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"Libertäre Bildung - Tradition und Kontinuität herrschaftsfreier Schulen" greift den Zusammenhang von Anarchismus und Pädagogik, bzw. genauer gesagt, das Verhältnis von Freiheit und Bildung auf. Anarchisten haben sich jeher mit Fragen der Bildung und Erziehung sehr konsequent befasst und blicken auf eine Tradition zurück, die mit Beginn des modernen Anarchismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zusammenfällt Eine Auswahl von Vertretern und freien Schulmodellen gibt ein Eindruck von der Vielfalt libertärer Konzepte für eine freiheitliche Bildung und Erziehung und macht deutlich, dass es eine lange Tradition gegen autoritäre Tendenz in der Pädagogik gibt. In der edition unerzogen erscheinen Bücher mit beliebten Artikeln aus dem unerzogen Magazin. Sie stellen entweder eine Reihe eines Autors oder verschiedene Artikel zu einem Thema in den Vordergrund. Jedes Buch enthält weitere, unveröffentlichte Texte.
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Seitenzahl: 66
Ulrich Klemm
Mit dem vorliegenden Band wird eine Tradition von Bildung und Erziehung aufgegriffen, über die, obgleich seit 200 Jahren nachvollziehbar und präsent, nur wenig bekannt ist. Es geht um libertäre Bildung, auch bekannt als libertäre Pädagogik oder anarchistische Pädagogik. Es geht um den Zusammenhang von Anarchismus und Pädagogik, bzw. konkreter ausgedrückt, um das Verhältnis von Freiheit und Bildung.
Wenn Anarchismus als eine Philosophie und soziale Bewegung verstanden wird, dessen Ziel es ist, Herrschaft, Gewalt, Unfreiheit und Hierarchien in allen gesellschaftlichen Bereichen abzubauen und aufzulösen, dann impliziert dies auch die Frage nach Bildung und Erziehung. Es ist festzustellen, dass für den Anarchismus Pädagogik ebenso wie etwa die Polizei, das Militär oder das Rechtssystem Bestandteil eines staatlichen Herrschafts- und Unrechtssystems darstellt.
In diesem Sinne haben sich Anarchisten mit Fragen der Bildung und Erziehung sehr konsequent befasst und blicken auf eine Tradition zurück, die mit Beginn des modernen Anarchismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zusammenfällt.
Aus der Sicht der Staatsrechtslehre ist Anarchie zunächst als ein wertneutraler Begriff zu verstehen, der gleichberechtigt neben anderen Staats- und Herrschaftsformen steht. Das entscheidende Unterscheidungsmerkmal ist der Bezug zur Machtausübung bzw. zur Staatsgewalt. Gehen wir von dem für Staatsformen konstitutiven Element der Herrschaft aus, dann bedeutet Monarchie Alleinherrschaft und Oligarchie Cliquenherrschaft. Als Polyarchie wird ein Zustand beschrieben, bei dem die Herrschenden gegenüber den Beherrschten in der Mehrheit sind; ein Sonderfall dazu ist die Panarchie, bei der alle herrschen. Was bleibt, ist ein Zustand der Abwesenheit von Herrschaft, also der Anarchie.
Zweifellos hat die Anarchie hierbei staatsrechtlich eine Sonderstellung, da sie die einzige Form ist, die ohne Herrschaftsausübung auskommen will. Rechtfertigen die einen Modelle verschiedene Stufen und Formen der Staatsgewalt, so rechtfertigt und begründet die Anarchie eine staatsfreie Gesellschaftsform ohne Herrschaftsverhältnisse. Als Ordnungsbegriff charakterisiert Anarchie eine bestimmte Form und Qualität herrschaftsfreier Zuordnung von Menschen.
Als Gesellschaftstheorie entwickelt der Anarchismus mit seiner politischen Leitidee von der Entstaatlichung der Gesellschaft bzw. der Aufgabe der Trennung von Staat und Gesellschaft sowohl eine Kritik an konkreten und prinzipiellen Herrschaftsverhältnissen als auch eine positive Vision der Herrschaftsfreiheit.
