, was ist mit den kommenden Monaten? Vermutlich muss ich eine meiner Nieren verkaufen oder so, denn ich habe mal irgendwo aufgeschnappt, dass man für Organe eine Menge Kohle im Darknet verlangen kann“, witzle ich. „Wenn ich nicht pünktlich überweise, wird man Lilly in eine staatliche Einrichtung verlegen lassen, wo sie nicht länger die Zusatzbehandlungen erhält, die sie so dringend braucht. Sie wird an einer Infektion oder so sterben.“
Penny bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick, ehe sie seufzt, eine Visitenkarte aus ihrer Kitteltasche zieht und mir diese überreicht. „Eine Bekannte befand sich einst in einer ähnlichen Situation wie du und hat mir von diesem Ort erzählt. Sie sah keinen anderen Ausweg mehr, als sich an diesen Elite-Herrenclub zu wenden. Die Gäste vor Ort sollen wohl ziemlich viel Geld für den unschuldigen Typ Frau lockermachen, wenn du verstehst, was ich meine. Ich weiß ja nicht, ob so etwas für dich infrage kommt …“ Beschämt blickt Penny kurz zu Boden. „Jedenfalls, hoffe ich, du findest einen anderen Weg, Liebes. Falls nicht, dann lass dir gesagt sein, dass es keine Schande ist, alles in seiner Machtstehende zu tun, um dem Menschen das Leben zu retten, den man von ganzem Herzen liebt.“
Nickend betrachte ich das kleine, rechteckige Kärtchen in meiner Hand. Auf dieser steht lediglich der Name des Clubs – Forbidden Dreams – sowie eine Adresse. Keine Telefonnummer, keine Website- oder E-Mail-Adresse. Keine weiteren Informationen, rein gar nichts.
Das Papier, aus dem die Karte gefertigt ist, ist äußerst hochwertig. Das Kärtchen ist gänzlich in Schwarz gehalten, die Buchstaben sind golden.
Mein Blick bleibt auf die Visitenkarte gerichtet, während ich gedanklich darum flehe, diesen Club niemals aufsuchen zu müssen. Doch ich weiß bereits, dass ich dort aufschlagen werde, daran führt kein Weg vorbei. Meine finanzielle Lage zwingt mich dazu. Es sei denn … Ich habe da noch eine letzte Idee. Auch wenn diese bedeutet, dass ich meinen Stolz auf dem Grund des Ozeans versenken muss.
Landon
What the fuck?
Die Worte des Notars hallen in meinen Ohren wider, und ich habe das Gefühl, dass der Boden unter meinen Füßen zu wanken beginnt.
Fünfzig fucking Millionen Dollar.
Das muss, nein, das kann nur ein schlechter Scherz sein.
Vor Jahren habe ich mit meiner Familie gebrochen und folglich keinerlei Kontakt mehr zu ihnen. Wieso? Tja, weil sie eine Bande verlogener Arschlöcher sind, die nichts anderes als Macht, Habgier, Kohle und noch mal Kohle im Sinn haben.
Sie leben in einer Welt, die von Luxus, Schampus, Kaviar, protzigen Karren und Partys in Saus und Braus dominiert wird. Charity-Veranstaltungen – so nennen sie den Scheiß – sind nichts weiter als ein armseliges Schaulaufen, bei dem haufenweise Zaster für Kleider, Essen und Drinks hingeblättert und der eigentliche Grund der Veranstaltung völlig ignoriert wird. Viel wichtiger ist es, wer das neueste Teil von Gucci tragen darf oder welches Unternehmen die fetteste Rendite eingefahren hat.
Ich könnte kotzen.
So etwas ist nichts für mich.
Percival – ja, er heißt wirklich so –, mein vier Jahre älterer Bruder, dessen Gesicht den gleichen Ausdruck von Schock widerspiegelt wie meins, atmet scharf ein. „Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, oder?“
Der Notar bleibt völlig ruhig. „Nein, das war keineswegs ein Witz, Mr. Ward. Der letzte Wille Ihres Großvaters ist es, dass Sie die Firma bekommen und Ihr Bruder, Mister Landon Ward, fünfzig Millionen.“
Percivals Augen verengen sich zu Schlitzen. Seine Wut ist regelrecht spürbar. „Ich werde das Testament anfechten, jawohl. Großvater kann nicht bei Sinnen gewesen sein, als er es verfasst hat“, erwidert er mit einer Entschlossenheit, die die angespannte Atmosphäre im Raum deutlich unterstreicht. „Mein … mein … sogenannter Bruder ist ein Nichtsnutz, ein Verbrecher, der der Familie den Rücken zugekehrt hat, um sich einer kriminellen Vereinigung anzuschließen. Und das soll mit fünfzig Millionen belohnt werden? Pah, nur über meine Leiche.“
Kann er haben. Ich hätte kein Problem damit, ihm hier und jetzt eine Kugel in sein verdammtes Spatzenhirn zu jagen. Ich hasse ihn, ich hasse ihn abgrundtief. Allerdings ist dieser Wichser es nicht wert, dass man mich für Mord einbuchtet.
