Lebendige Seelsorge 2/2024 - Verlag Echter - E-Book

Lebendige Seelsorge 2/2024 E-Book

Verlag Echter

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Beschreibung

Pastoraltheologie ist das vielleicht schönste theologische Fach der Welt. Und es wird in diesem Jahr 250 Jahre alt. Grund genug für ein reichhaltiges Themenheft der Lebendigen Seelsorge zwischen fragendem Wissenschaftseros und angefragter Hirtentoxik, gemeindlichem Transformationsstress und theologischen Lockerungsübungen, kirchlichen Seelsorgeämtern und gesellschaftlichem Klimaprotest, dogmatischen Provokationen und ethnografischen Erkundungen, niederländischen Multiidentitäten und muslimischer Seelsorgepraxis. Ein kreatives, erfrischendes Abenteuer zwischen Praxisfeldern und Diskursarchiven!

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INHALT

THEMA

Nur beobachten?

Kritische Anfragen an einen Hauptansatz gegenwärtiger Pastoraltheologie

Von Matthias Sellmann

Ressourcen der Distanz

Über das Näheverhältnis von Pastoraltheologie und Kirchenleitung

Von Michael Schüßler

Einig im Ziel. Nicht einig im Weg.

Die Replik von Matthias Sellmann auf Michael Schüßler

Plädoyer für die Weite des Faches

Die Replik von Michael Schüßler auf Matthias Sellmann

Pastoraltheologie aus der Perspektive einer Stakeholderin

Von Christiane Bundschuh-Schramm

KALEIDOSKOP: DIE HIRTENMETAPHER – EINE TOXISCHE MITGIFT DER FACHGESCHICHTE?

Am Wohl der Herde gemessen

Von Hildegard Scherer

Von Hirten und Schafträgern

Von Daniela Blum

Pastoraltheologie?

Zur prekären metaphorischen Organisationsform eines theologischen Fachs

Von Gregor Maria Hoff

Die Hirtenmetapher in der Pastoraltheologie

Von Reinhard Feiter

Hat die Hirtenmetapher ausgedient?

Kritische Anmerkungen zu einem Urgestein (auch) protestantischen pastoralen Selbstverständnisses

Von Kristin Merle

Pastoralmacht: Ohne freie Schafe keine Hirten

Von Ulrich Bröckling

PROJEKT: PASTORALTHEOLOGIE – EIN KREATIVER BEITRAG ZUR REDE VON GOTT

Zwischen Begehren und Disziplinierung

Kartierung einer Theoriegeschichte der Pastoraltheologie

Von Jörg Seip

Sprechen Sie pastoraltheologisch?

Schönheit und Chance des Wort-Ikebana

Von Bernhard Spielberg

INTERVIEW

„Jede Praxis ist potenzielle Theorie.“

Ein Gespräch mit Peter Kohlgraf und Hildegard Wustmans

PRAXIS: ZUKUNFTSAUFGABEN DER PASTORALTHEOLOGIE

Bruchstellen offenhalten

Von Elisa Pračin

Wirklich katholisch

Von Paul M. Zulehner

Aufbrüche begleiten

Von Julia Knop

‚Pastorale Ethnografie‘?

Von Timo Heimerdinger

Für Religion einstehen

Von Kristian Fechtner

Zukunftsfähigkeit der Islamischen Praktischen Theologie

Von Mahmoud Abdallah

Kirchesein in die Hand nehmen

Von Martina Kreidler-Kos

Ein neues Wir des guten Lebens

Von Manuela Kalsky

IN SERIE

I am the one who knocks

Warum es sich lohnt, Breaking Bad anzuschauen Von Dag Heinrichowski SJ

NACHLESE

Buchbesprechungen

Impressum

POPKULTURBEUTEL

Escape Room

Von Bernhard Spielberg

EDITORIAL

Christian Bauer Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

Pastoraltheologie ist für mich das schönste Fach der Welt. Denn sie ist nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein existenzielles Abenteuer. Sie verwickelt in einen ganzen Strudel von produktiven Kontrasten: Gott und Welt, Natur und Gnade, Menschen und Mächte, Existenz und Evangelium, Kirche und Gesellschaft. Pastoraltheolog:innen laufen permanent zwischen entsprechenden Praxisfeldern und Diskursarchiven hin und her (lat. ‚dis-currere‘) – sprich: sie führen einen wissenschaftlichen Diskurs über die potenzielle Kreativität dieser Differenz.

