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Ein tiefer See, eine verschwundene Tochter und ein hartnäckiger Ermittler, der niemals aufgibt: der erste Fall für Kristoffer Bark!
Jedes Jahr am Karfreitag schreitet der Polizeiermittler Kristoffer Bark am Ufer des Hjälmarensees entlang. Er sucht nach seiner Tochter – vergeblich. Denn vor fünf Jahren verschwand Vera am Abend ihrer Junggesellinnenfeier spurlos, nachdem sie auf den See hinausgerudert war. Ihre Leiche wurde nie gefunden … Als nun eine Tote auftaucht, die Kristoffers Tochter verblüffend ähnlich sieht, lässt ihm die Vorstellung, dass beide Fälle miteinander verknüpft sind, keine Ruhe. Und obwohl ihm bei der Polizei niemand Glauben schenkt, lässt sich der hartnäckige Ermittler nicht abwimmeln. Zu Recht, denn die Wasser des Hjälmaren verbergen mehr als ein einziges Verbrechen, und Kristoffer Bark wird sie aufdecken ... Die sensationelle neue Krimi-Bestsellerreihe von der Erschafferin von Maria Wern/Kripo Gotland!
Die »Kommissar Bark«-Reihe:
Band 1: Leichenschilf
Band 2: Witwenwald
Band 3: Puppenblut
Band 4: Mädchenfeuer
Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 566
Buch
Jedes Jahr am Karfreitag schreitet der Polizeiermittler Kristoffer Bark am Ufer des Hjälmarensees entlang. Er sucht nach seiner Tochter – vergeblich. Denn vor fünf Jahren verschwand Vera am Abend ihrer Junggesellinnenfeier spurlos, nachdem sie auf den See hinausgerudert war. Ihre Leiche wurde nie gefunden … Als nun eine Tote auftaucht, die Kristoffers Tochter verblüffend ähnlich sieht, lässt ihm die Vorstellung, dass beide Fälle miteinander verknüpft sind, keine Ruhe. Und obwohl ihm bei der Polizei niemand Glauben schenkt, lässt sich der temperamentvolle Ermittler nicht abwimmeln. Zu Recht, denn die Wasser des Hjälmaren verbergen mehr als ein einziges Verbrechen, und Kristoffer Bark wird sie aufdecken.
Autorin
Die Schwedin Anna Jansson gehört zu den erfolgreichsten Schriftsteller*innen ihres Landes. In mehr als zwanzig Jahren hat sie über 60 Bücher geschrieben; sie ist bekannt für ihre Krimireihe Maria Wern, Kripo Gotland. In ihrem Heimatland haben sich Janssons Bücher allein vier Millionen Mal verkauft und werden in 17 Sprachen übersetzt. Mit dem Polizisten Kristoffer Bark hat Jansson einen neuen charismatischen sowie abgründigen Ermittler geschaffen, der im schwedischen Örebro Cold Cases löst.
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ANNA JANSSON
Leichenschilf
Ein Kommissar-Bark-Krimi
Deutsch von
Susanne Dahmann
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Dotter saknad« bei Norstedts, Stockholm.
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Copyright der Originalausgabe © Anna Jansson 2019
by Agreement with Grand Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022
by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Julie Hübner
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Palsur), Shutterstock.com (Artiste2d3d) und photocase.de (derProjektor)
BL · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-26364-5V001
www.blanvalet.de
1
Es war Karfreitag. Der Frühling kam dieses Jahr spät. Das Eis trieb immer noch in zerbrochenen Schollen auf dem dunklen Wasser. Kriminalinspektor Kristoffer Bark hatte den Toyota Camry am Campingplatz in Hampetorp geparkt und wanderte jetzt in Richtung Naturreservat. Die Fähre zur Insel Vinö näherte sich dem Anleger. Er hob eine Hand gegen die Sonne und merkte, wie seine Augen zu tränen begannen.
Fünf Jahre lang war er immer wieder am Ufer des Hjälmaren entlanggewandert. Kilometer um Kilometer auf der Suche nach etwas, das ihm helfen könnte zu begreifen, was seiner Tochter zugestoßen war. Die polizeiliche Ermittlung war eingestellt worden, obwohl Kristoffer alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um sie am Laufen zu halten. Unabhängig davon war er von Tür zu Tür gegangen, bis er in dem Gebiet, in dem sie schlüssigerweise hätte gesehen werden können, mit jedem Anwohner gesprochen hatte. Er hatte versucht, die Bootsbesitzer ausfindig zu machen, die in jener Nacht am Karfreitag vor fünf Jahren draußen auf dem See gewesen waren, und mit allen gesprochen, die sich in der Umgebung aufgehalten hatten.
Die Polizei hatte die Windrichtung berechnet und mit Schleppnetzen und Spürhunden im Boot den See abgesucht. Ohne Ergebnis. Der See war trübe, aber flach. Sogar über den inneren Teil des Hjälmaren waren sie mit dem Schleppnetz gefahren. Freiwillige hatten geholfen. Die Kollegen vom Heimatschutz hatten getan, was sie konnten. Als sie die Suche schließlich einstellten, wandte sich Kristoffer an die Vereinigung Missing People.
Inzwischen hatten alle außer ihm selbst und Börje Hansson aufgegeben. Der nunmehr pensionierte Kollege, der die Ermittlung zu Veras Verschwinden geleitet hatte, wohnte selbst in Hampetorp, dem knapp dreißig Kilometer von Örebro entfernt gelegenen Fischerort. Ab und zu begleitete Börje seinen alten Kollegen auf seinen Wanderungen entlang des Sees. Doch nicht heute, am fünften Karfreitag nach Veras Verschwinden.
Die Ermittlung war nach zwei Jahren, zeitgleich mit Börjes Pensionierung, eingestellt worden. Die meisten waren wohl der Ansicht, dass Vera so wie Matilda, die im selben Boot gesessen hatte, ertrunken war. Ohne Beweis konnte Kristoffer diesen Gedanken nicht akzeptieren. Wenn man sein ganzes Leben lang mit Gewaltverbrechen zu tun hatte, dann gab es noch andere Szenarien. Kristoffer wollte für alle Möglichkeiten offenbleiben – außer für eine. Börje hatte ihn im Verlauf der Ermittlung gefragt, ob es Selbstmord sein könnte. Auf diese Frage hatte er, ohne zu zögern, mit Nein geantwortet. Vera hatte alle Gründe gehabt zu leben, möglicherweise erwartete sie sogar ein Wunschkind. Erst wenn Kristoffer ihren leblosen Körper mit eigenen Augen sah, würde er ihren Tod als eine Tatsache akzeptieren. Aber nicht, solange es noch eine mikroskopisch kleine Chance gab, dass sie am Leben war. Seine Tochter war eine Kämpferin. Sie war zwei Monate zu früh geboren, hatte eine Lungenentzündung mit Komplikationen ebenso überstanden wie einen Blinddarmdurchbruch. Vera liebte das Leben. Nichts deutete darauf hin, dass sie freiwillig entschieden haben könnte, es aufzugeben. Nicht auf ihrem eigenen Junggesellinnenabschied am Gründonnerstag, auf den am Ostersamstag ein aufwändiges Hochzeitsfest folgen sollte. Es sprach viel dafür, dass es ein Bootsunglück gewesen war. Aber wo war dann die Leiche?
Natürlich hatte er auch in andere Richtungen gedacht. Wenn Rasmus und sie Streit gehabt hätten, dann könnte Vera selbst beschlossen haben, zu verschwinden und vor ihrer Hochzeit zu fliehen. Doch Rasmus hatte das verneint. Sie könnte auch von einer bekannten oder unbekannten Person oder Gruppe entführt worden sein. Doch kein Entführer hatte von sich hören lassen, und niemand hatte Lösegeld verlangt. Kristoffer hatte Veras Kontakte aus dem Handy, ihrem Computer und dem alten Adressbuch, das er ganz unten in ihrer Schreibtischschublade gefunden hatte, herausgesucht und mit allen gesprochen, die sie kannte. Er hatte ehemalige Klassenkameraden, Lehrer und die Mädchen aus ihrer Fußballmannschaft angesprochen. Doch sämtliche Spuren endeten in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag vor fünf Jahren.
In all der Zeit war Kristoffer zwischen der Vorstellung, dass sie ertrunken war, und dem Gedanken, dass jemand sie gerettet und entführt haben könnte, hin- und hergerissen worden. Als er jetzt das fünfte Jahr in Folge wieder einmal durch die Gegend lief und die Anwohner des Sees behelligte, merkte er, wie unwirsch sie reagierten. Aber er musste fragen, ob jemand etwas Neues entdeckt hatte. Natürlich hielten sie ihn für verrückt. Er hatte schon gehört, dass sie ihn den durchgeknallten Polizisten nannten, und vielleicht war es auch so: Er war verrückt vor Trauer. Während seiner Wanderungen am Ufer entlang ließ er die Kontrolle fahren und seine Miene entgleisen. Sie hatten ihn vor Wut schreien hören und nach einem unbekannten Feind treten und schlagen sehen, bis er zu Boden gefallen war und geweint hatte. Das war das Ventil, was er brauchte, um nicht selbst unterzugehen.
