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Der Countdown beginnt im 25. Stock eines Hochhauses in New York: Worauf Lavinia von dort aus zurückblickt, ist ein Leben, vor dessen Abgründen ihr selbst schwindelt. Wie im Sturz durch ihre Geschichte und die Zeiten erzählt sie von ihrem Aufwachsen und Frauwerden, ihren Lieben und Verlusten, von Verheerungen und Missbrauch, von Unterwerfung und ihrem Willen, sich zu behaupten. Tiefer und tiefer führt sie den Leser im Taumel des Erinnerns und im Sprachrausch des Erzählens zurück in die deutsche Provinz nach dem Krieg, in das unschuldige wie ungeschützte Glücksempfinden einer Kindheit, die in Erfahrungen von Gewalt endet, zu den versuchten Abbrüchen und Aufbrüchen eines Lebens, das sich bei allem Wanken immer wieder unbeugsam zeigt.Lavinia ist eine Selbst- und Weltbetrachtung voller Hingabe und Wut, bitter und zärtlich, schonungslos und empathisch. Ein Lob der Liebe und ein Bekenntnis zu Widerständigkeit. Ein Buch darüber, wie sich beides in Literatur verbinden kann zu einem Rettungsversuch in schwindelnder Höhe.
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Seitenzahl: 207
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2019 Jung und Jung, Salzburg und WienAlle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten.Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-169-8
DAGMAR LEUPOLD
Roman
den Zugefallenen
COME AGAIN
Come again:Sweet love doth now invite,Thy graces that refrain,To do me due delight,To see, to hear, to touch, to kiss, to die,With thee again in sweetest sympathy.
John Dowland,First Booke of Songes and Ayres
25. Stock Überfallen
24. Rückfall
23. Befall
22.-21. Glücksfall
20. Fall in Love
19. ff. Freier Fall
10. Zwischenfall
9. Gefallen
8. Fallschirm
7. Unfall
6. Fallwind
5. Ausfall
4. Fall out
3. 4. Fall
2. Die Gefallenen
1. Wutanfall
Wer ergründen will, muss herab.
Der Wind ist mein Freier. Wie wohlwollend, wie leichtsinnig die Luft, wie nachsichtig und drollig die Kumuluswölkchen. Vom lieben Gott angemessen kontingentiert. Harmlose Wolkenfelder am galanten Rokoko-Sky. Den Himmel duze ich, in Sachen heaven bleibe ich beim Sie. Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor, jauchzt der Erzengel Uriel in einer Schöpfungsmusik – die Erschaffung der Welt als organische Mise en Place durch den obersten Manager. Gar nicht kalt, für einen Tag im Oktober. Leichte Brise von Südwest. Bei den Pfadfindern lernt man, einen Finger angefeuchtet in die Luft zu strecken, um daran ablesen zu können, woher der Wind weht. Nicht fahnden, sondern stillhalten ist die Devise. Im Laufe des Tages Eintrübung, erhöhte Sturmgefahr. Schinderhengst oder Hexenwind oder Geißtöter taufte man früher die Winde, nach dem Wesen, das ihm zum Opfer fallen würde. Ach. Wem zu Lieb ich bin. Im Herbst wird geerntet, nachgerufen, vorgeträumt. Erinnerst du dich, wie wir uns einmal geschworen haben, nie aus Tassen zu trinken, auf denen »Lieblingsmensch« steht? Und niemals zu sagen, man sei Baujahr soundso? Ein schöneres Jawort hätte ich mir nicht wünschen können. Wären die Stunden, in denen wir einander im Blick hatten, Kilometer, wir hätten längst die Welt umrundet.
Um die Aussicht wurde ich beneidet. Lavinia, sagten die Besucher und ließen ihren Blick über den Hudson im Westen und die Miss Liberty im Süden schweifen, taxierend, als handele es sich auch bei Fluss, Insel und Statue um eine Immobilie, deren Wert es zu bestimmen galt, Lavinia, du bist ein Glückspilz. Luftsprünge würden wir machen, an deiner Stelle. Und das Ganze auch noch als Sozialwohnung! Der Gipfel. Dann inspizierten sie mit Kennermiene und gefasst auf alles die beiden Zimmer, die Küchennische, das Bad. Gaben schließlich mir und der Wohnung, unterm gleichmäßigen und gleichmütigen Schleifen des Deckenventilators, die Gesamtnote Befriedigend. Ich nahm gern an solchen Auftritten teil und prahlte mit der Geschichte vom Einzug, als ich die Küchenschränke einer Radikalkur unterzog und den Kakerlaken, die sich darin häuslich eingerichtet hatten, mit deutscher Gründlichkeit den Garaus machte. Bei der Pointe zogen wir alle die Köpfe ein.
