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Eine dystopische Roman-Trilogie, alle Teile der Last-Haven-Reihe in einem Band zu einem unschlagbaren Preis Nordamerika im Jahr 2335. Vor mehr als 200 Jahren wurde hier der Staat Last Haven als internationales Projekt zur Lösung der Überbevölkerung der Erde gegründet. Als einziger Ort auf der Welt bietet er Sicherheit und Lebensqualität – zumindest denjenigen, die ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten. Doch was passiert, wenn man dazu nicht mehr in der Lage ist? Wie schnell es dazu kommen kann, erfährt die 18-jährige Aida am eigenen Leib, als sie sich bei einem Arbeitsunfall verletzt. Im Angesicht der Katastrophe gibt es etwas, was sie alle miteinander verbindet: den Wunsch, zu überleben und wieder Ordnung herzustellen. "Lisbeth Jarosch hat hier einen ausgezeichneten dystopischen Roman zu Papier gebracht. Sie zeigt sehr gut nachvollziehbar und glaubhaft, was nach einem Macht- und Systemwechsel passieren kann/ könnte." (Leserstimme auf Netgalley)
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Impressum ePUB
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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Theresa Schmidt-Dendorfer
Covergestaltungen: FAVORITBUERO, München
Covermotive: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Band 1 – Tödliche Geheimnisse
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Band 2 – Die Liga der Mutigen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
Epilog
Danksagung
Band 3 – Über alle Grenzen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Danksagung
© 2018 Piper Verlag GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)
Sobald ich die Augen zumache, sehe ich Megs Gesicht vor mir oder das von Melody. Manchmal auch das vom kleinen Sammy. Oder das von Rex Jenkins in dem Moment, als ich den Abzug gedrückt und ihm eine Kugel in den Leib gejagt habe. Oder hunderte winzige sich windende Körper, die ich dem Feuer überantwortet habe. Ja, die Liste derer, die mir erscheinen, ist lang.
Und ich sehe Fairfield, mit seinen Straßen voller Leichen. Es sind meine ganz persönlichen Toten, auch wenn nicht ich diejenige gewesen bin, die den Befehl zur Auslöschung der Stadt gegeben hat, auch wenn nicht ich Melody, Sammy und Meg getötet habe. Aber sie alle wollen mir einfach keine Ruhe lassen.
Ich hätte nie gedacht, dass der Mentalinentzug so hart werden würde. Das schwache Zittern meiner Hände, das ich ein paar Tage nach unserem Putsch verspürt habe, war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was mich erwarten sollte. Seit mehreren Nächten schlafe ich kaum und fühle mich, als hätte ich Fieber, obwohl mir gleichzeitig furchtbar kalt ist. Es dauert keine Woche, bis ich bei Romulus auf der Matte stehe und ihn auf Knien anbettele, mir noch mehr von dem Stoff zu geben. »Ich kann nicht schlafen!«, erkläre ich ihm, was auch voll und ganz stimmt. »Dabei bin ich so unendlich müde. Ich brauche nur ein ganz kleines bisschen Mentalin. Mehr will ich gar nicht. Ehrlich!«
»Nein«, lautet Romulus’ Antwort auf meine Bitte – wie erwartet.
Am nächsten Tag probiere ich es erneut mit Betteln. Am Tag darauf wieder und am Tag danach ebenfalls. Romulus bleibt jedoch hart.
Schließlich ändere ich meine Taktik. Ich bin ja nicht blöd. Die Mitleidsmasche funktioniert bei ihm nicht, das habe ich mittlerweile verstanden. Bevor ich sein Büro betrete, nehme ich mir also einen Moment, um mich zu sammeln, und konzentriere mich darauf, das Zittern weitestgehend zu unterdrücken. Wische mir dann den Schweiß von der Stirn und rücke meine Bluse zurecht, die sich schon wieder ein bisschen feucht anfühlt. Öffne nach kurzem Überlegen den obersten Knopf.
»Wie geht es dir heute?«, fragt Romulus, als ich eintrete, und schaut mich über den Rand seiner Lesebrille aufmerksam an.
»Sehr gut!«, erwidere ich und setze ein strahlendes Lächeln auf. Ich sehe Misstrauen in Romulus’ Augen aufleuchten und schraube meine gespielte Fröhlichkeit eine Stufe runter. Eine Spur zu viel, verstanden. »Das heißt: deutlich besser als während der letzten Tage. Ich glaube, allmählich geht es bergauf.« Ja, das klingt schon glaubwürdiger.
Romulus legt die Brille ab und mustert mich prüfend. »Das freut mich zu hören«, sagt er nachdenklich.
Ich zwinge mich dazu, seinen Blick für einen Moment zu erwidern. Senke ihn dann kurz, um direkt anschließend unter halbgeschlossenen Lidern wieder aufzuschauen. Verführerisch soll es aussehen, aber ich weiß nicht so genau, ob ich das richtig mache. Ich bin ja nicht gerade eine Femme fatale. Aber um meine Würde kann ich mir später immer noch Gedanken machen, wenn ich endlich eine der gläsernen Ampullen mit der zartrosafarbenen Flüssigkeit in meinen Händen halte.
»Weißt du«, ich schlage eine tiefe, samtige Tonlage an, »ich hätte das alles nie durchgestanden, wenn du nicht wärst.«
Romulus lehnt sich abwartend in seinem Stuhl zurück und lässt mich nicht aus den Augen. Langsam komme ich näher und versuche dabei, so sexy auszusehen, wie ich es mit meinen beschränkten Mitteln eben kann. »Ich will mich bei dir bedanken.«
Romulus schmunzelt und beobachtet, wie ich meine Arme um seinen Hals lege und mich auf seinem Schoß niederlasse. Ich gebe ihm einen langen, filmreifen Kuss, den Romulus, ohne zu zögern, genauso leidenschaftlich erwidert. Währenddessen taste ich mit einer Hand hinter ihm nach der Schublade in seinem Schreibtisch, in der sich, wie ich weiß, der heißersehnte Nachschub an Mentalin befindet. Ich versuche, die Schublade aufzuziehen. Sie ist abgesperrt.
Ich löse mich aus dem Kuss und kann es mir nicht verkneifen, enttäuscht mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Das ganze Theater umsonst!
Romulus lacht. »Netter Versuch, Aida«, sagt er. »Der netteste bisher, keine Frage«, setzt er freundlich hinzu und will versöhnlich nach meiner Hand greifen. Aber ich ziehe sie ihm weg und springe beleidigt von seinem Schoß.
»Hast du etwa gewusst, was ich vorhabe?«, frage ich und schiebe schmollend die Unterlippe vor.
»Um ehrlich zu sein, habe ich schon viel früher damit gerechnet, dass du diese Karte ziehst.« Romulus lächelt und wirkt überhaupt nicht verärgert. Ich dagegen bin furchtbar wütend.
»Das hat dich nicht davon abgehalten, mich zurückzuküssen«, stelle ich aufgebracht fest.
Romulus hebt die Augenbrauen. »Man weiß eben nie, wann man das nächste Mal so einen Kuss bekommt«, sagt er aalglatt.
Mir bricht allmählich doch wieder der Schweiß aus und eine Reihe kalter Schauer läuft über meinen Körper.
»Ich kann dir sagen, wann du das nächste Mal so einen Kuss bekommst«, rufe ich zornig und eile mit großen Schritten zur Tür, weil es heute keinen Sinn mehr hat, mit Romulus zu diskutieren. »Nämlich nie wieder!«
Während ich die Tür mit Schwung ins Schloss schmeiße, höre ich Romulus hinter mir lachen.
Zwei Tage später geht es mir so schlecht, dass Romulus mich dabehält. Davor hatte ich die ganze Zeit über am meisten Angst. Er bringt mich in ein Krankenzimmer, sichert die Fenster und entfernt alles, was ich irgendwie dazu benutzen könnte, um mir oder ihm wehzutun. Eine weise Entscheidung, denn es dauert nicht lange, da fange ich an, meine Anspannung und Aggression an allem auszulassen, was mir in die Finger kommt.
Als Romulus mir etwas zu essen bringen will, schlage ich ihm das Tablett aus der Hand und versuche, an ihm vorbei zur Tür zu kommen. Romulus hält mich ohne Mühe zurück und ich schlage und trete ihn, so fest ich kann. Was anscheinend nicht sehr fest ist, denn Romulus erträgt alles, ohne auch nur einen Mucks zu machen, und wartet seelenruhig ab, bis mir die Kraft ausgeht. Völlig erschöpft lasse ich mich an ihm heruntergleiten und auf dem Boden nieder. Romulus setzt sich neben mich. Ich schaue zu ihm, wobei mir der Schweiß in Strömen über die Stirn läuft. Seine Miene ist ausdruckslos und unwillkürlich durchzuckt mich bei diesem Anblick die Erinnerung an den Moment, als er unsere Gesundheitsministerin kaltblütig erschossen hat. Und dabei war sie für ihn mehr als nur die Gesundheitsministerin, meine ich.
