Lesen? Gefällt mir! - Spannende Krimigeschichten - Jürgen Banscherus - E-Book

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Jürgen Banscherus

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Beschreibung

Meine Bücher, meine Welt ...

Fassadenklettern, Tresore knacken – von Opa Puschkin, dem Ex-Meisterdieb, lernt Pia außergewöhnliche Dinge. Doch als sie erfährt, dass er wieder einen Einbruch plant, fällt sie aus allen Wolken. Wollte ihr Opa nicht endlich seinen Ruhestand genießen? Aber plötzlich wird aus dem Plan tatsächlich Ernst. Und Pia ist mittendrin!
Als dann wenig später eine Einbruchserie die Stadt erschüttert, gerät erneut Opa Puschkin in Verdacht. Doch Pia ist sicher: Damit hat er auf keinen Fall etwas zu tun! Oder? Sie setzt alles daran, seine Unschuld zu beweisen. Aber Puschkins ehemaliger Gangsterkollege hat noch eine Rechnung mit ihm offen …

Enthält die Bände »Der Smaragd der Königin« und »Das Gold des Skorpions« von Jürgen Banscherus.

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Seitenzahl: 259

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JÜRGEN BANSCHERUS

SPANNENDE KRIMIGESCHICHTEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Erstmals als cbt Taschenbuch-Sammelband Dieser Sammelband besteht aus den Einzelbänden: »Der Smaragd der Königin« von Jürgen Banscherus © 2003 Arena Verlag GmbH und »Das Gold des Skorpions« von Jürgen Banscherus © 2004 Arena Verlag GmbH Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Grafikagentur Kathrin Schüler unter Verwendung von Bildmaterial von © Shutterstock.com (zizi_mentos, Igor Normann) ah · Herstellung: LW Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-28957-7V001www.cbj-verlag.de

Der Smaragd der Königin

JürgenBanscherus

Der Smaragd der Königin

Pia ärgert sich

Vor dem Rathaus, dessen Turm seinen Schatten über den Fischmarkt wirft, sitzt Pia auf der Bordsteinkante und befühlt vorsichtig ihre Backe. Dick ist die, mein lieber Mann, und sie wird immer dicker. Außerdem kann Pia spüren, wie ihr linkes Auge zuschwillt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie nichts mehr sehen kann. Zum Glück sind ihre Zähne heil geblieben, wenigstens das. Ein abgebrochener Zahn hätte ihr gerade noch gefehlt.

Als Alex in der großen Pause mit seiner linken Geraden auf ihren Kopf zielte, hat sich Pia, wie sie es gelernt hat, weggeduckt. Aber genau darauf hatte Alex wohl gewartet. Mit einem rechten Aufwärtshaken erwischte er sie am Auge, danach mit einer linken Geraden an der Backe. Ein paar Minuten später hat sie ihn k. o. geschlagen, Alex hatte keine Chance. Aber das ändert nichts daran: Mit ihrem zerbeulten Gesicht sieht Pia aus wie Frankensteins Tochter.

Wütend tritt sie gegen eine leere Coladose. Warum haben ihre Eltern sie bloß Pia genannt? Wussten sie nicht, wie oberpeinlich der Name ist? Gleich in der ersten Stunde des neuen Schuljahrs hat ihr Religionslehrer erklärt, dass Pia aus dem Lateinischen komme und »die Fromme« heiße. Natürlich kringelten sich ihre Mitschüler vor Lachen, sie selbst hätte sich am liebsten unter der Bank verkrochen. Über ihre knallroten Haare hatten sich Alex und ein paar andere schon vorher lustig gemacht. Jetzt war noch ihr blöder Name dazugekommen.

Deshalb hat es am Morgen auch den Streit gegeben. Alex ist über den Schulhof gerannt und hat »Es brennt! Es brennt! Die Fromme brennt!« gebrüllt. Alle haben geguckt, sogar der Lennart aus der 7, in den sie manchmal verknallt ist. Was ist ihr da übrig geblieben, als Alex eins auf die Nase zu geben?

Er war schuld an der Prügelei, aber das haben sie ihr in der Schule nicht geglaubt, natürlich nicht, die haben was gegen sie. Und deshalb steckt jetzt ein Brief an die Eltern in Pias Schultasche. Es ist schon der zweite in diesem Schuljahr. Beim ersten Mal hat sie sich mit Sven geprügelt. Allerdings hat ihr Gesicht hinterher nicht halb so schlimm ausgesehen wie nach dem Kampf mit Alex.

Warum haben ihre Eltern sie nicht Katharina genannt? Der Name passt doch viel besser zu ihr. Immerhin war Katharina Zarin und, wenn Pia das im Fernsehen richtig mitgekriegt hat, die mächtigste Frau Russlands. Gegen Madonna hat sie auch nichts. Oder gegen Marilyn. Aber nein, es hat Pia sein müssen. Die Mädchen in ihrer Klasse haben so doofe Namen wie Laura, Julia oder Friederike. Trotzdem würde sie mit jeder von ihnen tauschen.