Eisige Windböen vom See her bissen in seine Wangen und kniffen in den Ohren. Kristoffer fühlte, wie die Kälte unter seinen Mantel kroch, durch die Kleider und unter die nackte Haut. Er ging schneller und fing an, locker zu joggen, um warm zu bleiben. Ein Seevogel kreischte über seinem Kopf und beschrieb einen weiten Bogen über das Schilfröhricht, ehe er auf den See hinaus verschwand. Der Wind nahm zu.
Wenn er die Augen schloss, konnte er Vera immer noch vor sich sehen. Die lebendigen graublauen Augen mit den dunklen Wimpern und Augenbrauen. Der breite, fröhliche Mund. Die blonden, schulterlangen Haare, die sie meist zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden trug. Ihre ganze Jugend über hatte sie Fußball gespielt, und er hatte die Mädchen oft zu Spielen gefahren und dann verfolgt, wie der Haarschopf hin und her über das Spielfeld gewippt war. Er hatte die Mädchen auf dem Rücksitz Geheimnisse flüstern und sie kichern hören, hatte gesehen, wie sie vor Freude jubelten oder sauer waren, wenn sie gestritten hatten.
Zwanzig Jahre alt war Vera gewesen, als sie verschwand. Viel zu jung, um zu heiraten. Das war das Thema ihres letzten Streits gewesen. In einem Alter, in dem man hormongesteuert und unerfahren ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als von zu Hause wegzukommen, einen Lebenspartner zu wählen, ist die reine Idiotie. Er hatte sie und Rasmus, der sieben Jahre älter war, ausgeschimpft. Hatte gesagt, dass sie zur Vernunft kommen und die Sache noch einmal überdenken sollten. Rasmus war vor unterdrücktem Ärger hochrot im Gesicht gewesen, hatte Vera aber für sie beide sprechen lassen.
Und was ist mit dir, Papa? Du hast auch jung geheiratet und warst 25, als ich geboren wurde.
Und er hatte ihr geantwortet: Und du siehst ja, wie das gewesen ist! Ich war viel zu jung, um Vater zu werden. Du bist doch wohl nicht schwanger?!
Man muss nicht heiraten, weil man schwanger ist, hatte sie mit einem kleinen Lächeln geantwortet und seine direkte Frage damit umgangen. Vielleicht würde er die Antwort nie erfahren. Rasmus wusste es auch nicht. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie schwanger war. Sie hatte keinen Termin bei einer Hebamme gehabt. Ungefähr ein Jahr nach Veras Verschwinden hatte Rasmus eine neue Frau kennengelernt. Er hatte einen Job in London bei einer Personalvermittlung gefunden, und es schien ihm dort zu gefallen.
Kristoffer blieb stehen und wärmte sich das Gesicht mit den Handflächen. Die Tränen brannten hinter den Augenlidern. Es war schwer zu sagen, ob der Druck im Magen vom Joggen kam oder ob es der wohlbekannte Schmerz im oberen Bauchraum war, den er immer verspürte, wenn er an Vera dachte. Zum mehr als tausendsten Mal ging Kristoffer alles durch, was in jener Gründonnerstagnacht vor fünf Jahren geschehen war.
Der schicksalhafte Junggesellinnenabschied hatte am Abend des Gründonnerstags begonnen und am Karfreitag in der Katastrophe geendet. Veras beste Freundin Matilda hatte arrangiert, dass sie das kleine Haus ihrer Großeltern in Hampetorp benutzen konnten. Sven und Rita hatten sich solange woanders einquartiert. Kristoffer kannte die beiden schon viele Jahre, da er Vera immer zu Matilda gebracht hatte, wenn diese in den Ferien bei ihren Großeltern gewesen war. Das Ganze hatte als ein Junggesellinnenabschied, ausschließlich mit Mädchen, in der Stadt begonnen. Dann waren sie nach Hampetorp rausgefahren, und später hatten sich Rasmus und seine Freunde angeschlossen. Die Partyteilnehmer waren den ganzen Abend und die Nacht zusammen in der Hütte gewesen. Die Stimmung sei, so sagten die Freunde, fröhlich und ausgelassen gewesen.
Vera und Rasmus hatten gerade noch getanzt, als seine Tochter plötzlich rausgerannt und zum Hafen gelaufen war, wo sie sich ein Kunststoffboot mit Außenborder genommen hatte. Matilda hatte versucht, sie daran zu hindern, und als sie Vera nicht aufhalten konnte, war sie mit ins Boot gesprungen. Rasmus und ein paar der Jungs hatten sie noch gesehen und versucht, ihnen ein Stück zu folgen, waren aber zu betrunken gewesen, um hinterherzukommen. Am Freitagmorgen war Sven, der nicht wusste, was auf der Party geschehen war, mit seinem Boot rausgefahren. Börje und er hatten vorher zusammen Netze ausgelegt, doch Börje hatte es nicht geschafft, mit rauszufahren und sie einzuholen. Deshalb war Sven allein gewesen, als er das gekenterte Boot und den leblosen Körper seiner Enkelin Matilda im Wasser fand. Wie ein schlafender Engel mit wallenden rostroten Haaren war sie aus dem Wasser gehoben worden.
Äußerlich war Matilda unverletzt gewesen, auch wenn es erst so ausgesehen hatte, als hätte sie aus einer Kopfwunde geblutet. Im Bericht der Gerichtsmedizin jedoch stand, dass sie einen Alkoholgehalt von 2,1 Promille im Blut hatte und die Todesursache Ertrinken gewesen sei. Die Wassertemperatur lag bei fünf Grad plus. Die Freunde berichteten, dass Vera genauso betrunken gewesen sei wie Matilda. Wer die Mischung aus der Hexenküche überlebt hatte, konnte bezeugen, dass sie Grog aus Halländischem Flieder mit billigem Wodka, Jägermeister und dem Rest aus einer verstaubten Flasche Birnenlikör gekocht hatten. Sonst waren keine Drogen nachweisbar gewesen.
Kristoffer holte Luft, ehe er weiter den Weg hinauf zu dem Haus ging, wo vor fünf Jahren der Junggesellinnenabschied stattgefunden hatte. Er war danach bei zwei Gelegenheiten bei Sven und Rita gewesen. Das erste Mal an dem Morgen, als er die Nachricht erhalten hatte, dass Vera und Matilda vermisst wurden. Das zweite Mal, als er zusammen mit Börje ein paar Jahre später einmal zum Kaffee dort eingeladen gewesen war.
Das Haus, in dem Sven und Rita wohnten, war rot mit einer weißen Veranda, der Garten gepflegt mit Ziergehölzen, angelegten Wegen und einem kleinen Teich. Über der Einfahrt befand sich ein Portal, wo nur noch kahle stachelige Äste an die prunkvollen Kletterrosen des Herbstes erinnerten. Kristoffer ahnte eine Bewegung hinter der dünnen Gardine. Vielleicht waren sie zu Hause. Die Male, an denen Rita im Garten gewesen war, hatte sie so getan, als würde sie ihn nicht bemerken, sondern war ins Haus geeilt, um nicht reden zu müssen. Im Laufe der Jahre hatte er zunehmend diese Wirkung auf seine Umgebung gehabt. Die Leute mieden ihn und seine Trauer, als handele es sich um eine gefährliche ansteckende Krankheit. Sven und Rita hatten ihre eigene Trauer um die Enkelin Matilda. Sie waren wahrscheinlich ebenso wie Matildas Eltern davon überzeugt, dass Vera ihren Tod selbst verschuldet hatte, aber sie verhielten sich dennoch korrekt und grüßten, wenn er die Initiative ergriff.
Kristoffer ging weiter auf dem geschotterten Weg. Im Haus neben Sven und Rita hatte bis vor ein paar Jahren Hedda, eine pensionierte Lehrerin, gewohnt. Es war eine hübsche kleine Hütte mit weißer Veranda und unverbautem Seeblick. Als Vera verschwand, war Hedda gerade nach einem Oberschenkelhalsbruch aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen. Ihre Enkelin Denise war dort gewesen, um ihr im Alltag zu helfen, und sie hatte dann später, als Hedda gestorben war, das Häuschen geerbt.
Kristoffer blieb stehen und ließ auf sich wirken, was er sah. In der Auffahrt stand ein beigefarbener Golf älteren Modells. Die Treppe müsste repariert und die Hütte auf der Seeseite gestrichen werden. Entlang der Hauswand sah er ein gelbes Kanu. Auf der Treppe lag eine Leine, und auf der untersten Stufe stand ein Fressnapf. Entweder hatte Denise einen Hund, oder dies war eine preiswerte Investition in Requisiten, um sich vor Einbrechern zu schützen. Die Kollegen im Außendienst sagten, es gäbe Einbrecher, die eine Liste darüber führten, wo es Hunde gäbe, weil die abschreckender seien als Alarmanlagen.
