Levys Testament - Ulrike Edschmid - E-Book

Levys Testament E-Book

Ulrike Edschmid

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Beschreibung

In Berlin haben sie sich kennengelernt, in London werden sie ein Paar. Ihre Tage verbringen sie im Gerichtssaal des Old Bailey, um Anarchisten zu unterstützen, denen drakonische Haftstrafen drohen. Streiks, Hausbesetzungen, Anschläge der IRA und die harten Reaktionen der Regierung bestimmen den Alltag im Winter 1971. Schwerelos wie im Traum erkunden die beiden die Stadt. Über seine jüdische Familie weiß der Engländer (wie die Erzählerin den Gefährten nennt) nur wenig zu sagen. Jahrzehnte später, ihre Trennung liegt lange zurück, kommt der Engländer einem Familiendrama auf die Spur. Sie führt zurück ins Old Bailey: 1924, ein spektakulärer Betrugsfall, angeklagt Levy, sein Urgroßvater.

Der rastlosen Suche des anderen folgend, sie mit ihren Fragen vorantreibend, stößt die Erzählerin auf das unergründliche Wirken der Geschichte, welche die entlegensten Episoden unseres Lebens miteinander verknüpft. Der leise, nüchterne, unerbittliche Ton macht Ulrike Edschmids Romane unverwechselbar. In Levys Testament verwandelt sich die Liebende in eine Chronistin und die Intimität des Gefühls in ein Instrument der Erkenntnis.

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Titel

Ulrike Edschmid

Levys Testament

Suhrkamp

Widmung

Für Ginger Joe

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

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Hinweise zum eBook

1

Im Winter 1972 war ich mit einigen anderen Studenten der Berliner Filmakademie wegen eines Underground-Festivals nach London geflogen. Von »Cinema Action« hatten wir gehört. Die Gruppe war bekannt geworden mit Filmen über den Pariser Mai 1968, über die Streiks der Docker auf den Werften von Glasgow und den Widerstand der Iren in Londonderry. Die Akademie hatte den Flug bezahlt. Eigentlich wollte ich keine Filme sehen. Ich wollte nur raus aus Berlin. Weg aus dieser Stadt, wo die Vorsicht mich wie ein Panzer umschließt, während die Polizei nach einem Mann fahndet, der aus meinem Leben verschwunden und mit falschen Papieren untergetaucht ist. Immer auf der Hut, kein unüberlegter Schritt, kein verräterisches Wort, keine Spur legen, die zu dem Gesuchten führen könnte. Endlich wieder unbeschwert eine Straße entlanggehen können, ohne den Blick über die Schulter, ob mir jemand folgt. Ich lande in einem schmalen Backsteinhaus in Holloway. Drei Stockwerke, steile Treppe, zwei kleine Zimmer auf jeder Etage. Fenster zum Hochschieben. Wie ein Fallbeil, wenn man den Kopf hinausstreckt. Ganz unten der Münzautomat für die Elektroheizung. Ist das Kleingeld verbraucht, wird es kalt und feucht.

Das Haus ist ständig voller Menschen. Ein Kommen und Gehen. Morgens kräuselt sich Bacon neben den Toastscheiben auf dem Grill über dem Herd, Eier werden in die Pfanne geschlagen. Irgendjemand setzt immer wieder den Wasserkessel auf, hängt eine Handvoll gelber Beutel von Lipton in eine zerbeulte Aluminiumkanne und lässt den Tee ziehen, bis er so bitter ist, dass sich die Zähne pelzig anfühlen.

Es ist nicht klar, wer in dem Haus wohnt oder nur zu den Redaktionssitzungen der »Islington Gutter Press« vorbeikommt, einer Zeitung, die sich für die Rechte der Bewohner von besetzten Abrisshäusern stark macht. Abends, wenn die Artikel geschrieben sind, sitzen andere Leute am Küchentisch und verfassen Solidaritätsbekundungen für acht Anarchisten im Gefängnis, die der militanten Gruppe Angry Brigade zugerechnet werden. Unter der Devise »Wir greifen Besitz an, keine Menschen« soll die Angry Brigade selbst hergestellte Sprengsätze vor der Botschaft von Francos Spanien und dem Haus des Arbeitsministers Robert Carr gezündet und einen Übertragungswagen der BBC bei der Miss-World-Wahl zerstört haben. Im Sommer 1971 waren vier Frauen und vier Männer in Stoke Newington, einem an Holloway grenzenden Stadtteil, verhaftet worden. Seitdem tauchen sie als die Stoke Newington Eight neben Fotos von der verwüsteten Küche des Arbeitsministers in der Presse auf. Der Minister war für einen Eingriff in die Rechte der Gewerkschaften verantwortlich, der im ganzen Land eine Streikwelle ausgelöst hatte.

