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Lavapolis ist eine mögliche Insel im Mittelmeer, ein Gegenort. Ihre Bewohner, die Michael Schindhelm in diesem faszinierenden, vielstimmigen, literarischen Gedankenspiel zum Sprechen bringt, sind Gestrandete, Hoffnungsjäger, Enttäuschte und Visionäre. Alle treibt ein latentes oder offensichtliches Unbehagen an der Gegenwart um. Hier berichten sie von ihrem neuen Leben auf der Insel, sich widersprechend, einander zustimmend. In einer anderen Welt wären sie vielleicht Feinde, auf Lavapolis aber sind sie Teil eines Projekts, in dessen Zentrum die Möglichkeit steht, unterschiedlichste Lebensentwürfe zu verwirklichen, die sich dank dieses politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Experiments unaufhörlich erneuern. Michael Schindhelm entwirft mit Lavapolis eine mögliche Zukunft, einen Ausweg aus der scheinbaren Einbahnstraße nach dem Ende aller Utopien und der Diktatur des Wirklichen, und stellt die Frage: Was ist möglich? "Lavapolis" ist Ausgangspunkt eines großen Projekts, das seine Fortsetzung im realen Leben mit Stationen u.a. im Europäischen Parlament in Straßburg und auf der Biennale in Venedig findet und auf der Website lavapolis.com zu verfolgen ist.
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Seitenzahl: 225
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LAVAPOLIS
Michael Schindhelm
Michael Schindhelm
Für Aurore
Wir betrachten eine Insel, die es (noch) nicht gibt, und unternehmen einen gedanklichen Versuch zu der Frage: Was ist möglich?
Die Vermutung sagt: Alles ist möglich. Die Meinungen darüber, was davon wünschenswert ist, gehen aus- und durcheinander. Die Welt soll gerechter, freier, sicherer, ganzheitlicher, umweltbewusster etc. werden. Die einzelne Meinung verlangt das Mögliche, die Summe der Meinungen verlangt das Unmögliche.
Die hier versammelten Protokollanten bilden keine Summe. Sie widersprechen sich und stimmen einander zu. In einer anderen Welt sind sie vielleicht Feinde. Doch mit ihrem ersten Tag auf der Insel werden sie Teil eines sozialen Projekts. Die gemeinsame Erwartung: Die Insel-Gesellschaft ermögliche Lebensentwürfe, die sich dank eines politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Experiments unaufhörlich erneuern. Ein Leben zu gleicher Zeit, dessen Umstände und Wandlungen sich nicht dem Einfluss seiner Bewohner entziehen.
Die hier folgenden Protokolle sind aus Erfahrungen, Erkenntnissen und aus Spekulationen zusammengesetzt, die offensichtlich oder latent das Unbehagen der Gegenwart an sich selbst widerspiegeln und zugleich nähren. Die Administration der Insel nennt diese eine Heterotopie, einen Gegenort, der die reale Welt zeigt und zugleich infrage stellt. Der Ort selbst ist zwar unerreichbar (weil fiktiv), birgt jedoch Möglichkeiten – Ablösungen von den scheinbar apodiktischen sozialen oder wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der Gegenwart –, die sich vorübergehend immer wieder ereignen, auch in der realen Welt.
LAVAPOLIS ist der Bericht von diesen Ablösungen.