Während Pia durch die Stadt läuft und sich ärgert, wacht Puschkin auf. Die Uhr auf dem Nachtschränkchen zeigt halb eins, nicht zu fassen, wie lange er geschlafen hat. Durchs Dachfenster scheint die Sonne ins Zimmer, eine einsame Wolke schippert Richtung Hafen.

»Mittagessen ist fertig!«, hört Puschkin Viola rufen. »Es gibt Tofuschnitzel!«

Er verzieht das faltige Gesicht zu einer Grimasse. »Ich bin krank«, nuschelt er in sein Kopfkissen. »Lass mich bloß mit deinen Pappschnitzeln in Frieden!«

Ächzend dreht er sich auf die Seite und greift nach der Kassette, die neben ihm auf dem Nachtschränkchen liegt. Doktor Höppner hat sie ihm bei seinem letzten Besuch mitgebracht. Wann war das? Gestern? Oder letzte Woche? Puschkin kann sich nicht erinnern, in letzter Zeit spielt sein Gedächtnis manchmal verrückt.

Er nimmt sein Gebiss aus dem Wasserglas, steckt es sich umständlich in den Mund und setzt die Lesebrille auf. Seit er einmal aus Versehen drauf geschlafen hat, sind beide Bügel mit Leukoplast geflickt. Alle machen Witze darüber, aber ihn lässt das kalt. Er hängt an seiner Brille, er will keine andere.

»M-e-n-t-a-l-e-s S-c-h-w-i-n-d-e-l-t-r-a-i-n-i-n-g« steht handgeschrieben auf dem Rücken der Kassette, Puschkin hat Mühe, die Schrift zu entziffern. Was hat sich der Doktor bloß dabei gedacht? So ein Training ist was für Staubsaugervertreter. Oder Politiker. Jedenfalls bestimmt nichts für einen alten Knacker wie ihn. Außerdem kann er schwindeln, da steckt er jeden in die Tasche.

Kopfschüttelnd lässt er die Kassette im Inneren des Nachtschränkchens verschwinden. Bei Gelegenheit wird er sie Holger geben. Vielleicht weiß der was damit anzufangen. Puschkins Sohn arbeitet nämlich bei der Bank. Wie Marga, Puschkins unverheiratete Tochter. Die beiden sind leider völlig aus der Art geschlagen. Das Interesse an allem, was mit Geld zu tun hat, haben sie von ihm geerbt, immerhin. Aber Bankangestellter wäre er nie geworden, nie im Leben!

Holger hat das rot geklinkerte Haus am Kirchweg 27 vor zwölf Jahren gekauft. Puschkin haben sie in der Einliegerwohnung im zweiten Stock einquartiert. Sie besitzt eine winzige Schlafkammer, ein nicht viel größeres Wohnzimmer und ein Bad. In den Sommermonaten ist es hier heiß wie die Hölle, im Winter manchmal so kalt, dass Puschkin nachts die gefütterte Mütze mit den gestrickten Ohrenklappen aufsetzen muss. Im Erdgeschoss und im ersten Stock wohnt Holger mit seiner Familie, das Souterrain haben sie für Marga ausbauen lassen. Seit zwanzig Jahren wartet sie auf einen steinreichen Grafen oder den Vorstandsvorsitzenden einer Bank. Darunter tut die Dame es nicht.

Puschkin lässt seinen kahlen Schädel aufs Kissen zurückfallen und schließt die Augen. Früher hat er mal dichte feuerrote Haare gehabt, die Frauen haben sich auf der Straße nach ihm umgedreht, jawoll, das haben sie. Aber das ist eine Ewigkeit her. Jetzt gleicht er mit seiner Glatze eher den hässlichen Truthähnen auf dem Hof vom Bauern Jensen, draußen in der Marsch.

Vor zwei Monaten hat Puschkin seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Mit Holger, Viola und dem Rest der Familie ist der Tag zum Gähnen langweilig gewesen: Orangensaft und alkoholfreien Sekt zum Frühstück, Kaffee und Kuchen am Nachmittag. Aber eine Woche später hat er es krachen lassen, richtig krachen, jawoll! Da hat er alle alten Freunde in die ROTEHELENE unten am Hafen eingeladen. Viola und Holger haben sich in die Bar kaum reingetraut und sind schon nach einer Stunde wieder gegangen. Die anderen haben es länger ausgehalten. Bis morgens um sieben haben sie gefeiert, Bier und Schnaps getrunken und sich Geschichten von früher erzählt.

Am nächsten Tag ist ihm dann schwindlig gewesen, Doktor Höppner hat kommen müssen. Und Holger und Marga haben ihn ausgeschimpft. Er sei keine zwanzig mehr, haben sie gesagt. Er müsse sich schonen, der Schnaps bringe ihn noch ins Grab. Puschkin hat seine Ohren auf Durchzug gestellt. Mit siebzig darf es einem ruhig schon mal schwindlig sein. Wenn das Wetter wechselt. Wenn einen das verdammte Rheuma zwickt. Oder wenn man sich geärgert hat. Weil einem keiner die Zeitung raufbringt. Oder weil einer die Wodkaflasche versteckt hat.