Ein weiterer Zugang zum Anarchismus kann über die Definition als Organisationstheorie erfolgen. Die Organisationsprinzipien Freiwilligkeit, Funktionalität, Überschaubarkeit und Begrenztheit werden als Eckpunkte einer anarchistischen Gesellschaftstheorie verstanden.
Das Ziel des Anarchismus als Gesellschaftstheorie ist die Suche nach einer idealen Vergesellschaftung von Individuen in einer Gemeinschaft, die von dem Grundsatz und der Leitidee der Selbstorganisation ausgeht.
Als Organisationstheorie reagiert der Anarchismus damit auf ein Grundproblem der Neuzeit, nämlich auf den Widerspruch von Freiheit und Ordnung. Es geht um die Frage, wie der Mensch angesichts hierarchischer Ordnungs- und Machtsysteme schöpferische Freiheit bewahren kann.
Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses wird vom Anarchismus die Frage nach der Bedeutung von Freiheit und Ordnung für Bildung und Erziehung gestellt und führte in den letzten 200 Jahren zu einer libertären, d. h. freiheitlichen Tradition von Pädagogik.
Ähnlich der Vielfalt anarchistischer Theorie- und Praxisansätze ist auch im Bereich der anarchistischen Pädagogik kein einheitliches Verständnis anzutreffen.
Als kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich darstellen, dass alle Konzepte von einem freiheitlichen Verständnis des Menschen ausgehen und die Überzeugung vom solidarischen Streben alle Theorie- und Praxisfragen bestimmen.
In diesem Sinne finden wir eine Tradition innerhalb der anarchistischen Bewegung, die bei ihren »Klassikern« wie William Godwin, Max Stirner, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, Gustav Landauer oder auch Emma Goldman ebenso zum Ausdruck kommt wie auch bei explizit libertären Pädagogen, die sich als solche verstanden haben: z. B. Paul Robin (Frankreich), Sebastian Faure (Frankreich), Francisco Ferrer (Spanien), Ernst Friedrich (Deutschland) oder bei Außenseitern des Anarchismus wie beispielsweise bei dem religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz (Schweiz) und dem Individualanarchisten Walther Borgius (Deutschland).
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts sind es dann vor allem Anarchisten aus dem angelsächsischen Raum, die Impulse für eine »neue« anarchistische Pädagogik bieten. Zu ihnen gehören die Engländer Herbert Read und Colin Ward und die US-Amerikaner Paul Goodman und John Holt.
Gegenüber der bürgerlichen Reformpädagogik setzt sich die anarchistische (Reform-)Pädagogik durch ihren politischen Bezug ab sowie durch ihr Eingebundensein in die gesellschaftspolitischen Ziele des Anarchismus. Andererseits finden wir in den entsprechenden Methodik- und Didaktik-Modellen sowie im Verständnis des »Pädagogischen Bezugs« zwischen bürgerlicher und anarchistischer Pädagogik an vielen Stellen Parallelen, die sich beispielsweise an den Verbindungen von Anarchisten der Weimarer Republik zu Montessori-Vereinen zeigen lassen.
Hinsichtlich marxistischer und kommunistischer Bildungs- und Erziehungsmodelle finden wir dagegen eine Abgrenzung: Die Bildungspolitik und -praxis war hier in den meisten Fällen einer ausgesprochenen Parteidisziplin unterworfen, d. h. sie orientierte sich an den politischen Nah- und Fernzielen der Partei. Entsprechend sahen auch die Bildungs- und Erziehungsziele aus, die einen klassenbewussten, parteitreuen und – im Falle sozialistisch-kommunistischer Staaten – staatstreuen »Klassenkämpfer« als Leitidee hatten. Auch die kommunistischen, marxistischen und sozialdemokratischen Jugendorganisationen waren in starkem Maße von den Vorgaben der »Mutterpartei« abhängig. Eine Autonomie und Eigenständigkeit bestand nur selten.
Die libertäre Pädagogik kannte dagegen nur im begrenzten Umfang die Abhängigkeit von anarchistischen »Mutterorganisationen« (die im Sinne einer Partei auch nicht vorhanden waren). Auch war der Typus »Klassenkämpfer« in den wenigsten Fällen das primäre Erziehungsziel.