Die Vinö-Fähre hatte jetzt angelegt, und ungefähr zehn Autos verließen das Schiff. Kristoffer ging weiter zum Fähranleger, dann über den asphaltierten Platz, an den öffentlichen Toiletten vorbei, um dann hinter der aufgelassenen Eisbude zum Strand abzubiegen und ein Stück Richtung Naturreservat zu gehen. Der Boden war aufgeweicht, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Er wünschte, er hätte Gummistiefel angezogen, denn er spürte, wie die Strümpfe in seinen flachen Schuhen feucht wurden. Es war ein kleiner privater Sandstrand, umgeben von Schilf und ein paar hundert Meter von dem Steg entfernt, an dem Vera in das Kunststoffboot gestiegen war. Hinter ihm lagen eine verfallene Hütte und ein paar Vorratsschuppen in noch schlechterem Zustand. Er ging noch ein Stück weiter und blieb dann stehen. Halb hinter einer Vogelfeder verborgen, blinkte etwas im Sand. Es fing das Sonnenlicht ein und glänzte matt. Er ging in die Hocke und berührte den Gegenstand. Die Hände zitterten vor Kälte und Eifer. Er sah die zu einem Vogel geformte Haarspange aus abgeblättertem silberähnlichem Metall mit matten Plastikperlen. Seine Hände bebten, als er die Spange aufhob, sie in die Tasche steckte und die Umgebung mit dem Blick absuchte. Vera hatte eine solche Haarklemme gehabt. Kristoffer grub mit bloßen Händen in dem harten, eiskalten Sand, um noch mehr zu finden. Hatte sie die Haarspange getragen, als sie verschwunden war? Er war sich nicht sicher. Die Mädchen hatten sie mit Schleier und Tunika verkleidet. Und womit befestigte man einen Schleier? Mit einer Haarklemme.
Kristoffer hatte eine Facebook-Gruppe für diejenigen von Veras Freunden angelegt, die noch Lust hatten, auf seine Fragen zu antworten. Er musste herausfinden, was es mit dieser Spange auf sich hatte. Gleichzeitig war ihm bewusst, wie verrückt er sich verhielt. Keiner seiner Kollegen würde ihn ernst nehmen, wenn er von dem Fund erzählte. Im Laufe seiner Wanderungen hatte er Unmengen von Gegenständen gesammelt. Sachen, die von entscheidender Bedeutung sein konnten oder einfach nur Müll waren, wie verlorene Schuhe, ein Lippenstift, ein Spiegel, ein zerrissener BH und das Unterteil eines Bikinis, dessen Synthetikstoff von Wetter und Wind verwittert war, sowie eine kaputte Plastikflasche, in der eine Sorte Orangensaft gewesen war, die Vera gerne mochte.
Kristoffer grub weiter, bis ihm die Hände vor Kälte fast abstarben und er nichts mehr spürte. Der Wind hatte weiter zugenommen. Wie so oft auf dem Hjälmaren hatte er schnell aufgefrischt, und die Wellen kamen immer höher den Strand hinauf, wo er in der Hocke saß. Die Schilfstängel beugten mitleidig ihre Köpfe, raschelten und flüsterten. Wieder drohte die Ohnmacht, die er darüber empfand, nicht zu wissen, was Vera zugestoßen war, ihn zu ersticken. Er erhob sich und schrie Sturm und Wellen entgegen.
»Ich werde dich finden, Vera!«
2
Denise Groth war am Karfreitagmorgen mit dem Hund unterwegs. Der Wind blies kräftig, und die Wellen auf dem Hjälmaren schlugen hoch. Sie blieb stehen und horchte. Im Wind konnte sie einen menschlichen Laut hören. War da vielleicht jemand in Not? Kein deutlicher Ruf um Hilfe, sondern mehr ein zorniges Brüllen, eine kräftige Männerstimme. Sie war keine mutige Person, doch in Gesellschaft des Hundes wagte sie sich näher heran. Sie folgte dem Pfad zum Strand hinunter und horchte ängstlich auf das Rufen, das weniger wurde und dann erstarb. Plötzlich raschelte es im Schilf am Ufer. Der Hund knurrte gedämpft und schlug an, als ein kräftig gebauter Mann in den Fünfzigern auf sie zukam. Er musste ein bisschen über einen Meter neunzig groß sein und starrte sie an, als hätte er ein Gespenst gesehen. Der Wind blies sein dunkelblond gelocktes Haar nach vorn, so dass es sein Gesicht teilweise bedeckte. Der Blick aus den graublauen Augen war wild und traurig zugleich, Ohren und Wangen rot von der Kälte. Sie erkannte ihn. Er musste sie auch erkannt haben, denn sie war dabei gewesen, als sie nach seiner Tochter gesucht hatten. Doch anstatt zu grüßen, bog er abrupt nach rechts ab, als er den Hund sah. Aggressive Schritte. Er war aufgewühlt, das konnte sie erkennen.
»Ist etwas passiert? Braucht jemand Hilfe?«, rief sie ihm nach, aber ihre helle Stimme wurde vom Wind und den ans Land donnernden Wellen verschluckt. Er antwortete nicht, drehte sich nicht einmal um. Kristoffer Bark suchte immer noch nach seiner verschwundenen Tochter. Vera hieß sie. Er war der Polizist, der seine Suche niemals aufgegeben, der niemals aufgehört hatte zu fragen. Schon mehrere Male war er zur Hütte ihrer Großmutter gekommen, auch vor zwei Jahren, als die alte Dame noch lebte. Da hatte er Fragen gestellt, hatte gefasst und ruhig gewirkt, und dennoch hatten die Fragen ihr am Ende Kopfschmerzen bereitet. Nun wirkte er wie ein rasendes, wildes Tier.
»Zum Glück habe ich dich, Saba.« Denise schob die Finger in das helle rotblonde Fell ihres Labradors und kehrte wieder um zur Hütte, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und in der sie als Kind jeden Sommer verbracht hatte. Vor knapp zwei Jahren hatte es einen Erbstreit mit ihrer Schwester Isabell gegeben, nach dessen Ende Denise in das kleine Haus gezogen war. Es hatte kein Testament gegeben, und Großmutter Heddas Sohn, der nicht mehr lebte, war nur der Vater von Denise gewesen und der ihrer Zwillingsschwester, die aber bereits im Alter von fünf Jahren gestorben war. Isabell dagegen hatte einen anderen Vater. Hedda hatte keinen Unterschied zwischen den Schwestern gemacht und war vielleicht davon ausgegangen, dass sie nach ihrem Tod alles gleichmäßig aufteilen würden. Doch rein juristisch fiel alles Denise zu, weil es ja kein Testament gab. Manchmal hatte sie deshalb ein schlechtes Gewissen, und die Beziehung zu Isabell war immer noch unterkühlt. Sie fühlte sich ein wenig einsam, aber über Ostern würde Albert kommen. Drei Tage lang würden sie zusammen sein können. Sie sehnte sich nach ihm – so sehr. Vielleicht war das tatsächlich das Geheimnis einer leidenschaftlichen Beziehung, dass sie sich so selten sahen und sich so immer noch nach einander sehnten. Albert arbeitete unter der Woche als Logistiker bei einer Firma in Finnland und hatte eine Einzimmerwohnung im Zentrum von Örebro, die er aber aufgeben wollte, wenn sie einmal zusammen in ihr Haus zogen. Börje, sein alter Vater, ein pensionierter Polizist, wohnte auch in Hampetorp. Ihre Beziehung zu Albert war aber noch so frisch, dass sie seinem Vater noch nichts davon erzählt hatten.
Denise blieb stehen und brach einen verwelkten Samenstängel neben dem Weg ab. Sie hielt die vertrocknete Pflanze gegen den grauen Himmel und betrachtete sie. In ihrer Einfachheit war sie schön, sofern man die verwelkten Blätter wegnahm und nur die Samenkapseln behielt. Als Textildesignerin konnte sie überall arbeiten, wenn sie nur die Skizzen zu ihren Mustern hervorholte. Ihre Einzimmerwohnung in Stockholm zu verlassen und in den wärmeren Jahreszeiten in der Hütte zu leben brachte die fantastische Möglichkeit mit sich, Material zu sammeln. Wenn sie das Haus ein wenig aufrüstete, würde sie vielleicht sogar die Wohnung in Stockholm ganz aufgeben und hierherziehen können.
Denise hatte Albert vor drei Monaten auf einem Dreikönigsball im Schloss von Örebro getroffen. Damals hatte ein Schneesturm getobt, und der Zugverkehr war im Chaos versunken, doch es war ihr gelungen, von Stockholm nach Örebro zu kommen, um eine ehemalige Klassenkameradin zu besuchen, zu der sie über Facebook wieder Kontakt aufgenommen hatte. Sie waren gemeinsam auf den Ball gegangen. Es war ein magischer Dreikönigsabend gewesen. Der Weg zum Burghof war mit Öllampen erleuchtet, die sich im schwarzen Wasser des Wallgrabens spiegelten. Drinnen im Hof standen Feuerkörbe und Fackeln, und sie stiegen auf den blankgetretenen Steintreppen aus der Engelbrecht’schen Zeit zum Festsaal hinauf. Denise hatte eben ihren Mantel aufgehängt, als Albert sie schon zum Tanzen aufforderte. Er hatte sich wirklich verändert, seit sie sich an Mittsommer vor zwei Jahren getroffen hatten, und sah in seinem perfekt sitzenden Smoking richtig stilvoll aus. Das glatte dunkle Haar war kurz geschnitten, und er hatte sich einen Bart zugelegt. Sein leichter Silberblick, an den sie sich noch aus Kindertagen erinnerte, wirkte charmant. Die Nase war gerade, das Kinn markant geschnitten, und der Mund zeigte ein breites Lächeln. Und was sie schon immer an ihm gemocht hatte: sein zurückhaltender, manchmal etwas schwarzer Humor.