Ich bin zurück.
Von Balkonen aus, der bodenlosen Fortsetzung ins Luftige, schweift es sich in die Ferne und in die Tiefe. Dem Schauenden gehen die Augen über. Panorama: Allschau. Entbundene Sichtweisen.
Da ist die Loreley, Prachtstück der weißen Rheinflotte, wie sie den steingrauen Strom durchpflügt und bräunliche Schaumkronen gegen den Bug schlagen, da ist das Chrysler Building mit seiner schuppigen Haut, als sei es gerade erst den Fluten in die Vertikale entkommen, und da ist die Burg Stolzenfels. Ich rieche Kartoffelpuffer und Weißwäsche, der Schaft des Holzlöffels, mit dem sie im großen Topf gewendet wird, ist ausgebleicht. Die zweite Nutzung desselben Löffels ist seltener: eine Tracht Prügel auf den Hintern. Nicht entblößt, nein, das wäre zu katholisch. Ich höre das Scheuern der Geschäftskoffer am feinen Tuch der Eilenden, die in der Börse verschwinden wie in einer aufgerissenen Schiffsluke. Daneben die Auslage von Hempels Sanitärbedarf in der Adolfstraße, eine Unterschenkelprothese ist im Schaufenster ausgestellt. Auf den Stufen kauert ein Kunde, der Vietnam-Veteran von der Penn Station. Im Takt seiner Herzrhythmusstörungen scheppert er die Budweiser-Dose gegen die steinerne Treppenkante. Die speckige Kappe birgt kupferne Pfennige und messingfarbene Cents. Es könnte auch ein Veteran des Irakkriegs sein. Oder Afghanistan. Oder oder. Wie die Versehrten einander gleichen. Wie einander gleicht, was fehlt. Alle rabiat gealtert. Auch das kleine, uralte syrische Kind an den Gestaden, im roten Fräcklein bäuchlings gestrandet. Kein Weidekörbchen, das es aufnähme, kein hohes Gras, das es schützte, keine Pharao-Tochter, die sich erbarmte. Heiße Zähren im World Wide Web, sein kalorienreicher Treibstoff. Die echten Tränen verdorren auf hoher See im schneidigen Wind, mischen sich unter die Gischt, verkrusten. Und begleiten die Versinkenden lautlos in die Tiefe. Spricht man nicht bei der Geburt gerührt vom kleinen Erdenbürger? Und dann: ozeanischer Gleichmut, kontinentale Arroganz. My Lord! Kannst du mir hier oben, unter uns, darauf antworten? Bitte nicht gelehrt sein.
Herbstlicht ist sakrales Licht, Banken, Kirchen, Kaufhäuser, Wohnhäuser – alle leuchten und verheißen gratis, wofür man später zur Kasse gebeten wird. I was born in fall – ich kenne mich aus. Die Eiche wird sklerotisch, die Buche rostet, die Linden bekommen Gelbsucht, der Ahorn Fieber. Um ein H(aar) sind »herbsten« und »sterben« verwandt. Passanten sind wir, Luftikusse, das Vorübergehen ist uns eingeschrieben. Wer es nicht wahrhaben will, sucht die Zerstörung. In der Vernichtung oder im Rückgang, im Einfrieren. Wer es wahr sein lässt, muss zuallererst das Fürchten verlernen. Und lernen, angesichts des rasend rieselnden Sands, zu entlassen, was wir bewahren. Wir schreiben, wir gravieren, wir fotografieren, pflanzen, wir lieben. Wir berühren. Und wir schauen:
Da ganz unten, am Ufer des Hudson, eines der Community Colleges der Stadt. Kein Efeu rankt an den porösen Mauern empor, nirgendwo weht ein akademischer Talar. Vom Meer her salzige, feuchte Luft, die die Fahnen – kaum ein Eingang ohne die Stars & Stripes – tränkt und beschwert, sodass sie baumeln wie entlassene Putzlappen. Puppengroß laufen die Studenten über den Campus, strömen in die Unterrichtsräume und wischen die Müdigkeit mit matten Handbewegungen von Stirn und Augen. Sie hatten Nachtschicht oder haben quengelnde Kinder oder einen hochsiedenden Streit um Geld, Eifersucht, Aufräumen hinter sich. Und vor sich. Abendkurs Lit. Theory: From Plato to Dryden. Vor den graffitiübersäten Pulten stehe ich, Lavinia, die Lehrerin, klein und zag. Vor mir, in der ersten Reihe, Jocelyn, die Puerto Ricanerin – mit einem Hut groß wie eine Satellitenschüssel – die zwei benachbarten Plätze müssen frei bleiben, damit sie ihren anmutig-heroischen Kopf ungehindert drehen und wenden kann. Jocelyn also meldet sich fingerschnipsend ungeduldig und fragt:
What was the name of this other guy?