Die Unterstützergruppe, die sich nachts am Küchentisch in Holloway auf den kommenden Prozess gegen die acht Anarchisten vorbereitet, montiert das Foto der zerstörten Ministerküche für ein Flugblatt neben das Bild eines kleinen Kindes am verrotteten Spülbecken in einem Londoner Elendsviertel. Die Küche, heißt es, kann innerhalb von drei Tagen repariert werden. Aber, so ist unter dem anderen Foto zu lesen, kann es jemals wiedergutgemacht werden, wenn Menschen in einem solchen Dreck aufwachsen?

In dem Haus in Holloway geht es zu wie in den Räumen der polizeibekannten Fabriketage, die ich in Berlin mit Freunden teile. Beunruhigende Informationen überstürzen sich, Gerüchte über Hausdurchsuchungen kursieren, Menschen verschwinden in Eile, andere tauchen plötzlich auf, und ich weiß nicht, ob ich vom Regen in die Traufe geraten bin. In der Nacht liege ich unter meinem langen Hasenfellmantel im Bett und friere. Dann spüre ich den nackten, warmen Körper eines Mannes neben mir, dem ich schon einmal begegnet war. Auf einen Schrubber gestützt, hatte ich in der weitläufigen Etage im zweiten Hinterhof gestanden, als er in Stiefeln und schwerem Mantel über die frisch gewischten Böden kam. Die Haare schwarz und lang. Gelbe runde Brille. Mein Sohn hielt ihn für einen Chinesen. Er hätte alles sein können, Inder, Mexikaner, Mongole. Nur kein Engländer.

2

Statt mit den anderen Studenten ins Kino zu gehen, fahre ich mit dem Engländer nach Brixton. Wir nehmen den Bus, nicht die U-Bahn. Die Bomben der IRA sind eine allgegenwärtige Bedrohung. Wer kann, meidet den Abstieg in die Unterwelt. Eine Rolltreppe nach der anderen, tief hinab in einen Schacht, aus dem es bei einem Anschlag kein Entkommen gibt. Wir bleiben über der Erde, sitzen eng beieinander auf dem Oberdeck in der ersten Reihe und durchqueren die Stadt in einer endlosen Fahrt von Nordosten nach Südwesten. Manchmal verlassen wir unseren Ausguck, gehen ein Stück zu Fuß, holen uns ein Sandwich und steigen in den nächsten Bus. Auf der rechten Seite der Parkhurst Road die lange Mauer von Holloway Prison. Hier warten die vier Frauen der Stoke Newington Eight auf ihren Prozess. An den Wochenenden ziehen Freunde aus der Defence Group vors Gefängnis und drehen Verstärker mit Songs von Jimmy Cliff auf, die sie mitsingen. »The harder they come, the harder they'll fall.«

Weiter Richtung Carnaby Street, wo der Engländer in der Nelson School of English Sprachunterricht gibt. Links Holborn, Kingsway, die ehemaligen Studios von Ready Steady Go mit Playbackauftritten der Beatles, Donovan, The Who, Van Morrison und den Rolling Stones, freitagabends im Fernsehen. Längst haben die Stones sein Leben verändert, sagt der Engländer. Er ist fünfzehn, als er in der Bakerloo Line, die ihn von Kingsbury nach Cricklewood in die Schule bringt, Charly Watts gegenübersitzt. Der kratzt ihm mit einem kaputten Kugelschreiber ein Autogramm auf die Monatskarte. Im Studio von Ready Steady Go imitiert er Mick Jagger und gewinnt den ersten Preis. Mit der Urkunde in der Hand läuft er nach Hause, durch Soho, Mayfair, durch die Viertel der Reichen am Rand des Hyde Park. Bei Marble Arch stößt er auf die Edgware Road, früher eine Römerstraße, fünfzehn Kilometer lang. Er läuft durch die Nacht, bis die Gegend ärmlich wird, kommt an einem Wasserreservoir vorbei, an einem kleinen See. Dort biegt er in die Kingsbury Road ein, läuft und läuft, bis er im Morgengrauen Central Parade erreicht, ein Backsteinhaus mit Laden im Parterre, in dem die Mutter Bata-Schuhe verkauft. Das rote Schriftzeichen leuchtet über dem Schaufenster. Wohnung im zweiten Stock. Küche, Wohnzimmer und eine Kammer, die er mit seiner älteren Schwester teilt. Als sie heiratet, sagt er, hat er das Zimmerchen für sich.