Albert hatte sie den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen, und sein Kuss auf der Tanzfläche hatte echtes Potenzial gehabt. Sie bekam Komplimente für ihr rotes Kleid, die elegante Frisur und später im Hotelzimmer, das sie sich spontan nahmen, für ihre schöne Unterwäsche aus kornblumenblauer Seide. Als sie erzählte, dass sie die selbst genäht hatte, wollte er sie mit einem süffisanten Lächeln besonders gründlich untersuchen, drehte und wendete den Stoff und bat darum, die Nähte auf der Innenseite ansehen zu dürfen, um zu prüfen, ob sie auch ordentlich versäubert waren. Dann geschah alles, worüber sie in den Stunden, in denen sie getanzt hatten, fantasiert hatte. Sie war angenehm angeschickert, und er war ein fantastischer Liebhaber.
Jennie war natürlich sauer gewesen, weil Denise während des Ballabends nicht mit ihr zusammen war und auch nicht, wie verabredet, mit ihr nach Hause ging. Aber das Schlimmste war der Hund. Denise ließ Saba bei Jennie zurück, ohne von sich hören zu lassen. Natürlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, aber was hätte sie denn tun sollen? Sie war einfach schlagartig verliebt gewesen und hatte Zeit und Raum vollkommen vergessen.
Zwei Tage verbrachten sie in einem Doppelbett im Stora Hotellet, zwei ganze Tage, an denen sie das Zimmer nur verließen, um rauszugehen und zu Abend zu essen. Das Hotel war elegant und traditionsreich mit vielen Geheimnissen. Angeblich gab es einen unterirdischen Gang aus dem Schloss hinaus, einen dunklen Tunnel unter dem Wasser des Svartån hindurch. Albert machte ihr Angst mit der Legende von der Weißen Frau.
Wer war das?
Eine unglückliche Frau, die gegen ihren Willen verheiratet worden ist. Als das Hochzeitsfest sich seinem Ende zuneigte, ging sie schon voraus ins Hotelzimmer. Die Gäste meinten, sie würde sich für die Nacht zurechtmachen, aber sie hatte einen anderen Plan. Um sich die Hochzeitsnacht zu ersparen und nicht die Ehe mit einem Mann, den sie verachtete, vollziehen zu müssen, brachte sie sich um. Als der betrunkene Ehemann ins Zimmer kam, sah er, dass sie tot am Gitter des Kachelofens hing.
Hör auf! Denise konnte nicht anders, als an Vera zu denken, die niemals eine Braut werden konnte. Sie sah ihr Gesicht vor sich, als Albert die Geschichte erzählte.
Wenn du im Dunkeln einen kalten Luftzug wahrnimmst, dann ist das ihr Atem. Wenn du einen Druck auf der Brust verspürst und vor Schreck aufwachst, dann ist sie das, die dich vor Zorn, dass der Tod ihr einziger Ausweg war, in die Matratze gedrückt hat. Sieh dich am Morgen im Spiegel an, vielleicht hast du blaue Flecken am Hals.
Hör auf, du machst mir Angst.
Ich beschütze dich vor allen bösen Geistern und Schurken, wenn du versprichst, für immer mein zu sein.
Sie lachte, aber er meinte es ernst. Ich meine es. Ich habe schon einmal die verloren, die ich geliebt habe. Das möchte ich nie wieder erleben müssen. Das würde ich nicht verkraften.
Warum hat sie dich verlassen?
Ich will nicht darüber reden. Aber ich muss wissen, ob das hier ernst ist. Ob wir jetzt zusammengehören.
Das tun wir.
Sie hatte das wirklich so gemeint, als sie es sagte, aber später war dann, wie immer, wenn sie sich für etwas Wichtiges entschieden hatte, der Zweifel gekommen. Warum ich? Was sieht er in mir? Wie lange wird das hier halten?
Als Denise ins Haus zurückkam, ließ sie sich in der alten Badewanne, die auf abgenutzten Löwentatzen balancierte, ein heißes Bad ein. Die Goldfarbe blätterte schon ein bisschen ab, und darunter machten sich braune Rostflecken bemerkbar. Das Badezimmer stammte aus den Siebzigerjahren, mit einem Mosaikfußboden in blauen Farbtönen und einer orangefarbenen Nassraum-Tapete mit braunen Medaillons. Das müsste alles mal renoviert werden, aber dafür war ein Kredit erforderlich. Sie lebte jetzt schon am Rande ihrer Möglichkeiten, und ein weiterer Kredit war riskant, falls die Zinsen in die Höhe schossen. Die Miete in Stockholm musste bezahlt werden, und die Grundsteuer für die Hütte lag bei fast 8.000 Kronen im Jahr. Dass sie so hoch angesetzt worden war, lag ausschließlich am Seeblick. Das Haus selbst war hoffnungslos unmodern, aber es war ihres. Albert wollte sie nicht um Geld bitten, denn dann würde er sich womöglich als Miteigentümer fühlen. Das durfte alles nicht zu schnell gehen. Sie brauchte Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie zusammenleben würden.
Vielleicht sollte sie mal ihren Nachbarn Sven fragen, was er so meinte, wie viel es wohl kosten würde, das Nötigste im Badezimmer machen zu lassen. Rita hatte gesagt, ihr Mann sei praktisch veranlagt. Er war pensionierter Handwerker, und wenn er nicht mit dem Boot draußen war, wirkte er ruhelos, als hätte er zu wenig Beschäftigung. Mit Schaudern dachte Denise an das Schreckliche, was mit seiner Enkelin Matilda passiert war. Seit sie auf Veras Junggesellinnenabschied ertrunken war, waren Sven und Rita nie wieder sie selbst geworden. Früher feierten sie fröhliche Feste, jetzt hatten sie sich zurückgezogen.
Denise ging ins Schlafzimmer, zog sich aus und warf den Bademantel über. Saba wollte spielen und rannte mit ihrem einen Strumpf im Maul davon. So also verschwanden die einzelnen Strümpfe. Doch gerade hatte sie keine Lust, mit dem Hund zu toben. Sie ging ins Badezimmer, hängte den Bademantel auf und ließ sich in das heiße Wasser sinken. Der Gedanke an den verrückten Kristoffer Bark, der ihr am Strand begegnet war, beunruhigte sie. Es war jetzt mehrere Jahre her, dass seine Tochter Vera wahrscheinlich ebenfalls ertrunken war, und er hatte dagestanden und in den Sturm hinein geschrien, als wäre es gerade erst passiert. Ging das nie vorbei? Gab es eine Trauer, die einen nie losließ? Wahrscheinlich war es so. Der Gedanke an ihre Zwillingsschwester konnte sie immer noch lähmen, obwohl seitdem so viel Zeit vergangen war.
Denise schob die Gedanken an Kristoffer Bark beiseite und dachte stattdessen über das kommende Abendessen nach. Was aß man an einem Karfreitag? Wenn sie diese Frage Großmutter Hedda gestellt hätte, dann wäre die Antwort gewesen: gekochten Lachs. Am Karfreitag aß man traditionell kein Fleisch, und am Ostersamstag gab es wie an Weihnachten und Mittsommer Hering und Kartoffeln – was auch immer daran festlich sein sollte – und dann Lammbraten oder Schinken. Weihnachtsschinken, Mittsommerschinken und Osterschinken. Denise verspürte ein leichtes Unwohlsein, wenn sie an Essen dachte. Die letzten Wochen war sie erschöpfter gewesen als sonst, und es war ihr schwergefallen zu frühstücken. Vor drei Monaten hatte sie wieder angefangen, ihre Minipille zu nehmen, und seither hatte sie keine Periode gehabt. Ein Verdacht hatte sich in ihrem Hirn eingenistet und war gewachsen, so dass sie gestern aus der Stadt einen Schwangerschaftstest mitgenommen hatte.
Während sie in der Badewanne lag, fing sie an nachzurechnen. Nur am Dreikönigstag hatten sie ungeschützten Sex gehabt. Es gab Menschen, die jahrelang darum kämpften, ein Kind zu bekommen, wie wahrscheinlich sollte es da sein, dass gerade sie schwanger geworden war? Sie ließ die Hand über den Bauch gleiten. Das schlechte Gewissen quälte sie. Sie hatte Alkohol getrunken, und zwar nicht nur ein paar einzelne Gläser, sondern manchmal auch eine halbe Flasche oder mehr. Vielleicht hatte das Kind Schaden genommen. Und wie sollte sie es schaffen, ein Kind zu versorgen? Die Verantwortung, die auf frischgebackenen Eltern lastete, wenn sie mit einem kleinen Bündel ohne Gebrauchsanweisung aus dem Krankenhaus nach Hause geschickt wurden, war doch ungeheuer groß. Man musste nachts wach sein und Windeln wechseln und … sie versorgen, bis sie erwachsen waren. Es war nicht sicher, ob sie ihren Job als Textildesignerin in Stockholm behalten konnte. Was sollte dann werden, wenn sie arbeitslos war? Ihr Arbeitsplatz war gefährdet, seit die Textilfirma mit einem anderen Betrieb in Småland zusammengelegt worden war, das wusste sie. Qualität spielte keine Rolle mehr. Jetzt ging es um Ertrag, Gespür für den Markt und die Produktion von gut verkäuflichen Produkten. Schnell und ideenreich musste man sein. Die Stoffmuster, die sie entwarf, mussten ein Verkaufsschlager werden.