Ich bin überfordert: Other guy?
The other Greek guy!
Aristoteles?
Yeah! Jocelyn ist glücklich, wirft sich in die Rückenlehne des ramponierten Schulstubenstuhls, die Creolen an ihren Ohrläppchen schaukeln heftig, als sie ausruft: Was he gay?
Ich fange mir eine Ohrfeige ein, als ich, Tochter meines Vaters, in der ersten Klasse der Kaiser-Wilhelm-Volksschule zu meiner unschönen Nebensitzerin mit Hasengebiss sage: Du bist hässlich. Hinter den Fenstern, die eisern geschlossen bleiben, als sei frische Luft für Schulanfänger eine Gefährdung, liegen Brachen. Längst ist noch nicht alles wieder bebaut oder schon in Parkplätze umgewandelt, es wuchern Beifuß, Löwenzahn, Brennnessel und Spitzwegerich. Noch kreist der Krieg in allen Blutbahnen. Wie Schimmelpilzsporen tief ins Gewebe gebohrt, der Erbmasse zuzurechnen. Nichts ist verraucht, mit geblähten Lungen tief durchatmen. Wenigstens einmal. Verlangen die Turnväter, die nachgelassenen.
In den Wasserbecken, Wunden der in Rauch und Asche verschwundenen Türme, tiefe Fußspuren im lehmigen Grund, Baugrube und Grab zugleich, spiegeln sich die Zwillingsgespenster. Nine-Eleven. Als Tragflächen wie Sägeblätter durch Stein und Beton und Metall und Glas schnitten. Die Kehle durch. Danach bloß noch Röcheln. Noch immer gibt es Kioske, die Schlüsselanhänger als Souvenir verkaufen, welche die beiden Türme zeigen, gereckt wie Ausrufungszeichen. Das Souvenir ist der Erzfeind der Erinnerung. Kalenderweisheit. Der neue Turm, liest man, ist den alten, gefällten um soundsoviel Meter überlegen. Da zeigt sich die ganze Hilflosigkeit der Produktmanager, die, wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, 20 % Prozent mehr, gleicher Preis auf die beworbene Ware schreiben.
Und dort? Bereits halb im Dunst? Ja, das ist der bleistiftspitze Turm der Mainmetropole, dort wird die Messe gefeiert vor lauter Ungläubigen. Uns hat er, der gespitzte Stift, ins Herz getroffen, wie der sagenhafte Pfeil der Frau Venus. Wir gerieten aneinander und besiegelten den schönen Zusammenstoß, den Beginn der bilateralen Beziehung, mit Wein von der Nahe und Lippenlesen: ausgetauschte Passworte, Zungenglück. ich kondes lutzel hûte frû: / ich kan ez sô wol iezû. Du übertreibst, Lavinia! Nein, ich übertreibe nicht. Später lag dein kleiner Fernsprecher zwischen uns im Bett, wie das Schwert des eifersüchtigen König Marke zwischen Tristan und Isolde. Wehe, wenn er klingelte, der kleine Fernsprecher.
