Liebesgrüße aus der Hölle - Bettina Sokolowski - E-Book

Liebesgrüße aus der Hölle E-Book

Bettina Sokolowski

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Beschreibung

Wer braucht schon eine vollkommene Seele, wenn man dafür eine unsterbliche Liebe bekommt? Charly geht einen Pakt mit dem Teufel ein: Sie will eine Todsünde begehen, um dafür in die Hölle zu gelangen, wo ihr verstorbener Ehemann bereits auf sie wartet. Doch dies ist gar nicht so einfach, denn Charly ist einfach zu gut für diese Welt. Und während der ehrgeizige Luzifer sich alle Mühe gibt, aus Charly eine Mörderin zu machen und immer perfektere Opfer für sie sucht, stürzt Charly von einem Abenteuer ins nächste. Sie amüsiert sich seit Jahren wieder und beginnt ihr Leben erneut zu genießen. Zweifel keimen in ihr auf: War der Weg in die Hölle die richtige Entscheidung? Und ist es überhaupt möglich, einen Pakt mit dem Teufel zu brechen? Zu allem Überfluss hat sich der Erzengel Gabriel in den Kopf gesetzt, Charlys Seele zu retten. Koste es, was es wolle ...

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Inhalt

Am Anfang

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Noch viele weitere Tage

Am Anfang

»Willst du wirklich springen?«

Eine angenehme Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken trat ich einen Schritt vom Rand des Hochhauses zurück und sah mich um.

Im sanften Schein des Mondlichtes erkannte ich eine Gestalt am anderen Ende des Daches. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können: Es war ein Mann mittleren Alters mit feuerrotem Haar. Er trug einen sehr teuer aussehenden Anzug, hatte seine Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt und schlenderte auf mich zu. Ganz so, als wären wir hier in irgendeinem Park und nicht weit oben auf dem zehnten Stockwerk eines Hochhauses.

»Bleiben Sie stehen!«, rief ich ihm zu und trat einen weiteren Schritt zurück. Der Boden unter meinen nackten Füßen war warm, beinahe heiß – und das, obwohl es schon um zwei Uhr nachts war. Das Hoch Katharina hatte Deutschland vor wenigen Wochen überrollt und die Hitze hatte sich in Berlin festgebissen. Der Asphalt und die Steine glühten, die Menschen schwitzten und die Schwimmbäder und Seen der Hauptstadt waren überfüllt. Es herrschte beinahe ein Ausnahmezustand.

Es war heiß, einfach nur verdammt heiß.

»Ich glaube nicht, dass du das tatsächlich tun wirst, Charly!« Der Mann kam näher.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«, rief ich ihm zu.

Der Mann war jetzt so nahe, dass ich sein Gesicht erkennen konnte. Er hatte ebenmäßige, porzellanähnliche Gesichtszüge und lächelte mich belustigt an.

»Verschwinden Sie, ich brauche keine Gesellschaft!«, rief ich.

War er ein Seelsorger, der mich von meinem Selbstmord abhalten sollte?

Ich hatte keine Ahnung, ob ich es wirklich tun würde. Es war schon eine Glanzleistung, mit meiner Höhenangst hier hinaufzugehen. Es hatte zwar lange gedauert und ich wäre unterwegs fast vor Angst gestorben, aber nun war ich hier. Ganz oben in schwindelnder Höhe. Einen kurzen Moment war ich mächtig stolz auf mich. Aber auch nur einen kurzen Moment, denn wäre ich wirklich mutig gewesen, wäre ich schon längst gesprungen und würde mich nicht in dieser peinlichen Situation befinden. Ich bemerkte, dass meine Knie zitterten, und ließ mich auf den Boden nieder. Ich verschränkte meine Beine zu einem Schneidersitz und starrte dem Fremden misstrauisch entgegen. Ich traute mich nicht, in die Tiefe unter mir zu schauen. Warum war ich nur zu feige, um diesen letzten Schritt zu gehen?

Ich war gefangen. Es konnte nur wenige Augenblicke dauern, bis ein Einsatzkommando die Straße absperren und peinlicherweise die ganze Stadt wissen würde, dass Charlotte Sommer versucht hatte sich umzubringen. Dabei wollte ich nur zu Tommy.