Dieses struppige kleine Fach, das so sympathisch unbeirrt auf der theologischen Autorität von pastoralen Erfahrungen besteht, sorgt im akademischen Diskurs für die nötige Frischluft – eine wissenschaftliche ‚Outdoordisziplin‘, die im Gespräch mit alltäglichen Leutetheologien nicht nur am Schreibtisch, sondern auch an der Hotelbar, im Supermarkt oder am Küchentisch entsteht. Sie erkundet diese explorativ, aber auch kritisch. Denn sie eröffnet zu ihren empirischen Feldwahrnehmungen immer auch Erkenntniskontraste von theologischen Archivrecherchen her.

Pastoraltheologie ist daher etwas für multiple, existenziell mehrsprachige Persönlichkeiten, die Menschen und Bücher gleichermaßen lieben. Als fachgewordene Selbsterinnerung der Theologie an ihren konstitutiven (und nicht nur applikativen) Praxisbezug steht sie weniger für eine pastorale Anwendung des Dogmas als für dessen „Umwendung“ (Johann Sebastian von Drey). Dabei entsteht kein undefinierbares Diskursmischmasch, sondern vielmehr ein kontrastiver Mischdiskurs, der feldbezogene Praxisdiskurse (‚Theorie der Praxis‘) auf kreative Weise mit archivgestützten Diskurspraktiken (‚Praxis der Theorie‘) zusammenbringt.

Im Jahr 2024 wird dieses faszinierende Fach nun 250 Jahre alt. Begründet wurde es 1774 durch Kaiserin Maria Theresia. Dieses Ursprungsnarrativ zeigt, dass Pastoraltheologie nicht nur frisch und fromm, fröhlich und frei ist – sondern auch ‚k. und k.‘: klerikal und kolonial. Das Jubiläum erfordert daher auch eine Selbstaufklärung des Fachs über die eigene Schuldgeschichte (inklusive der missbrauchsgefährdeten Hirtenmetapher in seinem Namen) – so wie auch Kirche und Gesellschaft, denen es sich als ein mitgehendes ‚Außen‘ solidarisch verbunden weiß, dringend einer synodalen Selbstbekehrung in der Missbrauchskrise beziehungsweise einer politischen Wendezeit in der Zeitenwende bedürfen.

Sie können gespannt sein!

Das meint Ihr:

Prof. Dr. Christian Bauer

THEMA

Nur beobachten?

Kritische Anfragen an einen Hauptansatz gegenwärtiger Pastoraltheologie

Pastoraltheologie ist vielfältig aufgestellt. Ein Überblick über die Ansätze, Methoden und Forschungsprojekte ist nicht leicht. Auch über das große, die Ansätze übergreifende Ziel der Pastoraltheologie herrscht wenig Einigkeit. Zwar will man Veränderungs- und Transformationswissenschaft sein – aber wessen Veränderung und woraufhin? Soll man vorrangig nah an realer Kirchenentwicklung sein und sehr konkret reflektieren, was klappt und was nicht? Oder sollte man lieber in kritischer Distanz zur verfassten Kirche verbleiben? Matthias Sellmann

Es gehört seit vielen Jahren zum Selbstverständnis der hiesigen Pastoraltheologie, als Disziplin unüberschaubar zu sein. In vielen Selbstreflexionen bescheinigt man sich eine hohe Pluralität von Ansätzen, Methoden, Themen und Referenztheorien (vgl. nur die Themenhefte der Lebendigen Seelsorge 62 (2011), H. 1, der Pastoraltheologischen Informationen 35 (2015), H. 2 oder der Zeitschrift für Pastoraltheologie 43 (2023), H. 2).