New York ist die Stadt der Sirenen. Der bläulich zuckenden Lichtblitze. Es ist, als schwärmten unentwegt erregte Paparazzi aus, den Bluthochdruck der Stadt zu messen. Dampfsäulen winden sich aus unterirdischen Schächten, das ist der Aderlass, im stumpfen weißen Strahl verwirbeln Kaffeebecher und die Flocken letzter analoger Liebesbriefe. Ich küsse Augen, Schläfe, Mund. Und umarme den ganzen Mann. Ablassen? Niemals.
Du bist mein letzter Zufall.
Über der Wall Street ist der Himmel geliftet, wahrlich kein Rettungsschirm, dort schwirren Drohnen. Man weiß nie, ob sie eine Hochzeitsgesellschaft filmen, die nächste Razzia vorbereiten oder von der Paranoia beflügelt werden, die hinter Goldfassaden ausgebrütet wird. In meiner Kindheit gab es einen Schreionkel, bei Artilleriegefechten war sein Trommelfell geplatzt, und er schrie fortan. Zimmertemperatur und Zimmerlautstärke gab es in seinem Leben nicht mehr, gegen den russischen Frost heizte er die Wohnung bis zum Sieden, gegen die Stille der Toten schrie er an. Wie ich mich fürchtete vor ihm! Wie ich mich vor Schreihälsen fürchte, die ohne Schreck schreien! Wie ich mich schäme! Nichts, was keine Scham auslöst.
Das Schwülstige: Ich könnte vor Einsamkeit zerspringen. Das Sachliche: Hupf halt!
Die Scham darüber, Scham zu bedenken. Wer in Nordkorea kann das schon? Oder im Südsudan? Scham über die Dummheit einer solchen Überlegung. Die Scham über das verdruckste Kalkül, der senkrechte Fall könne von Teufelskreisen erlösen. Lange vor der Geburt habe ich einen Schamvorschuss erhalten, zins- und anstandslos ausgezahlt, den trage ich nun ab, lebenslang und wurzelwärts. Und doch auch sternennah, das ist das Schöne am Fall. In Sizilien baut man die Terrassen nah am Dach und nennt sie, bestimmt nach einer Göttin, Astropos, Sternengucker. Auf einer solchen saß ich einmal bei einem sehr frühen Frühstück und spionierte, sah dem käsigen Mond beim Schichtende zu und der Sonne beim Dienstantritt. Der Tag, jener Tag, begann und endete verbündet. Er verschonte mich vor Menschen, die mit Hanteln joggen und zum Mitläufer sagen: Ich gebe immer Vollgas. Er verschonte mich vor Angebern, die Genitivketten bilden, er verschonte mich vor der am eigenen Krisenherd gegarten Galle. Aber nicht vor der Scham angesichts derer, die Schonzeit nicht kennen.
Du bist verstummt. Das Zählwerk der elektronischen Luftpost rief dich als Spitzenreiter aus, erster Preis im Minnesang. Und jetzt, wo die Blätter mürbe werden und im Wind zaudern, verblassen die Ranglisten, dein Name verdunstet, Stufe um Stufe. Lieber Server, lieber Äolus, liebe Juno: Was gehen mich die Nachrücker an? Der Herr Turnus. Nichts. Ach, mein Spitzenreiter! Aus welchen Kriegen kamst du, kommst du? Gerüstet warst du nicht, die Hemdsärmel zu kurz für die langen Arme, ein Ministrant, der sich zu sehr zum Himmel streckte. Leichter Bauchansatz wie bei einer müden Frau. Morgens um vier, in der Wolfsstunde, wenn Melatonin und Cortisol ihre schwarze Tinte ausstoßen, ist mein Kummer schachttief. Und die Zunge verlernt das Preisen und klebt am Gaumen, ein nutzloses Stück Fleisch, dem Herzmuskel angehängt, der mechanisch seinen Dienst versieht, pumpt. Ich lebe auf Pump.