Jetzt klopft es energisch an Puschkins Tür. Es ist Viola. An vier Vormittagen in der Woche arbeitet sie als Kundenberaterin in der Bank, in der Holger letztes Jahr zum Leiter der Wertpapierabteilung befördert worden ist. Viola sieht gut aus, das ja. Aber sie ist Puschkin zu dünn. Eindeutig. Außerdem trampelt sie ihm mit ihrem Sauberkeitsfimmel auf den Nerven rum. Doch für den braven Holger ist sie offenbar genau die Richtige.

»Geht’s dir nicht gut, Vater?«, fragt sie.

»Nein.«

»Kommst du runter?«

»Nein.«

»Soll ich dir dein Essen raufbringen?«

»Nein.«

»Vielleicht eine Suppe?«

»Nein.«

Sie zieht die linke Augenbraue hoch. »Na, dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag«, sagt sie schnippisch, wischt ein paar Krümel vom Nachtschränkchen und wendet sich zur Tür.

»Nein«, sagt Puschkin, weil er schon einmal dabei ist und weil das bestimmt kein schöner Tag mehr werden wird.

»Es ist schwierig mit dir«, sagt sie.

»Die Zeitung«, sagt Puschkin.

»Du könntest ›Bitte‹ sagen.«

»Nein!«

»Brauchst du sonst noch was?«

»Nein!!«

Ein paar Minuten später liegt die Zeitung vor Puschkin auf der Bettdecke. Viola hat sie ihm ohne ein weiteres Wort heraufgebracht.

Wie jeden Tag vertieft er sich zuerst in die aktuellen Börsenkurse. Immerhin besitzt er einen Haufen Aktien, von dem niemand in der Familie was weiß. Außerdem ist er einmal in den größten Bankhäusern ein und aus gegangen. Sozusagen …

Danach liest er die Seite mit den Berichten aus aller Welt. Mord, Totschlag, Überfälle, die Frühjahrsmodenschau in Mailand, ein neuer Pandabär für den Berliner Zoo. Das Übliche eben, er liest es und vergisst es wieder.

Doch für eine Meldung gilt das nicht, die interessiert ihn mehr als die übrigen Artikel. »98-Jähriger bezwingt Montblanc« steht da in fetten Buchstaben. Der alte Mann, ein früherer Bergführer, habe den höchsten Berg Europas zusammen mit seinem 21-jährigen Urenkel bestiegen. Der 98-Jährige sei damit der älteste Mensch, der je auf dem Gipfel des Montblanc gestanden habe.

Puschkin streckt sich, dass seine brüchigen Knochen empört in ihren Gelenken knacken. Er ist früher mit Begeisterung geklettert, mit Begeisterung, jawoll! Wenn auch nicht in den Bergen … Doch eine Tour auf den Montblanc kann er vergessen. Mit seinem Rheuma und den verdammten Schwindelanfällen schafft er es an manchen Tagen kaum die Treppen zu seiner Wohnung hinauf.

Unter den Todesanzeigen findet sich niemand, den er kennt. Das ist beruhigend, irgendwie. Im Lokalteil fällt ihm dann ein Artikel ins Auge, der ihn noch neugieriger als die Montblanc-Geschichte macht und ihn auf der Stelle Rheuma und Schwindel vergessen lässt. Unter der geheimnisvollen Überschrift »Der Smaragd der Königin« liest er:

»Die Besitzerin eines der berühmtesten Edelsteine der Welt weilt seit gestern in unserer Stadt. Gloria von Waldenfels, die Witwe eines Ölmagnaten, hat eine Suite im Grandhotel bezogen. Wie aus gut unterrichteten Kreisen zu erfahren war, führt sie den Smaragd, dessen Herkunft im Dunkeln liegt, auf allen Reisen mit sich. Der Legende nach darf der Besitzer des Edelsteins mit Gesundheit und einem langen Leben rechnen.«

Neben dem Bericht ist das Bild einer stattlichen Dame zu sehen. Die Haare der Frau türmen sich zu einer furchterregenden Hochfrisur, mit ebenmäßigen Zähnen lacht sie in die Kamera. Puschkin schnalzt mit der Zunge. Sieht gut aus die Lady. Ob die Zähne wohl echt sind? Aber noch besser gefällt ihm der große Stein, den sie um den Hals trägt. Natürlich hat Puschkin schon von dem Smaragd der Königin gehört. Schließlich ist er vom Fach.

»Gesundheit und ein langes Leben, ein langes, jawoll!«, murmelt er. »Na, dann mal los. Attacke!« Er lässt die Zeitung achtlos neben das Bett fallen und tastet mit den Füßen nach seinen Hausschuhen. Der Wecker zeigt Viertel nach eins.

Als Pia an diesem Mittag nach Hause kommt, wartet Mama schon mit dem Essen auf sie. »Wie war’s in der Schule?«, will sie wissen. Das fragt sie jeden Tag.

Und wie jeden Tag antwortet Pia: »Ging so.« Das stimmt natürlich nicht, überhaupt nicht. Da war nicht nur die Schlägerei mit Alex. Nein, sie haben auch noch die Deutscharbeit zurückgekriegt.

»Was gibt’s zu essen?«, fragt sie.