»Melanie Fawner«, sage ich mit schwacher Stimme wie aus dem Nichts. »Erzähl mir von ihr.«
Romulus nimmt sich einen Augenblick Zeit, um über meine Bitte nachzudenken, und schüttelt dann leicht den Kopf. »Nein.«
»Wieso nicht?« Mein Kopf wird schwer, der unsinnige Kampf gegen Romulus hat mir zugesetzt. Ich lehne mich an die kühle, weißgestrichene Wand und schließe die Augen. Mir ist schwindelig. Wenn ich nicht bereits sitzen würde, würde ich jetzt umkippen.
»Weil ich es nicht möchte«, erwidert Romulus knapp, als wäre diese Antwort völlig ausreichend.
»Du bist merkwürdig«, sage ich schwer atmend und öffne die Augen einen Spalt. Ich sehe einen Muskel an Romulus’ Kinn zucken.
»Das klingt nicht nach einem Kompliment.«
»Weil es keins ist«, antworte ich patzig und runzle ärgerlich die Stirn, was mich unendliche Mühe kostet. Aber seine verquere Art reizt mich, deshalb ist es die Anstrengung wert.
Ich drehe mich zu Romulus und stelle überrascht fest, dass er lächelt. Dabei wollte ich ihm doch zeigen, wie sehr mir seine Schweigsamkeit auf die Nerven geht. Aber sein Lächeln wirkt entwaffnend, ich spüre, wie meine Wut verraucht. Entkräftet lege ich meinen Kopf auf Romulus’ Schulter ab und bleibe in dieser Position, bis ich kurz darauf einfach an Ort und Stelle einschlafe.
Es dauert noch etwa eine weitere Woche, bis mein Verlangen nach Mentalin endlich nachlässt. Ich fühle mich wie von einem Auto überrollt. In meinen Gliedern steckt überhaupt keine Kraft mehr und schon fünf Minuten auf den Beinen bringen mich so außer Atem, dass ich nach Luft hechele.
Romulus jedoch nickt zufrieden, als er mich in meinem erbärmlichen Zustand sieht. Ich bin so erschöpft, dass ich nicht einmal mehr wütend auf ihn sein kann, weil er mich gegen meinen Willen durch diese Tortur geschickt hat. Er behält mich noch einen Tag und eine Nacht im MediOffice und versetzt mich in einen langen, traumlosen Schlaf, der meinem Körper die Gelegenheit geben soll, sich zu erholen. Danach komme ich mir zumindest wieder halbwegs wie ein normaler Mensch vor.
»Wie geht es dir?«, will Romulus von mir wissen.
Ich überlege. Besser, natürlich, doch ich fühle mich auch ausgebrannt. Wo zuvor mein Verlangen nach Mentalin, außerdem noch Verzweiflung, Schuld und Angst gewesen sind, ist nur ein tiefes Loch übrig geblieben. In meinem Kopf ist neuer Platz frei geworden, aber ich weiß nicht, womit ich ihn füllen soll.
»Gut«, lüge ich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich Romulus erklären soll, wie es in mir aussieht.
»Meinst du, du bist bereit?«, fragt er mich behutsam, als fürchte er, dass ich doch gleich wieder zusammenklappen könnte.
»Wofür?«, frage ich zurück.
Romulus presst die Lippen zusammen. »Für die öffentlichen Untersuchungen.«
Man sieht mir meine Nervosität sicher schon von weitem an, als ich mit wackligen Knien meinen Platz im Zeugenstand einnehme und gelobe, die Wahrheit zu sprechen. Ob ich hierfür bereit bin, hat mich Romulus gefragt, und ich habe bejaht. Es ist wichtig, dass alles aufgeklärt wird, was an Silvester passiert ist. Aber trotzdem habe ich Angst davor, diese Nacht noch einmal zu durchleben. Selbst wenn es nur in Gedanken ist. Es lässt diesen schlimmen Albtraum so schrecklich greifbar und real erscheinen.
So etwas wie das hier hat es in der Geschichte unseres Landes noch nicht gegeben. Ein Untersuchungsausschuss, der öffentlich beleuchten will, welche Gräueltaten in unserem Land ohne Wissen der Bürger begangen wurden. Und von wem.
Dass ich keine Ahnung habe, was genau auf mich zukommt, ist ein weiterer Grund für meine Nervosität. Ich will es nur so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Die Vorsitzende der Jury hat ein strenges Gesicht und erinnert mich an einen Raubvogel. Unter ihrem stechenden Blick schrumpfe ich ein wenig zusammen. Eigentlich habe ich mir fest vorgenommen, souverän zu bleiben. Gelassen. So, als wäre ich mir meiner Sache absolut sicher. Tja, so viel dazu.
»Miss Green, würden Sie uns bitte schildern, was am Tag Ihres Unfalls bei Techraid passiert ist.« Sogar ihre Stimme erinnert mich an einen Vogel, sie gleicht einem Krächzen.
Ich reiße mich zusammen und beginne stockend zu erzählen. Von meiner Arbeit bei Techraid. Meinem Sturz auf dem Ölfleck, den der kleine Jaden nicht richtig beseitigt hat. Doch erst, als ich mit meiner Schilderung im MediOffice und den Tests angelange, denen ich mich unterziehen musste, spüre ich das Interesse der Jury aufflammen. Ich lasse meinen Blick über die Reihen der Leute gleiten, die da vor mir sitzen. Fünfzig an der Zahl, zufällig zusammengewürfelt. Frauen und Männer in den verschiedensten Altersklassen, Mechaniker, Lehrer, Wissenschaftler. Jeder Einzelne von ihnen wurde per Los gezogen, um ein möglichst repräsentatives Bild von der Meinung der Bevölkerung Last Havens zu erhalten. Es spielt keine Rolle, ob der- oder diejenige die Aufgabe gerne übernehmen wollte. Sie ist verpflichtend.
Obwohl Romulus mir versichert hat, dass mir keinerlei Gefahr droht und ich zunächst nur als Zeugin und nicht als Angeklagte aussagen muss, habe ich Angst. Davor, erneut mit dem konfrontiert zu werden, was ich getan habe. Denn so unschuldig, wie Romulus mir weismachen möchte, bin ich leider nicht.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, Rex Jenkins starb eindeutig durch meine Hand. Selbst wenn man Notwehr geltend machen möchte, ändert das doch nichts daran, dass ich den Abzug gedrückt habe. Ich verspüre wirklich nicht den geringsten Wunsch, das Geschehene noch einmal im Detail durchzukauen. Und der Mord an Rex Jenkins ist nicht einmal das Schlimmste, was ich an diesem Abend getan habe.
Ich erzähle der Jury von dem Intelligenztest, den ich absolvieren musste. Und davon, wie Romulus mein Ergebnis gefälscht hat, um mir eine Anstellung im Verteidigungsministerium zu verschaffen. Die Vorsitzende macht sich eifrig Notizen dazu. Sicher wird sie sich das Ganze noch einmal haarklein von Romulus persönlich berichten lassen, wenn er an der Reihe ist. Diese Art von Information scheint besonders wertvoll für sie.
Ich beantworte Fragen zu meinen Aufgaben in Clive Newmans Team und meinem Unterricht. Großes Interesse zeigt die Jury an meinen Gesprächen mit Rex Jenkins. Seinen Drohungen, sollte ich die Probephase nicht bestehen. Doch natürlich hat Jenkins nie ausgesprochen, was in diesem Fall mit mir geschehen würde. So unvorsichtig ist er nicht gewesen. Den entscheidenden Hinweis darauf, in welcher Gefahr ich geschwebt habe, hat mir wieder einmal Romulus gegeben, nachdem ich in der geheimen Abteilung im Untergeschoss auf die Reproduktionslabore gestoßen bin, die sich dort zusammen mit dem Bereinigungstrakt befunden haben – ohne, dass die Bevölkerung Last Havens Kenntnis davon hatte.
Der Raubvogel nickt konzentriert. Ich habe das Gefühl, dass sie von mir enttäuscht ist. Vermutlich hat sie sich brauchbarere Informationen erhofft. Hinweise darauf, wer alles davon wusste, dass man mich liquidieren wollte, hätte ich die Anforderungen nicht erfüllen können. Stattdessen weiß ich leider nicht allzu viel.
Ich erzähle von unserem Beschluss, die Regierung zu stürzen, und von den geheimen Treffen im MediOffice. Von meinem Plan, bei Techraid einzubrechen und Waffen zu stehlen. Die Jury hört aufmerksam zu, hakt hin und wieder nach, lässt mich aber weitestgehend ohne Unterbrechung reden.
