Die letzte Patientin - Ulrike Edschmid - E-Book

Die letzte Patientin E-Book

Ulrike Edschmid

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Beschreibung

Rauchend saß sie am Küchentisch, und ein »lasziver Lebensüberdruss, wie man ihn aus Filmen der Nouvelle Vague kennt« umgab sie. Sie studierte Geschichte und Französisch. Als sie sich in einen spanischen Anarchisten verliebte, folgte sie ihm nach Barcelona.

Nach jahrelangen Reisen durch die halbe Welt und unzähligen »verzweifelten Liebesversuchen«, wendet sie sich der Traumaforschung zu. Eines Tages kommt eine junge Frau zu ihr in die Praxis, die nicht spricht. Erst nach Jahren werden die ersten Wörter aus ihr herausbrechen. Ist sie Opfer eines realen oder eines eingebildeten Verbrechens? Fest steht: diese Patientin wird ihr, der inzwischen an Krebs erkrankten Therapeutin, die Liebe geben, die sie an keinem Ort der Welt hatte finden können.

Die Erzählerin zeichnet das Leben einer Frau nach, die 1973 in ihre Frankfurter WG kam. Lebenshunger und Reiselust, die Grenzen des therapeutischen Berufs, die Ungewissheit, das Gegenüber jemals zu begreifen – Ulrike Edschmid erzählt diese berührende, verstörende, am Ende tröstliche Geschichte, wie wir es von ihr kennen, lapidar, mit Aussparungen, dicht und leichthändig zugleich.

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Seitenzahl: 72

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Cover

Titel

Ulrike

Edschmid

Die letzte

Patientin

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Archiv der Autorin

eISBN 978-3-518-78097-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

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Informationen zum Buch

Ulrike Edschmid Die letzte Patientin

1

Sie ruft ein Taxi, keinen Krankenwagen. Der Fahrer biegt oberhalb des Parc Guell in eine stille Gasse ein, die um Mitternacht zu beiden Seiten verschlossen wird. Noch stehen die Tore offen, und das Auto hält vor einem schmalen Reihenhaus. Sie hat keine Tasche gepackt. Sie geht, als ob sie zurückkehren würde. Eine junge Frau setzt sich zu ihr auf den Rücksitz. Der Fahrer nimmt den Weg über eine Schnellstraße und hält vor einer Klinik im Ensanche, wo ihr Leben in Barcelona vor über dreißig Jahren seinen Anfang nahm. Noch im Sommer hatten ihr die Infusionen Kraft gegeben, den langen Weg zu Fuß nach Hause zu gehen. Jetzt ist Winter, und der Tumor unter dem Schlüsselbein reicht bis an ihr Herz.

Am späten Abend höre ich ihre Ansage auf dem Anrufbeantworter und hinterlasse Nachrichten, die sie nicht mehr erreichen werden. Als ich am Morgen eine unbekannte spanische Telefonnummer wähle, die ich mir in meinem Notizbuch einmal am Rand einer Seite notiert hatte, meldet sich das Krankenhaus, und ich werde mit dem Zimmer verbunden, in dem sie im Sterben liegt.

Ein Raunen füllt den Raum, gedämpfte Stimmen. Ganz leise die ihre. Kaum mehr ein Flüstern. Von den fünf Sprachen, die sie beherrscht, kehrt sie im Sterben nicht zur Sprache ihrer Kindheit zurück. In den letzten Augenblicken spricht sie Französisch, was ihr, wie sie oft sagte, immer am schwersten gefallen war.

Sie hatte gehofft, noch einmal mitkommen zu können auf die karge Insel im Atlantik wie in den Jahren zuvor. Ein stiller Lebenswille hatte sich ihrer bemächtigt, als sie, im Schatten auf der Terrasse in Bücher über Hirnforschung vertieft, in einem Liegestuhl saß. Sie las, wie sie sonst Romane las. Gebannt und ohne aufzublicken, während alles um sie herum zu versinken schien. Wenn ich jetzt an diese Stunden, Tage und Wochen zurückdenke, will es mir scheinen, dass auch zu dieser Zeit ihre Gedanken einzig um die junge Frau kreisten, die bei ihr blieb bis zum Ende und ihre letzte Patientin war.

2

Zu Beginn des Winters im Jahr 1973, den ich als ungewöhnlich kalt in Erinnerung habe, war sie in Frankfurt in die Wohngemeinschaft gekommen, in der ich damals mit meinem Kind lebte. Von einem Mann verlassen, hatte sie ein Zimmer gesucht. Aus Luxemburg war sie fortgegangen, weil sie das Land, in dem sie geboren wurde, und das Leben und die Ansichten ihrer Eltern nicht ertrug. Wenn sie zu Besuch kamen, brachten sie einen Kuchen mit, der nur für ihre Tochter gedacht war, die sich dafür schämte. Sie verstanden nicht, wie wir lebten und dass wir alles teilten.