Denise schäumte das lange blonde Haar ein und spülte es rasch mit der Handdusche aus. Sie hatte keine Ruhe, weiter in der Badewanne zu liegen. Jetzt musste es passieren, sie wollte den Test machen, um Sicherheit zu haben. Ehe sie Albert heute Abend am Bahnhof abholte, musste sie eine Antwort darauf haben, ob sie schwanger war oder nicht.
Sie waren erst drei Monate zusammen, aber sie hatte das Gefühl, ihn schon in- und auswendig zu kennen, weil sie schließlich als Kinder Spielkameraden gewesen waren. Und natürlich gab es vieles, was sie nicht wusste, über seine Teenagerjahre und über Maria, die Frau, die ihm später das Herz gebrochen hatte. Denise war verliebt in ihn und interpretierte alles zu seinem Vorteil. Albert arbeitete viel, um stabile wirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Er rief oft an und wollte wissen, was sie machte und mit wem sie sich traf. War das ein Zeichen der Fürsorge oder ein Kontrollbedürfnis? Nein, jetzt war sie aber dumm. Er liebte sie und plante eine gemeinsame Zukunft für sie beide. Sie war 29 Jahre alt. Höchste Zeit, Kinder zu bekommen. Albert war ein wunderbarer Mann. Er würde ein guter Vater werden. Ob er wohl Kinder wollte? Sie glaubte schon. Wenn er Kinder sah, lächelte er sie an und sprach mit ihnen, machte Witze. Das war schon mehrmals vorgekommen. Aber sie hatten bisher nicht darüber geredet.
Denise stieg aus der Wanne, zog ihren Bademantel über, holte den Schwangerschaftstest aus dem Badezimmerschrank, packte ihn aus und studierte gründlich die Gebrauchsanweisung. Dann setzte sie sich auf den Toilettensitz und ließ den Strahl auf das Teststäbchen laufen.
3
Die Einkaufsgalerie im Zentrum von Tybble war an einem Karfreitag natürlich auch nicht gerade ein belebter Ort. Kristoffer Bark parkte vor der Ziegelsteinfassade des ehemaligen kleinen Supermarkts. Das Geschäft hatte eine klare ökologische Ausrichtung gehabt, und Kristoffer war bis zum letzten Tag, an dem der Inhaber den Kampf gegen einen neuen XXL-Supermarkt hatte aufgeben müssen, ein treuer Kunde gewesen.
Doch Tybble Centrum, ein paar Kilometer vom Stadtkern von Örebro entfernt, kämpfte tapfer weiter. Zwischen den Reihen von dreistöckigen Häusern gab es Spielplätze, Müllcontainer und viel zu wenige Parkplätze. Jeden Abend war es, als würde man »Die Reise nach Jerusalem« spielen, wenn sich alle um die Plätze schlugen und immer jemand übrig blieb. Zwei Friseure gab es, ein gutes Restaurant sowie eine charmante Bäckerei und Konditorei, die von einer jungen Frau betrieben wurde. Ihre Backwaren und Torten waren Kunstwerke, und das Brot gehörte zum Besten, was Kristoffer je gegessen hatte.
Ein Nieselregen hatte eingesetzt. Er schloss den Wagen ab und ging in Richtung seiner Wohnung in der Drakenbergsgatan. Eine heruntergekommene Dreizimmerwohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl. Er war den Kollegen immer noch dankbar, die ihm nach der Scheidung von Ella geholfen hatten, die Möbel hochzutragen, als er mit der damals zwölfjährigen Vera hier eingezogen war. Ursprünglich als Übergangslösung geplant wohnte er dreizehn Jahre später immer noch hier. Auch wenn man alles plant, entwickeln die Dinge sich doch nie so, wie man denkt. Man verfolgt den Weg des geringsten Widerstands, weil man es nicht schafft, eine neue Richtung einzuschlagen, wenn die Arbeit als Polizist alles von einem fordert.
Er hob den Blick und ließ sein Gesicht vom feinen Regen kühlen. Dann sah er sich um. Die Fußgängerbrücke, die völlig unmotiviert über die Rudbecksgatan führte, erstaunte ihn jeden Tag aufs Neue. Sie stand da wie ein Monument für das, was er eben festgestellt hatte: dass die Dinge sich nicht so entwickelten, wie man sie plante. In all den Jahren, in denen er jetzt hier wohnte, hatte er nicht eine einzige Person die 72 Treppenstufen erklimmen sehen, um auf die andere Straßenseite zu kommen – wenn man doch die Straße direkt überqueren konnte. Er hatte keine Ahnung, wie man sich vorgestellt hatte, dass Menschen mit Kinderwagen, Fahrrädern oder Rollatoren die Brücke benutzen sollten. Vielleicht sollte die Konstruktion als Outdoor-Fitness-Element für Leute dienen, die Step-ups liebten.
Im Treppenhaus roch es nach Kaffee und Zigarettenrauch. Jemand hatte einen Zettel von der Nachbarschaftsgruppe »Gemeinsam gegen Misshandlung« aufgehängt. Trau dich zu fragen, trau dich, aufmerksam zu sein. Nachdem Kristoffer sich an zwei Kinderwagen vorbeigequetscht hatte, die den Weg blockierten, lief er schnell die Treppen hinauf und schloss seine Tür auf.
Die Stille schlug ihm wie anklagend entgegen. Du bist allein, weil es keiner mehr mit dir aushält. Ohne die nassen Schuhe auszuziehen, ging er ins Wohnzimmer, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Es lief eine Sendung über ein Pflegeheim, offenbar in Solna, was ihm klar wurde, als er die Friends Arena im Hintergrund erkannte. Ein Reporter kommentierte den Bericht.
Der Unbekannte, dem es gelungen ist, in die geschlossene psychiatrische Pflegeabteilung einzudringen, trug einen weißen Kittel und hatte eine gestohlene Passierkarte bei sich. Er wurde von einer Putzfrau im Archiv ertappt, wo die Krankenakten aufbewahrt werden. Eine Akte wurde gestohlen. Es gelang dem Mann, aus dem Gebäude zu verschwinden, ehe die Polizei vor Ort war.
Danach folgte eine unzusammenhängende Studiodebatte, bei der alle einander hektisch ins Wort fielen und niemand ausreden durfte. Ansonsten konnte das Programmangebot für diesen Karfreitag jeden noch so lebenslustigen Menschen in den Selbstmord treiben. Eine philosophische Sendung über den Tod, dann Christi Passionsweg nach Golgatha und danach »Der Gerichtsvollzieher kommt«. Völlig unbegreiflich, dass es Leute gab, die Sendungen über Zwangspfändungen produzierten, in denen das Leiden und die Scham der betroffenen Menschen ausgewalzt wurden, um andere damit zu unterhalten. Kristoffer schaltete den Fernseher aus und fuhr den Computer hoch, um Musik zu hören. Veras Lieblingstitel, eine Liste, die sie, im Jahr, bevor sie verschwand, als Weihnachtsgeschenk für ihn zusammengestellt hatte. »Blurred lines«, »When I was your man«, »Wake me up«.
Kristoffer ging in Veras Zimmer, in dem sich nichts verändert hatte, seit sie angefangen hatte zu packen, um mit Rasmus zusammenzuziehen. Weitere randvolle Umzugskisten standen noch auf dem Dachboden. In dem Moment war einfach alles angehalten worden.
Das breite Bett mit der weißen Tagesdecke und einem Berg von Kissen in allen Farben und Formen stand noch da. Der Schreibtisch am Fenster war unberührt, seit sie zuletzt dort gesessen und auf der Tastatur des Computers getippt hatte, und die Gitarre stand in die Ecke gelehnt. Ein Kumpel von Rasmus, ein Musiker aus Hampetorp, hatte Vera ein paar Akkorde beigebracht. Sonny hieß er. Er hatte ihr auch ein Plakat von einem Auftritt im Brunnsparken in Örebro geschenkt. Selbst war er nicht mit auf dem Bild, sein Name stand ganz unten bei den Vorgruppen, die die Wartezeit überbrücken sollten, bis das echte Zugpferd des Abends kam: Kent. Das Plakat klebte immer noch auf der Innenseite der Schranktür. Vera hatte den Traum gehabt, Singer-Songwriterin zu werden. Während der Schulzeit hatte sie Gesangsstunden genommen und durfte zum Schulabschluss in der Neunten ein Solo singen. Da war sogar Ella zu Tränen gerührt gewesen.
Kristoffer verließ Veras Zimmer. Er hatte die Kerze im Messingleuchter auf dem Küchentisch angezündet, wie er es jeden Abend tat, um seine Gedanken zu sammeln und die Erinnerung an seine Tochter zu ehren. Fünf verdammte Jahre waren seit der schicksalhaften Nacht vergangen, in der sie verschwunden war, und er vermisste sie in jedem wachen Moment.
Es regnete. Trotzdem öffnete er das Fenster einen Spalt, sank auf den Stuhl am Tisch und starrte in die Kerzenflamme. Er hatte sie oft still angefleht, ihm doch auf eine magische Weise ein Zeichen zu geben, ob sie noch lebte oder auf der anderen Seite war. Und manchmal hatte sie das auch getan. Die Aktentasche, die er in der Diele abgestellt hatte, konnte auf unerklärliche Weise plötzlich auf dem Küchentisch liegen. Einer seiner Schuhe war im Papierkorb im Badezimmer gelandet, und einmal hatte Vera sich einen Scherz mit ihm erlaubt und einen Knoten in die dünne dunkelgraue Gardine im Wohnzimmer gemacht. Natürlich hatte er niemandem davon erzählt. Die Leute würden ihn ja für verrückt halten.