Der Mann musterte mich. »Es soll ja Menschen geben, die ihren Geliebten in den Tod folgen. Doch du? Du gehörst nicht dazu. Du bist feige.« Er schnaufte verächtlich und ließ sich in einiger Entfernung von mir nieder. Beinahe gelangweilt zündete er sich eine Zigarette an.

»Ich bin nicht feige«, erwiderte ich.

»Und warum bist du nicht längst gesprungen?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Ich habe Höhenangst«, stammelte ich unsicher.

»Das ist eine dumme Ausrede«, entgegnete der Mann. »Es gibt andere Möglichkeiten, sich umzubringen. Du könntest dich vor einen Zug werfen oder Schlaftabletten schlucken. Das wäre weniger dramatisch.«

Entgeistert starrte ich ihn an. »Was willst du überhaupt von mir?«, fragte ich mit zitternder Stimme.

»Bist du von der Polizei?«

Er schüttelte den Kopf. »Du lieber Himmel! Ich bin doch kein Bulle. Ich war neugierig auf dich. Ich möchte mich mit dir unterhalten. Und ich bin gespannt, ob du tatsächlich von diesem dämlichen Dach springst.«

»Wenn das deine Vorstellung von einem Smalltalk ist, dann solltest du dringend an deinen sozialen Fähigkeiten arbeiten«, erwiderte ich. »Wieso kannst du mich nicht in Ruhe lassen und verschwinden? Das hier ist Berlin. Es gibt noch andere Verrückte auf Dächern, die sich über eine Plauderei mit dir freuen würden.«

Ich wollte nicht zulassen, dass dieser Fremde mir mein Vorhaben durchkreuzte. Ganze zwei Jahre hatte ich diesen Tag geplant. Immer wieder hatte ich die Vor- und Nachteile abgewogen, aber ohne Tommy war mein Leben einfach nur sinnlos und leer. Und so hatte ich mich in die Vorstellung verbissen, dass es ja – wie so viele sagen – ein Leben nach dem Tod geben musste. Ein Leben im Himmel, im Paradies oder wie man das nennen möchte. Es war mir auch egal – Hauptsache, es war ein Leben mit Tommy.

Vor ein paar Wochen hatte ich meiner besten Freundin Jenny von dieser Idee erzählt. Sie ist fürchterlich blass geworden und wollte mich sofort in eine psychiatrische Klinik einweisen. Ich konnte sie gerade noch davon abbringen, indem ich beteuerte, dass es eine blöde Idee sei, die aus einer Weinlaune heraus entstanden war, und dass ich vorhatte, noch viele Jahre lang zu leben. Seitdem hielt ich meinen Mund und erzählte niemandem mehr von meinem Vorhaben.

»Willst du wirklich auf diese Art sterben? Weißt du eigentlich, wie dein Körper aussieht, wenn du da unten auf der Straße aufklatschst?«, fragte der Mann und verzog angewidert den Mund. »Deine gesamten Knochen sind gebrochen und du bist eine einzige klebrige, matschige Masse. So wie roter Wackelpudding mit Stückchen. Aber schön, wenn es das ist, was du willst, dann werde ich dir dabei zusehen.«

Mein Magen rebellierte bei der Vorstellung und mir wurde schwindelig.

»Halt die Klappe!«, zischte ich zwischen meinen Zähnen hervor. »Halt die Klappe und verschwinde. Das hier geht dich nichts an, das ist meine Sache!«

»Wie du willst. Dann tu es auch endlich!« Er zog genüsslich an seiner Zigarette. »Es ist ganz einfach. Du musst nur aufstehen und zwei große Schritte in die Richtung gehen!«

Er deutete hinunter auf die Straße.

Ich starrte an ihm vorbei in den Nachthimmel und blinzelte ein paar Tränen fort.

»Also, was ist jetzt? Bringst du dich jetzt um oder nicht? Ich habe nicht ewig Zeit«, drängelte er.

»Was soll das denn? Willst du mich jetzt etwa zum Selbstmord drängen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Das musst du schon aus freiem Willen tun, sonst bringt das gar nichts. Aber ich finde, du solltest dich endlich entscheiden!«

»Geh endlich! Lass mich allein!«, jammerte ich erschöpft.