Schließlich legt die Vorsitzende ihre Stirn in Falten und mustert mich nachdenklich. »Kommen wir nun zur Silvesternacht.«
War es zuvor schon ruhig im Plenarsaal des Präsidentengebäudes, in dem die Untersuchungen abgehalten werden, so tritt jetzt auf einen Schlag Totenstille ein. Ich wage es nicht, einen Blick hinter mich zu werfen, wo die Publikumsplätze gut gefüllt sind. Diejenigen, die wie ich aussagen müssen, wurden für die zehn Tage, in denen die Jury tagen wird, von ihrer Arbeit befreit, um für weitere Fragen auf Abruf zur Verfügung stehen zu können. Jeder, der Zeit und einen Platz findet, kann den Anhörungen beiwohnen. Mit Ausnahme der Hochverdächtigen, versteht sich, darunter insbesondere Politiker, Ärzte, Wächter. Die werden sicher verwahrt, bis sie die Gelegenheit bekommen, sich zu verteidigen.
Auch ohne hinzusehen, weiß ich, dass die Anwesenden diesem Moment entgegengefiebert haben. Die meisten von ihnen sind vermutlich nur aus dem einen Grund hier: Sie wollen aus erster Hand erfahren, was in jener Nacht passiert ist. Silvester liegt inzwischen knappe drei Wochen zurück. Dass der Tod von Rex Jenkins und die Zerstörung der Labore auf meine Rechnung gehen, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Für all diejenigen, die mein Gesicht noch nicht kennen oder nicht persönlich hier sein können, wird meine Aussage gerade für ganz Last Haven sichtbar live im Fernsehen übertragen. Keine Geheimnisse mehr, lautet das neue Motto, stattdessen Transparenz. Dass ich nach dem heutigen Tag nie wieder etwas tun kann, ohne als Rex Jenkins’ Mörderin erkannt zu werden, schert keinen. Außer mir. Aber es ist wohl eines der vielen Opfer, die gebracht werden müssen, wenn wir etwas ändern wollen. Und ich habe wahrscheinlich auch nicht das Recht, mich zu beschweren.
Ich schlucke und spreche mir innerlich Mut zu. Dann schildere ich das, was geschehen ist, möglichst nüchtern, weil ich mich emotional nicht damit auseinandersetzen kann. Ich erzähle, wie ich dachte, unser Plan sei gescheitert, als Rex Jenkins mich noch vor dem Eintreffen der Rebellen festgesetzt hatte. Meine Stimme wird trotz meines Vorsatzes, sachlich zu bleiben, ganz dünn und wacklig, als ich an dem Punkt angelange, wo Meg mich befreit hat. Der Gedanke an sie ist jetzt, wenige Wochen nach dieser schrecklichen Nacht, noch immer unerträglich.
Die Jury interessiert sich zum Glück nicht weiter für Meg, dafür umso mehr für die Rolle der Wächter, die auf mich aufgepasst haben. Ich weiß, worauf sie alle hinauswollen. Doch es wird unheimlich schwierig werden, genau herauszufinden, wer von den Wächtern wie weit in die Machenschaften der alten Regierung eingeweiht war. Und wer einfach nur Befehle befolgt hat, ohne etwas zu wissen. Keine leichte Aufgabe. Wahrscheinlich sogar eine unmögliche.
Ich berichte vom Eintreffen Mikes, seiner Gefolgsleute von Techraid und anderer, die sich ihnen auf dem Weg in Ring A angeschlossen haben. Sie haben dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, doch die Jury ist der Meinung, dass der Zweck in diesem Fall die Mittel heiligt. Mike selbst wurde heute Morgen befragt, genau wie einige andere meiner ehemaligen Kollegen. Darunter auch Chris, Megs Freund, der mit uns in der Werkstatt gearbeitet hat. Ich spüre ihre Blicke in meinem Rücken, während ich spreche. Beide haben es sich nicht nehmen lassen, meiner Anhörung persönlich beizuwohnen. Und ich hoffe inständig, dass die Jury mit mir genauso gnädig sein wird wie mit ihnen und ich nicht in Kürze selbst in Gewahrsam genommen und mich auf der Anklagebank wiederfinden werde.
»Woher wussten Sie, dass sich Rex Jenkins in den Laboren aufhielt?«, fragt die Vorsitzende mich skeptisch, als ich schildere, wie ich mich auf die Suche nach ihm gemacht habe.
Ich zucke ratlos mit den Schultern. »Ich hatte es einfach im Gefühl«, sage ich hilflos.
Sie gibt sich mit meiner Antwort zufrieden und ich fahre fort. Meine Unruhe steigt, je näher ich meiner unausweichlichen Begegnung mit Jenkins komme.
Ich denke zurück an mein Gespräch mit Romulus gestern Abend. »Was soll ich ihnen denn sagen?«, habe ich ihn hilfesuchend gefragt.
»Die Wahrheit«, hat er mit sanfter Stimme geantwortet und mir dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen.
Nun gut, die Wahrheit also. Transparenz. Wer weiß, vielleicht fühle ich mich nach meinem Geständnis sogar besser? Ich atme noch einmal tief durch.
»Als ich Jenkins gefunden habe, war er nicht allein.« Mein Blick fällt auf die Kamera, die gerade direkt auf mein Gesicht gerichtet ist. Umgehend bemühe ich mich darum, meine verkrampften Züge zu entspannen. Ich will nicht so verbissen wirken, wenn ich schon überall zu sehen bin. Denn dann sieht es so aus, als hätte sogar ich Zweifel an der Richtigkeit dessen, was ich getan habe. Genauso ist es zwar, aber ich möchte trotzdem nicht, dass jeder so ein schlechtes Bild von mir hat wie ich selbst. »Ein Wächter war bei ihm. Und meine Mitbewohnerin, Ivy. Er hatte sie als Geisel genommen.«
»Bitte beschreiben Sie uns den Wächter etwas genauer«, fordert die Juryvorsitzende mich auf. Natürlich, wieder sind es die Wächter, die von allgemeinem Interesse sind, und nicht die kleine Ivy.
»Er war jung, etwa mein Alter. Braunes Haar. Braune Augen.« Hübsche Augen, setze ich in Gedanken hinzu. Und schlanke Hände mit langen Fingern. Doch das brauchen sie nicht zu wissen. »Sein Name war George.«
»Wir haben einen Wächter namens George Meyers zur Befragung geladen. Können Sie uns bestätigen, dass es sich dabei um denselben Mann handelt, der mit Ihnen in den Laboren war?« Sie blenden ein Bild ein, auf dem George in seiner schwarzen Uniform förmlich in die Kamera lächelt. Auf seiner Brust der goldene Anker, umgeben von einem Ring aus Stacheldraht. Ich nicke wortlos.
»Was geschah dann?«
Ich schildere, wie Jenkins mich zwingen wollte, Chester Fields dazu zu bewegen, die Aufständischen zurückzurufen. Wie er George aufforderte, Ivy zu erschießen, als ich mich geweigert habe. Das muss herzlos in den Ohren der Jury klingen, das ist mir bewusst, und ich schäme mich für mein Verhalten. Ohne Mentalin hätte ich sicher anders gehandelt, zumindest hoffe ich das. Doch schließlich habe ich recht behalten. George war nicht dazu in der Lage, Ivy etwas anzutun. Ich hebe diese Tatsache besonders hervor. Weil ich nicht will, dass er Schwierigkeiten bekommt.
»Nachdem Jenkins klar wurde, dass George ihm nicht gehorchen würde, hat er selbst nach der Waffe gegriffen. Daraufhin habe ich ihn erschossen«, presse ich hervor. So, jetzt ist es raus.
Keine Ahnung, weshalb mir das so schwerfällt, schließlich kennt doch jeder längst die Wahrheit. Aber dann wird mir bewusst, dass es das erste Mal seit Silvester ist, dass ich ausspreche, was ich getan habe. Und es fühlt sich eigenartig an. Meine Hände sind klitschnass und ich reibe sie an meiner Hose trocken. Hoffentlich kann man das auf den Bildschirmen nicht sehen.
»Können Sie sich noch erinnern, wie viele Schüsse Sie abgegeben haben?«
»Drei.« Als könnte ich das je vergessen. Drei Schüsse, direkt in die Brust.
»Würden Sie selbst sagen, dass Sie aus Notwehr gehandelt haben?«
Ich zögere. Die Frage ist heikel, aber ich habe mit ihr gerechnet. Auch wenn ich im Augenblick der Tat tatsächlich in erster Linie Ivys und mein Wohlergehen im Sinn hatte, gehörte Rex Jenkins’ Tod doch zum Plan. Hätte ich es auch über mich gebracht, wenn Jenkins nicht nach seiner Waffe gegriffen hätte? Wenn das Mentalin mich nicht abgeklärt hätte? Ich versuche, mir Romulus’ Worte während unseres Gesprächs darüber ins Gedächtnis zu rufen. »Sie werden dir nicht übel nehmen, was du getan hast«, hat er mir eingetrichtert. »Im Gegenteil. Sie werden dir dankbar sein. Nicht alle, aber die meisten. Der Großteil der Bevölkerung Last Havens lebt in Ring C und D, vergiss das nicht.« Ich presse die Lippen aufeinander, obwohl ich dadurch sicher wieder verkrampft und schuldbewusst im Fernsehen aussehe.
»Ja«, sage ich schließlich zögerlich und denke erneut an Romulus und das, was er gesagt hat. Die Wahrheit.
Die Juryvorsitzende bedenkt mich mit einem strengen Blick aus ihren Raubvogelaugen.
