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Irgendwo in London, es ist 4:18 Uhr. Sieben Menschen liegen wach, gequält von Sorgen, Ängsten und Erinnerungen. Nacheinander lernen wir sie kennen, blicken auf ihre Leben: beschädigt, entfremdet, scheinbar ohne jede Hoffnung. Doch dann bricht ein Sturm über die Stadt herein, treibt die Einsamen und Verletzten auf die Straße und lässt sie erkennen, wie tief sie miteinander verbunden sind.
Kae Tempests Langgedicht Let Them Eat Chaos ist nicht nur ein mitreißendes Sprachkunstwerk, sondern auch ein wütender Aufruf zum Handeln, gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen Verrohung und politische Gewalt, für mehr Empathie, Gemeinsamkeit und Hoffnung im Chaos.
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Seitenzahl: 72
Kae Tempest
Let Them Eat ChaosSollen sie doch Chaos fressen
Lyrik
Englisch und deutsch
Übersetzt von Johanna Davids
Dieses Gedicht wurde zum laut Lesen geschrieben
Ohne Gegensätze kein Fortschritt.
William Blake, Die Hochzeit von Himmel und Hölle
Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
1. Johannes 4,18 (Lutherbibel)
Denk dir ein Vakuum,
eine endlose, reglose Schwärze.
Frieden
Oder das Fehlen, zumindest,
von Grauen.
Jetzt,
in diesem gigantischen Raum,
sieh den Lichtpunkt in der hintersten Ecke,
golden wie der Totenschrein des Pharaos.
Folge diesem Licht mit deinen müden Augen.
Es war ein langer Tag, ich weiß, doch schau –
sieh nur, es flackert
und tost heran zu voller Größe,
füllt den ganzen Rahmen.
Was für ein Feuer, unerträglich majestätisch.
Hier ist unsere Sonne!
Und siehst du die Planeten ringsum taumeln,
gefangen in ihrem verworrenen Tanz?
Dort ist unsere Erde.
Unsere
Erde.
Ihre Bläue kühlt dir die brennenden Augen,
ihre Konturen erinnern dich an
Liebe.
Diese weiche Rundung.
Der Trost von Meer und Kontinent.
Mal sie dir aus: die Welt.
Älter, als sie je zu werden glaubte.
Sie schaut sich selbst beim Drehen zu.
Die Arme voller Trophäen
von ihrem erfolgreichsten Kind.
Pylone und Minen,
Kraftwerke schimmern in ihrem ruhigen, frischen Atem.
Etwas umspielt ihre Lippen.
Ist das ein Lächeln?
Oder ein ängstliches Zittern?
Die Schwermut der Mütter,
die den Weg ihrer Kinder
sehen.
Im Jetzt.
So
fort.
Visionen.
Farben wie Drogen in deinem Magen,
ein Strudel.
Deine Haut wird lose, welpengleich,
durchgeschüttelt,
dann festgezurrt.
Jetzt funkelt alles.
Die Wellen überhöhen sich und rollen
auf dich zu.
Und du bist klein wie ein Sandkorn,
nur ein Punkt.
Du näherst dich der Oberfläche,
und der ganze
Frieden
in dir wird verdrängt von einer
wilden,
ungekannten
Leidenschaft.
Du fühlst.
Die Menschen. Das Leben.
Ihre Gesichter leuchten in dir.
Du fühlst.
Du willst ihnen nah sein.
Näher.
Diese sind von deiner Art,
deine Verwandten.
Wo bist du gelandet?
Streck dich.
Steh auf, besieh deine Glieder.
Alle heil.
In die neueste Mode gehüllt.
Dies ist eine Stadt.
Nennen wir sie
London.
Und dies
ist die einzige
Zeit,
die du kennst.
Läuft es darauf hinaus?
Du denkst
Was soll ich bloß
von alledem halten?
Minute für Minute, mitten in der Stadt,
Millionen Epiphanien,
in der Unschärfe der Welt hinter den Gardinen
und der Welt in einem Menschen
gibt es ein Ruckeln.
In den Hinterhöfen singt der Müll.
Leute begegnen sich, verlieben sich, werden wieder fremd.
Unmündige Trinker im Park schauen zu, wie das Dunkel sich senkt.
Werktätige schauen zur Uhr, fummeln an Füllfederhaltern,
während Großmütter mit Markthändlern feilschen.
Kinder spielen hier und lachen, bis sie sich zerstreuen,
erst Kussjagden und Ringelreigen,
dann Dummheiten und Dunkelheit.
Zu schnell zu bald,
zu spät zu lang.
Wir sind ständig unterwegs,
wir kommen
nicht
an.
Ist denn sonst noch jemand wach?
Wird es jemals wieder Tag?
Übervolle Pflanzenkästen.
Zaunpfosten.
Hausnummern in Schnörkelschrift.
Motorrad mit Abdeckplane.
Ramponierter Punto.
Etwas Farbe macht die grüne Garage zum Tor.
Ein Regenbogen auf der Restmülltonne.
Ein Fenster voller Sticker.
Wohnungen, gut geschnitten oder völlig verschlissen.
Oder voller Katzen,
so mit siebzehn Katzenklappen.
Reich oder pleite.
Frisch saniert
oder lang nix passiert.
Luxuriös mit Wunschausstattung
oder unseriös, komplette Verarschung.
Rentner, Krabbelkinder.
Migranten und Engländer.
Familie mit sechs Kleinen.
Geschäftsfrau, lebt alleine.
Jeder hier verdient sein Brot mehr oder minder hart.
Der Fuchs erstarrt am Durchgang, wartet, wittert.
Kahle Zweige schwanken im Vorgarten.
Der Löwenkopf-Türklopfer klappert im Wind.