»Lauchgemüse mit Pariser Kartöffelchen und einem panierten Tofuschnitzel.«

»Tofu? Igitt!«

»Pia! Also wirklich!«

Erst in diesem Augenblick bemerkt Mama die Kampfspuren in Pias Gesicht. »Was ist passiert?«, ruft sie erschrocken. »Bist du gefallen, Kind?«

Statt zu antworten, fischt Pia den Brief aus der Schultasche. »Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass sich Ihre Tochter Pia in der großen Pause wieder einmal mit einem Jungen aus ihrer Klasse geschlagen hat«, liest ihre Mutter laut vor. »Dabei ist sie mit einer solchen Brutalität vorgegangen, dass der Junge nach Hause geschickt werden musste. Ein derartiges Verhalten können wir nicht dulden. Ich bitte Sie deshalb zu einem Gespräch in unsere Schule. Für die Terminabsprache ist unser Sekretariat zuständig.«

»Der Alex hat angefangen«, erklärt Pia. »Der hat mich geärgert. Wegen meiner roten Haare und weil ich Pia heiße.«

»Und da schlägst du gleich zu?«, fragt Mama fassungslos. »Dabei hast du uns nach der Geschichte mit Sven versprochen, dass du das nicht mehr tun willst!«

»Na ja«, murmelt Pia.

»Der arme Junge«, sagt Mama. Das gibt’s ja gar nicht! Nimmt sie Alex etwa in Schutz?

»Der arme Junge«, äfft Pia sie nach. »Und was ist mit meinem Gesicht?«

Ihre Mutter betupft die Schwellungen mit einem feuchten Lappen. »Es schaut schrecklich aus.«

»Siehst du.«

»Nur …«, beginnt ihre Mutter.

Sofort wird sie von Pia unterbrochen. »Ihr habt immer gesagt, ich soll mich wehren«, sagt sie.

»Stimmt. Aber du kannst doch nicht einfach auf jemanden losgehen. Bloß weil er dich ein bisschen geärgert hat!« Mama streicht sich die Haare aus dem Gesicht und seufzt. »Wir hätten deinem Großvater eben nicht erlauben sollen, dir Boxen beizubringen.«

»Warum sollen Mädchen nicht boxen?«, ruft Pia.

Mama übergeht die Frage. »Dein Vater wird über den Brief sehr traurig sein«, sagt sie stattdessen. »Wie soll es mit dir bloß weitergehen, Kind?«

Pia zuckt die Schultern. Woher soll sie das wissen? »Wo ist Einstein?«, fragt sie, während sie sich ein paar Kartöffelchen in den Mund steckt, Lauchgemüse und Tofuschnitzel aber nicht anrührt. Beim Kauen schmerzt ihre Backe, das linke Auge hat sich jetzt bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Alex hat wirklich verdammt gut getroffen.

»Thomas hat heute acht Stunden«, antwortet ihre Mutter, nimmt einen Lippenstift aus dem Küchenschrank und zieht sich die Lippen nach. »Und sag bitte nicht Einstein zu ihm«, fährt sie fort. »Du weißt, dass er das nicht mag.«

»Phht«, macht Pia. Ihr großer Bruder verkraftet das schon. Schließlich hält er sich für mindestens so schlau wie der berühmte Physiker mit den langen weißen Haaren, der einem auf den Plakaten die Zunge rausstreckt. Einsteins Zeugnisse wimmeln nur so von Einsen, er hat bereits eine Klasse übersprungen. Nach dem Abitur will er zur Bank. Wie Mama. Und Papa. Und wie Tante Marga.

»Ist Puschkin nicht da?«, fragt Pia.

Mama verzieht das Gesicht. Sie mag es überhaupt nicht, wenn Pia ihren Opa so nennt. »Dein Großvater ist weggegangen. Ich weiß nicht, wohin. Gegessen hat er auch nicht. Er wird immer verrückter, manchmal benimmt er sich wie ein ungezogenes Kind. Es wird höchste Zeit, dass er in ein Altersheim kommt.«

Pia sagt nichts dazu. Über Puschkin kann sie mit ihren Eltern nicht reden, das braucht sie gar nicht erst zu versuchen. Sie hilft Mama beim Abräumen und Spülen, bringt ihre Schultasche in ihr Zimmer im ersten Stock und steigt dann die Treppe hinauf zu Puschkins Wohnung.

Er ist tatsächlich nicht da. Sein Bett ist nicht gemacht, die Zeitung liegt auf dem Boden, der Kleiderschrank steht offen. Pia schnuppert – es riecht eindeutig nach Parfüm. Komisch, nach Parfüm duftet es bei Puschkin sonst höchstens zu Weihnachten oder an seinem Geburtstag. Auf dem Rand des Waschbeckens im Bad liegt der altmodische Rasierer mit der langen Klinge, die man schärfen muss, bevor man sie benutzt. Es ist lange her, dass sich Puschkin rasiert hat, seine Backen haben in der letzten Zeit wie Sandpapier gekratzt.

Pia versinkt in einem der beiden Ohrensessel. Hier sitzt sie oft und lässt sich von Puschkin Geschichten erzählen – wenn ihn sein Rheuma nicht zwickt. Oder wenn er nicht einen seiner Tage hat, an denen er von morgens bis abends an die Zimmerdecke starrt.