1
Die Landung
2
Zu gleicher Zeit
3
Im Grauen Haus
Der Meistgelesene Artikel
Faidon,69, derzeitiger Fürst der Insel
Alberto,56, inselgebürtig, Direktor des Ministeriums für Strategische Planung der Regierung Faidon Messinis
Simone,38, Inselbewohnerin seit drei Jahren, aus Frankreich stammend, Dichterin
Karen,34, illegale Inselbewohnerin, stammt aus den USA, Mitglied einer Aktivisten-Bewegung
Friday,32, illegaler Inselbewohner unbekannter Herkunft, Mitglied einer Aktivisten-Gruppe
Dasha,43, seit fünf Jahren Inselbewohnerin russischjüdischer Herkunft, Mutter eines 14-jährigen Sohns, arbeitet in der Einwanderungsbehörde
Diamantis,103, Kolonist der ersten Stunde, ehemals Schlüsselfigur des Wirtschaftsaufbaus unter dem Ur-Fürsten Theodore Messinis
Fabio,48, seit drei Jahren Inselbürger durch Investition, portugiesisch-brasilianischer Abstammung, Vater von drei Söhnen, Unternehmer
Padma,39, seit vielen Jahren Inselbürgerin indischer Abstammung, Mutter von zwei Söhnen, Abteilungsleiterin im Sozialfonds der Regierung
Haruko,29, seit Kurzem inoffizielle Inselbewohnerin japanisch-deutscher Abstammung, Architektin, Mitarbeiterin im sozialen Netzwerk Goodshare
Lazaros,26, seit sechs Wochen griechischer Flüchtling, arbeitslos
Stascha,41, seit Kurzem Inselbesucher, Brite mazedonischer Abstammung, Journalist
Xenia,71, inselgebürtig, Tochter einer Kolonistenfamilie und Kritikerin von Fürst Faidon
Die Städte, in denen wir geboren worden sind, gibt es nicht mehr. Die Städte, in denen wir leben, ganz gleich, wo wir leben, sind die Zeugen unserer Naivität. Unseres Glaubens an eine bessere Welt. Sie sind die Laboratorien unserer Selbstversuche. Die Schauplätze unserer Selbstüberwindung. Wir sind die Vorhut. Wir teilen mit jeder Vorhut, von einer neuen Wahrheit geleitet oder von einem neuen Irrtum verleitet zu werden. Wir werden nicht erfahren, ob sich der Weg gelohnt haben wird.
Meine Familie gehört zur ersten Generation von Zuwanderern. Der griechische Großvater war Maat auf der Attiki gewesen, dem Schiff der ersten Expedition, und wurde später Staatsbürger mit dem Pass Nummer Siebenundneunzig. Die andere Linie meiner Familie stammt aus Tanger und ist sephardischer Herkunft. Die meisten von ihnen sind Anfang der Sechzigerjahre vor den wütenden Arabern nach Paris geflüchtet. Mein Vater nahm auf der Insel eine Stellung als Französischlehrer im damals neu gegründeten Lyzeum an und heiratete ein Jahr später die Tochter meines griechischen Großvaters.
Es gibt gute Gründe, warum wir uns – wie viele Immigranten der ersten Stunde – dem Hause Messinis gegenüber zu tiefem Dank verpflichtet fühlen. Im Vergleich zu dem sozialen Elend und der politischen Unruhe ringsum in der mediterranen Welt wirkt die Insel wie eine Schutzzone. Eine inzwischen ziemlich stabile Schutzzone. Das ist nicht immer so gewesen. Unsere Lebensumstände lassen sich aus einer ungewöhnlichen Landesgeschichte ableiten, in der zwei Menschen die entscheidende Rolle gespielt haben: Fürst Theodore und dessen Sohn Faidon Messinis.
Stellen Sie sich vor, es ist gerade ein Weltkrieg zu Ende gegangen, das Land steht am Abgrund eines neuen militärischen Konflikts und Ihre Familie, deren Oberhaupt Sie sind, besitzt eine Insel, die fünfhundert Jahre lang von einem Vulkan verwüstet worden ist. Jetzt ist er erloschen. Streng genommen sind Sie staatenlos und verfügen über ein Haus und ein Kontor in einem unbedeutenden Nest in der Ägäis und über sechs durchschnittlich fünfundzwanzig Jahre alte Frachtkähne, die unter der Flagge eines Landes fahren, das von den Amerikanern gerade befreit worden und politisch wie wirtschaftlich völlig erschöpft ist.
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