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Im Gegensatz zu ihrer Halbschwester Nadja ist Sandra fast schon hässlich zu nennen. Als beide im Lotto 34 Millionen Euro gewinnen und schwesterlich teilen, stehen die Chancen für Sandra gut, dass sich ihr Leben zum Positiven ändert. Wäre ihr nur nicht vor laufender Fernsehkamera dieser fürchterliche Schwur entfahren ...
Vektorgrafik des Covers von:
bulia / Shutterstock/com
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Abby-Ann Fuchs
Liebesgestöhn im Doppelhaus
Im Gegensatz zu ihrer Halbschwester Nadja ist Sandra fast schon hässlich zu nennen. Als beide im Lotto 34 Millionen Euro gewinnen und schwesterlich teilen, stehen die Chancen für Sandra gut, dass sich ihr Leben zum Positiven ändert. Wäre ihr nur nicht vor laufender Fernsehkamera dieser fürchterliche Schwur entfahren ...
Der Text entspricht 145 Normseiten.
Vektorgrafik des Covers von:
bulia / Shutterstock/com
Die Wand zwischen unseren Schlafzimmern ist nicht so dick, dass ich Nadjas Stöhnen überhören könnte. Hin und wieder ächzt Maximilian wie ein angeschossener Stier. Jetzt dringt auch noch das rhythmische Klatschen ihrer mit Sicherheit schweißnassen Körper zu mir herüber.
Frustriert öffne ich die Lider und will bereits heftig gegen die Wand klopfen. Im letzten Moment überlege ich es mir anders und schließe lieber die Augen. Ich stelle mir vor, statt Nadja läge ich unter Maximilian, und stimuliere mich mit den Fingern der rechten Hand. Ich benutze kein Sexspielzeug und lasse mein Häutchen wie immer ganz. Wenn schon mit achtundzwanzig Jahren noch Jungfrau, dann richtig. Sollen sie doch dereinst auf meinem Grabstein einmeißeln: Ungeöffnet zurück.
Meine Finger sind beweglich und flink. Erregt haben mich bereits die orgastischen Geräusche von nebenan. Nadja schreit laut auf. Da unser Haus abseits liegt, ist das weiter kein Problem, und sie braucht sich hinterher nicht zu schämen. Ich komme kurz nach ihr. Im Gegensatz zu meiner Schwester bleibe ich stumm und unterdrücke mit Macht das drohende Lustgeschrei. Das fehlte gerade, dass Nadja und Maximilian mich hören und anfangen über mich zu kichern.
Ein paar Minuten wohliges Nachgenießen noch. Ich gehe ins Bad und mache mich frisch, vor allem unten rum.
Mich aufzuhübschen, versuche ich erst gar nicht. Denn wie immer sehe ich im Spiegel mein hageres Gesicht mit Knubbelkinn, höckeriger Nase und abstehenden Ohren. Das kommt daher, weil Nadja und ich Halbschwestern sind und mein Vater keine Schönheit war. Es fehlt nur noch die obligatorische Warze samt borstigem Haar auf meiner buckligen Nase, dann sähe ich wirklich aus wie eine Hexe.
Zu allem Überdruss trage ich eine große, runde Brille mit dicken Gläsern. Das scheucht die Männer erst recht reihenweise davon. Der Optiker, der sie mir anfertigte, behauptete, sie wäre trendy und ich sähe echt chic aus damit. Keine Ahnung, was der für einen Geschmack hat. Eine neue kann ich mir jedenfalls nicht leisten. Und mit einem Billigprodukt namens Sehhilfe aus Supermarkt oder Internet will ich mir die Augen nicht noch ganz verderben.
Wenn ich zusätzlich hängende, eingefallene Brüste und überall am Körper faltige Haut hätte und dazu fünfzehn Zahnlücken sowie siebzehn schwarze wacklige Zahnstummel, könnte ich mich bei RTL für die Sendung „Extrem schön!“ bewerben. Aber seltsamerweise ist mit meinem Körper alles in Ordnung, nur etwas dünn ist er halt. Und meine Zähne sind schneeweiß und tadellos. Ich putze sie eben und sehe es genau. Mit denen bekäme ich das strahlendste Lächeln der Welt hin – wenn mir denn einmal nach Lächeln zumute wäre.