In der Zeitung, die Puschkin wie üblich einfach auf den Boden geworfen hat, hat er einen Artikel dick mit einem Bleistift angestrichen. »Der Smaragd der Königin« steht drüber. Pia überfliegt die Zeilen. Steinreiche Witwe, Grandhotel, berühmter Edelstein, Gesundheit, langes Leben – was hat das alles mit Opa zu tun? Kennt er die Frau mit der komischen Frisur?

Im Kleiderschrank fehlt Puschkins bester Anzug. Außerdem sind seine Wildlederschuhe, das schwarz-weiß gestreifte Sonntagshemd, der schicke Wintermantel und der knallrote Seidenschlips, den er auf seinem siebzigsten Geburtstag getragen hat, verschwunden.

Puschkin und diese reiche Tussi – was ist zwischen den beiden? Mama hält ihren Mittagsschlaf, wenn man sie dabei stört, bekommt sie einen Wutanfall. Also rennt Pia, ohne jemandem Bescheid zu sagen, aus dem Haus, holt ihr Rad aus der Garage und fährt los. Ihre Schularbeiten kann sie später machen. Das hier ist jetzt wichtiger.

Auf den Straßen, die zum Hafen hinunterführen, herrscht kaum Betrieb. Nur in den beiden Kaufhäusern drängen sich die Leute. Pia hält an und betrachtet sich im Schaufenster des Fischgeschäfts Lange. Der intensive Geruch von Krabben und Muscheln verschlägt ihr für einen Moment den Atem. Mit ihrer dicken Backe, dem zugeschwollenen Auge und den nach allen Seiten abstehenden roten Haaren sieht sie wie eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und Frankensteins Tochter aus. Für das, was sie vorhat, hätte sie sich wenigstens ihre gute Jacke und die neuen Jeans anziehen sollen.

Als Pia vor dem Grandhotel hält und durch das Eingangsportal ins Innere schaut, sieht sie Puschkin gegenüber der Rezeption in einem braunen Ledersessel sitzen. Auf dem Tischchen vor ihm steht eine Tasse Kaffee, im Aschenbecher qualmt eine dicke Zigarre. In seinen schicken Sachen sieht Opa gut aus, verdammt gut. Wenn sie daran denkt, wie er noch gestern in seinem alten Schlafanzug und mit den karierten Schlappen an den Füßen als klappriges Gespenst durch seine Wohnung geschlurft ist, grenzt das hier an Zauberei. Wer ihn nicht kennt, könnte glauben, er hätte in seinem Leben nie was anderes gemacht, als in den Eingangshallen vornehmer Hotels zu sitzen.

In diesem Augenblick kommt der Portier auf Pia zu. Er trägt eine Livree mit Goldknöpfen und einen blauen Zylinder auf dem Kopf. Lang, wie er ist, könnte er glatt aus der Dachrinne trinken.

»Kann ich dir helfen?«, fragt er.

»Puschkin … äh, mein Opa sitzt da drinnen«, antwortet Pia und muss ihren Kopf weit in den Nacken legen, um das Gesicht des Portiers zu sehen.

»Dann geh doch rein«, sagt der Mann freundlich.

Damit hat Pia nicht gerechnet. Kaum zu glauben, dass sie eine Pippi Frankenstein so einfach ins Grandhotel lassen.

»Und … und mein Fahrrad?«, stottert sie.

»Darum kümmere ich mich.«

Mensch, der Portier ist echt nett. Sie drückt ihm das Rad in die Hand, versucht, sich – erfolglos – die Haare glatt zu streichen, und betritt das Hotel.

»Was tust du denn hier?«, fragt Puschkin überrascht, als sie vor ihm steht.

»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen«, antwortet Pia.

Er zeigt auf ihr Gesicht. »Das sieht ja schlimm aus, schlimm, jawoll. Hast du dich geprügelt?« Sie nickt.

»Wer hat gewonnen?«

»Ich. Erst eine linke Gerade auf die Nase, dann ein Aufwärtshaken genau auf die Kinnspitze. Alex war bis neun am Boden.«

»Sehr gut.« Puschkin zieht an seiner Zigarre und lässt den Qualm spielerisch um seinen Kopf kreisen. »Du hast die Zeitung gefunden. Stimmt’s?«, sagt er. »Da konntest du dir denken, wo ich bin.«

Pia nickt.

»Setz dich«, sagt Puschkin. »Willst du was trinken?«

»Cola.«

Puschkin gibt dem Kellner ein Zeichen und bestellt für Pia eine Cola und für sich ein Glas Wodka.

Ob es eine bestimmte Sorte sein solle, fragt der Kellner.

»Puschkin«, antwortet Puschkin.

»Wie viel hast du heute schon getrunken?«, will Pia wissen, nachdem der Kellner gegangen ist.

Ihr Großvater hebt drei Finger zum Schwur. »Es ist das erste Glas, das erste, jawoll. Und red mit mir nicht wie deine Mutter, wenn ich bitten darf!«

»In Ordnung. Also, was tust du hier?«, fragt Pia.