Das Einzige, was an ihre Heimat und ihr Elternhaus erinnerte, war die auf und ab schwingende Sprachmelodie und ein luxemburgisches Kochbuch. Wenn sie mit Zigarette, Kaffee und Le Monde am Küchentisch saß, umgab sie ein lasziver Lebensüberdruss, wie man ihn aus den Filmen der Nouvelle Vague kennt. Dahinter aber verbarg sich Rastlosigkeit und zugleich eine unverrückbare Standfestigkeit.

Als eines nachts unsere Wohnung gestürmt wird, steht sie im geblümten Kindernachthemd aus Flanell vor bewaffneten Polizisten, die sie ohne ihre Kontaktlinsen nur als dunkle Schatten wahrnehmen kann. Wie eine Mutter, die sie nie sein würde, stellt sie sich mit ausgebreiteten Armen vor die Tür des Kinderzimmers, in dem mein Sohn schlief, und verweigert so entschieden den Zugang, dass die Polizisten schließlich wieder abzogen.

3

Die drei Jahre unseres wechselhaften und doch verlässlichen Zusammenlebens könnten eine der wenigen Zeiten gewesen sein, in denen sie sich angenommen und geborgen fühlte. Mit leichter Hand bringt sie ein Geschichts- und Französischstudium hinter sich und verliebt sich in einen spanischen Anarchisten, der wegen der Herrschaft des General Franco aus seinem Land geflohen war und den sie nur unter seinem Tarnnamen kennt.

Nach dem Tod des Diktators kehrt er Ende des Jahres 1975 in seine Heimat zurück. Sie folgt ihm in der Silvesternacht in ihrem kleinen Renault. Die Augen wie immer knapp über dem Lenkrad, legt sie an die tausend Kilometer bis kurz vor die spanische Grenze in einem Stück zurück. Als der Motor des R4 bei Narbonne stottert und auf einem Rastplatz stehen bleibt, wird sie in einem VW-Bus ohne Autopapiere mitgenommen, der irgendwo gestohlen worden war.

Der Fahrer wartet bis Mitternacht. Dann startet er den Bus mit einem Überbrückungskabel, kurbelt das Fenster runter, und während er den Zöllnern Feliz Navidad wünscht, fährt er unbehelligt über die Grenze. Er nimmt sie mit bis Barcelona. Dort setzt er sie in der Mitte der Stadt in einer Wohnung im Ensanche ab, diesem wie mit einem Lineal geplanten Viertel mit Innenhöfen und Gärten in quadratischen Häuserblocks, deren abgeschrägte Ecken an jeder Kreuzung einen kleinen Platz bilden.

4

Die Liebesbeziehung mit dem spanischen Anarchisten, den sie immer noch bei seinem Tarnnamen nennt, geht in die Brüche, wie alle Lieben, die nach ihm folgen sollten. Er war nach Hause gekommen und sie in die Fremde. Während er teilhat an der Entwicklung Spaniens zu einem demokratischen Land, schlägt sie sich mit Sprachunterricht durch und bleibt heimatlos.

Es ist ein Gefühl, das sie nie verlässt und das sie mit einem ehemaligen Tupamaro zu teilen versucht, einem Guerilla-Kämpfer aus Uruguay, der wegen der Militärherrschaft aus seinem Land geflohen war. Einen Winter lang fährt sie am Wochenende zu ihm in ein kleines weißes Haus am Meer und wärmt ihre stets kalten Hände an einem Holzofen. Im Sommer aber, schreibt sie, tritt zu Tage, dass es außer der Heimatlosigkeit nichts gab, was sie aneinander hätte binden können.

Mit Miguel aus dem Baskenland träumt sie zum ersten Mal den Traum von Vater, Mutter, Kind. Das Verhältnis zerbricht, weil er bereits zwei Kinder hat und kein drittes möchte. Nach der Abtreibung fällt sie in eine wochenlange Müdigkeit, die ihr wie das Ende ihres Lebens erscheint. Als er sich einer Zwanzigjährigen zuwendet, bäumt sie sich auf gegen das, was sie ihr Schicksal nennt. Aber sie geht nicht fort, weil es nie etwas geholfen habe. Sie habe gewütet wie ein gefangenes Tier, auf das im Käfig wie auch in Freiheit nichts als Qualen warten. Ich frage mich, schreibt sie, wie oft ich diese Ur-Szene meines Lebens, die ich von vorne bis hinten durchschaue, immer wieder von Neuem erleben muss, bevor ich endgültig in der Lage sein werde, mich zu lösen und zu befreien.

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