„Kriminelle Vereinigung?“ Fast muss ich schmunzeln. „Ich bin in einem MC, Perci, und kein Massenvergewaltiger. Den Sons of Devil bin ich beigetreten, weil der Club mehr von Loyalität, Zusammenhalt und Bruderschaft versteht als mein eigen Fleisch und Blut. Um deine Ziele zu erreichen, würdest du sogar die Seele unserer Mutter an den Teufel verkaufen. Also, sag mir, wer ist hier der Gangster, hm?“, kontere ich mit fester, aber ruhiger Stimme.
Perci schnappt nach Luft. „Sprich nie wieder über Mom, Abschaum. Du hast jedes Recht dazu verloren, als du unsere Familie verlassen hast.“
Die Worte hängen, beladen mit jahrelanger Entfremdung, in der Luft. Ein unüberwindbarer Graben liegt zwischen uns. In diesem Moment wird mir abermals bewusst, dass die Narben der Vergangenheit wohl auf beiden Seiten tiefer sind als jede Verbindung, die wir einst hatten.
„Fünfzig Millionen“, wiederholt er ungläubig. „Wofür? Dafür, dass er sich so aufopferungsvoll um Grandpa gekümmert hat, als dieser krank wurde? Dafür, dass er für ihn da war, als es ihm immer schlechter ging? Dafür, dass er sich in der Firma die Finger wund geschuftet hat? Ach nein, das kann nicht sein, denn der gute Landon hat sich ja vor Jahren verpisst und nie wieder etwas von sich hören lassen. Nicht einmal eine Karte zu seinen Geburtstagen konnte er schicken.“
Jepp, das stimmt.
Nachdem ich mich von der Familie losgesagt hatte, habe ich alle Brücken hinter mir abgebrochen. Ich wollte nichts mit Leuten zu tun haben, von denen ich wusste, dass das Wachstum ihres Imperiums unschuldigen Menschen das Leben gekostet hat.
Meine Familie ist seit Generationen im Pharmabereich ein großer Spieler. Sie haben wissentlich Krebstherapie-Medikamente in Umlauf gebracht, die unwirksam waren. Leider konnte ich selbst nie ausreichend Beweise sammeln, um ihnen Handschellen anlegen zu lassen.
Die rechte Hand meines Großvaters, Jenefer Ghoose, zu der ich ein gutes, freundschaftliches Verhältnis pflegte – und mit der ich vielleicht ein paarmal in der Kiste gelandet bin – hatte mir anvertraut, dass die Studien, die Ward Pharmacy LLC im Rahmen des Zulassungsverfahrens durchgeführt hatte, manipuliert waren. Monatelang hat sie auf eigene Faust gegen meine Familie ermittelt und Beweise gesammelt.
An dem Abend, als sie mir jene Beweise zeigen wollte, ist sie spurlos verschwunden. Alle Versuche, sie aufzuspüren, liefen ins Leere. Als ich meine Familie mit Jenefers Behauptungen konfrontierte, stritten sie alles ab und entzogen mir postwendend den Zugang zur Firmenzentrale.
Ist das nicht Beweis genug?
Wenn ich schon nichts gegen ihre Machenschaften unternehmen konnte, konnte ich ihnen zumindest den Rücken zukehren. Ich will nichts mit Menschen zu tun haben, denen Macht und Geld wichtiger als ein Menschenleben sind. Die Leute, die die Arznei von Ward Pharmacy einnehmen, vertrauen darauf, dass sie wirkt. Sie hoffen darauf, wieder zu genesen. Doch viele hat diese Hoffnung das Leben gekostet.
Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, nicht zur Testamentseröffnung zu erscheinen, denn meine Familie geht mir am Arsch vorbei und ich bin auf ihr schmutziges Geld nicht angewiesen. Genau genommen will ich nichts weiter als meine Ruhe vor ihnen. Aber irgendetwas hat mich dazu gedrängt, herzukommen. Nur, was?