Puschkin schmunzelt. »Ich warte.«

»Auf die reiche Tussi? Was willst du von ihr, Puschkin? Du hast doch mich!«

»Die Dame hat was, was du nicht hast.«

»Einen großen Busen?«

Puschkin lacht. »Den hat sie auch.«

»Den Stein?«

»Genau, Pia, sie hat den Smaragd der Königin.«

»Und den willst du haben«, sagt Pia. »Hab ich recht?«

»Kluges Kind«, antwortet Puschkin.

»Damit dir nicht mehr schwindlig ist und du hundertzwanzig Jahre alt wirst.«

Er lacht. »Hundertfünfzig! Und das verflixte Rheuma soll auch verschwinden. Und mit neunundneunzig will ich auf den Montblanc, mit neunundneunzig, jawoll!«

Pia denkt einen Moment nach. Was ist, wenn Mama und Papa recht haben und Puschkin doch verrückt ist? Wenigstens ein bisschen? Das mit dem Stein kann doch nicht sein Ernst sein! »Und du glaubst an den Blödsinn?«, fragt sie vorsichtig, um ihn nicht zu reizen. »Du glaubst echt, dass dir ein Stein helfen kann?«

»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt«, antwortet er feierlich. Manchmal redet er wie ein Pfarrer. Oder wie ein Politiker.

»Bla, bla«,sagt Pia.»Sonst willst du nichts von ihr? Sei ehrlich, Puschkin!«

»Sie ist verdammt hübsch für ihr Alter«, antwortet er.

Eigentlich mag Pia alles an ihrem Großvater: seine Glatze, die wie eine dicke Billardkugel aussieht, die Haare, die ihm in Büscheln aus Ohren und Nase wachsen, die Geschichten, die er ihr erzählt. Nur eines mag sie überhaupt nicht – dass keine Frau zwischen fünfzig und fünfundneunzig vor ihm sicher ist. Das findet sie einfach blöd.

»Hast du einen Plan?«, fragt Pia.

»Hab ich.«

»Erzählst du ihn mir?«

»Wenn du dichthältst.«

In diesem Augenblick öffnet sich die Tür des Fahrstuhls und eine Dame in einem langen lachsfarbenen Kleid und mit einer weißen Pelzstola um die Schultern kommt heraus. Ach was, sie kommt nicht einfach so, sie schwebt! Ihre Füße scheinen kaum den Boden zu berühren. Nur ein paar Meter von Pia und Puschkin entfernt setzt sie sich an ein Tischchen, zündet sich eine Zigarette an, die sie vorher umständlich in eine silberne Spitze gesteckt hat, und winkt dem Kellner.

»Ist sie das?«, flüstert Pia.

Puschkin nickt und streicht sich mit einem blütenweißen Taschentuch über seine Glatze. »Du musst jetzt gehen«, sagt er. »Attacke!«

»Und der Plan?«, will Pia wissen.

»Später«, antwortet er.

Sie bekäme zwar zu gern mit, wie es mit Opa und dieser Tussi weitergeht. Aber andererseits will sie Puschkin nicht den Auftritt vermasseln. Also gibt sie ihm einen Kuss und läuft hinaus. Kaum tritt sie aus der Drehtür ins Freie, bringt ihr der freundliche Portier schon das Fahrrad.

»Sie sind sehr nett«, sagt Pia. Ihn kann sie bestimmt fragen – auch wenn er goldene Knöpfe an der Jacke hat und einen Zylinder trägt. »Ist diese Gloria von Dingsbums wirklich reich?«

»Frau von Waldenfels? Allerdings. Wenn mir jeder so viel Trinkgeld geben würde wie sie, könnte ich bald zu arbeiten aufhören.«

»Ich kann Ihnen leider kein Trinkgeld …«, beginnt Pia.

»Für das Fahrrad?«, unterbricht er sie und lacht. »Das brauchst du nicht.«

»Haben Sie den Stein schon gesehen?«, fragt Pia weiter. »Ich meine den Smaragd der Königin?«

Der Portier schüttelt den Kopf. »Mit so etwas Kostbarem läuft man nicht herum. Den verwahrt Frau von Waldenfels bestimmt in ihrer Suite. Unsere Safes sind nämlich absolut einbruchsicher.«

»Suite?«

»Frau von Waldenfels wohnt in der Präsidentensuite«, erklärt der Portier feierlich. »Im vierten Stock. Dort residieren nur unsere prominentesten Gäste.«

»Aha«, sagt Pia und fragt sich, ob wohl alle Portiers so gesprächig sind wie dieser hier.

Bevor sie losfährt, wirft sie noch einen Blick ins Innere des Hotels. Puschkin sitzt neben dieser Gloria von Dingsbums und redet auf sie ein. Die Frau lacht, dass ihr viel zu großer Busen wackelt. Opa hat wirklich keine Zeit verloren.

»Kennt dein Großvater Frau von Waldenfels?«, will der Portier wissen, der sich hinter sie gestellt hat und ebenfalls unauffällig ins Hotel guckt.

»Sieht ganz so aus«, antwortet Pia.

Puschkin hat einen Plan

Als Pia vom Grandhotel nach Hause kommt, sitzt Thomas in der Küche beim Mittagessen. Mama schläft noch immer, aus dem Wohnzimmer ist ihr leises Schnarchen zu hören.