Tatsächlich fällt es auf den ersten Blick schwer, im Labyrinth der Pastoraltheologie jenseits grober Zuschreibungen (‚Theorie der Praxis‘) gemeinsame Bezugspunkte zu finden, an denen man die diversen Ansätze ordnen könnte. Ein Kriterium gibt es aber doch, und dieses soll im Folgenden herausgestellt werden: An der Frage, ob die Pastoraltheologie im und mit dem ‚System‘ Kirche arbeiten will oder gar soll oder ob ihr der Platz konstitutiv äußerlich zum ‚System‘ zukommt, scheiden sich die Geister.

VON DER ‚SYSTEMHÖRIGEN ANWENDUNG‘ ZUR ‚SYSTEMKRITISCHEN BEOBACHTUNG‘?

Die Polarisierung ‚im System / gegenüber dem System‘ kann dia- und synchron beobachtet werden. Diachron dominiert in der eigenen Geschichtsschreibung der Pastoraltheologie ein Emanzipationsnarrativ nach dem Motto ‚Raus aus der Dogmatik‘. Sicher theologiegeschichtlich zutreffend, blickt man kritisch auf jene Zeiten eines Koch-Kellner-Modells zurück: Eine ultramontan geprägte Societas-Perfecta-Ekklesiologie verarbeitete die exklusiv an sie ergangene Offenbarung in instruktive Lehrsätze (‚Koch‘); für die authentische, gerne auch raffinierte Vermittlung an die Gläubigen oder die sogenannte ‚Welt‘ war die Praktische Theologie (‚Kellner‘) nützlich. Faktisch war Pastoraltheologie Berufslehre für Kleriker (vgl. nur Seip 2009, 51–218, bes. 189–198). Aus diesem simplen Anwendungsparadigma entkam man konzeptionell spätestens mit Karl Rahner, Johann Baptist Metz und Helmut Peukert, organisational mit dem Aufkommen neuer pastoraler Berufsgruppen seit der Würzburger Synode.

Matthias Sellmann

Dr. theol., Prof. für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum; Gründer und Direktor des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (zap); Mitherausgeber der Lebendigen Seelsorge; Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK); Mitglied des Synodalen Ausschusses; Berater der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz.

Es liegt eine enorme Leistung darin, sich aus dieser geschichtlichen Umklammerung gelöst zu haben und Pastoral anders, nämlich vor allem über eine neu modellierte loci-Lehre offenbarungstheologisch zu konzipieren. Bemerkenswert ist allerdings, und das ist die synchrone Dimension, wie enorm hoch nach wie vor die negative Fixierung auf diese Vergangenheit zu sein scheint. Vieles reibt sich dabei an dem Begriffsfeld rund um ‚Anwendung‘ (vgl. nur Schweighofer 2019, 42). Auf keinen Fall will man wieder in das Magnetfeld des Kirchensystems zurückfallen und die so hart eroberte Außen-Stellung riskieren. Einer überkommenen Orientierung an ‚systemtragender Anwendung‘ wird das vorgeblich bessere Paradigma der ‚systemkritischen Beobachtung‘ gegenübergestellt. Dieses Paradigma der Dekonstruktion, so lautet die hier vertretene und im Folgenden kritisch reflektierte Diagnose, ist das dominierende Paradigma der gegenwärtigen Pastoraltheologie im deutschsprachigen Raum.

Vieles reibt sich dabei an dem Begriffsfeld rund um ‚Anwendung‘. Auf keinen Fall will man wieder in das Magnetfeld des Kirchensystems zurückfallen und die so hart eroberte Außen-Stellung riskieren.