Der Fremde seufzte. »Hör mal zu, Charly! Wenn du wirklich springen wolltest, hättest du es doch schon längst getan. Ich könnte dich auch einfach hinunterstoßen, um das Ganze zu beschleunigen. Aber dann würde es dich auch keinen Schritt zu deinem Tommy bringen, sondern ihr wäret für alle Ewigkeiten getrennt.«

Ich war verwirrt. Was sollte das bitte heißen: für immer von Tommy getrennt?

Tommy war mein Mann gewesen. Er war vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Tommy war mein Leben gewesen, ich hatte ihn geliebt, vergöttert und verehrt. Mein Tommy! Es war mir heute unvorstellbar, wie ich überhaupt existiert haben konnte, bevor ich ihn kennengelernt hatte. Die Jahre mit ihm waren so unvorstellbar schön gewesen. Zu schön, um wahr zu sein, und dann war plötzlich alles vorbei, nur weil ein betrunkener Busfahrer von seiner Spur abgekommen war. Zwei Jahre lang hatte ich versucht, einfach weiterzuleben. Ich bin zur Arbeit gegangen, habe bei meiner Theatergruppe mitgespielt und habe am Alltagstrott teilgenommen. Aber es war so sinnlos. Stets klaffte dieses schwarze Loch in meinem Leben, ein Loch, in dem ich hilflos umherirrte und aus dem ich nicht herausfand. Also beschloss ich, mein Leben ebenfalls zu beenden. Aber nun stand ich hier, besser gesagt, ich saß hier auf einem Dach in der Nähe vom Alexanderplatz und war zu feige, um über den Rand zu treten. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch einen Seelsorger am Hals.

»Schau mal, Schätzchen, was ich hier habe!«, sagte der Mann und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. In der anderen Hand hielt er lässig ein Handy. »Ich brauche nur kurz anrufen und schon ist ein Großaufgebot von Rettungsteams da unten versammelt.« Dabei grinste er von einem Ohr zum anderen.

»Oh, nein!«, seufzte ich schwach. »Bitte lass das und geh endlich«, flehte ich ihn an.

»Du springst doch eh nicht!«, erklärte er und seine Mundwinkel zuckten dabei verdächtig. »Ich habe es ja gewusst. Dazu bist du viel zu schwach!«

Na gut. Ich glaubte ja selbst nicht mehr daran. Ich spürte, wie sich ein dicker Kloß in meiner Kehle festsetzte. Verzweifelt kämpfte ich mit den Tränen. Der Mann betrachtete mich prüfend. Schließlich erhob er sich seufzend, trat ganz dicht an den Rand des Daches und schnippte mit den Fingern den Zigarettenstummel hinunter. Lässig zog er eine Schachtel aus der Tasche und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Also, Charly«, sagte er, ohne mich anzusehen, »um dieses Desaster hier zu beenden: Ich will dir ja helfen, deinen Tommy wiederzusehen, aber meiner Meinung nach ist ein Selbstmord nicht die richtige Lösung. Wir werden einen anderen Weg finden. Einen eleganteren. Du kannst mir vertrauen.«

Eine Feuerwerksrakete sauste an ihm vorbei und explodierte in unserer Nähe zu einem roten Funkenregen. Tief unter uns feierten die Menschen ein Fest. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Eine dicke Träne lief über meine Wange. Für einen winzigen Moment lang bekam ich Zweifel, ob ich dies alles wirklich wollte. Hatte ich mir das gut überlegt? Ein Bild von Tommy tauchte in meinen Gedanken auf und meine Zweifel lösten sich in Luft auf. Erneut überkam mich das Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit. Weitere Tränen rannen über meine Wangen den Hals hinunter. Ich musste wirklich scheußlich aussehen. Aber ich wollte nur noch weg von hier. Mittlerweile war ich dankbar für die Anwesenheit des Fremden.

»Aber, aber, Charly. Wer wird denn gleich weinen? Ich sag doch: Ich bringe dich zu Tommy.« Der Mann kam zu mir und wischte mit der Hand meine Tränen fort. Seine Stimme klang nun so weich, dass alle meine Ängste davonflogen. Wie in Trance ließ ich mich widerspruchslos von ihm auf die Beine helfen und ließ zu, dass er den Arm um meine Taille legte und mich sanft zum Treppenhaus schob.

»Wer bist du eigentlich?«, flüsterte ich matt.