»Hallo, Einstein«, begrüßt Pia ihren großen Bruder.

»Nenn mich nicht Einstein!«, knurrt er.

»In Ordnung, Einstein«, sagt sie.

»Was ist mit deiner Deutscharbeit?«, fragt er und grinst hinterhältig.

»Mit welcher Deutscharbeit?«, fragt sie zurück.

»Das weißt du genau.« Er steht auf, räumt sein Geschirr in die Spülmaschine und wischt den Tisch ab. »Hast du Mama gesagt, dass du eine Fünf hast?«, fragt er, ohne mit seinem Grinsen aufzuhören.

Kann an dieser blöden Schule eigentlich gar nichts geheim bleiben? Am liebsten würde sie Einstein ins Gesicht springen – nur damit er endlich mit seinem dämlichen Grinsen aufhört. Aber sie beherrscht sich, eine Schlägerei am Tag ist genug. Außerdem hätte sie gegen Thomas keine Chance. Ihr Bruder ist eine andere Gewichtsklasse, Halbweltergewicht oder so.

»Hab ich nicht«, antwortet sie. »Ich werde es Mama und Papa heute Abend sagen. Außerdem war es eine Grammatikarbeit. Grammatik kann keiner.«

»Ach!«

»Außer dir natürlich, Einstein.«

»Genau, Schwesterchen. Und sag nicht immer Einstein zu mir.«

In ihrem Zimmer verteilt Pia Schulhefte und Schulbücher großzügig über ihren Schreibtisch, schiebt die neue Kuschelrock-Kassette ins Radio und legt sich auf ihren weichen Hirtenteppich. Solange sie nicht weiß, was Puschkin ausgeheckt hat, hat es überhaupt keinen Zweck, mit den Schularbeiten anzufangen, da kann sie sich sowieso nicht konzentrieren.

Puschkin hat ein verrücktes Leben geführt, ihm ist so ziemlich alles zuzutrauen. Wenigstens darin ist Pia mit ihren Eltern, Einstein und Tante Marga einer Meinung. Nach der Schule ist er zu einem Uhrmacher in die Lehre gegangen. Daneben boxte er und gewann sogar einige Meisterschaften. Für eine große Karriere reichte sein Talent allerdings nicht aus.

Dafür entdeckte er eine andere Begabung. Mit zwanzig knackte er seinen ersten Geldschrank und verschwand mit der Beute nach Südamerika. In den folgenden Jahren trieb er sich überall in der Welt herum, keine Bank, kein Safe, kein Firmentresor war vor ihm sicher. Wo andere Tresorknacker Dynamit brauchten, um einen Safe zu öffnen, reichten ihm seine geschickten Uhrmacherfinger und seine empfindlichen Ohren, die auch das leiseste Geräusch registrierten. War das Geld alle, heuerte er im nächstbesten Hafen als Matrose an. Er räumte Tresore aus, kurz bevor sein Schiff auslief, und war längst wieder auf hoher See, wenn die Einbrüche entdeckt wurden.

Zuerst glaubte Pia ihrem Großvater nicht, es klang alles zu unwahrscheinlich. Ihr klappriger Opa, der an manchen Tagen kaum das Schloss in der Haustür fand, sollte ein berüchtigter Panzerschrankknacker gewesen sein? Da lachten ja die Hühner! Aber dann bat er sie eines Mittags, ihm ihr Tagebuch zu bringen. Es war mit einer Zahlenkombination verschlossen, die außer ihr niemand kannte.

Puschkin forderte Pia auf, die Zahlen zu verstellen. Statt der »505«, mit der sich das Schloss öffnen ließ, stellte sie »666« ein – natürlich ohne dass er es sehen konnte.

»Und jetzt stopp die Zeit«, befahl er.

Sie tat es. Puschkin hielt das Buch an sein linkes Ohr, schloss die Augen, drehte ein paarmal an den silbernen Rädchen – und nach genau 23 Sekunden lag es geöffnet vor ihr. Von dem Tag an glaubte sie so ziemlich alles, was Opa ihr aus seiner wilden Vergangenheit erzählte.

Als sie einmal ihren Vater danach fragte, sagte der bloß: »Jaja, dein Großvater war schon ein Schlimmer.« Dann schwieg er. Es schien ihm peinlich zu sein, darüber zu reden. Genau wie Tante Marga.

Doch Puschkin erzählt ihr nicht nur Geschichten, er zeigt ihr auch Tresorknackertricks. Wenn keiner von den anderen zu Hause ist, darf sie an geheimnisvollen Schlössern üben, die er aus irgendwelchen Verstecken in seinem Zimmer holt.

Ein Leben, in dem man in der Welt herumkommt, in schicken Hotels wohnt und schnelle Autos fährt, würde Pia schon gefallen. Andererseits aber hat sie nicht die geringste Lust, von der Polizei erwischt zu werden und ins Gefängnis zu wandern. Puschkin hat insgesamt sieben Jahre gesessen, beim letzten Mal fünf Jahre am Stück. Seinen sechzigsten Geburtstag hat er im Gefängnis gefeiert. Bald danach ist er zu ihnen gezogen, nachdem er feierlich versprochen hat, nie wieder ein krummes Ding zu drehen.