Doch bevor sie zu einer Erwiderung ansetzen kann, füge ich schon hinzu: »Aber ich hatte ohnehin nicht vor, Rex Jenkins am Leben zu lassen. Sein Tod erschien mir nötig.«
Hinter mir höre ich Gemurmel im Publikum, aber mein Blick ist fest auf die Frau mit dem aschblonden Pferdeschwanz und der krummen, schnabelähnlichen Nase gerichtet. Einen Moment lang ist sie von meiner Antwort verwirrt. Dann jedoch verzieht sie die schmalen Lippen zu einem kaum sichtbaren Lächeln und schreibt etwas in ihre Unterlagen. Sie jedenfalls scheint zu denen zu gehören, die mir dankbar sind. Erleichtert atme ich auf.
Dass ich anschließend die gesamte Etage in Brand gesetzt und sowohl die Reproduktionslabore als auch den Bereinigungstrakt zerstört habe, ist ebenfalls kein Geheimnis mehr, trotzdem erzähle ich die Geschichte noch einmal. Es fällt mir deutlich schwerer, als über Rex Jenkins zu sprechen. Wegen der vielen unschuldigen Föten, die dem Feuer zum Opfer gefallen sind, obwohl sie in ihrem kurzen Dasein gar nicht die Gelegenheit hatten, etwas falsch zu machen. Geschweige denn, überhaupt zu leben. Und wegen Melody. Allein ihren Namen auszusprechen fühlt sich nicht richtig an. Obwohl ich genau genommen nicht für ihren Tod verantwortlich bin, nagen die Schuldgefühle unaufhörlich an mir.
Ich frage mich, ob Titus meine Schilderung gerade im Fernsehen verfolgt. Unter den Anwesenden ist er jedenfalls nicht. Überhaupt habe ich ihn seit Silvester nicht oft zu Gesicht bekommen. Worüber ich froh bin. Dabei war er wie ich für einige Zeit im MediOffice untergebracht, um sich von seinen Verletzungen zu erholen. Aber ich weiche ihm genauso aus wie er mir.
Endlich darf ich gehen. Die Juryvorsitzende nimmt für einen Moment ihre strenge Miene ab und schenkt mir ein freundliches Lächeln, bevor sie mich entlässt. Ich zwinge mich, es tapfer zu erwidern, und verlasse den Saal. Erhobenen Hauptes. Fast so, als hätte ich an allem, was ich getan habe, nicht den geringsten Zweifel. So viele Leute versuchen mir einzureden, dass mein Handeln etwas Gutes bewirkt hat, und wenn ich vortäusche, dass ich mir dessen ebenfalls sicher bin, glaube ich vielleicht irgendwann daran. Hoffentlich.
Nur wenige Sekunden später kommen Mike und Romulus gemeinsam mit dem Zuschauerstrom aus dem Raum. Die beiden nebeneinander zu sehen, ist eigenartig, weil sie jeweils zu einem anderen Leben gehören. Und auch, weil sie verschiedener kaum sein könnten. Mike ist klein, drahtig und hat schwarzes Strubbelhaar, Romulus dagegen ist groß, kräftig und strohblond.
Wir lassen zunächst die übrigen Leute an uns vorbeiziehen. Manche von ihnen kenne ich, sie gehören zu denjenigen, die an der Seite von Mike in der Nacht des Putsches gekämpft haben. Die meisten nicken mir freundlich oder aufmunternd zu oder klopfen mir auf die Schulter. Auch Chris ist unter ihnen. Es fällt ihm jedoch schwer, mir überhaupt in die Augen zu sehen. Wahrscheinlich erinnere ich ihn zu sehr an Meg, die nicht mehr da ist. Trotzdem gibt er sich Mühe, den Anschein von Normalität irgendwie zu wahren, und wir wechseln ein paar belanglose Worte; einfach nur, um zu demonstrieren, dass zwischen uns beiden alles in Ordnung ist. Ich bin heilfroh, als er endlich weiterzieht und ich nicht mehr sein schmerzhaft verzerrtes Gesicht sehen muss.
»Wie war ich?«, frage ich nervös, als wir alleine sind.
»Diplomatisch«, erwidert Romulus schmunzelnd.
»Du hast deine Sache gut gemacht«, sagt Mike und legt mir den Arm um die Schulter. Ich lehne meinen Kopf gegen seinen Hals und schließe einen Moment die Augen. Als ich gehört habe, dass er für die Befragungen zurückkommen würde, habe ich seiner Ankunft regelrecht entgegengefiebert. Ich wünschte, er würde hierbleiben. Von allen Menschen auf der Welt kennt Mike mich am längsten und versteht mich am besten. Jetzt jedenfalls, wo Meg tot ist.
»Lasst uns essen gehen«, sagt er und ich lasse mich von ihm mit sanftem Druck Richtung Ausgang schieben.
Das Essen im Speisesaal des Verteidigungsministeriums kann ich jedoch nicht genießen. Zu viele Augenpaare drehen sich in unsere Richtung. Meine Kollegen tuscheln und zeigen mit dem Finger auf uns. Ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Da sitzen wir drei – die Mörderin von Rex Jenkins, der Mörder von Greg Livingston und der Anführer der Aufständischen, die die Regierung gestürzt haben – und essen zu Abend, als wäre nichts gewesen. Offenbar sind nicht alle begeistert von den Veränderungen, die jetzt auf uns zukommen. Das gilt besonders für die Menschen hier in Ring A.
Ivy taucht auf und gesellt sich demonstrativ zu uns.
»Wie war die Befragung?«, will sie wissen und schaut mich beklommen an. Ihre Sorge rührt mich, weil ich ja eigentlich die Ältere von uns beiden bin und Ivy an Silvester selbst einiges durchstehen musste, vor dem ich sie gerne beschützt hätte.
»Gut«, beruhige ich sie.
»Gehst du ab jetzt wieder in den Unterricht?«, fragt sie.
Ich seufze schwer und nicke schicksalsergeben, aber Ivy sieht glücklich aus. Die letzten Wochen hatte ich aufgrund meiner Verletzungen und meiner Rolle während des Putsches eine gewisse Sonderstellung und musste nicht arbeiten. Erst wurden meine Wunden versorgt, dann kam der Mentalinentzug und jetzt noch die öffentlichen Untersuchungen. Es ist den außergewöhnlichen Umständen geschuldet, dass ich so lange ohne Beschäftigung war, wo doch zuvor beinahe jeder einzelne Tag meines Lebens aus Arbeit bestand. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich muss wie alle anderen wieder meinen Platz in der Gesellschaft einnehmen und meinen Beitrag leisten. Daran hat sich nichts geändert und das ist natürlich auch richtig so. Ich will niemandem zur Last fallen. Das bedeutet Unterricht am Morgen, zumindest noch für einige Wochen, Büro am Nachmittag. Einerseits freue ich mich darauf, etwas zu tun und nicht mehr so viel Zeit zum Grübeln zu haben. Ich brauche eine Beschäftigung, will wieder einen Nutzen haben. Andererseits fühlt sich bereits der Gedanke an Normalität nach dem, was passiert ist, absurd an. Im Verteidigungsministerium erinnert mich alles so sehr an die schlimmen Ereignisse der Silvesternacht, dass ich am liebsten von hier weg will. Aber wohin sollte ich? Chester hat mir zwar angeboten, zu Techraid zurückzugehen, aber da wäre es die allgegenwärtige Erinnerung an Meg, die mich aufwühlen würde. Ich kann den Geistern, die mich plagen, nicht entkommen. Ganz gleich, was ich tue.
»Da kommt Ben!«, sagt Ivy und trifft damit den nächsten Punkt, der mir meine Vorfreude auf den Wiedereinstieg im Verteidigungsministerium vermiest. Ich werde nach wie vor mit Ben in Clive Newmans Büro zusammenarbeiten müssen. Wie das nach allem, was er mir angetan hat, funktionieren soll, ist mir schleierhaft.
Ivy ist nicht entgangen, dass mein Blick beim Klang des Namens deutlich kühler geworden ist. Sie lässt die Hand sinken, mit der sie Ben gerade zu uns winken wollte. Noch bevor sie den Mund aufmachen und etwas dazu sagen kann, wende ich mich an Romulus und wechsle rasch das Thema.
Am nächsten Morgen ist Romulus mit der Befragung an der Reihe. Ich nehme ebenfalls im Publikum Platz und bin fast so aufgeregt wie gestern, als die Kamera auf mich selbst gerichtet war. Meine Versuche, mit Romulus über die Vorkommnisse in der Silvesternacht zu sprechen, hatten bis jetzt wenig Erfolg. Alles, was ich bekomme, sind einsilbige Antworten. Er will nicht mit mir reden, weder über Melanie Fawner, noch über den Tod von Greg Livingston, noch über irgendwas anderes, was mit ihm zu tun hat. »Du weißt doch, was passiert ist«, lautet die Standardantwort auf meine Fragen. Aber es reicht mir eben nicht zu wissen, dass er die beiden erschossen hat. Ich will erfahren, wie es dabei in ihm ausgesehen hat, wie es ihm jetzt, Wochen später, damit geht. Ob ihn seine Erinnerungen genauso quälen wie mich meine. Es würde mir helfen, zu hören, dass ich nicht alleine vor diesem riesigen Berg an Schuld und Schmerz stehe. Ich würde mich nicht so hilflos fühlen, mit ihm an meiner Seite.