Die Neugier?
Die Sehnsucht?
Endlich einen finalen Schlussstrich ziehen zu können?
Ich habe absolut keine Ahnung.
Percival schüttelt den Kopf. Das tut er schon eine ganze Weile. Er erinnert mich irgendwie an einen Wackeldackel. „Ich kann nicht akzeptieren, dass mein Bruder, ohne sich je für die Familie eingesetzt zu haben, fünfzig Millionen in seinen kriminellen Arsch geblasen bekommt. Nein, das lasse ich nicht zu. So wahr ich hier stehe.“ Sein Gesichtsausdruck stellt offen die Enttäuschung und Wut zur Schau, die er aufgrund von Großvaters Entscheidung verspürt.
„Einfach so bekommt Ihr Bruder das Geld auch nicht transferiert“, interveniert der Notar. „An die Erbschaft ist eine Bedingung geknüpft.“
Aha, so sieht das also aus.
Fast lache ich los, weil das dem alten Sack ähnlich sieht. Mein werter Herr Großvater hat noch nie irgendetwas aus reiner Herzensgüte getan. Jede Entscheidung, die er zu Lebzeiten getroffen hat, war mit einem Hintergedanken versehen.
Was könnte er von mir wollen?
Dass ich zur Familie zurückkehre? Kann er knicken.
Dass ich mich mit meinen Eltern versöhne? Nicht in diesem Leben.
Dass Perci und ich wieder ein brüderliches Verhältnis pflegen? Eher friert die Hölle zu.
Perci und ich haben uns noch nie gut verstanden. Ich schätze, das liegt daran, dass er mich seit dem Tag meiner Geburt als Konkurrent gesehen hat. Mein Bruder hatte Schiss davor, dass ich ihn von seinem Thron stoßen und ihm die Firma wegnehmen könnte, was totaler Bullshit ist. Es war nie mein Wunsch, die Familiengeschäfte zu leiten. Ich wollte lieber frei sein, mein Leben genießen, Spaß haben und nicht von Termin zu Termin hetzen, mich in Meetings zu Tode langweilen, mit Zahlen jonglieren oder mich mit Kunden herumplagen.
Allein die Vorstellung, jeden Tag einen Anzug tragen zu müssen, lässt mich würgen. Ich hasse Fliegen, Krawatten und Hemden. Mein Kleidungsstil ist locker lässig. Ich liebe Leder, Tattoos und Stiefel.
Eigentlich sollte ich so etwas wie Trauer verspüren, da mein Großvater abgenippelt ist, aber in mir regt sich nichts. Absolut nichts. Weder Trauer noch Freude, weder Mitgefühl noch Schadenfreude.
Mal ehrlich, wie sollte das auch anders sein? Zehn Jahre herrschte absolute Funkstille zwischen uns. Schon lange, bevor ich ging, war das Verhältnis zu meinem Großvater alles andere als rosig. Genau genommen kannte ich ihn überhaupt nicht. Ich erinnere mich nur noch an das Bild eines Mannes, der rund um die Uhr gearbeitet hat und permanent gestresst war. Und wenn er sich doch mal ein paar Minuten für uns Enkelkinder freigeschaufelt hatte, waren diese alles andere als schön. Er war ein strenger, übellauniger Tyrann. Jeder hatte nach seiner Pfeife zu tanzen, und tat man das nicht, rutschte ihm gerne mal die Hand aus.
„Im Testament steht, dass das Erbe nur vollständig ausbezahlt wird, wenn Mister Landon Anthony Ward bis zur Vollendung seines dreißigsten Lebensjahres verheiratet ist“, lässt der Notar die Bombe platzen und reißt mich damit aus meinen Gedanken. „Sollte Landon Ward zu diesem Zeitpunkt noch als ledig gelten, gehen die fünfzig Millionen Dollar in Percival Wards Besitz über.“
Mir klappt die Kinnlade herunter.
Heiraten?
Ich?
Sein fucking Ernst?
Keine Chance.
Die Bedingung meines Großvaters enthüllt abermals seine perfide Natur und macht deutlich, dass er, sogar über den Tod hinaus, versucht, Kontrolle über mein Leben auszuüben. Aber nicht mit mir. Ich scheiß auf die Wards, ich scheiß auf ihre verfluchte Kohle. Ich bin nicht auf ihren dreckigen Zaster angewiesen, denn ich stehe finanziell bestens da.