AUSGEWÄHLTE BEISPIELE

In anderen Beiträgen konnte bereits an ausgewählten Zitaten früherer Jahre gezeigt werden, wie selbstverständlich die Dichotomie ‚systemnah‘ vs. ‚systemfremd‘ in der Fachliteratur zu sein scheint (vgl. Sellmann 2015, 2018, 2023). Daher braucht hier nur kursorisch auf zwei neueste, allerdings wirklich markante Beispiele verwiesen zu werden.

In seinem Geleitwort zur Habilitation von Wolfgang Beck geht mit Rainer Bucher einer der renommiertesten Vertreter des Fachs in den Superlativ (vgl. Bucher 2022). Gerade die in der Schrift explizit verwendete Methode des Flanierens (vgl. Beck 2022, 16.54–57 im Anschluss an Seip 2009) markiere ein „Denken nach dem Verlust der Zentralperspektive“. Dieses sei in guter Weise „weit entfernt vom immer noch zu erhabenen Habitus der Kirche“; die Arbeit erkunde einen pastoraltheologischen Stil, der sich der postmodernen Wirklichkeit zu nähern erlaube und sich damit „weit mehr ins Risiko von Methode und Thema wagt, als bislang üblich“ (Bucher 2022, 13), so dass „diese Arbeit ein echter Startpunkt für wirklich Neues in Stil und Inhalt [künftiger Pastoraltheologie, M. S.] werden könnte“ (ebd., 14).

Es ist zu beachten, dass die hier prämierte Schrift Analysen in explizit ekklesiogenetischer Absicht entwirft. Studiert man diese genauer, stößt man auf die deutliche Version einer kritisch beobachtenden und bewusst im System-Außen bleibenden Pastoraltheologie. Dieses ‚Außen‘ im Gestus des Sondierens, Flanierens und Beobachtens wird auffällig häufig gegen jedwede Form von organisational verantworteter Kirchenentwicklung (also ebenfalls gegen Ekklesiogenese) in Stellung gebracht (vgl. nur Beck 2022, 183–187 u. ö.). Beck erweist sich als luzider Analytiker, aber auch als strenger Gegner einer organisationsnahen Pastoraltheologie: Adjektive wie ‚strategisch‘ werden als tendenziell manipulativ bewertet. Das Bemühen um kirchliche, also pfarreiliche, diözesane, ordensgemeinschaftliche und andere Identität ist ihm verdächtig als eine von oben domestizierte Homogenitätsfiktion, die allzu oft als Disziplinierungsinstrument und/oder als unerlaubte Sicherheits- und Kontinuitätskonstruktion instrumentalisiert werde. Kirche in Pastoraltheologie überhaupt innovativ und evolutiv vordenken zu können, bediene die „Suggestion der Gestaltbarkeit“ (ebd., 334). Das sind klare Ansagen.

Ein zweites Beispiel: In den letzten Jahren hat sich gerade an den Katholischen Hochschulen die Idee konkretisiert, dezidiert Studiengänge in ‚Angewandter Theologie‘ anzubieten. Einige neueste Publikationen erklären das Konzept. Es ist fast paradox, auch in diesen Sammelbänden die deutliche Warnung vor dem Begriff der ‚Anwendung‘ zu finden. Es sei deutlich, so heißt es, „dass Pastoraltheologie und somit [sic!] auch Angewandte Theologie keine kirchenpraktische Anwendungswissenschaft ist, sondern [sic!] eine theologische Diskurswissenschaft […]“ (Hillebrand 2021a, 50). Judith Könemann mag den Begriff nur in Klammern schreiben (vgl. Könemann 2022, 129, Fußnote 2). Gerade diese Beispiele deuten auf eine fast dilemmatische Situation hin: Offenbar gibt es zwar durchaus Triebkräfte, die eine mehr kirchenpraktisch angelegte Pastoraltheologie eigentlich plausibel machen (vgl. Belege bei Sellmann 2015, Fußnote 15), aber man fremdelt doch deutlich mit dem Begriff der ‚Anwendung‘.