Puste die Kerze aus, damit ich weiß, dass es dich gibt, sagte er in Gedanken zu Vera. Doch nichts geschah, und Kristoffer erhob sich, zog die durchnässten Kleider aus und ließ sich ein Bad ein. Als er wieder in die Küche ging, um die Kerze auszublasen … da war sie gelöscht. Ein eiskalter Luftzug vom Fenster könnte das getan haben, aber er war nicht sicher. Es fühlte sich so seltsam an, als würde jemand vorsichtig eine warme Hand auf seinen Kopf legen und ihm tröstend übers Haar streichen. In dem Augenblick war er sicher, dass sie da war.
Er suchte in der Vergangenheit nach der Erinnerung an ihre Stimme. Er konnte immer noch ihr Lachen hören, ihre empörten Verteidigungsreden, wenn sie behauptete, sie habe das Recht, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und die flüsternde, ängstliche Stimme, wenn sie bat, bei ihm im großen Bett schlafen zu dürfen, weil im Schrank ein Affengespenst säße. Wie alt mochte sie da gewesen sein? Vier Jahre vielleicht? Ansonsten war sie furchtlos gewesen, hatte mit allen geredet und war einmal mit einem anderen Mädchen nach Hause gegangen, ohne Bescheid zu sagen. Er hatte immer so eine Sorge in sich getragen, dass ihr etwas zustoßen könnte – schon damals war das Gefühl stark gewesen. Dem eigenen Kind durfte nichts passieren. Wenn sie in größeren Menschenansammlungen unterwegs waren, hatte er immer seine Handynummer mit Kugelschreiber auf ihren Arm geschrieben und ihr Anweisungen gegeben. Wenn ich dich verliere, dann gehst du zu einer Mutter mit Kinderwagen und bittest um Hilfe. Du darfst nicht einfach jeden ansprechen. Versprich mir das.
Kristoffer trat an die große Karte von der Umgebung um den Hjälmaren, die er nach dem Verschwinden seiner Tochter aufgehängt hatte. Sie bedeckte die ganze lange Wand im Wohnzimmer. Andere Bilder oder Dekoobjekte hatte er sich nicht angeschafft. Er und Vera hatten ja eigentlich nur übergangsweise hier leben und sich dann irgendwo eine Wohnung kaufen wollen. Aber die Preise waren so sehr in die Höhe gestiegen, dass es schließlich unmöglich wurde.
Kristoffer steckte die Nadeln um, markierte die Strecke, die er heute gegangen war, und machte eine Notiz dazu in dem Buch, das er führte. Die Haarspange, die er in Hampetorp gefunden hatte, fotografierte er und steckte sie dann wieder in seine Jackentasche. Er würde in der Facebook-Gruppe und auch bei Veras Mutter nachfragen, ob sich jemand erinnern konnte, dass Vera auf dem Junggesellinnenabschied eine solche Spange getragen hatte. Dann fiel ihm das Familienalbum ein, und er holte den letzten Ordner mit den Fotos von 2013 hervor. Nach Veras Verschwinden hatte er aufgehört zu fotografieren. Und da – er entdeckte sie fast sofort. Vera hatte das sonnengebleichte Haar seitlich gescheitelt und trug genau solch eine Spange. Auch die Kette, die sie bei ihrem Verschwinden um den Hals gehabt hatte, trug sie auf diesem Foto, ein Bergkristall in Tropfenform und in Gold eingefasst. Das Foto war an dem Mittwoch, bevor sie verschwand, gemacht worden. Die Haarspange war die erste Spur, die er von ihr am See gefunden hatte. Morgen würde er, sowie es hell war, mit einem Spaten hinfahren und weiter graben. Er postete das Bild in der Facebook-Gruppe, dann rief er Börje an.
»Solche Spangen muss es ziemlich viele geben«, wandte der immer vorsichtige alte Kommissar ein.
»Oder es ist ein Durchbruch.«
»Das reicht nicht aus, um die Ermittlungen wieder aufzunehmen, und das weißt du auch, Kristoffer«, erwiderte Börje resigniert.
Kristoffer beherrschte sich. »Wie geht es deiner Frau?« Das hätte er natürlich zuerst fragen sollen und nicht sofort von seinem Fund reden. Börjes Frau hatte vor knapp fünf Jahren die Diagnose Alzheimer bekommen. Ehe es einen Platz im Pflegeheim für sie gegeben hatte, war es furchtbar gewesen. Börje hatte nachts kein Auge mehr zugemacht, weil sie herumgelaufen war, die Möbel verrückt hatte, sich nach draußen verirrt und nicht mehr nach Hause gefunden hatte. Kristoffer hatte unter der Hand die Ermittlung über Veras Verschwinden übernommen, obwohl er ein Angehöriger war und zudem Polizist im Dienst. Über die unkonventionelle Arbeitsteilung zwischen ihnen damals hatten sie hinterher niemals wieder miteinander gesprochen.
»Nicht so gut. Alice zu füttern wird immer schwerer. Sie kneift den Mund zusammen und schließt die Augen. Ich denke, ich werde sie morgen ein Weilchen nach Hause holen. Albert kommt mit seiner neuen Freundin, Denise. Die in Heddas Haus wohnt, weißt du? Aber heute Abend sitze ich allein hier.«
Kristoffer nickte vor sich hin. Am Morgen war er Denise begegnet. Wie schön, dass Albert jemand Neues kennengelernt hatte. Seine Frau war vor drei Jahren tragischerweise und viel zu jung an einem Schlaganfall gestorben. »Bist du sicher, dass du allein rumsitzen willst? Sonst könnten wir zusammen ein Bier trinken gehen.«
»Nein, nicht am Karfreitag. Das tut man nicht.«
Kristoffer erwog zu fragen warum, ließ es aber. Sie beendeten das Gespräch, und er zog sich aus und wollte eben in die Badewanne steigen, als das Handy klingelte. Er hatte es in der Hosentasche im Schlafzimmer zurückgelassen.
»Bark.« Er merkte selbst, wie barsch er klang.
»Hallo Kristoffer, hier ist Ingrid.«
Er stöhnte leise. »Frohe Ostern! Oder was sagt man da?« Ingrid war ein wenig älter als er, so um die 55, meinte er sich zu erinnern, und Zivilangestellte. Sie gehörte also zu denen, die keine richtigen Polizisten waren, sondern einen anderen Hintergrund als Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler oder wie Ingrid als IT-Techniker hatten. Kristoffer fand, dass sie ausgezeichnete Arbeit machte, wenn sie auch manchmal ein wenig übergründlich und widerspenstig war und der Polizeileitung schon die eine oder andere unbequeme Wahrheit um die Ohren gehauen hatte. Ihre Fürsorge kannte offensichtlich keine Grenzen, nicht einmal in der Freizeit. Er befürchtete das Schlimmste, womöglich plante sie, mit Essen vorbeizukommen und ihn in seiner Einsamkeit zu trösten. Das letzte Mal, als sie das getan hatte, war sie eine Runde durch seine Wohnung gegangen und dann mit einer To-do-Liste angekommen und hatte gesagt, dass er die Fenster putzen und den Filter der Dunstabzugshaube auswechseln müsse. Er hatte nicht einmal im Entferntesten daran gedacht, dass der Dunstabzug einen Filter besaß, ehe das Fett anfing zu tropfen, und nicht einmal da hatte er es als besonders wichtig erachtet.
»Möchtest du morgen Abend zum Osteressen zu uns kommen? Wir werden ein paar Gäste von Öland dahaben, das würde gut passen.«
»Danke, aber ich hab schon was vor.« Eine Notlüge.
»Ah so, und was machst du heute Abend?«
»Das ist eine Information, die der Geheimhaltung unterliegt.« Er grinste garstig vor sich hin.
»Sitz nicht zu Hause rum, Kristoffer, das tut dir nicht gut.«
Jetzt war es aber genug. »Vielleicht ist es nicht an dir, das zu entscheiden!«, entgegnete er kurz angebunden. Diese Frau war einfach so ärgerlich distanzlos, dass er sie am liebsten angeschrien hätte. Das hier war sein schwacher Punkt.
»Ich komme heute Abend mit ein bisschen Lachs bei dir vorbei. Ich fahre zu meiner Schwester nach Sköllersta, das liegt also sowieso auf dem Weg.«
»Danke, sehr freundlich, aber ich werde nicht zu Hause sein, und morgen früh, sobald es hell wird, gehe ich zum Hjälmaren.« Kristoffer war zurück ins Badezimmer gegangen und hatte sich den Bademantel über die Schultern gelegt, um sich während des Gesprächs nicht so nackt zu fühlen.
»Und du bist sicher, dass du nicht ein bisschen von unserem leckeren Janssons frestelse haben willst?«
»Todsicher.«
Um sich Ingrids Mitleid zu ersparen, war er gleich nach dem Bad aus seiner Wohnung geflüchtet und hatte den Bus in die Stadt genommen, um in der sogenannten Freimaurerloge etwas zu essen. Das Gebäude war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Ordenshaus der Freimaurer und stand mitten in Örebro auf der Insel Blekholmen im Svartån. Abgesehen von den Räumen für die Zusammenkünfte der Freimaurer gab es ein Tanzlokal, eine Festetage und im Sommer auch einen Biergarten.