Nachdem ich mich von meiner Familie losgesagt hatte, nahm ich einen Aushilfsjob in einer Werkstatt an. Schon immer fühlte ich mich von Schmierfetten, Ölen und lauten Motorengeräuschen magisch angezogen. Bereits während der Highschool war für mich in Stein gemeißelt, dass ich nicht aufs College gehen will. Jahrelanges Pauken und Studieren? Wofür? Ein Jurist oder Arzt würde sowieso nie aus mir werden. Ich wollte etwas mit meinen Händen machen – vorzugsweise mit einem Schraubenschlüssel oder einer Lackierpistole.
Durch besagte Werkstatt bin ich mit den Sons of Devil in Kontakt gekommen. Mein damaliger Boss hat hin und wieder, zu Zeiten, als die Devils noch keinen eigenen Laden besaßen, Auftragsarbeiten für den Club erledigt. Das führte dazu, dass ich Cole, unseren heutigen Präsidenten, kennenlernte, der im Laufe der Jahre zu einem meiner besten Freunde wurde.
Ab und an nahm Cole mich mit in den Club. Sofort war ich Feuer und Flamme für die Gemeinschaft, den Zusammenhalt unter den MCs und die Loyalität. Besonders imponierte mir – und tut es heute noch immer –, dass der Club nach seinen eigenen Gesetzen und Regeln lebt. Ich war nämlich, ganz zum Leidwesen meiner Eltern, nie jemand, der brav mit dem Strom der breiten Masse mitschwimmt, weshalb ich – öfter, als meiner Familie lieb war – mit dem Gesetz in Konflikt geraten bin.
Ich persönlich glaube ja, dass Gesetze von irgendwelchen Schwachmaten erlassen wurden und werden, die uns in unserer Freiheit beschneiden und unsere persönliche Entfaltung unterdrücken wollen. Ich meine, kommt schon, die verfickte amerikanische Rechtsprechung ist doch verdammt komplex und undurchsichtig, oder sehe nur ich das so?
Und warum? Ganz einfach: um die armen Bürger zu verwirren.
Meiner Meinung nach sind Politiker bloß Marionetten, die den Interessen von großen Unternehmen – wie dem meiner Familie – dienen. Ich sehe in unseren Abgeordneten keine Vertreter des Volkes, für mich sind sie Agenten der Macht und des Geldes, die allesamt korrupt sind. Wie oft habe ich meinen Großvater oder meinen Dad mit hochrangigen Politikern Golf spielen oder zu Abend essen sehen, wo ein Umschlag über den Tisch gewandert ist, der für die Beschleunigung diverser Zulassungsverfahren gesorgt hat? Regelmäßig.
In unserem Club läuft das anders. Wir haben zwar ebenfalls ein Oberhaupt – Cole, unseren Prez –, das Entscheidungen trifft, doch im Gegensatz zu den Wichsern im Kongress gilt Coles Interesse allein dem Wohl und Schutz seiner Brüder, seiner Familie. Außerdem halten wir regelmäßige Treffen ab, die sogenannte Church, wo wir Clubangelegenheiten besprechen, Veranstaltungen planen, Probleme thematisieren und über wichtige Dinge abstimmen.
Die meisten Menschen glauben, dass es uns MCs nur darum geht, Angst und Schrecken zu verbreiten und Ärger zu machen. Das ist völliger Bullshit. Uns geht es primär um das Gemeinschaftsgefühl, die Kameradschaft und gegenseitige Unterstützung.
Ich habe mich wegen des Zusammenhalts, wegen der starken Bindung unter den Mitgliedern für ein Leben als Devil entschieden. Vielleicht aber auch, weil ich den Lifestyle von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll schon immer faszinierend fand.
Den Sons of Devil beizutreten, war meine Chance, ein Teil einer Familie, einer Gemeinschaft zu werden, die kompromisslos füreinander einsteht. Komme, was wolle. Bei uns wird man nicht schief angesehen, wenn man von Kopf bis Fuß tätowiert ist. Niemand hält dir eine Moralpredigt, wenn man mal einen über den Durst trinkt oder nach Lust und Laune herumvögelt. Keiner verdreht die Augen, wenn man flucht oder derbe spricht. Jeder darf so sein, wie er ist.
Geht es in unserer Welt rauer zu? Verdammt, ja. Jedoch nur wegen territorialer Streitigkeiten oder unterschiedlicher Ideologien und Werte. In den meisten Fällen geht es um die Kontrolle und Absicherung unserer Aktivitäten, wie dem Drogen- und Waffenhandel.