KURZE ZWISCHENREFLEXION

Natürlich wäre es fahrlässig, die Warnungen so kompetenter Kolleg:innen nicht zu hören und zu prüfen. Man müsste zum Beispiel miteinander präziser klären, ob die Labels ‚beobachten‘ vs. ‚anwenden‘ nicht zu grob gewählt sind; oder wer das ‚System‘ konkret sein soll und was man genau von ihm befürchtet. Hilfreich wäre auch der kollegiale Konsens, dass man in puncto ekklesiozentrischer Übergriffe eine gemeinsame rote Linie zieht (bestritten bei Haslinger 2022, 89–95). All dies sprengt den hier gegebenen Rahmen.

Trotz solcher Prüfungen werden aber wechselseitige Anfragen bleiben. Zwei sollen im Folgenden gestellt werden, um einen kritischen Dialog zu stimulieren. Die Motivation dazu kommt aus der Erfahrung, dass mit dem Ansatz ‚angewandter Pastoralforschung‘ eine Alternative in den Diskursraum eingetreten ist, der ebenfalls von sich behauptet, einem systemverändernden Impuls zu folgen, dieses Ziel aber über ‚intervenierende Reflexion‘ und eben nicht über ‚distanzierte Beobachtung‘ vorantreibt (vgl. Sellmann 2023 mit Literatur; Szymanowski 2023, 21–32; Sobetzko 2021, 85–117).

ZWEI KRITISCHE ANFRAGEN

Erstens: Zunächst bleibt unklar, wie ein Flanieren im Systemaußen eigentlich ekklesiogenetische Veränderungen und Transformationen voranbringen soll. Wie lautet die Strategie, wenn man ganz auf Strategie verzichten will? Dass Kirche verändert werden soll, und dass dies dem Evangelium gemäß geschehen solle, ist beiden Paradigmen ja gleich. Wo aber sieht man die Stellgrößen für reale Transformation, wenn nicht auf der Meso-Ebene der Organisation? Genau diese Meso-Ebene aber bleibt auffällig unbeforscht, liest man Studien im Beobachtungsparadigma. Wie oben exemplarisch bei Beck gezeigt, sieht man in der kirchlichen Organisation die toxische Kraft der Kontamination, nicht die energetische Kraft möglicher Konversion.

Wo aber sieht man die Stellgrößen für reale Transformation, wenn nicht auf der Meso-Ebene der Organisation?

Diese erste Nachfrage hat erkennbar einen tiefen Untergrund, etwa im sogenannten Positivismusstreit, den die ‚Kritische Theorie‘ mit der ‚Liberalen Theorie‘ vor Jahrzehnten ausgetragen hat. Im Prinzip stellt sich die damalige Frage weiterhin: Welche Einflusschance bleibt der reinen Kritik, wenn sie extern bleibt? Wem überlässt man das Feld, wenn man draußen bleibt?

Klassisch lauten die Antworten hierauf, dass man den moralischen Appell an die Vernünftigkeit des Einzelnen und an das Ausbilden von Haltungen aktiviert. Beides zeigt sich in der Pastoraltheologie jenseits der Meso-Ebene: Sie setzt auf ermächtigendes Wissen (vgl. nur Haslinger 2022, 8, 95, 595); sie magnetisiert mit kunstvoll essayistisch und sogar poetisch versprachlichten, mobilisierenden Metaphern (vgl. nur Bauer 2017, 411–428); und sie landet auffällig oft am Ende der ausgedehnten Studien bei der Empfehlung von Haltungen (vgl. nur Beck 2022, 333–337; Haslinger 2022, 596–600; Hillebrand 2020; Loffeld 2020, 395–401; Schüßler 2013, 330–337; Widl 2000, 68 f., 248–250). Hier muss beharrlich nachgefragt werden, wie man die alte kantische, dann aber erst systemtheoretisch und neuerdings ja auch diskursethisch elaborierte Feststellung kontern will, dass Veränderungen in Mikro-Ebenen keineswegs Makro-Veränderungen wahrscheinlicher machen. Die Gegenthese lautet: Transformationen in funktional differenzierten Gesellschaften funktionieren nicht ohne die Vermittlungsleistung der (organisational gebauten) Meso-Ebenen.