Ein weißer Pick-up, auch gepumpt, rast im Süden der Zunge, die Manhattan der Welt ausstreckt, auf den Fahrradweg und mäht alle Radfahrer und Fußgänger nieder, die dort unterwegs sind. Life is a beach, steht auf dem blutverschmierten T-Shirt eines Gefällten, ja, so ist es: Das Leben ist ein Strand. Wir stranden, vom Wasser geliehen. Aus Komatösen werden Amokläufer, die Logik des Palindroms. Aus der Höhe betrachtet einleuchtend, eine glänzende Erklärung, in Bodennähe alles dummes Zeug. Da gibt es nur die noch restwarme Haut, die nichts mehr schützt. Der Schütze flieht, über eine leer gefegte, im warmen Sonnenlicht des Oktobernachmittags lichtbeschenkte Kreuzung, bis ein Bauchschuss ihn bremst. In der Carnegie Hall wird geprobt, Messa da Requiem, gewaltig erhebt sich das Dies irae, inständig ertönt das Libera me. Stolz und Schreck. Da schmilzen unsere Kunstfaserseelen, Härtetest. Menschenskinder! Reißt euch zusammen und verschärft die Preclearance-Prozeduren für die Einreise ins Paradies. Schuhe aus, Uhren ablegen und Herzen verschließen, Finger auf den wunden Punkt, Augen zu und durch. Im Körperscanner die Arme hochreißen, verdächtige Schatten in der Seelengrube. Haben Sie schon einmal geliebt? Haben Sie Feste gefeiert, statt die Ressourcen zu vermehren? Nannten Sie Ihr Kind gar Animus? Und sind womöglich bestürzt? Für das Jüngste Gericht sind ausschließlich wir zuständig, got it? Yessir. Yes Ma’am. Eine umfangreiche Dame mit dolchspitzen Fingernägeln und einer Uniform in der Farbe von Mondschlamm kontrolliert meine Fußsohlen, es könnte Sprengstoff daran kleben. Sie ist sehr freundlich, und ihre hellen Augen schwimmen in Tränen. Sie übersieht den Sternenstaub der sizilianischen Luftterrasse, sie übersieht die feinen Sandkristalle aus der Minnegrotte, sie übersieht die Schmauchspuren der letzten Umarmung. Ich hatte immer schon eine Begabung fürs Schmuggeln. Lavinia, sagt sie, was für ein schöner Name. Ich verrate ihr nicht, dass meine Namensvetterin eine Heilsalbe im Gepäck gehabt hätte gegen sus getâner minnen, die garantiert die erlaubten 100 ml weit überschritten hätte. Eine Ganzkörperheilsalbe, morgens und abends aufzutragen, begünstigt die Schorfbildung, vorausgesetzt man kratzt nicht. Wie gesagt, das behalte ich für mich. Was ich ihr aber sage – dabei schaue ich in ihre noch immer überschwemmten Augen, die tief sind wie der Blautopf –, ist, frei nach Rainer Maria, Folgendes: immer wieder von uns aufgerissen, / ist die Liebe die Stelle, welche heilt.
Sie gibt mir einen kleinen Klaps, I don’t speak your language, honey, sagt sie, und: You may step aside. Und ich bin mitsamt meiner Blessuren immigriert. Ansteckend? I wo. Dabei habe ich ein kleines Stückchen Europa importiert: Dreck von einem Sturz beim Rollschuhfahren, aufgeschlagene Knie, nicht weiter ernst genommen, sodass zwei winzige Körnchen jenes eigenartig pulvrigen Belags der Nordallee einwachsen konnten und mich seither begleiten, als erste Adresse. Sieben Kilo Dreck schluckt der Mensch bis zu seinem Lebensende, hatte der Vater immer gesagt und sich über das Tatar hergemacht, das sich auf seinem Teller türmte, ein rohes Ei darüber aufgeschlagen. Mit der Gabel stach er so lange ins sonnige Eigelb, bis es ausblutete. Es schmeckte der ganzen Familie. Der Neid auf die größte Portion hält wohl an, wenn ich nun, kaum dass es um Fleisch und Wunden geht, daran denke. Was an Fleisch fehlte, wurde auf den Kindertellern mit Zwiebeln ausgeglichen, die tagelang in den Innenhöhlen, Innenhöllen wüteten und morgens den Atem verwüsteten. Lange her, mittlerweile regieren Männer mit gebleachten Zähnen die Welt, die Mundfäule wird mit Pfefferminzaroma getarnt. Sie verabreden auf dem grünen Rasen, was früher, im dichten Qualm von Zigarren, an Eichentischen beschlossen wurde. Wenn sie – die Golfspieler – zum Schlag ausholen, sieht es aus, als wollten sie nicht Bälle, sondern Köpfe rollen sehen. Der Sensenmann hat die Sense gegen einen Golfschläger eingetauscht. Handicap zum Ausgleich der Benachteiligten? Bullshit! Hand in cap heißt bei diesen Verhandlern lediglich: Ich balle die Faust, statt die Hand auszustrecken. Da zieht sogar der Schiedsrichter den Kopf ein und verzichtet auf das Reuegeld im Hut. Unter dem Grün der sanft gebuckelten Hügel liegen Minen, kein Wunder, dass alle Mitspieler kaum aufzutreten wagen. Die Lunte glimmt im Hauptquartier, aber riechen kann man sie überall, auch hier oben, es stinkt global. Das ist sehr demokratisch: Jeder hat die Wahl, ob er lieber springt oder untergeht. Gehört all das in ein Liebeslied? Nein, aber in ein Liebesleid. So nah beieinander, so verquickt miteinander wie »singen« und »sinken«. Passionsmusik. Hymne und Klage. Das eine steckt im anderen, im Zellschlummer, immer bereit, ein bösartiges Geschwulst auszubilden.