Halten wir uns an Gesetze? Fuck, nein. Wir brechen sie hin und wieder und tun Dinge, auf die ich nicht immer stolz bin. Jedoch nur, um unseren Club, unsere Familie, unsere Existenz, unsere Frauen und Kinder zu beschützen.
Ich würde für jedes Mitglied der Devils durchs Feuer gehen und mein letztes Hemd geben. Wenn es sein müsste, sogar mein Leben. Kann ich das Gleiche von der Familie behaupten, in die ich hineingeboren wurde? Scheiße, nein.
Habe ich schon mal ein Leben ausgelöscht? Jepp. Zu meiner Verteidigung sei jedoch gesagt, dass ich noch nie jemandem eine Kugel ins Hirn gejagt habe, der es nicht verdient hatte. Im Gegensatz zu den Arzneien meiner Familie töte ich nur, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Rechtfertigt das meine Taten? Ganz gewiss nicht. Allerdings kann ich mit dem Wissen, dass es nie einen Unschuldigen trifft, recht gut leben.
Im Club fühlte ich mich sofort heimisch, verstanden, akzeptiert und vor allem ernstgenommen. Völlig anders als zu Hause. Zwar musste ich mich vom Prospect von ganz unten hocharbeiten, indem ich vor dem Clubhaus Schmiere stand, die Bikes der Vollmember in Schuss hielt oder niedere Botengänge erledigte, aber das war es wert. Während meiner Anwärterzeit war ich strengstem Gehorsam verpflichtet und musste dem Club Gefälligkeiten erweisen, die meine Loyalität und Gesinnung verdeutlichten.
Heute bin ich der Roadcaptain der Devils. Als Straßenchef organisiere ich Ausfahrten und Treffen mit anderen Gruppierungen und Chapter. Bei gemeinsamen Ausflügen mit dem Bike befinde ich mich an der Spitze des Konvois und gebe die Richtung vor. Roadcaptain kann nur ein Biker mit viel Fahrerfahrung und taktischem Gespür werden.
Außerdem helfe ich neuen Mitgliedern dabei, sich in die Gruppe zu integrieren und die Abläufe und Regeln des Clubs zu verinnerlichen und zu verstehen. Neben all diesen Dingen gehöre ich zu den Problemlösern. Und das nicht nur bei Pannen und Unfällen. Will jemand dem Club ans Bein pissen, komme ich zum Einsatz, um mich um das Problemchen zu kümmern. Und zwar auf meine Art, mit meinen Methoden.
Perci lacht auf, was mich aus den Gedanken reißt. „Wie praktisch, dass Landon unverheiratet ist und ich somit bekomme, was mir rechtmäßig zusteht: fünfzig Millionen Dollar. Es überrascht mich ehrlich gesagt nicht, dass das Arschloch Single ist. Wer würde es schon mit diesem Penner aushalten?“, spottet mein Bruder. „Ich würde das Stück Scheiße nicht einmal mit der Kneifzange anfassen. Gott, was ist nur aus dir geworden? Du siehst mit deinen hässlichen Tätowierungen, dem ungepflegten Bart und dieser stinkenden Lederweste schlimmer als ein Landstreicher aus.“
Alles in mir verzehrt sich danach, auf diesen Wichser loszugehen und ihm die Scheiße aus dem Leib zu prügeln, doch ich reiße mich mit aller Gewalt zusammen. Und zwar nur, weil er mein Bruder ist, jedem anderen, der mich auf diese Weise beleidigt hätte, hätte ich schon längst einen Kinnhaken verpasst. Niemand nimmt sich das Recht heraus, so über mich zu sprechen.
„Was nicht ist, kann ja noch werden. Schließlich bleiben mir noch ein paar Monate, um Großvaters Bedingung zu erfüllen“, schieße ich zurück, um den Bastard auf die Palme zu bringen. Perci braucht ja nicht zu wissen, dass eine Hochzeit keine Option für mich ist.
Es war noch nie mein Wunsch, mich an eine Frau zu binden und diese sogar zu meiner Old Lady zu machen. Das Konzept, in Monogamie zu leben, stand für mich zu keiner Zeit zur Debatte. Denn seien wir doch mal ehrlich: Rein biologisch betrachtet, liegt das Treusein nicht in der Natur des Menschen. Monogamie ist einzig und allein ein Konstrukt der Gesellschaft. Genetisch gesehen stammt der Mensch vom Affen ab. Gorillas leben im Harem, Schimpansen paaren sich oft in geringen Zeitabständen mit unterschiedlichen Partnern. Und trotzdem ist das Führen einer rein monogamen Beziehung das am weitesten verbreitete Lebensmodell. Was für ein Quatsch.