Ein Foto, das er in der Brieftasche bei sich trägt, zeigt die Ecke des Sofas, das die Eltern nachts ausziehen und tagsüber zum Sitzen zusammenschieben. Es steht am Fenster. Dunkler Bezug mit geplatzten Nähten. Auf der Sitzfläche eine Schondecke, die die Löcher nur notdürftig bedeckt. In der Ecke der Fernseher auf einem Tischchen. Eine Dartscheibe ist von der Wand gefallen und unter den Tisch gerutscht. Auf der Kante eines niedrigen Sessels ein Junge von etwa acht Jahren, in Schulkleidung. Erschrocken schaut er in die Kamera. Schwarze, aufgerissene Augen im Blitzlicht. Die Shorts zu weit, der Pullover zu eng, die Ärmel zu kurz. Ein Hemd mit verrutschtem Kragen. Mit zusammengepressten Knien sitzt er auf der Sesselkante. Er weiß nicht, was er mit den Händen machen soll. Die Finger ineinander verschränkt, knispelt er an den Nägeln. Ein kleines schwarz-weißes Foto, das zeigt, woher er kommt – angefüllt mit kindlichem Unglück und Einsamkeit.

Auf einem zweiten Foto könnte er zehn sein. Er sitzt auf demselben Sessel, aber alles ist anders, die Armut weggeräumt, der Hintergrund für das Bild arrangiert. Eine Lampe, eine Uhr auf einem Sideboard mit abgerundeten Ecken aus dunklem Holz, ein Buffetschrank. Jetzt hockt er nicht mehr verschüchtert auf der Kante. Auf diesem Foto lehnt er aufrecht im Sessel, wieder in Schuluniform, gutsitzende Shorts, Kniestrümpfe mit dunklem Rand. Haare gescheitelt, Blick geradeaus. Er schaut nicht in die Kamera. Er schaut daran vorbei in die Zukunft. Gerade hat man ihn in Haberdashers' Aske's Boys' School aufgenommen. Er ist ein Ausnahmeschüler, einer, der von ganz unten kommt. Sein Vater ist kein Emporkömmling wie der Fußballer David Beckham, der seine Kinder später auf die gleiche Schule schicken will und als zu modisch eingestuft wird, zu »posh«. Man spürt, der Junge auf dem Foto hat sich entschieden. Er weiß, wo er hinwill. »There is no such word as can't«, hatte ihm seine Mutter abverlangt. In der Schule wird er Wort halten. Ein Sieger. Einer mit Zukunft.

3

Die Vorfahren seiner Mutter, sagt der Engländer, seien in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von Polen nach Odessa gewandert. Odessa aber habe ihr Vater, Lewis Granovsky, während der Zeit der großen Pogrome verlassen. Es könnte um 1894 gewesen sein. Granovsky sei kein jüdischer Name, sondern polnischer Adel, vermutlich ein Gutsbesitzer, der seinen Namen an die meist jüdischen Verwalter weitergegeben habe. Als Jugendlicher macht er sich zu Fuß auf nach Paris. Als er ankommt, ist er sechzehn und lernt das Handwerk des »French polishers«, die Fertigkeit, mit einer Politur aus Schellack und Alkohol einen besonders seidigen Glanz auf Möbel und Musikinstrumente aufzutragen.