Lavinia, what’s your point?
Ich spreche von unserer Aussteuer, der Aussteuer, mit der wir uns einrichten. Von unserer Mitgift – aus Zellen, aus Kriegen, aus Umarmungen. Von unseren Stimmbändern, die alles befördern.
Ach. Wem zu Lieb ich bin. Vertauscht man auch beim »Lieb« das I und das E, sind wir im Handumdrehen beim Leib (und erneut beim Sinken, beim Hinsinken nämlich): Wie schön hast du mir deinen angetragen, wie beredt um meinen geworben. Ja, habe ich gesagt, sì, oui, yes und tak, ja, ich will, yes, I do. Freie mich. Leg mich aufs Kreuz, möglichst auf das des Südens, die Crux, neben den Kohlensack, dort wo die neuen Sternbilder entstehen in explosiver Schönheit, Funkverkehr: Funken fliegen von meiner zu deiner Zunge, Zeugung und Zeugnis. Die jungen Sprachbälger schlafen mit uns ein unter diesem frisch bestückten Himmel; beim Aufwachen Wortwechsel, Generalprobe im neuen Alphabet, Ganzkörperbefragung. Hier oben danken die Zensoren ab, ihre Antennen reichen nur bis zum Kehlkopf, der Gesang aber entsteht in einer winzigen Nische unter dem linken Schläfenbein (dort, wo die Küsse anlanden) unter tropischen Bedingungen: im Silbenregen, warm und feucht.
Wie aufs Stichwort ergraut der Himmel, gerinnt, quillt, flockt aus, als seien die Wolken Schaumreste früherer Erhitzung. Es blubbert, Restweiß, Hellgrau und Anthrazit werden energisch verrührt, schlagen Blasen, die sich im Zenit türmen. Gummiquark nannten wir so ein Gebilde als Kinder, Brotbelag aus sauer gewordener Milch, der so krümelig war, dass er vom Brot rollte. Jetzt will ich in diesen Quarkwolken versinken wie in einem Federbett! Schubumkehr – sich aufwärts fallen lassen, gegen alle Physik. Unter mir die Welt als Damenkarte: ohne Preisangaben.