Auch wenn Romulus vor der Jury genauso wenig aus dem Nähkästchen plaudern wird wie bei mir, so hoffe ich doch, ein paar zusätzliche Informationen zu erhalten. Es macht mich wirklich traurig, dass ich eine öffentliche Untersuchung dafür benutzen muss, Romulus und seine Gedanken besser kennenzulernen. Es sollte nicht so sein. Ich bin keine Expertin in Sachen Beziehungen, aber so viel meine ich doch inzwischen gelernt zu haben.
Waren die Publikumsplätze bei meiner eigenen Anhörung schon gut gefüllt, so quellen sie jetzt regelrecht über. Es hat sich herumgesprochen, dass Romulus der Kopf unserer ganzen Aktion war. Und im Gegensatz zu mir verfügt er über zahlreiche Informationen darüber, wer im MediOffice über Reproduktionslabore und die Tötung von alten und kranken Bürgern Bescheid wusste. Es steht außer Frage, dass während der nächsten Stunden sowohl die Schaulustigen als auch die Jurymitglieder auf ihre Kosten kommen werden.
Ganz anders als mir sieht man Romulus die Nervosität nicht im Geringsten an. Er wirkt geradezu gelassen, als er seinen Platz vor der Jury einnimmt. Auch ohne sein Gesicht zu sehen, weiß ich, wie er gerade aussieht. Die Miene unergründlich und die stechenden grauen Augen aufmerksam und abwartend auf die Vorsitzende gerichtet. Völlig unmöglich zu sagen, was in seinem Kopf dabei vorgeht.
Sachlich, nüchtern und ohne Zögern beantwortet er alle Fragen der Jury. Und das sind viele. Welche Ärzte haben außer ihm selbst die Gesundheitsprüfungen geleitet und die Gutachten erstellt, aufgrund derer entschieden wurde, wer leben und wer sterben sollte. Wer hat die Hinrichtungen durchgeführt. Wer hat entschieden, welche Personen Genmaterial für die Züchtung neuer Menschen spenden sollten. Und wer war in unseren Plan, die Regierung zu stürzen und ihre Machenschaften ans Licht zu bringen, eingeweiht. Romulus nennt einen Namen nach dem anderen. Ich staune selbst nicht schlecht, als ich höre, dass es durchaus Leute im MediOffice gibt, die gewusst haben, dass Romulus Jahr für Jahr Gutachten gefälscht und Medikamente unterschlagen hat. Die ihn gedeckt und ihm den Rücken freigehalten haben, auch wenn sie selbst nicht mutig genug gewesen sind, ebenfalls aktiv zu werden. Eine von ihnen ist Andrea Weaving, Romulus’ Assistentin, die gerade nur wenige Plätze von mir entfernt sitzt und nervös mit einer Strähne ihres roten Haars spielt. Ich habe sie immer für überehrgeizig und kühl gehalten. Offenbar habe ich mich in ihr getäuscht.
Je mehr Namen Romulus offenbart, desto mulmiger wird mir zumute. Sicher, die Menschen in den äußeren Ringen von Last Haven, die Arbeiter, Farmer und viele andere, werden ihn für seinen Mut feiern. Aber hier … Ich werde das Gefühl nicht los, dass Romulus gerade dabei ist, sich zum Feindbild Nummer Eins für sehr viele Leute im Regierungsbezirk zu machen. Nicht nur für diejenigen, die nach seiner Aussage zur Rechenschaft gezogen werden. Auch für alle, denen die Veränderungen nicht gelegen kommen, weil sie selbst all die Jahre von dem grausamen System profitiert haben. Ich kann nur hoffen, dass ihm das nicht eines Tages auf die Füße fallen wird.
»Wer hat den denn gewählt?«, schnaubt Ivy ungläubig, als das blasse, nichtssagende Gesicht von James Frank, der ab morgen neuer Verteidigungsminister von Last Haven sein wird, auf dem Bildschirm erscheint. Wir sitzen beim Abendessen und sehen uns gemeinsam die Zusammenfassung der Wahlen an. Heute wurden die neuen Ratsmitglieder gewählt. Jeder von uns durfte teilnehmen, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Ich kannte die meisten, die zur Wahl aufgestellt waren, jedoch nicht und musste mich dabei von meinem Gefühl leiten lassen. Bei Techraid hat nur Mike über Politik gesprochen, hier im Verteidigungsministerium ist das aber Tagesordnung. Jetzt verfolge ich die Bekanntgabe der Ergebnisse mit großem Interesse.
Chester Fields, der vorübergehend das Amt des Staatsoberhaupts übernommen hatte, wurde inzwischen vom neuen Rat einstimmig in dieser Funktion bestätigt. Jetzt ist er also endlich wieder ganz offiziell der Präsident von Last Haven – und zwar in Folge einer freien Wahl. Ich bin mehr als erleichtert darüber, obwohl kaum jemand Zweifel hatte, dass genau das passieren würde. Es ist, wie Romulus sagt: Die meisten Einwohner Last Havens stammen aus den äußeren Ringen und sie haben sich ihre Repräsentanten in den Rat gewählt, um sicherzustellen, dass von jetzt an auch ihre Interessen vertreten werden. Davor waren es die Wahlmänner, die entschieden haben, und die stammten fast ausschließlich aus den inneren Ringen. Die Politik von Last Haven soll eine krasse Kehrtwende machen – auch wenn sich hier in Ring A der Unmut darüber regt.
Ivys Freundin Maja ist bei uns, und sogar Benjamin hat es gewagt, sich dazuzusetzen. Ich ignoriere ihn, so gut ich kann, habe mir aber zumindest vorgenommen, mich mit bösen Worten zurückzuhalten, auch wenn es schwerfällt. Ich tue es, weil wir nach wie vor Kollegen sind und Nachmittag für Nachmittag aufeinanderhocken, ob es mir nun passt oder nicht. Vor allem aber auch um Ivys Willen. Ich weiß, dass sie trotz Bens Verrat an mir noch immer an ihm hängt. Er gehört zu den wenigen Freunden, die sie hat, weil die meisten unserer Kollegen sie um ihre außergewöhnliche Intelligenz und ihre Schönheit beneiden. Nicht nur einmal hat Ivy während der letzten Tage versucht, mich davon zu überzeugen, dass Ben nur mein Bestes im Sinn hatte, als er mich bei Rex Jenkins angeschwärzt hat. Und wer weiß, vielleicht hat sie damit sogar recht. Aber so gut im Vergeben und Vergessen bin ich nun mal nicht. Bens Dummheit hätte mich fast das Leben gekostet, darüber kann ich nicht einfach so großmütig hinwegsehen. Trotzdem hat Ivy die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass alles zwischen uns dreien wieder so werden kann wie früher. Für die wenigen Monate, die ich hier gearbeitet habe, waren wir wirklich ein tolles Dreiergespann. Ich will ihr diese Illusion nicht nehmen, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass das niemals der Fall sein wird.
»Wie gut kennst du ihn denn?«, frage ich mit Blick auf James Frank, den neuen Chef im Verteidigungsministerium, unseren neuen Vorgesetzten.
Ivy dreht sich zu mir um, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. »Er hat letztes Jahr einen Vortrag über Eroberungspolitik gehalten. Er ist ein Langweiler. Trocken wie ein Stück Brot.«
»Vor allem aber ist er ein brillanter Stratege«, wirft Ben lächelnd ein und wuschelt Ivy durch die Haare, so dass sich ein paar Strähnen aus ihrem Zopf lösen und jetzt struppig abstehen. Unwirsch schlägt sie seine Hand beiseite und schüttelt verständnislos den Kopf.
Eroberungspolitik, wiederhole ich in Gedanken und schnalze mit der Zunge. Noch immer ist das Problem der Nahrungsmittelknappheit nicht gelöst und es wird jeden Tag dringlicher. Last Haven hat den Gürtel bereits ziemlich eng geschnallt, seit kurzem ist auch der Wasserverbrauch in den Bädern noch stärker eingeschränkt worden. Beim Duschen wird der Hahn nach einer Minute automatisch zugedreht, weil nicht klar ist, ob wir dieses Jahr mit ausreichend Regen rechnen können. Ich schaffe es kaum, das Shampoo aus meinen Haaren zu spülen, bevor ich wieder im Trockenen stehe. Aber ich traue mich nicht, auch nur ein Wort der Beschwerde darüber zu verlieren, genauso wenig wie Ivy, deren Haarpracht noch wesentlich mehr Pflege benötigt. Uns ist bewusst, dass solche Maßnahmen nötig sind. Und natürlich haben wir keine Alternativen parat. Die Ressourcen von Last Haven sind ausgeschöpft.