Laternen beleuchten die Warnung vor dem Hund.
Bierdosen, Chipstüten und welke Blätter tanzen.
Es ist 4:18 Uhr in der Nacht.
Exakt zu dieser Zeit, exakt an diesem Ort:
Sieben Menschen in sieben Wohnungen
sind hellwach.
Finden keinen Schlaf.
Von all diesen Leuten in all diesen Häusern
sind nur diese sieben wach.
Sie zittern mitten in der Nacht,
zählen ihre dummen Fehler.
Ist denn sonst noch jemand wach?
Wird es jemals wieder Tag?
Ist denn sonst noch jemand
wach?
Wird es jemals wieder
Tag?
Wir starten an der Ecke,
mit dem Rücken zur Wand,
an der alten Telefonkabine,
da hat der Olo sein Bettzeug.
Vor dir die Straße,
Häuser links und rechts.
Geh sie runter,
geh vorbei an der Wohnwagensiedlung,
versteckt hinter Hecken.
Am Haus gegenüber:
dieser schwarze Torpfosten,
oben drauf der Frosch aus Beton.
Durch den Hausflur,
die Tapete uralt
und nikotingold.
Die Treppe hoch, sie ist wacklig,
mit Geschichte bepackt.
Die Wohnung unterm Dach – Blumen auf den Fensterbrettern,
eine leichte Brise
spielt in den Blütenblättern,
sie schauen runter auf die Straßen der Stadt.
Jemma ist wach.
Was hat sie geweckt?
Augen offen.
Träge schwimmt Laternenlicht durch zerknickte Jalousien.
Sie mustert sein Spiel auf dem schäbigen Teppich
und schlingt die Arme um sich im Dämmer des Zimmers.
Es ist kalt.
Sie klemmt die Hände unter die Achseln.
Es ist 4:18 Uhr.
Und Jemma grübelt.
Noch nicht erwachsen, war ich
ein kleines Wrack,
hab alles vertickt, was meine
dreckigen Pfoten erwischten.
Ketamin zum Frühstück,
Saufen mit bösen Mädchen.
Betteln mit Welpenblick
um das Acid auf ihren Fingerspitzen.
Köpfe in die Bassbox.
Lippen ohne Gesichter,
keck und rastlos,
halb gar beim Bäcker,
Blätterteigvernichter.
Auf einen Körper erpicht,
der mich erlösen sollte.
Aber was sie mir gaben,
wollte ich nie so richtig.
Sieden in der Morgenfrische.
Schwitzen in der Schlange vorm Amt.
Spucken wie ein Theaterschurke,
alte Schuhe,
schlechte Zähne.
Saufen im Regen
mit meinen Dämonen.
Reglos in der letzten Bankreihe,
wie im Koma.
Schurken im Nacken im Dunkeln,
sie halten mich fest,
doch du hieltst nie inne.
Ich hab Dinge getan, die wollte ich nie verraten.
Hast versucht mich zu töten in jener Nacht,
überfuhrst mich mit dem Auto im Schnee.
Ich hatte zuvor nicht geahnt,
wie weit du gehst.
Jeder Tag, den ich lebte,
lebt in dem Tag,
in dem ich erwache.
Die Träume sind im Arsch, nichts als Geschrei,
aber mir geht's jetzt gut.
Hier herrscht Frohsinn,
mich ziehen seine Wagen.
Ja, mein Morgen glänzt,
nur mein Gestern will mir schaden.
Hab versucht es zu verändern,
doch es ist ein Fakt,
wenn du mich gut behandelst,
weise ich dich ab.
Hab versucht es zu bekämpfen,
doch ich zweifle nicht,
wenn du mich mies behandelst,
fühl ich mehr für dich.
Hab manches gesehen,
da war ich noch jung,
es machte mich zu
dem, was ich bin.
Tag für Tag
begleitet es mich,
denn wenn du dich
doch mal verdrückst,
läuft es halt mit,
Schritt für Schritt,
stellt dir ein Bein,
zerrt dein Gesicht
in den Dreck
jeder vertanen Chance
und jedes üblen
Nachgeschmacks.
Mein Herz ist besprüht
mit den Namen
all der Freunde,
die vom Weg abkamen.
Es ändert sich nicht,
es bleibt alles wach,
nährt deine Reue,
frisst deine Kraft.
Ich will doch nur,
dass ein toller Mensch
all das aus mir macht,
was ich nicht bin.
Aber für mich
gibt's nur solche,
die's besser nicht
geben sollte.
Ich schlag mich tapfer,
arbeite hart,
die Arbeit ist stark,
und dennoch
wär's doch ein Spaß,
so 'n kurzer Trip zurück
dorthin, wo
mein Schmerz her ist.
Ich spülte dann
alles heraus
und drückte den
Körper fest an
jeden,
der die Gegenwart
meiner Dämonen
bemerkt.
Hab versucht es zu verändern, doch es ist ein Fakt,
wenn du mich gut behandelst, weise ich dich ab.
Hab versucht es zu bekämpfen, doch ich zweifle nicht,
wenn du mich mies behandelst, fühl ich mehr für dich.
In der Erdgeschosswohnung bei den Garagen,
wo die Leute Matratzen entsorgen,
steht Esther in der Küche, schmiert Brote.
Ihre Jalousien sind wacklig, verzogen.
Du siehst sie von der Straße aus,
bis sie aus dem Blickfeld tritt,
die Stiefel von den müden Füßen kickt.
Sie wischt sich über die Stirn,
kommt gerade von 'ner Doppelschicht.
Sie ist Pflegerin
im Nachtdienst.
Hinter ihr
an der Küchenwand
hängt ein Bild in Schwarz-Weiß,
Schwalben im Flug.