Aber es handelt sich um das Vorspiel zu einem schlichten Gewitter. Ein Sommerausleger im Herbst. Welcher obendrein die Fernsicht erhöht und mir den Anblick eines gewaltigen Narrenzugs gewährt. Er zieht und windet sich über die gesamte Länge des Horizonts, hat Ausläufer und Zulauf aus allen Himmelsrichtungen. L. A., die Stadt der Engel und Bösewichte, der bekleckerten Westen ganz im Westen ist ebenso erkennbar wie Harare im Südosten, wo unter mannshohen Schildern mit dem Abbild des greisen Cäsars Panzer auffahren. Der Obernarr mit Haartolle schreitet fahnenschwenkend voran, me first, an der Hüfte ein fettes Holster, ihm folgen der Magyar, der Tigerbezwinger mit entblößter Brust, der dicke Sohn mit Pausbacken und Undercut, der Mann der Gerechtigkeit, die Gauner des Fußballs und der Rennfahrer mit Schoßhund, dem fliegen die Ohren rückwärts vom Überholen. Die Kufiyas der Scheichs flattern heftig in der elektrostatisch geladenen Gewitterluft und behindern die Sicht, macht nichts, man folgt blindlings. Die Blaskapelle spielt Oh when the saints go marchin’ in. Das ist keine Bitte – I wanna be in that number –, sondern eine Feststellung. Sie zählen sich lange vor der Deadline zu den Auserwählten, Zahltage sind etwas für Hohlköpfe. Alle Herren sind Inhaber einer steuerfreien Poleposition, sie starten grundsätzlich bei maximaler Emission, so sorgen sie für Abgehängte. Sunset Boulevard, indeed. Die Sonne geht ganz schön unter. Blitzende Siegelringe, Goldzähne und Rolex hin oder her. Selbstermächtigung und Selbstbedienung, noch in den unverfrorensten Spielarten, machen nicht unsterblich, meine Herren, im vol au vent, also im freien Flug und Fall, versteht man dies auf Anhieb: dass es ein Ende haben wird. Nein, diese Einsicht ist keinem Durchblick und auch keinem Überblick geschuldet; es handelt sich vielmehr um eine Fallstudie. Um den Generalbass des Atmens. Den überhört man als Solist leicht, er hat nichts Melodisches. Die Schleppe dieses äquatorumspannenden Umzugs bilden Leichenwagen, darin die Unbestatteten aus unseren Kellern, die Ermordeten, die wir erbten, und die Toten, die wir den Meeren überließen in optimistisch orangen Schwimmwesten. Der Quadratmeterpreis für festen Boden ist gestiegen, steigt, steigt, steigt, zusammen mit dem Pegel der Ozeane, selbst schuld, bei der Nachfrage. Frontex bildet tüchtige Makler aus, auch sie marschieren mit, erkennbar an den gut entwickelten Unterkiefern, die kommen vom entschlossenen Entscheiden. Um die schwarzen Karossen herum, die auf von der Erdumfahrung platten Reifen über den Asphalt schmatzen, tanzen die Mainzer Funkenmariechen, darunter ich, hoch das Bein, den Dreispitz geschwenkt und das rote Röckchen gelupft, helau! Mit dem Rücken zur Zukunft fällt der Blick notwendig aufs Gegebene und aufs Gewesene, auch die Windverhältnisse erzwingen das. Eine Böe verwirbelt alte Zeitungsseiten, sie treiben aufwärts, trudeln, knattern im Wind wie Drachen an unsichtbaren Schnüren. Strollology, ja, das gibt es wirklich, die Wissenschaft vom Spazierengehen, vom Aufschnappen, vom Auflesen. Ich habe darin promoviert. Dr. stroll. universalis. Alle elf Minuten verliebt sich ein Single, die Werbung einer Partnerbörse fliegt an mir vorüber, von der Zeitung ausgespuckt, welche, Liebster, hat denn uns geschlagen? Die zwölfte? Dreizehnte? Single! Einspruch: Ich lehne Geschäftsbezeichnungen ab. Ich bin nicht alleinstehend, sondern allein stehend. Ich falle nicht um, ich stürze mich nur. Unter anderem in deine Arme.
Cara Lavinia! Schalte mal runter! Nein, ich halte fest an der Glut, ich verteidige sie bis aufs Blut, sie bewahrt mich vorm Chillen. Und ich beharre auf zärtlichem Umgang mit wunden Stellen. Und auf Zuneigung, die ohne Winkelberechnung auskommt. Bin weder die Summe meiner Vorzüge noch meiner Mängel, Kontoführung wird bestreikt, Algorithmen genauso.
Was ist dein Hobby?
Das Steckenpferd zwischen die Knie geklemmt, den Zufällen entgegenreiten. Schreibe ich.
Die Antwort kommt prompt. Keine Übereinstimmung.
In meinen Herzkammern wohnen Gäste und Widersprüche.
Keine Übereinstimmung.