Der aufflammende französische Antisemitismus während der Dreyfus-Affäre treibt ihn nach London. Um die Jahrhundertwende soll er im East End gelandet sein, wie fünfhunderttausend andere Juden, die nach Bethnal Green oder Hackney strömen. Er streicht die letzten beiden Silben seines Nachnamens, hängt ein »n« dran und heiratet als Lewis Grann das Mädchen Bella aus Kiew. Zehn Kinder. Norah, die Mutter des Engländers, wird 1910 geboren. Ein Mädchen stirbt im ersten Lebensjahr. Eine andere Tochter, Hetty, kommt mit offenem Rücken zur Welt. Der Engländer erinnert sich an Krankenhausbesuche, an meterlange Verbände unter weitgeschnittenen Kleidern und an eine kleine Frau, im Haar weiße Blüten, geschmückt wie für einen Bräutigam, den es in ihrem Leben nie geben wird. Von einem der sechs Söhne ist bis heute die Rede. Um diesen Bruder ranken sich die Erinnerungen und unerfüllten Hoffnungen der Norah Grann. Am dritten September 1939, als England in den Krieg gegen Deutschland eintritt, hatte er eigentlich die Debatte im Parlament verfolgen wollen. Aber weil es ein heißer Tag ist, springt er in die Themse, um sich abzukühlen, und ertrinkt, zwanzig Jahre alt. Auf dem einzigen Bild, sagt der Engländer, auf dem seine Mutter glücklich aussieht, legt sie den Arm um einen jungen Mann in heller Sportkleidung. Eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand, lehnt er sich an sie, aufgenommen kurz vor seinem Tod an einem mit Kies bedeckten Uferstreifen.

Ob Lewis Grann die große Familie als »French polisher« ernähren konnte, ist ungewiss. Er stirbt 1930. Für zehn Pfund und sieben Schilling wird er auf dem jüdischen Friedhof Oldfield Road, Ecke Hornsey Lane, beerdigt, nicht weit entfernt von Holloway Road, wo wir in den ersten Bus gestiegen sind. Es ist eine Summe, die die Familie kaum aufbringen kann. Was immer bleibt, sagt der Engländer, ist die Klage seiner Mutter Norah um ihre verlorene Jugend. Weil Bella, seine Großmutter, die Welt nicht versteht, nicht lesen und nicht schreiben kann, kein Englisch spricht, nur Jiddisch, muss Norah als älteste Tochter für die Geschwister sorgen. Sie ist siebenundzwanzig, als sie heiratet.

Als Bella ihre Wohnung nicht mehr bezahlen kann, zieht sie durch die Wohnungen ihrer vielen Kinder. Einige haben es durch Glücksspiel zu etwas gebracht, andere bleiben auf der Strecke, wie die Mutter des Engländers. Wenn die alte Frau für ein paar Wochen über dem Bata-Laden Station macht, schläft sie in der Küche auf einem Sessel mit Fußteil. Manchmal überlässt der Enkel seiner Großmutter, deren Sprache er nicht versteht, sein Bett in der Kammer.

Joseph, der Vater des Engländers, genannt Ginger Joe wegen der roten Haare, handelt mit billigen, en gros eingekauften Kleidern, die er aus seinem alten, dunkelblauen Austin-Lieferwagen heraus verkauft. Seit er sich erinnern kann, nimmt ihn der Vater mit zu den Spielen seines Fußballvereins. Er sitzt im Lieferwagen vorne neben ihm. In den Kurven rutschen die Kleiderbügel auf den Stangen hin und her, wenn sie quer durch die Stadt ins Stadion von Tottenham Hotspur fahren. Mit einem Kompagnon macht der Vater einen eigenen Laden auf. Aber das Unternehmen misslingt. Die nächsten Jahre steht er nachts über einen Tisch gebeugt und sortiert Briefe. Als er sich kaum noch aufrichten kann und die Schmerzen im Rücken unerträglich werden, hört er bei der Post auf. Jetzt fährt er Taxi. Immer noch setzt er, sobald er nach Hause kommt, als Erstes den Wasserkessel auf und bringt seiner Frau Tee ans Bett, wenn ihr das Herz die Luft abschnürt. Sein liebster Fahrgast ist Graham Chapman von den Monty Python, der sich von ihm in die Studios fahren lässt und später die Hauptrolle spielen wird in »Life of Brian«.

Auch die väterliche Familie, sagt der Engländer, ist Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Osten eingewandert. Aber er weiß nicht, mit welchen Namen sie aus Polen gekommen sind. Sie sollen Schneider gewesen sein. An manchen Feiertagen erscheint Leah, die Mutter des Vaters, eine bittere alte Frau. Der Engländer wächst auf mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass etwas nicht ausgesprochen, sondern verheimlicht wird. »They did not look after me« bleibt das Einzige, was sein Vater jemals über seine Familie gesagt hat, dieser schwerfällige Mann, den er liebt.