Ich will mich mit niemandem verabreden oder Dates ausmachen, wenn sich spontan ein noch viel besseres Programm mit den Jungs ergeben könnte. Ich bin der Typ Mensch, der jeden Tag einen Supermarkt aufsucht, statt Besorgungen für die ganze Woche zu machen. Woher soll ich denn bitte sieben Tage im Voraus wissen, worauf ich im Laufe der Woche Hunger habe? Ich möchte frei sein, ohne ein schlechtes Gewissen beim Flirten oder Vögeln haben zu müssen. Ich will mich nicht rechtfertigen müssen, warum ich mich tagelang nicht gemeldet oder wo ich mich herumgetrieben habe. YOLO eben, man lebt schließlich nur einmal. Ich will einfach nichts verpassen.
Wo ich mich in zehn Jahren sehe? Fuck, keinen blassen Schimmer. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich am Wochenende abhängen werde, um mich volllaufen zu lassen. Im Clubhaus? In einem Stripclub? In einer Bar? Beim Poker? Alles ist möglich. Das nennt man Freiheit.
Perci lacht auf. „Als ob du in der Kürze der Zeit jemanden findest, der dich heiratet. Hast du keinen Spiegel zu Hause? Keine Frau würde sich freiwillig auf so einen Neandertaler einlassen. Diejenige, die dir das Ja-Wort gibt, muss entweder blind sein oder über keinen Geruchssinn verfügen“, provoziert er mich, was allmählich Wirkung zeigt.
Mein Bruder geht mir dermaßen auf den Sack, dass ich tatsächlich in Erwägung ziehe, das erstbeste Clubmädchen vor den Traualtar zu schleifen, nur damit er die Kohle nicht bekommt und sich schwarzärgert. Dabei will ich das Geld überhaupt nicht. Soll er doch daran ersticken.
Ich würde es nur tun, um ihm einen Arschtritt zu verpassen, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Meinem werten Herrn Bruder ist nämlich nichts heiliger als das liebe Geld. Schon als Kind hat er ständig betont, dass Dagobert Duck sein Vorbild sei. Mir ist Materielles so was von egal. Ich brauche keine Markenklamotten, Designeruhren oder Protzkarren, um mein Selbstwertgefühl zu pushen. Es gibt so viel Wichtigeres als das, wie zum Beispiel Gesundheit, Freundschaften, den Club. Im Grunde bin ich viel reicher als er, weil ich nicht ständig danach eifern muss, mehr haben zu wollen.
Doch je länger ich über die verdammte Erbschaft nachdenke, desto klarer wird mir, dass die fünfzig Millionen mein Leben, sowie das des Clubs, viel einfacher machen würden. Ich könnte die Erbschaft in die Devils investieren. In eine neue, modernere Werkstatt und die Vergrößerung des Clubhauses. Aber dafür heiraten und seine Prinzipien verraten?
Wofür wir die Kohle echt gut gebrauchen könnten, wäre für die Suche nach Charleen. Vor ein paar Monaten ist die Verlobte meines Bruders, Ty, spurlos verschwunden. Wir glauben, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – entführt wurde.
Die einzige Spur, die wir haben, ist ihr verwüsteter Arbeitsplatz. Das Bild, das sich uns in dem Salon, der ihr gehört, geboten hat, lässt keine andere Schlussfolgerung zu. Es musste ein Kampf stattgefunden haben. Sie ist auf gar keinen Fall freiwillig untergetaucht. Was mich an der Theorie jedoch etwas zweifeln lässt, ist, dass bisher keine Lösegeldforderung bei uns eingegangen ist.
Seitdem läuft Ty – verständlicherweise – völlig neben der Spur. Er schläft kaum noch, isst nicht genug und betäubt seinen Kummer mit Alkohol und Drogen. Wir haben bereits jeden Stein in der Stadt zweimal umgedreht und all unsere Kontakte im In- und Ausland spielen lassen, um sie zu finden. Jedoch ohne Erfolg. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.
Stünden uns uneingeschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung, könnten wir eine ganze Armee an Privatschnüfflern engagieren, die sich rund um die Uhr mit diesem mehr als rätselhaften Fall beschäftigen könnten. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Charleen aufzuspüren, aber der Club kann sich nicht 24/7 auf die Suche konzentrieren. Der tägliche Betrieb muss auch irgendwie am Laufen gehalten werden. Klingt scheiße, ist aber leider so.