Okay, lassen wir das – doch, ich wiederhole, ein Single, ein Single bin ich nicht. Ich bin Lavinia, die Minnesängerin, die ihren Fingerabdruck und ihre Tonspur dem Wind überlässt. Je t’aime … moi non plus, das war eine Single! In der Ohrmuschel kam es zum ersten Kontakt mit den verbündeten Stimmen, ein rauchiges Hauchen, die erste Erfahrung mit kollektiver Konspiration. Die Rillen der unter dem Ladentisch verkauften Platte schwarz wie die Trauerränder unter unseren Fingernägeln, die nicht zu schrubben der erste Akt früher Auflehnung war. Schwarzmarkt statt Partnerbörse. Partnerbörse! Der Mensch ist ein mobiles Gut. Alle Menschen sind Neger. Code économique. Der Baum der Erkenntnis wird in Monokultur am Bodensee angebaut, die Früchte werden in Afrika verkauft, wo bereits die Knochenabfälle unserer Mahlzeiten von grün schillernden Fliegen umsurrt, auf den Märkten feilgeboten werden. Perfect Match, nachhaltige Partnerschaft. Bis dass der Tod.
Wolken stapeln sich tief am Horizont und verdecken allmählich die traurigen Nachzügler, die hinter den Leichenwagen hertrotten. Das sind die Bedenkenträger. Auf dem schwarzen Lack der Karossen steht in goldenen Lettern Pietät. Also bitte kein lautes Geschrei, Finger quer über die Lippen gelegt, pssst, die Totenruhe gibt’s kostenlos, der Frieden dagegen ist uns zwar lieb, aber eben auch teuer. Woher nehmen, wenn nicht stehlen. Beim Eintritt der Lehrerin – genau, Kaiser-Wilhelm-Volksschule – mussten die Schüler der ersten Klasse den Zeigefinger wie einen Riegel über die Lippen legen und die andere Hand hinter dem Rücken verbergen. Eine reizende Choreographie, die dafür sorgte, dass aus Übermut Kleinmut wurde. Im Sparen groß, später umgedichtet zu Geiz ist geil. Keine Couch der Welt wäre breit genug, um all die davon Befallenen zu betten und zu therapieren. Zumal die Einsicht fehlt, die Erbeutung ist für den Schnäppchenjäger immer wieder ein triumphaler Moment, herrliche Selbstermächtigung. Yes, I can. Unsere Couch dagegen diente der schönen Verausgabung. Keine protestantische Haushaltung mit schwarzer Null, vielmehr verschwenderische Durchblutung, sanftes Auskräuseln der Brandung auf der Haut in Salzkristallen.
Das Wolkenband verdeckt nun auch die unendlich langen Reihen von Schlaflagern der Entwurzelten. Sie winden sich irreführend bunt – die Schlafsäcke, die bedruckten Plastiktüten, die wild gemusterten Caritas-Mäntel und -Jacken – unter zu schmalen Vordächern von Bahnhöfen, Kaufhäusern, Lagerhallen und Banken. Wie ein Adernetz umspannen die Kolonnen der Gebrochenen den Globus. Der ist nicht herzlos, er fühlt im Vorhof Flimmern, der Herzrhythmus stolpert, im Brustkorb wird es eng, noch mehr passt folglich nicht hinein. Betablocker helfen, werden verschrieben, anstandslos.
Flimmern. Nachbar von »flittern«. Ach. Wem zu Lieb ich bin. Ich könnte die Kuh fragen, die Zeugin unseres ersten, nachtlangen Kusses wurde. Die Nacht ist unsere Flitterwoche. Wieso Kuh? Keine echte natürlich, kein Almstadel und keine oberbayerische Weide sind beteiligt, sondern eine kleine Plastikkuh, die auf dem Tresen steht, mit einem Schlitz im Rücken für Trinkgelder. Sie schaut aus ihren unendlich sanftmütigen Augen wohlwollend dem Treiben zu, das in beschlagenen Brillengläsern und verrutschtem Lippenstift schöne Spuren hinterlässt. Die Wirtin, was das Wohlwollen betrifft, durchaus mit der Kuh verbündet, gießt nach, damit die Zungen nicht eintrocknen. Die Bar heißt übrigens Kuhba – so geht es los mit der Karibik am Main. Bevor wir gehen, stecke ich der Kuh ein Spickzettelchen in den Bauch: Lenk seine Schritte zu mir, lenk meine Schritte zu ihm