Die letzten Sommer gab es Missernten aufgrund der Dürre. Noch ist es zu kalt zum Säen, aber in wenigen Wochen wird es losgehen und die Bewässerung der Pflanzen wird oberste Priorität haben, denn die kommende Ernte ist überlebensnotwendig. Aber das allein wird womöglich gar nicht reichen, zumindest nicht für alle. Schließlich war die Aussicht darauf, dass nur ein Teil der Bevölkerung dieses Jahr überstehen kann, ein Grund dafür, dass Greg Livingstons Wunsch, die Bevölkerungszahl zu dezimieren, im Rat auf so viel Zuspruch gestoßen ist.
Die Erweiterung unserer Grenzen dagegen hat zu seinen umstrittenen Maßnahmen, langfristig die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, gehört. Aber war Chester Fields nicht seit eh und je ein Gegner dieses Schritts? Hat die Bevölkerung etwa Angst davor, dass er die Probleme nicht auf andere Weise in den Griff bekommen könnte und deshalb jemanden wie James Frank gewählt? Ich nehme mir vor, Romulus bei der nächstbesten Gelegenheit zu fragen, ob sich da schon jetzt ein Problem zwischen dem Rat und unserem Präsidenten abzeichnet. Falls er mir darauf eine Antwort gibt.
Von den ehemaligen Ratsmitgliedern ist Patricia Hewett die Einzige, die auch weiterhin ihr Amt als Ministerin für Bevölkerungsplanung behalten darf. Sehr zu meinem Bedauern, denn ich kann sie nicht ausstehen. Ich kann nicht vergessen, dass sie ihre Zustimmung zur Auslöschung Fairfields gegeben hat, und schon gar nicht kann ich ihr das verzeihen. Nein, Verzeihen ist wirklich nicht meine Stärke, soviel habe ich inzwischen über mich selbst gelernt.
Die anderen neuen Minister sind mir unbekannt. Alles in allem sind Ivy und Ben zufrieden mit dem Rat. Und wenn die beiden zufrieden sind, dann ist das ein gutes Zeichen.
»Es wird sich einiges tun, da bin ich mir sicher«, sagt Ben zuversichtlich. »Last Haven wird bald ein besserer Ort sein.«
Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört, obwohl seine Worte mich doch beschäftigen. Ein besserer Ort. Keine Hinrichtung von Alten und Kranken mehr, allein dafür hat sich unser Putsch doch schon gelohnt. Ich klammere mich an diesen Gedanken, weil er die Last meiner Schuld kleiner erscheinen lässt und dem Tod so vieler einen größeren Sinn gibt.
Um bessere Lösungen für die bestehenden Probleme zu finden, wird die neue Regierung rund um die Uhr arbeiten müssen. Chester hat uns versichert, dass das System auch ohne derart drastische Maßnahmen funktionieren kann, das hat es früher schließlich auch getan. Doch Disziplin gehört nach wie vor zu den Grundpfeilern unserer Politik und es wäre naiv zu glauben, dass wir zukünftig weniger entbehren müssen als zuvor. Wahrscheinlich wird es eher mehr sein.
Aber was genau ist jetzt noch meine Aufgabe? Ich habe das alles ins Rollen gebracht und sitze jetzt doch wieder hier, Tag für Tag, an meinem Schreibtisch, täusche Normalität vor, obwohl doch noch so viel Arbeit vor Last Haven liegt. Du packst mit an, indem du deine täglichen Aufgaben erledigst, ermahne ich mich streng. Aber ich kann mir nicht helfen, irgendwie bin ich frustriert und fühle mich nutzlos. Denn ich weiß: Eigentlich bin ich für meine Arbeit im Büro nicht mal geeignet, wenn man dem Eignungstest glaubt. Hätte Romulus das Ergebnis nicht gefälscht, wäre ich gar nicht hier.
Meine Mitbewohnerinnen halten jetzt noch mehr Abstand zu mir. Von Ivy abgesehen waren wir ja schon vor unserem Putsch nicht sehr eng, aber sie haben sich zumindest um ein bisschen Freundlichkeit und Wärme bemüht, um den Frieden in der Wohneinheit zu wahren und sich selbst das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Aber als Ivy und ich wenig später schlafen gehen, bekomme ich nicht mehr als ein kühles, steifes Nicken von Kate und Sue. Dann wenden sie sich wieder von uns ab und tun so, als wäre ich Luft. Am deutlichsten jedoch lässt mich Ariana spüren, was sie von mir hält. Der Blick, mit dem sie mich bedenkt, ist so eisig, dass es mich regelrecht fröstelt. Ich kann die anderen sogar in gewisser Weise verstehen. Ich denke an den kleinen Sam, wie er mit zerschossenem Bauch im Schnee gelegen hat. Und an all die anderen Unschuldigen, die an Silvester zwischen die Fronten geraten sind. Ich würde mich an Stelle meiner Kollegen ebenfalls hassen. Und genau das tue ich ja auch. Mit mir selbst und meiner Schuld zu leben ist noch tausendmal unerträglicher, als es die Entgiftung vom Mentalin war. Denn anders als bei den Entzugserscheinungen ist hier kein Ende in Sicht – die Toten werden nicht wieder lebendig, ich kann nichts mehr ungeschehen machen.
Und der einzige Mensch, der mir dabei helfen könnte, dass ich mich besser fühle, redet nicht mit mir.
Am nächsten Tag nimmt die neue Regierung offiziell ihre Arbeit auf.
Chester Fields hält nach dem Dienstschluss eine Rede vor dem Regierungsgebäude, obwohl es noch immer sehr kalt ist. Die Winter werden von Jahr zu Jahr länger, genau wie die Sommer. Einen richtigen Frühling dazwischen gibt es kaum noch, stattdessen kommt es immer wieder zu schweren Stürmen und Tornados. Einige Hartgesottene haben sich nichtsdestotrotz draußen versammelt, um sich das Spektakel live anzusehen, doch Ivy und ich ziehen uns schon nach wenigen Minuten ins wohlig warme Innere zurück, wo wir das Geschehen auf den großen Bildschirmen verfolgen. Die Renovierungsarbeiten, die noch im Gange sind, wurden extra für dieses Ereignis unterbrochen.
»Heute ist ein besonderer Tag in der Geschichte unseres Landes«, sagt Chester feierlich. »Er kennzeichnet eine längst überfällige Wende. Und damit wir uns auch in Zukunft immer wieder an das erinnern, was passiert ist, erkläre ich ihn zu unserem nationalen Feiertag, dem Tag der Besinnung. Denn das ist es, was wir heute tun. Wir besinnen uns auf das zurück, was unsere Vorfahren vor Jahren mit der Gründung von Last Haven bezweckt haben: die Schaffung eines Zufluchtsorts, wo wir ohne Angst um unsere Existenz leben können.«
Unauffällig blicke ich mich um und studiere aufmerksam die Gesichter meiner Kollegen. Die meisten von ihnen verfolgen die Rede mit großem Interesse. Ich erkenne an ihren zusammengepressten Lippen und den Falten auf der Stirn die allgemeine Skepsis, die Chester Fields entgegenschlägt. Trotzdem ist sie nicht so groß wie die Verachtung, die ich tagtäglich zu spüren bekomme. Die Menschen hier kennen Chester noch von früher. Viele haben ihn sogar sehr geschätzt, wenngleich er in den äußeren Ringen von Last Haven sicherlich beliebter gewesen ist als hier. Vielleicht kann es ihm tatsächlich gelingen, das Vertrauen der Menschen nach und nach zurückzugewinnen. Aber es liegt einiges an Arbeit vor ihm.
»Wir haben dieses Ziel während der letzten Jahre aus den Augen verloren. In dem Bestreben, immer besser, effizienter zu werden, sind unaussprechliche Verbrechen an der Bevölkerung Last Havens begangen worden. Auch wenn ich weiß, dass meine Worte das niemals ungeschehen machen können, bitte ich Sie alle um Verzeihung. Für die Ungerechtigkeiten, für unsere Unaufrichtigkeit Ihnen gegenüber. Ich verspreche, dass ich den Rest meines Lebens darauf verwenden werde, Wiedergutmachung zu leisten.«
Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie Romulus gerade den Flur entlang in unsere Richtung läuft. An seiner Seite spaziert, die roten Haare wie üblich hochgesteckt und die Füße in eleganten Pumps, Andrea Weaving.