Doch zurück zum Tagesgeschäft.
Wir bewohnen ein Doppelhaus. Nadja und Maximilian die linke Hälfte, ich die rechte. Platz haben wir nicht zu knapp. Nachdem ich mich angezogen und mein Haar gebürstet habe, gehe ich zu ihnen hinüber.
Auf meine Haare bin ich übrigens echt stolz. Seidig und lang und glänzend und hellblond sind die. Das hellblondeste Hellblond, das es bei natürlichen Haarfarben nur geben kann. Bereits wenn Männer meine Gestalt aus hundert Meter Entfernung erblicken, reißen sie die Augen auf. Da geht die Sonne auf, denken sie, oder: Was ist denn das für eine Strahlemaus? Dann kommen wir uns näher und sie erkennen Knubbelkinn, Höckernase, Segelfliegerohren und Brillenungetüm. Und das war’s dann. Aber färben oder dunkler tönen lasse ich meine Haare deshalb noch lange nicht. Ich glaube, um meine Haare beneidet mich selbst Nadja.
Leider sind meine Haare das Einzige, worauf ich stolz sein kann. Irgendwie habe ich es nicht geschafft, an einen gut bezahlten Job zu kommen. Ich halte mich mit Heimarbeit über Wasser. Um etwas im Leben zu erreichen, braucht man einen starken Willen, sprich die Fähigkeit, unbeirrt auf ein Ziel hinzuarbeiten. Und an diesem Willen mangelt es mir.
Himmel, ich habe ja noch nicht mal ein Ziel!
Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zum Erfolg. Hilft mir aber auch nicht weiter. Denken tue ich ständig, aber am Tun hapert’s. Das ist das Problem. Das Leben macht mit mir, was es will.
Mann, bin ich heute wieder depressiv!
Beim gemeinsamen Frühstück – ich speise morgens und abends seit jeher bei Schwester und Schwager; mittags sind sie auf Arbeit – wirkt Nadja wie das blühende Leben. Maximilian thront ihr selbstgefällig gegenüber. Mit sich und der Welt zufrieden sieht er aus. Sie zwinkern sich zu, lächeln sich an. Beide denken noch an den genossenen Sex, ich sehe es ihnen an den glänzenden Nasenspitzen an.
An meiner höckerigen Nase sieht man mir bestimmt nichts an, obwohl auch ich genüsslich an die vorhin vollzogene Selbstbefriedigung zurückdenke. Wenn Nadja wüsste, was Maximilian und ich schon alles in meinen sexuellen Fantasien miteinander getrieben haben, müsste ich künftig für mich alleine essen. Vielleicht würde sie mir sogar meine hellblonden Haare büschelweise ausreißen. Oder es wenigstens versuchen. Ich kann mich ja dagegen wehren.
Mariechen sitzt mit am Tisch und löffelt emsig ihren Brei. Obwohl Nadja vier Jahre jünger ist als ich, hat sie bereits eine fünfjährige Tochter. Kaum im zweiten Lehrjahr, und schon war sie schwanger, mein Halbschwesterherz. So geht das halt, wenn man einen schönen Körper und ein ansprechendes Gesicht hat. Und da Maximilian als Maries Vater ein gut aussehender Typ ist, besitzt Marie ebenfalls weder Knubbelkinn noch höckerige Nase noch abstehende Ohren. Nicht mal eine Brille braucht die Kleine. Nur ich bin anscheinend auf der ganzen Welt so übel dran.
Falls es überhaupt möglich ist, geht meine Laune noch mehr den Bach runter. Aber zu einem Psychologen gehe ich deshalb noch lange nicht. Mit ein wenig Verstand kann man sich mit allem arrangieren, selbst mit seiner Hässlichkeit.