Über die Vauxhall Bridge erreichen wir das andere Themseufer, steigen um, fahren eine lange Strecke südwärts die Brixton Road entlang bis Brixton Hill. Als wir an der Jebb Avenue aussteigen, hat er alles über seine Familie erzählt. Mehr weiß er nicht. Und es wird nicht mehr hinzukommen – bis zu dem Tag, an dem er einen Anruf erhält, vierzig Jahre später.

4

Die Gefangenen von Brixton fühlen sich wie zusammengepferchtes Vieh, heißt es auf einem Flugblatt, die Ernährung sei Pigfood und die Behandlung so unmenschlich, dass verzweifelt-zynische Anleitungen kursieren, wie man sich, von den Wärtern unbemerkt, lautlos, ohne Verstoß gegen die Anstaltsordnung in den Zellen erhängen kann. Der Menschenrechtler Roger Casement saß 1916, angeklagt wegen Hochverrats in Brixton, Bertrand Russel 1961, weil er für atomare Abrüstung demonstriert hatte, 1967 Mick Jagger wegen Drogen, 1968 die berüchtigten Kray-Zwillinge. Jetzt, im Februar 1972, sitzt ein Freund des Engländers aus Haberdashers' Aske's Boys' School im Hochsicherheitstrakt, ein Staatsfeind. Er wird der Angry Brigade zugerechnet.

Auf Plakaten hat John Barker, der Gefangene, eine Zigarette zwischen den Lippen und eine Fahnenstange in den Händen. Auf einem Foto von der Rugby-Mannschaft der Schule ist er der Einzige, der lächelt, in einer Reihe von grinsenden Jungen mit verschränkten Armen. Der Engländer als Mannschaftskapitän sitzt im schwarzen Blazer in der Mitte. Seine Hände liegen auf den Knien. Die Augenbrauen hochgezogen. Keiner der Jungen schaut so entschlossen wie er.

Für den Engländer ist es ernst. Er sitzt kerzengerade. Die anderen hängen locker in den Stühlen. Er ist anders, sieht anders aus, fremdländisch. Er könnte einer aus den Kolonien sein. Dass er auf diese Schule geht, hat er seinen Leistungen zu verdanken, nicht seiner Herkunft. »Du wirst nie dazugehören«, hatte ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben, »du bist Jude und wirst es immer bleiben.« Um in der Schule mithalten zu können, muss er gewinnen. Im Sport und auch sonst. Alles hängt davon ab. Keinen der Jungen, die in Altherrenpose vor dem Schulhaus zu sehen sind, hat der Engländer je zu sich nach Hause eingeladen, nach Kingsbury in das Wohnzimmer mit dem zerlöcherten Ausziehsofa. Auch nicht den Freund, der sich jetzt in der Besucherzelle in Brixton über den Tisch beugt. Er hat sich geschämt, für die Armut seiner Eltern, für seine Mutter im Schuhgeschäft und für seinen Vater, der es zu nichts gebracht hat, was in dieser Schule von Wert gewesen wäre.

John Barker und er entscheiden sich für die Leistungskurse in englischer Literatur. Ihr Lehrer, ein Nachfahre von Maria Stuart, kommt in den Raum, setzt sich hin und schweigt, bis die Klasse still wird und begreift: Jeder muss selbst entscheiden, ob er etwas lernen will oder nicht. Der Engländer hat sich längst entschieden. Er will lernen, wissen, verstehen, gewinnen. Der Freund und er machen im gleichen Jahr ihren Abschluss. Sie sind siebzehn. Der eine geht zum Literaturstudium nach Cambridge, der andere, der Engländer, schreibt sich in der neugegründeten Universität von Sussex für Philosophie ein. Sein Schwerpunkt liegt bei den deutschen Philosophen. Er hofft, dort Antworten zu finden. Was sind das für Menschen, die Millionen Juden umgebracht haben? Er sucht nach einer Erklärung jenseits von psychologischen und historischen Einschätzungen, nach einem Zugang zu den Sachverhalten, nach einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise des deutschen Wesens. Er beschäftigt sich mit der Phänomenologie und den logischen