Die Fahrt mit dem Bus dauerte zwölf Minuten. Es hatte aufgehört zu regnen, und ein sanftes Licht beleuchtete die Stadt. Kristoffer stieg am Schloss aus, blieb sofort stehen und wollte sich nicht vom Fleck bewegen. Auf der Brücke über den Svartån stand ein Mann in zerschlissenem Anzug und spielte so schön Kornett, dass er ganz hingerissen war. Sicherlich war er in seinem eigenen Land ein angesehener Musiker, ein Berufsmusiker der Weltklasse, der sich und seine Familie aber nicht damit ernähren konnte. Die schönen und gefühlvollen Klänge machten Kristoffer froh und gleichzeitig traurig, und in diesem Moment konnte er plötzlich das Großartige um sich herum erkennen. Die glühende Abendsonne in Rosa, Violett und Gold, die sich im Svartån spiegelte, der sich auf beiden Seiten des Schlosses durch den Stadtkern schlängelte.
Hinter dem Schloss leuchteten die gelben Gebäude des Strömparterren, des alten Restaurants im Schlosspark, im Volksmund »Strömpis« genannt. Bald würde unter seinen Bäumen das Gartenlokal wieder öffnen. Vor sich hatte er das Alte Theater, das an eine mehrstöckige Zitronentorte erinnerte, und weiter hinten das Hotel Borgen mit seinen Zinnen und Türmen und in Bogen geschwungenen Fenstern. Das Gebäude war einem Märchenschloss ähnlicher als das rustikale Schloss selbst. Früher einmal war es eine Bank gewesen, dann hatte eine Zeitung ihre Redaktion dort gehabt, und jetzt war es ein Hotel. Örebro war seine Stadt, und sie war so verdammt schön!
Kristoffer stand atemlos still und hörte, wie das Musikstück verklang. Dann ging er zu dem Mann, drückte ihm einen Fünfhundertkronenschein in die Hand und dankte für das umwerfende Musikerlebnis. Das war ein angemessener Ticketpreis für eine außerordentliche Aufführung. Musik vermochte über alle Worte hinaus direkt in die Seele vorzudringen, und Kristoffer fühlte sich so leicht ums Herz wie lange nicht. Vielleicht war das der Grund für das Unfassbare, was dann geschah. Er war überhaupt nicht auf die Begegnung vorbereitet, die noch am selben Abend auf ihn wartete.
Die Straßenlaternen spiegelten sich in dem dunklen Wasser, als er über die schwankende Holzbrücke zur Freimaurerloge ging. Er gab seinen Mantel an der Garderobe ab und bekam einen Fensterplatz zugewiesen. Auf der Bühne spielte ein Ensemble leise Trad-Jazz-Klassiker. Er ließ den Blick durch das Lokal schweifen, wie es Polizisten tun, um mögliche Störfaktoren zu entdecken. Eine Berufskrankheit, die zu einem Reflex geworden war. Dabei ging es ums Überleben, darum, rechtzeitig zu bemerken, wenn jemand unangenehm zu werden drohte. Doch die meisten, die da im Restaurant saßen, wirkten anständig. Keine alten Bekannten, die er im Blick behalten musste.
Obwohl es noch nicht einmal neunzehn Uhr am Karfreitag war, gab es kaum einen freien Platz. Ob das Fernsehprogramm die Menschen aus ihren Häusern getrieben hatte? Kristoffer überflog das Menü, und es fiel ihm schwer, sich zu entscheiden, doch dann wählte er ein klassisches Steak und ein Easy Rider, das alkoholfreie Bier, das er am liebsten trank.
Erst beim Dessert bemerkte er sie, und dann konnte er den Blick nicht mehr von ihr wenden. Eine schöne dunkelhaarige Frau an einem Tisch für zwei. Wartete sie auf jemanden? Nein, es war nur für eine Person gedeckt. Sie war eigentlich nicht umwerfend schön, sondern von einer Schönheit, die man erst entdecken musste. Ihre Haare waren kurz, dunkelbraun und lockig. Die Augen groß, braun und halbmondförmig, der Mund von einem warmen und verlockenden Farbton. Wenn sie noch ein anderes Make-up benutzte außer dem Lippenstift, dann war es sehr diskret. Sie trug ein schwarzes Kleid, dazu hochhackige schwarze Schuhe, in denen sie beeindruckend entspannt lief, wie er feststellte, als sie kurz zur Toilette ging. Auf dem Weg zurück warf sie ihm einen interessierten Blick zu, und er lächelte sie an. Sie lächelte kurz zurück und wandte eilig den Blick ab. Ihr Lächeln war fantastisch. Das lag möglicherweise an der Musik, die seine Sinne besänftigt hatte, doch nicht nur. Es war lange, sehr lange her, seit er sich von einer Frau angezogen gefühlt hatte. Wahrscheinlich hatte das mit diesem Maslow und seiner berühmten Bedürfnispyramide zu tun. Jemanden attraktiv zu finden steht nicht gerade ganz oben auf der Liste, wenn man mit den Dämonen der Hölle ringt.
Jetzt sah sie ihn wieder wie zufällig mit ihren freundlichen braunen Augen an, und Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Sollte er es wagen, sie zu bitten, an seinen Tisch zu kommen, so dass sie zusammen eine Tasse Kaffee trinken könnten? Sie war inzwischen auch beim Dessert angekommen. Ihm wurde fast schwindelig, als er merkte, wie gern er das täte. Was war das Schlimmste, das passieren konnte, wenn er fragte? Dass sie Nein sagte. Dass sie ihn aufdringlich fand. Er konnte schließlich nicht wissen, welche Erfahrungen sie mit Männern gemacht hatte, die sie zu etwas einladen wollten.
Kristoffer hatte sich gerade ein Herz gefasst und war im Begriff, sich zu erheben, als sein Handy klingelte. Er kannte die Nummer nicht, nahm den Anruf aber trotzdem an und hatte plötzlich eine heisere und betrunkene Frauenstimme im Ohr, die Ellas Freundin Peggy gehörte.
»Jetzt werd nicht sauer, Bark. Es geht um deine Frau, also deine Ex. Sie reagiert nicht, wenn man mit ihr redet. Sie ist komplett weg.«
Kristoffer wurde eiskalt. »Atmet sie? Hat sie einen Puls?«
»Ich weiß nicht. Sie sieht tot aus.«
Er fiel in seinen Berufsmodus, sprach ruhig und deutlich. »Hast du einen Notarzt gerufen?«
»Verdammt, nicht daran gedacht.«
Nun schlug die Angst allmählich in Wut um, doch er beherrschte sich. »Okay, ich mach das. Wo ist Ella? Kannst du sie beatmen? Herzmassage? Du musst versuchen, sie am Leben zu halten. Ist sonst noch jemand da? Ruf um Hilfe.«
»Ihr Typ, Bengan, ist hier, aber der ist zu besoffen, um was zu schnallen. Sie liegt in einem Busch im Stadtpark. Bei der großen Bühne.«
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Zum Glück hatte er Bargeld dabei. Kristoffer legte einen Fünfhunderter auf den Tisch und verließ das Lokal, ohne seinen Mantel abzuholen. Er konnte schon nicht mehr zählen, wie viele solcher Einsätze er in den letzten Jahren übernommen hatte. Er eilte aus der Freimaurerloge über die schaukelnden Planken der Holzbrücke und dann in gleichbleibendem Tempo am Svartån entlang, am Schloss vorbei, über die Straße am Harrys vorbei zum Stadtpark und kam noch vor dem Notarzt an.
Drei verzweifelte Menschen beugten sich über Ella. Kristoffer schob sie beiseite. Sie stanken nach Suff und altem Zigarettenrauch. Im schwachen Licht einer entfernten Laterne sah er, dass Ellas Augen geschlossen und die Lippen bleich waren. Er kontrollierte Puls und Atmung, konnte aber keine Lebenszeichen wahrnehmen. Er fuhr ihr mit dem Zeigefinger in den Mund und holte Reste von Erbrochenem heraus. Kristoffer sammelte Kräfte, holte tief Luft und blies seinen Atem in sie hinein, bis sich ihr Brustkorb hob. Einmal, zweimal, dann dreißig Herzkompressionen.
Beim nächsten Atemstoß begann Ella zu husten und übergab sich im hohen Bogen. Kotzte auf sein weißes Hemd. Es war ihm egal. Jetzt konnte er das vorsichtige Pochen des Pulses an ihrem Hals spüren und sah, wie ihr Gesicht langsam eine normale Farbe annahm. Sie rang nach Luft. Er drehte sie in die stabile Seitenlage. Aus der Ferne war das Martinshorn der Ambulanz zu hören. Es kam immer näher. Die Scheinwerfer blendeten ihn, er streckte eine Hand hoch, um zu zeigen, dass sie hier richtig waren, und bat die anderen, die sich versammelt hatten, beiseitezutreten, damit die Sanitäter durchkommen konnten.
Kristoffer strich ihr über das zerzauste Haar. Tu das nicht, Ella, tu dir das hier nicht an!