Nadja bringt Marie zur Kita. Maximilian bricht zur Arbeit auf. Ich gehe wieder zu mir und setze mich vor den Computer. Ein neuer Arbeitstag beginnt. Ich schreibe Heftromane für einen bekannten Verlag. Alle zwei Wochen einen. Das heißt, glatte dreitausend Wörter an jedem Wochentag. Da hat man genug zu tun und keine Langeweile. Zudem lenkt es wunderbar von den eigenen trübsinnigen Gedanken ab.
Selbstverständlich schreibe ich ausschließlich über heile Welt, schöne Menschen, Liebesheiraten, Frohsinn und Glück.
Auf diesem Gebiet bin ich schließlich Expertin.
Gegen elf habe ich bereits über neunhundert Wörter getippt und in eine ansprechende Form gebracht. Meine aktuelle Heldin geht einem Leben voller Freude, Glück und Seligkeit entgegen.
Ich gehe dem Kühlschrank entgegen, um zu sehen, was ich mir zu Mittag machen kann.
Der Kühlschrank ist leer.
Ich seufze, fahre den Computer runter, greife nach Schlüsselbund und Einkaufstasche und verlasse das Haus.
Bis zum Supermarkt ist es nicht weit. Keine vier Minuten später bin ich drinnen und strebe der Regalreihe mit den Fertiggerichten entgegen. Ich brauche etwas, das schmeckt und sich schnell zubereiten lässt. Eine lange Mittagspause kann ich mir nicht leisten. Ich will nicht bis in den Abend hinein schreiben müssen. Eine Tütensuppe oder Büchse Ravioli soll es allerdings auch nicht gerade sein.
Augen auf, Mädchen, das Angebot ist riesig, denke ich. Wie wär’s mal mit etwas Neuem. Probieren geht über Studieren.
Gedacht, getan. Samt leerem Einkaufswagen zockele ich an der Reihe der Fertiggerichte entlang.
Will der Reihe der Fertiggerichte entlang zockeln, denn in diesem Augenblick entdecke ich IHN.
IHN – das ist ein großer, gut aussehender Bursche mit einer hellblonden Lockenpracht, wie sie ein Engel nicht perfekter besitzen könnte. Da stimmt jedes Kringelchen. Und vor allem wurde nichts geschönt. Das ist Natur pur, das sehe ich auf den ersten Blick. So legt er sich abends hin, so steht er morgens auf. Kamm oder Bürste braucht er nicht. In eine andere Form bringen lässt sich seine Frisur nicht. Diese Haartracht ist unkaputtbar. Einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen, und sobald die Haare getrocknet sind, sieht sie wieder aus wie vorher. Wenn alle Menschen solche Schöpfe hätten, wären die Friseure arbeitslos. Nur ein paar Spitzen abschneiden müsste einem halt manchmal irgendjemand.
Sofort bin ich hin und weg und sehe nichts anderes mehr als diesen Mann. Wenn er mich jetzt in die Arme nähme und fragte, ob ich mit ihm nach Australien auswandern wolle, ich würde es tun. Nordpol. Südpol. In die Wüste Sahara. Alles kein Problem.
So etwas ist mir noch nie passiert. Liebe auf den ersten Blick: Ich schreibe nicht nur über sie – es gibt sie wirklich.
Und das alles nur wegen dieser blonden Lockenpracht, diesem Wuschelkopf, den Mütterchen Natur in einer Sternstunde fabriziert haben muss. Erst jetzt kann ich nachvollziehen, was in Männern vor sich geht, die mich mit meinem hellblondesten Hellblond von ferne sehen. Wie ihnen gehen mir die Augen über. Und das, obwohl ich den Typ nur schräg von hinten sehe. Ich kenne noch nicht einmal sein Angesicht.