»Für eine Wende ist es nötig, dass wir uns von jeglichem alten Ballast befreien. Sie alle haben während der letzten Tage die Möglichkeit gehabt, die Untersuchungen zu verfolgen und diejenigen, die sich der unmenschlichen Verbrechen schuldig gemacht haben, zu erkennen. Die Jury hat inzwischen ihr Urteil gefällt. Als Beweis dafür, dass wir uns weiterentwickelt und aus unseren Fehlern gelernt haben, werden wir auf die Verhängung der Todesstrafe jedoch in diesem Fall verzichten. Diejenigen, deren Schuld besonders schwer wiegt, werden stattdessen aus Last Haven verbannt und dürfen niemals zurückkehren.«
Diese Ankündigung sorgt für Erstaunen unter den Anwesenden. Ich höre, wie um mich herum die Luft angehalten und »Oh!« und »Was?« gerufen wird. Das ist definitiv neu und kommt unerwartet. Ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas in der Geschichte unseres Landes jemals vorgekommen ist. Die Todesstrafe für Schwerverbrecher hat bisher so selbstverständlich zu unserer Justiz gehört, dass ich sie noch nie infrage gestellt habe. Sie wurde ohnehin in den seltensten Fällen angewandt, wahrscheinlich, weil es durch unsere spartanische Lebensführung kaum zu ernsthaften Konflikten kommt. Wir haben kein Geld, um das wir uns streiten könnten, und auch sonst haben wir kaum einen Einfluss auf unser Schicksal. Wenn es zu Problemen kommt, handelt es sich meist nur um kleine Reibereien während der Arbeit, die – sollten sie ausarten – mit Gemeinschaftsdiensten oder unangenehmen Belehrungen bestraft werden. Auch die ehemaligen Ratsmitglieder werden in die Verbannung geschickt, teilt uns Chester mit.
Allerdings interessieren mich diese Ausführungen gerade weniger, als sie es sollten. Viel mehr beschäftigt mich, dass Andrea Weaving in eben diesem Moment freundschaftlich ihre Hand auf Romulus’ Arm legt. Solange Miss Weaving für mich nicht mehr war als die kühle, unverbindliche Assistentin, als die ich sie kennengelernt habe, habe ich nie eine Gefahr in ihr gesehen. Doch jetzt, wo ich weiß, dass sie Romulus all die Jahre über unterstützt hat, sieht die Sache anders aus. Offensichtlich sind die beiden nicht nur Komplizen gewesen, sondern sogar befreundet. Und für eine gute Freundin ist mir Andrea Weaving eindeutig zu hübsch. Beim Anblick der vertrauten Geste zwischen den beiden kommt die Eifersucht so heftig und unvermittelt über mich, dass Chesters sicherlich spannende Rede völlig in den Hintergrund gerät.
»Ich bin mal kurz weg«, raune ich Ivy zu, die nicht mitbekommen hat, dass sich meine Aufmerksamkeit mittlerweile ganz anderen Dingen zugewandt hat.
»In Ordnung«, erwidert sie, ohne die Augen vom Fernseher abzuwenden.
Ich schlüpfe zwischen den Umstehenden hindurch und halte geradewegs auf Romulus zu, der genau wie ich keine Augen für Chester hat. Stattdessen lacht er über etwas, das Miss Weaving gesagt hat.
Meine Eingeweide ziehen sich schmerzhaft zusammen. Ich bin selbst überrascht, wie heftig ich auf die beiden reagiere. Während der letzten Wochen bin ich nicht gerade anhänglich gewesen. Was Zärtlichkeiten angeht, sind – von unserem Kuss während des Entzugs abgesehen – gelegentliche Umarmungen das höchste der Gefühle gewesen, was ich Romulus zugestanden habe.
All diese schrecklichen Dinge, die passiert sind, die Ereignisse und Gefühle, die nicht über unsere Lippen wollen, stehen irgendwie nach wie vor zwischen uns. Wir haben es schon vor Silvester nicht auf die Reihe gekriegt, normal miteinander zu reden, und jetzt noch weniger. Wir können noch nicht mal auf andere Themen ausweichen, weil die plötzlich so belanglos erscheinen, dass es mir lächerlich vorkommt, darüber zu sprechen. Das Bild, wie Romulus Melanie Fawner kaltblütig ins Gesicht schießt, taucht auch jetzt noch hin und wieder ungefragt vor meinem inneren Auge auf, wenn ich ihn sehe. Ich kann nichts dagegen tun. Und es zeigt mir einerseits, wie schlecht ich ihn kenne, und erinnert mich andererseits so sehr und auf brutale Weise an das, was ich selbst getan habe. Es gibt Momente, da kann ich Romulus nicht mal in die Augen schauen, ohne dabei den Klang von Schüssen zu hören.
Trotzdem brauche ich ihn an meiner Seite, er gehört zu mir. Ich will mit ihm zusammen sein. Er ist – neben meinen schmerzhaften Erinnerungen an Meg – der Hauptgrund, weshalb ich nicht mit Mike zurück zu Techraid wollte. Obwohl die Arbeit im Verteidigungsministerium ebenfalls nicht leicht für mich ist, will ich in Romulus’ Nähe sein. Das wird mir mit jedem Schritt klarer, den ich auf die beiden zugehe. Hoffentlich kommt diese Erkenntnis nicht zu spät.
Als Romulus mich kommen sieht, erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ich erwidere es mit solch ungewohnter Inbrunst, dass ich befürchte, er könne sich davor erschrecken.
»Hallo Aida!«, sagt Andrea Weaving freundlich.
Ich schenke ihr einen kurzen, kühlen Blick. »Guten Tag, Miss Weaving«, entgegne ich und bemühe mich um denselben höflich distanzierten Tonfall, den sie mir gegenüber stets angeschlagen hat. Auch wenn ich insgeheim weiß, dass das kindisch ist.
»Nenn mich doch Andrea.«
Ich nicke kommentarlos und wende mich wieder Romulus zu. »Kann ich dich einen Moment sprechen?«, frage ich ihn. »Allein.«
Romulus mustert mich neugierig und runzelt leicht die Stirn. »Ja, klar«, sagt er langsam. »Entschuldige uns bitte, Andrea.«
»Natürlich«, flötet sie mit einem Lächeln, für das ich ihr am liebsten eine Ohrfeige geben würde, so unerträglich süß ist es.
Ich ziehe Romulus hinter mir her durch den Flur, der weitestgehend verlassen ist. Alle befinden sich im notdürftig renovierten Foyer oder im Park, um Chesters Rede zu lauschen. Ich drücke die Klinke der erstbesten Tür herunter, an der wir vorbeikommen. Betrete den Raum dahinter, wo offenbar die Reinigungsroboter außerhalb ihres Einsatzes gelagert werden und der gerade zusätzlich als Garderobe missbraucht wird. Ein paar Leute haben rasch ihre Jacken hier reingehängt, nachdem sie sich gegen die eisige Kälte draußen und für die wohlige Wärme innerhalb des Gebäudes entschieden haben. Jetzt jedoch ist der Raum menschenleer. Romulus folgt mir wortlos. Mein Verhalten scheint ihn zu verwundern. Tja, dann wird ihn das, was jetzt kommt, sicher noch mehr überraschen.
Schmunzelnd und mit hochgezogenen Brauen schaut sich Romulus um. »Also, was gibt es, das du hier mit mir besprechen willst?«
Meine Beine sind ein wenig wacklig, trotzdem bin ich entschlossen, zu tun, was ich mir erst vor wenigen Augenblicken vorgenommen habe. Statt auf seine Frage zu antworten, schlinge ich meine Arme um Romulus’ Hals und gebe ihm einen kurzen, zärtlichen Kuss. Als ich mich wieder von ihm löse, sehe ich das Erstaunen in seinen Augen. Eine Spur Skepsis außerdem. Aber in erster Linie – und zu meiner großen Erleichterung – ist es doch Freude.
»Wo kommt das denn auf einmal her?«, fragt er mit leisem Lachen. Da ich ihm kaum erzählen kann, dass es meine Eifersucht auf Andrea Weaving ist, die mir die Augen geöffnet hat, antworte ich mit einem weiteren Kuss. Einem langen, leidenschaftlichen diesmal. Ich will ihm nah sein, ihm zeigen, dass ich ihm nah sein will, und wenn es nur so geht, dann eben so. Es dauert nur eine Sekunde, bis Romulus seine Frage schon wieder vergessen hat. Eine seiner Hände fährt mir durchs Haar, die andere legt er um meine Taille und drückt mich damit so fest an sich, dass mir beinahe die Luft wegbleibt. Ich kann kaum fassen, wie gut sich das anfühlt.
Wir fahren beide herum, als plötzlich die Tür aufgeht und ein junger Mann hereinkommt, der hastig nach seinem Mantel greift. Mitten in der Bewegung hält er inne, als er uns erblickt, noch immer eng umschlungen. Es ist Titus.
Ausgerechnet Titus! Einen Augenblick lang starrt er uns einfach mit offenem Mund an. Bevor seine Miene zu Stein wird und er ohne ein Wort auf dem Absatz kehrtmacht und die Tür hinter sich ins Schloss wirft.
Betreten schaue ich zu Romulus, der seufzend die Hand aus meinem Haar nimmt und mir übers Gesicht streicht. Dann blickt er in die Richtung, in die Titus gerade davongestürmt ist.
»Ich rede mit ihm«, sagt er. Die Enttäuschung darüber, dass dieser lang ersehnte Moment von Nähe und Vertrauen so abrupt beendet wurde, ist ihm deutlich anzuhören.