„An dieser Stelle muss ich noch anmerken, dass die Eheschließung rechtskräftig sein und Fortbestand haben muss“, verkündet der Notar und blickt in meine Richtung.
„Heißt im Klartext?“
„Im Falle einer Heirat vor Ablauf der testamentarischen Frist wird Ihnen ein Teil des Geldes transferiert. Der Restbetrag wird erst nach zwölf Monaten freigegeben, vorausgesetzt die Ehe hat so lange Fortbestand. Ihrem Großvater scheint daran gelegen gewesen zu sein, dass ich sicherstelle, dass Sie keine Scheinehe eingehen, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Er hat mich damit beauftragt, dass ich, falls Sie innerhalb der Frist heiraten werden, vor Ablauf des ersten Ehejahres überprüfe, wie ernst es Ihnen mit Ihrer Frau ist. Sollte ich den Verdacht hegen, dass Sie nur des Geldes wegen geheiratet haben, müssen Sie mir den Teilbetrag zurückerstatten und die gesamten fünfzig Millionen gehen an Ihren Bruder.“
Dieser gerissene Bastard.
Er hat an alles gedacht.
Mein Großvater muss wirklich nicht bei Sinnen gewesen sein, als er sein Testament verfasst hat. Seine Forderungen sind einfach nur lächerlich.
„Perfekt.“ Perci klatscht freudig in die Hände. „Ein Hoch auf meinen Großvater und seine Weitsicht. Dank dieser Klausel ist mir das Geld sicher. Du hättest dir den Weg hierher sparen können, Landon, denn du bekommst genau das, was dir zusteht: nämlich gar nichts.“
„Freu dich nicht zu früh, Arschloch. Wie sagt man so schön? Am Ende kackt die Ente. Oder mit deinen Worten: Hochmut kommt vor dem Fall“, entgegne ich knurrend und versuche, meine Wut im Zaum zu halten.
„Das einzige Arschloch, das ich hier sehe, bist du“, erwidert Perci, dessen Blick nur so vor Verachtung sprüht. „Schwing deinen Arsch wieder auf dein Motorrad und kriech in das Loch zurück, aus dem du gekommen bist. Es ist eine Schande, dass sich so jemand wie du mein Bruder schimpft.“
„Meine Herren, ich bitte Sie“, mischt sich der Notar in weiser Voraussicht ein, da die Sache jeden Moment aus dem Ruder geraten und wir uns die Köpfe einschlagen könnten. „Ich glaube, dass wir den Termin hiermit enden lassen sollten. Sie beide wissen nun, wie es um den letzten Willen Ihres Großvaters bestellt ist.“ Der Notar wendet sich mir zu. „Landon, wenn ich innerhalb der kommenden drei Monate keine Heiratsurkunde vorliegen habe, sehe ich mich gezwungen, die fünfzig Millionen Ihrem Bruder zu überlassen. Und vergessen Sie nicht, eine Scheinehe ist keine Option.“
Ich nicke dem Notar zu, der bereits dabei ist, die Dokumente, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch liegen, in seinem Aktenkoffer zu verstauen. Als das geschehen ist, richtet er seine Krawatte.
Gott, wie ich Anzugträger hasse.
Für mich verkörpern Typen, die maßgeschneiderte Zweiteiler tragen, genau wie dieses Exemplar hier oder mein Bruder, eingebildete Mistkerle. In ihren makellosen Outfits durchqueren sie für gewöhnlich Räume mit einer Aura der puren Arroganz, als ob die edlen Stoffe einen unsichtbaren Schutzschild bilden würden, der sie unverwundbar macht. Erfahrungsgemäß schweifen ihre Blicke über andere hinweg, als wären sie ihnen haushoch überlegen. Hinter der Fassade aus Nähten und Stoff verbirgt sich in der Regel aber nichts weiter als Überheblichkeit.
„Ich freue mich schon jetzt darauf, die fünfzig Millionen auf meinem Konto begrüßen zu können“, teilt Perci dem Notar abschließend mit, während er ihm die Hand schüttelt, und blickt dabei in meine Richtung.
„Und ich freue mich schon darauf, dich wissen zu lassen, dass ich geheiratet habe, Bruderherz“, kontere ich mit einem breiten Grinsen und verlasse anschließend den Raum.
Ich kann mich nicht länger mit meinem Bruder in einem Zimmer aufhalten, denn sonst tue ich vielleicht etwas, das ich später bereuen könnte.