Groß ist er. Mit breiten Schultern. Schmalen Hüften. Knackpopo. Ein Mann, wie er im Buche steht. Nichts für mich. Nicht mal mit anliegenden Ohren, gerader Nase, ohne Knubbel am Kinn und Brillenungetüm. Der ist längst vergeben. Von diesem meinem Traummann kann ich nur träumen.
Das hast du nun davon, höhnt mein Verstand. Wenn du nur gewollt hättest, du hättest problemlos einen einträglichen Beruf lernen und ausüben können. Die vier kleinen OPs zwecks Ohren anlegen, Nase begradigen, Kinn entknuppeln und Augen lasern hättest du aus der Portokasse bezahlt. Wunderschön könntest du jetzt aussehen. Zehn solcher Typen wie der da könnten an jedem deiner Finger zappeln. Ach was: Glücklich verheiratet sein könntest du längst und drei süße Kinderchen haben.
Ach, halt doch den Mund, denke ich. Halt doch bloß deinen Mund.
Jetzt! Jetzt dreht ER sich um. Jetzt sehe ich sein Gesicht.
Was ist das denn? Fast hätte ich laut aufgelacht.
Ein Traummann? Ein Traummännchen ist das. Kein Barthaar, ja nicht einmal ein Anflug von Flaum ziert sein rosiges Kindergesicht. Zwanzig, vielleicht auch nur neunzehn Jahre alt ist er. Ein Babyface, wie es im Buche steht, ist das. Ein lächerliches Milchgesicht besitzt er, das man nicht ernst nehmen kann.
Ich schaue mich um. Und richtig: Keine Frau nimmt länger als zwei-drei Sekunden Notiz vom Objekt meiner Begierde, dann wendet sich eine jede still lächelnd ab. Nur ich starre ihn weiterhin an, als wäre er das achte Weltwunder. Das liegt wahrscheinlich daran, dass man mit meinem vermurksten Gesicht keine hohen Ansprüche stellen kann. Und alles andere an ihm ist ja tipptopp.
Aber immer noch viel zu gut aussehend für dich, Sandra, meldet sich mein Verstand. Und älter und reifer wird er im Übrigen von alleine. Irgendwann bekommt sein Gesicht Falten und graue Schläfen und wirkt markant. Vergiss ihn! Vergiss ihn! Vergiss ihn! Kauf dein Essen und geh heim.
Wie soll ich heimgehen können, wenn meine Beine sich nicht von der Stelle rühren, mein Blick sich nicht von seinem Körper löst? Was kümmert mich sein Milchgesicht! Selbst wenn er es bis ins hohe Alter hinein behält, wäre er für mich der Hauptgewinn.
Aber wie sieht es anders herum aus? Ich meine, wenn ich nur abstehende Ohren hätte oder nur einen Höcker auf der Nase oder nur ein Knubbelkinn oder nur dieses Scheusal von Brille auf der Nase – nun gut. Aber gleich vier Schönheitsfehler auf einmal? Das ist ein bisschen viel und niemandem zuzumuten, der nicht wenigstens am Stock geht oder einen Buckel hat.
Mit meinem Selbstbewusstsein stimmt was nicht, ich merke es selber. Das ist völlig am Boden. Aber ich kann einfach nicht raus aus meiner Haut, sprich aus meinen eingefahrenen Gedankengeleisen. So war ich schon immer. So werde ich wahrscheinlich auch immer bleiben. Ich bin keine Heldin aus meinen Heftromanen, die zielstrebig nach vorne strebt und immer macht und tut. Ich wäre eher eine Anti-Heldin, bei der der Leser gähnt und das Buch nach anderthalb Kapiteln zuklappt und danach nie wieder aufschlägt. Aber schließlich bin ich keine Buchfigur, sondern ein realer Mensch mit all meinen Schwächen, Fehlern, Ängsten und Sorgen. Deshalb ist mein ständiges Zögern und Bangen wohl erlaubt. Nichtsdestotrotz wäre ich beides gerne los.