Ich nicke nur, ebenfalls unwillig. Aber Hauptsache, Romulus erwartet nicht von mir, dass ich mit Titus spreche. Denn ich kann mir gut vorstellen, wie der sich gerade fühlt. Es muss wie ein Schlag ins Gesicht für ihn sein, mich mit Romulus zu sehen, während er Melody für immer verloren hat. Und sicher gibt er mir die Schuld an ihrem Tod, einfach nur, weil ich dabei war, als sie sich selbst in Brand gesteckt hat.
»Wir sehen uns später.« Romulus verabschiedet sich mit einem letzten Kuss und ich bleibe allein zurück. Seufzend lehne ich mich gegen die Wand und schließe die Augen. Versuche, etwas Ordnung in das Chaos an Gefühlen zu bringen, die gerade auf mich einstürmen. Es sind so viele und sie sind so verschieden, dass ich überfordert bin. Die nagende Schuld gegenüber Titus liefert sich ein Gefecht mit dem berauschenden Gefühl von Glück, das Romulus’ Nähe in mir ausgelöst hat. Dazu kommt die Erleichterung darüber, dass ich nach allem, was geschehen ist, überhaupt noch dazu in der Lage bin, so etwas wie Glück zu empfinden.
Ja, und ein kleines bisschen bin ich sogar wütend. Auf Titus, weil er den unglaublichen Moment mit Romulus unterbrochen hat. Auf Romulus, weil er es für wichtiger hält, mit Titus zu reden, als mich weiter zu küssen. Und auf mich, weil ich Romulus so lange hingehalten und dadurch kostbare Zeit vergeudet habe. Vor allem auf mich, eigentlich. Wie immer.
Gerade als ich den Raum verlassen und zu Ivy zurückkehren will, höre ich einen Schuss. Erschrocken bleibe ich stehen. Im Bruchteil einer Sekunde reagiert mein Körper auf das Geräusch, pumpt Adrenalin durch die Gefäße, der Schweiß bricht mir aus und mein Atem geht unnatürlich schnell. Weitere Schüsse. Mit zitternden Fingern öffne ich die Tür. Beim Anblick des Tumults im Foyer fühle ich mich wie festgenagelt. Was ist passiert?
Um mich herum preschen die Leute auseinander und rennen in Richtung der Treppenhäuser. Ich sehe meine Kollegin Sarah, ohne mich zu bemerken, an mir vorbeieilen und angstvolle Blicke hinter sich werfen. Von draußen strömen immer mehr Menschen herein. Mir war gar nicht bewusst, dass doch so viele im Park waren. Panisch schubsen sie sich gegenseitig und rennen einander über den Haufen, um schneller ins Innere zu gelangen. Es fühlt sich wie ein Déjà-vu an. Ich spüre, wie sich meine Kehle langsam zuschnürt und mir schwindelig wird.
»Aida!« Ben ist unter ihnen, sieht mich und kämpft sich den Weg zu mir frei. Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu, aber schon ist er bei mir und schiebt mich in die andere Richtung davon, dem Strom der Leute folgend, die sich in ihre Wohneinheiten flüchten wollen. »Wir sollten da jetzt nicht rausgehen. Du am allerwenigsten.«
»Was ist denn passiert?«, frage ich verwirrt und vergesse, dass ich Ben für immer ignorieren wollte. »Ich habe Schüsse gehört.«
Mit grimmigem Gesicht zieht Ben mich weiter, ohne auf meine Frage einzugehen. Ich reiße mich los.
»Auf wen wurde geschossen?«, rufe ich laut, ich schreie beinahe. Hört das denn niemals auf? Ich will keine Gewalt mehr sehen, keine Waffen, kein Blut.
Ben bleibt stehen und sieht mich mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an.
»Chester Fields«, sagt er dann.
»Wie geht es ihm?« Ich sitze auf meinem gewohnten Platz in Romulus’ Büro und trommle nervös mit den Fingern auf den Schreibtisch. Es ist kurz vor Mitternacht. Aber ich bin nicht müde. Heute Nacht bin ich sicher nicht die Einzige in Last Haven, die keinen Schlaf findet. Im ganzen Land werden die Menschen gerade miteinander diskutieren und bangen, anstatt in ihren Betten zu liegen.
»Sein Zustand ist stabil. Er wird schon bald wieder wohlauf sein«, sagt Romulus.
Ich seufze erleichtert. »Gut.« Chester lebt und dabei wird es bleiben, ein tonnenschwerer Stein fällt mir vom Herzen. Nicht auszumalen, was geschehen könnte, wenn das Attentat erfolgreich verlaufen wäre. Ohne Chester an der Spitze ist unser Versuch, Last Haven dauerhaft menschlicher zu machen, zum Scheitern verurteilt. Niemand aus dem Rat könnte seine Position einnehmen. Chester Fields ist die Gallionsfigur unserer Sache, nicht nur, weil er die inneren genau wie die äußeren Ringe repräsentiert. Sondern auch, weil er der lebende Beweis dafür ist, dass kranke Menschen, die Jenkins und Livingston längst abgeschrieben hätten, zu einer Leistung imstande sein können, die ihnen niemand zugetraut hat. Er ist ein Hoffnungsträger für alle, die darum fürchten mussten, dem System mehr zur Last zu fallen, als ihm zu nutzen. Er ist ein Hoffnungsträger für mich. Das Schicksal, das uns beide ohne unseren Putsch erwartet hätte, ist das gleiche. Auch wenn ich mittlerweile dazu verdammt bin, in Clive Newmans Büro zu hocken, ist Chester nach wie vor zentral für die Entwicklungen in Last Haven. Und gerade jetzt, wo sich das Land im Umbruch befindet, wäre es so leicht, alles wieder umzuschmeißen.
Nach einem Moment des Schweigens wird mir etwas bewusst. Ein Anschlag auf Chester Fields kommt nicht überraschend. Was mich jedoch schockiert, ist, wie schnell es passiert ist. »Das wird nicht der letzte Akt des Protests sein.«
»Nein«, stimmt mir Romulus erschöpft zu und schüttelt den Kopf. »Wir sollten uns darauf gefasst machen, dass so etwas noch einmal vorkommen wird.«
Da der Wächter, der den Schuss auf Chester abgefeuert hat, im anschließenden Feuergefecht ums Leben gekommen ist, hat man ihn leider nicht mehr verhören können. Aber auch so ist klar, dass er zu Livingstons und Jenkins’ Anhängern gehört hat. Einer, dem der Umsturz nicht gelegen kommt.
Romulus sieht mich ernst an. »So wie es ausschaut, wird die nächste Zeit hier sehr ungemütlich werden. Ich könnte besser schlafen, wenn ich dich in Sicherheit wüsste, Aida.«
Verwirrt runzle ich die Stirn. »Was willst du damit sagen?«
»Vielleicht solltest du doch zu Techraid zurückgehen, bis es hier ruhiger wird. Chester kann dafür sorgen, dass dir eine neue Stelle geschaffen wird. Eine, die du trotz deiner Einschränkungen«, er deutet auf meine Hand mit den gerissenen Sehnen, »ausfüllen kannst.«
Das kann ja wohl kaum sein Ernst sein! Ich gebe ein ungläubiges, empörtes Schnauben von mir. Als Romulus’ stechender Blick nach einigen Sekunden immer noch abwartend auf mir ruht, wird mir jedoch klar, dass er es tatsächlich so meint. Was mich rasend macht!
»Das kannst du vergessen.« Verärgert blitze ich ihn an. Diesen Vorschlag aus seinem Mund zu hören, ist ungeheuerlich und unglaublich verletzend.
»Ich will nur nicht, dass dir etwas zustößt«, erklärt Romulus geduldig.
»Da bist du selbst wahrscheinlich in größerer Gefahr als ich«, erwidere ich bissig und denke an unsere Anhörungen zurück. Die Verbannung zahlreicher Ärzte und Politiker geht schließlich auf Romulus’ Konto. Trotzdem würde ich nie auf die Idee kommen, ihn darum zu bitten, von hier fortzugehen. Dass er mich wegschicken will – gerade jetzt, wo wir uns wieder angenähert haben! Wäre ich zurück bei Techraid, würden wir uns kaum noch zu Gesicht kriegen. Das scheint ihm offenbar weniger auszumachen als mir. Wut steigt in mir auf.
»Denk bitte noch einmal darüber nach, in Ordnung?«, rudert Romulus ein bisschen zurück, im Bestreben darum, einen Streit zu verhindern. Aber die Worte sind ja schon gefallen und lassen sich nicht ungesagt machen.
»Nein! Diskussion beendet«, sage ich laut und deutlich.
Romulus presst ärgerlich die Lippen zusammen, äußert sich jedoch nicht mehr zu dem Thema. Als ich mich wenig später verabschiede, ist die Stimmung zwischen uns beiden noch immer ziemlich frostig.
»Bis bald«, sage ich förmlich. Ich überwinde mich dazu, ihm einen kurzen, etwas unpersönlichen Kuss auf die Wange zu geben.
»Ja«, sagt Romulus genauso förmlich und ich mache, dass ich davonkomme.