Was die antiautoritäre Pädagogik sozialistischer und liberaler Prägung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre betrifft, so kann eine Abgrenzung nicht immer deutlich vorgenommen werden.
Wir finden bei der sozialistischen Variante sowohl Überschneidungen und Scharniere zur libertär-anarchistischen Pädagogik wie etwa bei der damals wiederentdeckten Pädagogik des Rätekommunisten Otto Rühle. Andererseits wurden für die antiautoritäre Pädagogik auch »alte« Theoretiker der linken Sozialdemokratie wie Otto Kanitz oder der KPD-Funktionär Edwin Hörnle wieder aufgegriffen, die die Bildung der Proletarierkinder »klassengebunden« verstanden sowie Klassenkampfbewusstsein und Parteidisziplin als Erziehungs- und Bildungsziele hatten. Bei der »liberalen« antiautoritären Pädagogik sei exemplarisch auf Alexander Sutherland Neill hingewiesen, der einerseits keine Bindung zum Anarchismus hatte und auch seine Pädagogik zunächst als unpolitisch begriff, sie jedoch andererseits in den letzten Jahren seines Wirkens zunehmend radikalisierte und politisierte.
Von besonderem Interesse wurde in den letzten Jahren das Verhältnis von Anarchismus und Antipädagogik. Es geht dabei um die Frage, ob ein anarchistisches Verständnis von Bildung und Erziehung immer in eine antipädagogische (d. h. erziehungsfreie) Haltung münden muss und damit traditionelle anarchistische Ansätze in der Pädagogik heute aus dieser Sicht abzulehnen sind. Die Kontroverse »anarchistische Pädagogik contra Antipädagogik« ist die Frage nach dem »richtigen« Bewusstsein, d. h. nach dem »richtigen« freiheitlichen und gewaltfreien Verhältnis Kindern gegenüber.
Das zentrale Thema einer libertären Bildung ist die Frage nach der Herrschaftsfreiheit von Pädagogik. In diesem Sinne sollen im Folgenden verschiedene Anarchisten und libertäre Pädagogen vorgestellt werden, die als Vertreter dieser Richtung gelten und in den letzten 200 Jahren Impulse für eine Freiheitspädagogik gegeben haben. Es geht dabei um den bekanntesten Anarchisten, Michael Bakunin, um den russischen Schriftsteller und Gesellschaftskritiker Leo Tolstoi, um den spanischen Pädagogen Francisco Ferrer, um den deutschen libertären Antimilitaristen Ernst Friedrich, um den Künstler und Pädagogen Heinrich Vogeler und seiner Freien Arbeitsschule Barkenhoff nach dem Ersten Weltkrieg und, abschließend, um den bekanntesten nordamerikanischen Anarchisten aus den 1960er- und 1970er Jahren, Paul Goodman, und seinem Ansatz einer beiläufigen Bildung und Erziehung.
Mit dieser kleinen Auswahl von Vertretern und freien Schulmodellen soll ein Eindruck von der Vielfalt libertärer Konzepte für eine freiheitliche Bildung und Erziehung gegeben und deutlich gemacht werden, dass es eine lange Tradition gegen autoritäre Tendenz in der Pädagogik gibt.
Ulrich Klemm
Januar 2016
Das »Prinzip Schule« und seine Kritik
Jede Epoche hat ihre spezifische Schulkritik hervorgebracht. Eine geschlossene Institution wie die Schule impliziert gleichsam naturgemäß eine permanente kritische Distanz seitens zivilgesellschaftlicher Gruppierungen und Interessenvertreter. Eine Schulkritik, wie wir sie seit etwa 4.000 Jahren kennen, kreist, systematisch betrachtet, immer wieder und bis heute um dieselben Bedingungen und Phänomene institutionalisierten Lernens, unabhängig von zeitgeschichtlichen Verhältnissen:
der Schüler als Zielobjekt der Schule: der permanent »schlechte« Schüler,die Methodik und Didaktik schulischer Bildung: ineffektive Lehr-Lern-Prozesse,Bildungsinhalte: lebensweltferne Lehrpläne,organisationssoziologische Probleme einer geschlossenen Einrichtung: Wer kontrolliert und wem gehört die Schule?