Andere Kunden umgehen und umfahren mich mit Mühe. Manche von ihnen rempeln mich an. Ich fühle Püffe und Stöße. Ein Einkaufswagen rollt mir über den Fuß. Ich merke nichts davon. Ich verharre mitten im Gang und rühre mich nicht von der Stelle, sehe nichts außer IHN.
Der Milchreisbubi steht vor mir und sieht mich nicht. Eine Schultertasche baumelt an seiner linken Seite herab. Sein Einkaufswagen ist leer. Sein Blick ist angestrengt auf einen Einkaufszettel gerichtet.
Soso, ein schlechtes Gedächtnis hat er also auch noch! Hilft mir aber nicht weiter. Am liebsten würde ich ihn in meinen Einkaufswagen verfrachten und zu mir nach Hause schieben. Doch das traue ich mich nicht.
Jetzt! Jetzt geht er weiter. Schnell, ihm hinterher, bevor ich ihn aus den Augen verliere.
Es wäre besser für dich, wenn du das tätest und ihn so rasch wie möglich vergisst, meldet sich mein Verstand. Vergiss ihn! Vergiss ihn! Vergiss ihn!
Als ob ich IHN vergessen könnte. Ideen hat mein Verstand. Also wirklich!
Ich ignoriere meine innere Stimme und laufe los. Jetzt remple ich andere Kunden an, bahne ich mir rücksichtslos meinen Weg, schiebe ich meinen Einkaufswagen achtlos über fremde Zehen. Nur ihn habe ich im Sinn. Auf empörte Ausrufe reagiere ich nicht.
Das Objekt meiner Begierde eilt zielgerichtet durch die Gänge, stoppt bei den Toilettenartikeln. In rascher Folge landen Deo, Duschgel, Zahnpasta, Haarwäsche und Zahnbürsten im Einkaufswagen. Dann eilt er weiter. Bei einem Mann gehen Einkäufe schnell.
Ein Mann, der sich diese Dinge selbst besorgt? Er ist noch Single, wird mir klar. Obwohl ich weiß, dass ich kaum als Frau für ihn in Betracht komme, atme ich auf.
Schon geht er weiter. In den Hauptgang eingebogen, den übernächsten Seitengang genommen, und er steht vor den Süßigkeiten, greift hier nach Bonbons, dort nach Schokolade und Keksen. Dann visiert er die Kasse mit der kürzesten Schlange an.
Eine Naschkatze ist er also auch noch. Ach, wie gerne würde ich mich von ihm vernaschen lassen.
Vergiss es!, schreit mein Verstand. Vergiss ihn, vergiss ihn, vergiss ihn! Quäl dich nicht selbst.
Ich lasse ihn schreien und sehe zu, wie mein Schwarm bezahlt. Schon schiebt er seinen Einkaufswagen nach draußen.
Ich folge ihm, positioniere mich aber einstweilen im Eingangsbereich zwischen den beiden sich automatisch öffnenden und schließenden Glastüren und warte ab, bis er seine Einkäufe in der Schultertasche verstaut und den Wagen angekettet hat. Die Pfandmünze steckt er in lässig in die Gesäßtasche. Dann läuft er los.
Juchhu! Er ist nicht mit dem Auto da. Ich kann ihm folgen und herausfinden, wo er wohnt, wie er heißt, wer er ist. Glück muss der Mensch haben!
Was hilft dir das?, höhnt mein Verstand. In sein Beuteschema passt du trotzdem nicht. Vergiss ihn, vergiss ihn, vergiss ihn, verdammt noch mal!
Ich vergesse eher mich, eile ins Freie und folge meinem Traummann in sicherem Abstand.
Im Gegensatz zum Einkaufen hat er es jetzt nicht eilig. Er schlendert circa fünfhundert Meter die Hauptstraße entlang und biegt dann in die Brunnengasse ein. Wenig später öffnet er das Tor zu einem Grundstück, auf dem inmitten eines gepflegten Gartens ein größeres Einfamilienhaus steht.
Wohnt er hier?