Während Pia ihren Gedanken nachhängt, klopft es an ihre Tür. Schnell springt sie auf, stellt das Radio aus und setzt sich mit gezücktem Füller an den Schreibtisch.

»Herein!«, ruft sie.

Es ist ihre Mutter. Sie hat sich frisch geschminkt, in der Hand hält sie eine Tasse Kaffee.

»Dein Opa ist noch nicht zurück«, sagt sie.

»Ich mache mir Sorgen«, fährt sie fort, als Pia nicht antwortet. »Heute Morgen ging es ihm gar nicht gut.«

Pia knabbert an der Kappe ihres Füllers. Seit wann macht sich Mama um Puschkin Sorgen? Bisher hat Pia immer das Gefühl gehabt, dass Opa allen bloß lästig ist, dass sie ihn am liebsten so schnell wie möglich loswerden wollen.

»Puschkin ist im Grandhotel«, sagt sie trocken.

Für einen Augenblick verschlägt es Mama die Sprache. »Wo ist er?«, fragt sie schließlich.

»Im Grandhotel«, antwortet Pia. »Er trinkt Kaffee.«

»Ka-ka-kaffee«, wiederholt ihre Mutter stotternd. »Woher weißt du das?«

»Ich hab ihn gesehen«, antwortet Pia. Dass sie sogar mit ihm im Hotel gesessen und Cola getrunken hat, braucht Mama nicht zu wissen.

»Das wird ja immer schöner«, murmelt die. »Höchste Zeit, dass er ins Altersheim kommt.«

»Warum darf Puschkin im Grandhotel keinen Kaffee trinken?«

»Weil … weil …« Ihre Mutter stockt. »Weil du das nicht verstehst«, sagt sie dann. »Und nenn ihn nicht immer Puschkin. Schlimm genug, dass er so viel von dem Zeug trinkt.«

»Opa geht nie ins Altersheim«, sagt Pia. »Da könnt ihr euch auf den Kopf stellen. Eher bringt er sich um.«

Mama verschluckt sich fast an ihrem Kaffee. »Er bringt sich um?«, fragt sie entgeistert.

Pia nickt. »Er hat lange genug im Knast gesessen, sagt er. Und dass es im Altersheim auch nicht anders ist.«

Ihre Mutter kommt zu ihr und drückt sie an sich. Sie riecht toll. Wie immer. »Du steckst zu viel mit deinem Großvater zusammen. Warum hast du keine richtige Freundin wie andere Mädchen?«, fragt sie. »Opa hat einen schlechten Einfluss auf dich.«

»Hat er nicht!«

»Ich möchte zu gern wissen, was er dir erzählt.«

»Geschichten, Mama. Nur Geschichten.«

Sie lässt Pia los.

»Das werden schöne Geschichten sein. Aus seiner ruhmreichen Vergangenheit als Tresorknacker, nehme ich an.«

Pia zuckt die Schultern.

»Papa, Tante Marga und ich verdienen unser Geld ehrlich in der Bank. Wir haben täglich mit Hunderttausenden von Euro zu tun. Trotzdem lässt keiner von uns einfach mal ein Päckchen Scheine mitgehen.«

»Ich weiß, Mama«, versucht Pia sie zu beruhigen. Sie kann sich denken, was jetzt kommt.

Und richtig: »Aber was hat dein Opa gemacht?«, ruft Mama, und ihre Stimme überschlägt sich. »Er ist in Banken eingebrochen. Dann hat er den dicken Mann markiert und mit Tausendern um sich geworfen. Er war ein Verbrecher, Pia!«

»Ja, ja.«

»Ein Schwerverbrecher!«

»Er ist siebzig, Mama. Ihm ist schwindlig und er hat Rheuma. Und ich hab ihn lieb.«

Ihre Mutter seufzt tief und streicht ihr durch die Haare. »Schon gut. Wir wollen uns nicht streiten. Hast du viel auf?«

»Geht so.«

Nachdem ihre Mutter gegangen ist, legt Pia den Füller weg, klappt die Bücher zu, dreht das Radio auf volle Lautstärke und lässt sich auf den Teppich fallen. Es wird Zeit, dass Puschkin nach Hause kommt. Sie platzt fast vor Neugier.

Erst kurz vor dem Abendessen hält ein Taxi vor dem Haus. Pia, die Puschkin vom Fenster aus gesehen hat, rennt die Treppen hinunter und lässt ihn herein. Er stützt sich auf ihre Schulter und fällt dann ächzend auf den Stuhl neben der Garderobe.

»Was ist …?«, beginnt Pia.

Er legt ihr die Hand auf den Mund. »Später«, flüstert er.

In diesem Moment kommt Pias Mutter aus der Küche. »Da bist du ja endlich, Vater«, sagt sie vorwurfsvoll. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«

»Ja?«

»Wie siehst du eigentlich aus? Deine Schuhe sind ganz dreckig.«

»Ja?«

»Und dein guter Mantel erst! Den müssen wir in die Reinigung bringen.«

»Ja?«