Leah
Blinzelnd betrachte ich die imposante Villa, die sich vor mir erstreckt. Die Fassade des feudalen Gebäudes wurde aus alten Steinen gemauert, und die vielen Fenster sind mit schmiedeeisernen Gittern verziert. Das Dach ist mit roten Ziegelsteinen eingedeckt, und zwei hohe Türme ragen seitlich in die Höhe.
Mein Elternhaus.
Gott, ich war schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr hier.
Bevor ich mich dazu zwinge, meine Füße vom Gehweg in Richtung Auffahrt zu bewegen, atme ich noch einmal ganz tief durch. Als ich mich endlich wieder rühren kann, gehe ich auf das Touch Panel am Tor zu, lege meinen Daumen darauf und stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, da sich das Tor öffnet. Ich hatte fest damit gerechnet, dass mir der Zugang verwehrt wird, dass man meine biometrischen Daten aus dem System gelöscht hat. Melissa wäre das durchaus zuzutrauen gewesen, denn seit sie in Dads Leben getreten ist, hat sie alles daran gesetzt, uns zu entzweien.
Mit Erfolg.
Da ich mein Auto schon vor langer Zeit verkauft habe, bin ich mit meinem alten, klapprigen Fahrrad hergekommen. Ich schiebe den Drahtesel die lange Kiesauffahrt entlang und lasse dabei meinen Blick durch die Parkanlage schweifen.
Die Wege des wunderschön angelegten Gartens sind gesäumt von altem Baumbestand, der seine Äste sanft über die Bänke neigt, die zum Verweilen einladen. In den Sommermonaten blühen in den Beeten Tausende von Blumen in den prächtigsten Farben. Ihr Geruch verzaubert einem die Sinne. Im Zentrum des weitläufigen Gartens befindet sich ein kleiner Teich, auf dem sich Enten tummeln. Eine steinerne Brücke führt zu einer kleinen Insel inmitten des Wassers, auf der ein malerischer Pavillon errichtet wurde. Meine Mom hat dieses Fleckchen Paradies erschaffen.
Nachdem ich mein Rad abgestellt und die Haustür erreicht habe, werde ich noch nervöser als ich es ohnehin schon bin. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, ich schwitze, und mir fällt das Atmen zunehmend schwerer.
Augen zu und durch.
Ich reibe meine feuchten Hände an meiner Jeans trocken.
Scheiße, meine Klamotten …
Vor ein paar Jahren hätte ich mich niemals getraut, in diesem Aufzug hier zu erscheinen: ausgeblichene Jeans, ein T-Shirt und abgelaufene Turnschuhe. Nein, vor dem Unfall trug ich ausschließlich Markenkleidung und besaß wunderschönen Schmuck und teure Handtaschen. Ich ging regelmäßig zur Maniküre und Pediküre, saß einmal im Monat beim Friseur, habe mich von meiner Kosmetikerin verwöhnen lassen und war Stammgast im Spa. Aktuell kann ich mir jedoch nichts anderes leisten als das, was ich am Leib trage.
Mir fehlt der Luxus nicht im Geringsten, und für gewöhnlich schäme ich mich auch nicht für meine Aufmachung, denn ich renne ja nicht in Lumpen durch die Gegend. Aber nun, da ich vor meinem Elternhaus stehe, wird mir bewusst, dass man mich gleich von oben herab mustern und verurteilen wird.
Es nagt an mir, dass ich gezwungen bin, herzukommen und um Geld zu betteln, da ich nicht länger für Lillys Versorgung garantieren kann. Ich musste meinen Stolz herunterschlucken und meinen ganzen Mut zusammennehmen, um tatsächlich aufs Rad zu steigen und herzufahren.
Als ich in die Villa eintrete, deren Eingangstür ich ebenfalls mittels Fingerabdrucksensor geöffnet habe, wappne ich mich innerlich für das, was gleich kommen wird: verachtende, kritische Blicke.
Es ist traurig, dass ich mir wie eine Fremde in dem Haus vorkomme, in dem ich aufgewachsen bin und wunderschöne Momente verlebt habe. Die schönen Erinnerungen, als Mom noch lebte, brechen über mich herein.
Im Garten befindet sich ein alter Kirschbaum, dessen Blüten im Frühling wie ein riesiger, rosafarbener Schirm leuchten. Mom, meine Geschwister und ich haben Stunden damit zugebracht, Kirschen zu pflücken und uns gegenseitig mit den Kernen zu bewerfen. Die warme Sommerluft war von unserem Lachen und dem Summen der Bienen erfüllt.