Auf jeden Fall geht er auf einen etwa vierjährigen Buben zu, der in einem Sandkasten spielt. Er holt einen Beutel Gummibärchen aus der Schultertasche, öffnet ihn und hält dem Kind eine Handvoll davon hin. Der Kleine schreit begeistert auf und steckt sie in den Mund.
Ist das sein Sohn?, frage ich mich bestürzt. Habe ich mich in seinem Alter verschätzt und mein Wuschelkopf ist schon Mitte zwanzig und Papa? Oder hat er bereits mit vierzehn oder fünfzehn losgelegt und nicht aufgepasst? Manche Teenager schaffen das.
Ach was. Sein kleiner Bruder wird das sein, beruhige ich mich. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden ist unverkennbar. Was natürlich auch für Vater und Sohn spräche. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Mal denke ich dies, mal denke ich das.
Wenn man doch einfach hinübergehen und fragen könnte. Aber das gehört sich wohl nicht. Und außerdem bin ich viel zu schüchtern dazu. Also stehe ich weiterhin hier herum und beobachte die zwei.
Der Kleine streckt fordernd das Patschhändchen aus.
„Mehr, Sören!“
Sören heißt er also. Auch das noch. Aber immerhin hat er nicht „Mehr, Papa!“ gesagt. Sein Sohn ist es schon mal nicht. Ein erleichtertes Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht.
„Da, nimm, Sven.“
Der Junge erhält noch zwei-drei Gummibärchen und kaut glücklich darauf herum. Dann gehen Sören und er Hand in Hand ins Haus. Ich bleibe allein und verloren auf der Straße zurück.
Allein und verloren? Aber warum dann dieses Getuschel und Geraune hinter mir?
Ich komme zur Besinnung und drehe mich nach dem Geraune und Getuschel um.
Mehrere Passanten stehen hinter mir. Sie mustern mich – und vor allem den Einkaufswagen, den ich gedankenlos bis hierher vor mir hergeschoben habe! –, als ob ich aus der Irrenanstalt ausgebrochen wäre. Zwei davon sind Nachbarn, die mich kennen.
Ich laufe puterrot an und flüchte mit rasselndem leeren Einkaufswagen in Richtung Supermarkt. Dort schnappe ich mir ein Säckchen Speisekartoffeln, eine große Leberwurst und zwei Stückchen Butter, bezahle und eile heim. Diesmal ohne Einkaufswagen. Das Kartoffelsäckchen, das nicht in meine Einkaufstasche passt, trage ich in der Hand. So blamiert wie heute habe ich mich noch nicht einmal in meinen schlimmsten Träumen.
Ich setze Wasser auf und drehe die Heizplatte auf 3. Sobald es kocht, kommen drei-vier Kartoffeln rein. Ein bisschen Salz auf den Tellerrand, eine Scheibe Leberwurst, etwas Butter. Fertig ist das Leibgericht. Pellkartoffeln hatte ich schon lange nicht mehr. Morgen und übermorgen gibt es noch mal das Gleiche. Draußen sieht mich jedenfalls niemand gleich wieder. Erst einmal muss Gras über diese Sache wachsen, muss sich jemand anderes zum Affen machen, über den sich gut tratschen lässt, ehe ich mich wieder in die Öffentlichkeit wage.
Bis das Wasser kocht und die Kartoffeln gar sind, habe ich eine halbe Stunde Zeit, in der ich an meinem Heftroman arbeiten kann. Ich fahre den Computer hoch und setze mich an die Tastatur. Aber statt dass sich in meinem Geist Wörter zu Sätzen fügen, sehe ich nur das Abbild eines gewissen hellblonden Lockenkopfes vor mir.
So wird das nichts. Morgen muss ich Überstunden schieben, so viel ist klar. Und hoffentlich läuft es dann mit dem Schreiben besser als heute.
Ich haue mich aufs Sofa und schließe frustriert die Augen. Diesen Tag kann ich vergessen! Ich wünschte, ich wäre gar nicht erst aufgestanden.