Es war eine große Erleichterung, als die Sanitäter sie übernahmen. Er erklärte, dass er ihr Ex-Mann und nächster Angehöriger war und hinterließ seine Kontaktdaten, wie er es jedes Mal getan hatte, wenn sie sich um den Verstand gesoffen und das Bewusstsein verloren hatte. Aber er fuhr nicht mit ins Krankenhaus. Ella war jetzt in guten Händen, und er musste bei den Freimaurern noch seinen Mantel abholen. Wenn sie entlassen würde und die Angst wieder zuschlug, dann würde er für sie da sein. Was konnte er sonst schon tun? Sie war schließlich Veras Mutter.
Die Wut trieb ihn an, als er zurückeilte. Doch er war nicht auf Ella wütend, sondern auf den verdammten Quacksalber von einem Arzt, der sie mit Beruhigungsmitteln und Schmerzmitteln auf Morphiumbasis versorgte, ohne jedoch zu fragen, mit welcher Art Flüssigkeit sie die Tabletten herunterzuspülen gedachte. Seit sie dorthin ging, war es nicht mehr nur der Alkohol. Ella weigerte sich, seinen Namen zu nennen, aber Kristoffer war fest entschlossen, ihn herauszufinden. Wer ein unter das Betäubungsmittelgesetz fallendes Arzneimittel ausgab, sollte auch einen Plan haben, wie man es wieder ausschleichen konnte. Einen Zustand der Angst gegen einen tödlichen Drogenmissbrauch auszutauschen war jedenfalls keine gute ärztliche Versorgung, vor allem nicht, wenn man sich dafür schwarz bezahlen ließ und das Geld in die eigene Tasche steckte, wie es dieser Arzt angeblich tat.
Erst als Kristoffer vom Türsteher des Freimaurerlokals aufgehalten wurde, begriff er, wie er aussah. Das Hemd bespuckt, die helle Hose hatte Grasflecken auf den Knien. Und als wäre das nicht genug: In diesem Moment der Erniedrigung tauchte sie auf, die schöne Frau, die ihm zuvor aufgefallen war. Sie kam zur Garderobe, um ihren Mantel abzuholen, und starrte ihn entsetzt an. »Hallo, alles in Ordnung?«, fragte sie vorsichtig.
Er nickte kurz. Aus dem Restaurant drangen Wellen von Lachsalven, schwarze Nebelschwaden waberten durch sein Blickfeld, kamen und verschwanden im Verlauf von wenigen Sekunden. Das furchterregende Gefühl, sich nicht im eigenen Körper zu befinden, erfüllte ihn.
Sie stand wie versteinert da und nahm nur mit halb geöffnetem Mund wahr, was geschah, so als wollte sie etwas sagen, fände aber keine rechten Worte für ihre Bestürzung.
Kristoffer wandte sich an den Türsteher. »Ich habe ja nicht gesagt, dass ich reinwill. Ich will nur meinen Mantel holen«, knurrte er gedämpft und wedelte mit dem Garderobenzettel.
Der Türsteher sah skeptisch aus. »Ich hab Sie schon mal gesehen. Sie sind Polizist, oder?«
Kristoffer spürte, wie der Zorn rot durch sein ganzes Bewusstsein rauschte und in einen Ausbruch mündete, den er nicht mehr beherrschen konnte. Er ergriff den Wachmann am Kragen, hob ihn auf seine eigene Augenhöhe, drückte ihn an die Wand und atmete ihn an. »Ich bin nüchtern.« Dann ließ er ihn wieder auf den Boden sinken und marschierte hinein, um seinen Mantel zu holen.
»Was ist denn passiert?«, fragte die dunkelhaarige Frau, als er auf dem Weg hinaus an ihr vorbeiging.
Er antwortete nicht. Bekam kein einziges Wort heraus. Die Wangen brannten ihm vor Scham, aber er konnte jetzt kein Mitleid ertragen. Er wollte nur noch weg und ging, ohne sich umzudrehen. Die Gedanken betäubt und mit steifen Gliedern. So wie er stank, wollte er nicht mit dem Bus nach Hause fahren, sondern beschloss, zu Fuß nach Tybble zu gehen. Das waren ein paar Kilometer, wenn er die Trädgårdsgatan zur Rudbecksgatan nahm. Es war kalt, und er fror, aber er trug den Mantel trotzdem unterm Arm, um ihn nicht schmutzig zu machen. Wenn er nur schnell ging, würde er schon genug Wärme entwickeln. Er war immer noch wütend. So rasend wütend, dass ihm hoffentlich niemand in die Quere kam. Wenn er erst zu Hause war, würde der Zorn abklingen und der großen, lähmenden Erschöpfung Raum geben. Das Muster kannte er schon.
Als er zum Strömpis kam, hatte das Restaurant offensichtlich schon für die Saison geöffnet, und die Schlange draußen war lang.
»Der da drängelt sich vor!«, kreischte eine Frau mit rosafarbenen und helllila Strähnchen im Haar. Sie hatte einen Ring in der Nase, trug ein dünnes geblümtes Kleid und zeigte auf einen jungen Mann mit rabenschwarzem Haar und langem Mantel. »Der da!«
Kristoffer erkannte Alex Molin, den Frischling wieder, der kürzlich bei ihnen in der Mordkommission angefangen hatte. Ein Möchtegern-Gunvald, der noch einiges zu lernen hatte, bevor man ihn von der Leine lassen könnte. Kristoffer hatte empfohlen, man solle den neuen Kollegen in den Fahrradkeller des Polizeireviers verbannen, bis er von seinem hohen Ross herunterkäme, aber keiner hatte auf ihn gehört.
»Ich bin Polizist. Ich muss rein!«, sagte Alex von oben herab.
»Können Sie sich ausweisen?«, fragte der Türsteher.
»Etwas Respekt für die Ordnungsmacht, wenn ich bitten darf!« Alex Molin wühlte in seiner Manteltasche, zog seine Brieftasche heraus und wedelte mit der Marke. »Ich muss einen Verdächtigen verhören, und es ist verdammt eilig!«
Kristoffers Geduld war am Ende. Die schwarzen Nebel kehrten zurück, und das Adrenalin schoss ihm bis in die Fingerspitzen. Das schreckliche Gefühl, keine volle Kontrolle über das zu haben, was er dachte und tat, überwältigte ihn.
»Du bist nicht im Dienst!«, knurrte Kristoffer Bark, trat auf Molin zu und packte ihn. Er zog den Grünschnabel aus der Schlange und beschimpfte ihn mit allem Zorn, der sich angesichts all des Elends dieses Abends in ihm angestaut hatte. »Außerdem bist du kein Polizist, sondern Polizeianwärter, und es ist noch die große Frage, ob du je einen anderen Rang schaffen wirst!«
»Ist das da auf deinem Hemd Kotze?«, stammelte Alex, als er sich wieder gefasst hatte.
»Ja, das sind die Medaillen, die man für Tapferkeit im Dienst der Ordnungsmacht erhält. Wenn du je ein richtiger Polizist bist, wirst du vielleicht auch mal eine bekommen. Die Leute werden dich ankotzen, ihr Blut über dich spritzen und dich bespucken. Wirst du das aushalten? Sonst hast du nämlich den falschen Beruf gewählt.«
»Wirst du das hier melden?«, fragte Alex, immer noch erschüttert.
»Kommt drauf an. Es wäre unverantwortlich, einen Frischling mit durchzuziehen, der nicht mal wie normale Leute in der Schlange stehen und die leichteste aller Regeln befolgen kann, nämlich zu warten, bis er dran ist.« Kristoffer lockerte den Griff und machte eine Kopfbewegung zu der Menge von Leuten hin. »Und jetzt gehst du hin und entschuldigst dich.«
Alex starrte ihn an, als wäre er der Leibhaftige. »Du bist doch nicht ganz sauber, verdammt noch mal! Nie im Leben.«
Da platzte Kristoffer der Kragen. Er packte den Rotzlöffel am Nacken und trieb ihn vor sich her zu dem Türsteher, den er schon lange kannte. »Dieser junge Mann hier möchte, dass Sie sich an ihn erinnern. Er wird nicht reingelassen werden, und er möchte sich für sein schlechtes Benehmen entschuldigen, nicht wahr?«
»Au, ja, verdammt.«
Kristoffer ließ Alex so abrupt los, dass dieser das Gleichgewicht verlor und zur allgemeinen Erheiterung der in der Schlange Stehenden auf seinem Hintern landete.
Kristoffer setzte seine kalte Wanderung nach Hause fort. Das Gefühl, sich nicht in seinem Körper zu befinden, verfolgte ihn.
»Ich werde dich wegen Misshandlung anzeigen!«, echoten die Worte des Polizeianwärters hinter ihm her.
Kristoffer Bark drehte sich nicht um. Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Alles war schwarz.
Als Kristoffer aus seinem Zustand der Lähmung erwachte, saß er in Tybble auf dem Sofa, und es war Nacht. Obwohl er sich vor Erschöpfung wie erschlagen fühlte, ging er duschen, machte sich einen Kaffee und rief das Krankenhaus an. Ellas Zustand war ernst, aber stabil. Er machte mit der Krankenschwester aus, dass er sie am kommenden Tag nachmittags abholen würde, wenn nicht noch etwas dazukäme, das weiterer Pflege bedürfte. Insgeheim hoffte er, dass Ella in der sicheren Umgebung bleiben musste, damit er das ganze Osterwochenende der Suche nach Vera widmen konnte.