Eine zweite kritische Anfrage betrifft die methodologische Dimension. Beide Paradigmen setzen auf Abduktionen und berufen sich teilweise sogar auf dieselben Referenzen bei Charles Sanders Peirce (vgl. nur Bauer 2017, 23–36). Trotzdem ist das Verständnis von Abduktion erkennbar verschieden. Auffällig ist, dass die systemkritische Pastoraltheologie die Einsicht in neue Hypothesen am liebsten durch das musing in Theoriediskursen erstrebt. Nur sehr selten trifft man auf eigene Empirie (vgl. aber Schweighofer 2019, 57–258). Immer entstehen inspirierende neue Perspektiven. Was aber auffällt: Diese werden oft nur als anregende Ideen kommuniziert, nicht aber konzeptionell durchgearbeitet. So wäre es wirklich spannend, mehr über „konvivialistische Sakramentenpastoral“ (Beck 2022, 262–272) zu erfahren; oder wie Pastoraltheologie als „expeditive Relationierungswissenschaft“ (Hillebrand 2021b, 222) geht; oder wie angesichts der gesellschaftlichen Irrelevanz einer Erlösungsdimension die „Leerortdimension des Lebens Jesu […] in den Fokus von pastoraler Planung und Kirchenentwicklungsprozessen rücken könnte“ (Loffeld 2020, 379). Leider bleibt das offen.

Wissenschaftstheoretisch ausgedrückt: Nach Peirce müssen abduktive Schlüsse im Nachgang sowohl deduktiv wie induktiv aufwändig durchgearbeitet werden, damit sie eben nicht nur Ideen bleiben, sondern neues Regelwissen werden können (reasoning). Wenn dies unterbleibt, droht das potenzielle Lösungswissen zu verpuffen.

Dies sind nur zwei, aber fundamentale Anfragen an eine beobachtende Pastoraltheologie im Modus der Systemkritik. Der Dialog darüber könnte in eine Weiterentwicklung des Faches münden, in dem beide Paradigmen ihre Stärken multiplizieren und ihre wechselseitigen blinden Flecken korrigieren, indem sie einem Vorschlag der neuesten soziologischen Praxistheorie folgen (vgl. Bogusz 2018, 417–438) und wie folgt modifizieren: von der Krisenanalyse in die empirische Evaluation; von der allgemeinen normativen Setzung in die Prüfung des Falls; und von der Solidarität in die strukturverändernde Kooperation.

LITERATUR

Bauer, Christian, Konstellative Pastoraltheologie. Erkundungen zwischen Diskursarchiven und Praxisfeldern [Praktische Theologie heute 146], Stuttgart 2017.

Beck, Wolfgang, Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese [Theologie im Dazwischen – Grenzüberschreitende Studien 3], Ostfildern 2022.

Bogusz, Tanja, Experimentalismus und Soziologie. Von der Krisenzur Erfahrungswissenschaft, Frankfurt a. M./New York 2018.

Bucher, Rainer, Geleitwort, in: Beck, Wolfgang, Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese [Theologie im Dazwischen – Grenzüberschreitende Studien 3], Ostfildern 2022, 13 f.

Haslinger, Herbert, Macht in der Kirche. Wo wir sie finden – Wer sie ausübt – Wie wir sie überwinden, Freiburg i. Br. 2022.

Hillebrand, Bernd, Kontakt und Präsenz. Grundhaltungen für pastorale Networker [Zeitzeichen 46], Ostfildern 2020.

Hillebrand, Bernd,