»Ach, du kannst mich Luz nennen«, sagte er freundlich und führte mich die Treppe hinunter.

Mir wurde schon bei dem Gedanken an die Tiefe schwindelig. Aller Mut war vergessen. Ich hatte versagt und musste nun den Rest meines erbärmlichen Lebens ohne Tommy dahin vegetieren. Mir wurde schlecht. Verzweifelt umklammerte ich den Hals des Mannes.

»Mit -tz?«, nuschelte ich.

»Nein, nur mit -z.« Er lachte laut auf. Es klang kalt und hässlich.

Etwas benommen ließ ich zu, dass Luz mich in die Straßenbahn verfrachtete und mit mir zu meiner Wohnung in Pankow fuhr. Die Leute in der Bahn beachteten mich nicht. Es fiel niemandem auf, dass ich barfuß war und meine Shorts und mein Top eigentlich meinen Schlafanzug darstellten.

»Weißt du eigentlich, wo ich wohne?«, fragte ich Luz irgendwann.

»Natürlich.«

Allmählich bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Er kannte meinen Namen, meinen Wohnort und er wusste etwas von Tommy. War er mir heimlich auf dieses verdammte Hochhaus gefolgt? War er vielleicht ein Stalker? Was, wenn er ein gefährlicher Psychopath war, der mich entführte? Das konnte auch nur mir passieren, dachte ich. Ein gescheiterter Selbstmordversuch und danach direkt in den Armen eines Verrückten landen.

Mein Kopf schmerzte fürchterlich, aber schon nach kurzer Zeit kam mein vertrauter Wohnblock in Sicht.

Wir stiegen aus und bald darauf saß ich auf dem wohlbekannten Sofa in meiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, während Luz in meinen Küchenschränken kramte.

»Wo ist der Zucker?«, fragte er mich.

»Dritter Schrank rechts, ganz oben.« Meine Antwort kam automatisch. Ich versuchte verzweifelt meine Gedanken zu sortieren.

In der Küche hinter mir hörte ich Geschirr klirren und Wasser laufen. Dann kam Luz vergnügt pfeifend auf mich zu. »Hier trink das, dann geht es dir besser!« Er hielt mir eines meiner größten Gläser gefüllt mit einer Flüssigkeit unter die Nase und setzte sich mir gegenüber in den Schaukelstuhl, ebenfalls ein Glas in der Hand.

»Was ist das?«, fragte ich misstrauisch.

»Zuckerwasser. Das tut dir gut!« Und damit schüttete er sich den ganzen Inhalt auf einmal in den Mund. Zuckerwasser. Das wurde ja immer besser. Mir gegenüber saß ein Psychopath, der Zuckerwasser trank. Für den Notfall rief ich mir schon mal alle Selbstverteidigungsgriffe ins Gedächtnis, die ich kannte.

»Ähm. Das ist ja total nett von dir, dass du mich nach Hause gebracht hast, Luz«, haspelte ich nervös. »Aber nun bin ich ja in Sicherheit und werde bestimmt auch nicht wieder versuchen mich umzubringen, also kannst du ganz beruhigt nach Hause gehen.«

Ich wartete hoffnungsvoll. Draußen donnerte es. Ein Gewitter zog auf.

»Du sollst das trinken!«, befahl er und zündete eine Kerze an, die vor uns auf dem Tisch stand.

Wie romantisch! Er schien mich gar nicht gehört zu haben. Über uns fing mein Obermieter an, auf seinem Cello zu üben. Er tat dies grundsätzlich nachts und stets, ohne die richtigen Töne zu treffen. Um ein bisschen für Abwechslung zu sorgen, hatte er sich kürzlich auch noch ein Klavier und eine Gitarre besorgt. Ich hatte schon oft überlegt, ihm ein paar Musikstunden zu schenken. Luz war sichtlich unbeeindruckt von der Hintergrundunterhaltung. Er deutete auf mein immer noch volles Glas.

»Trink!« Jetzt klang er schon etwas ärgerlich. »Das ist gut für dich!«

Mir wurde noch unbehaglicher zumute. Zögernd nahm ich einen Schluck. Es schmeckte fürchterlich süß und ich verzog den Mund.

Zufrieden lehnte er sich zurück, faltete seine Hände vor dem Bauch und sah mich an. Zum ersten Mal seit unserer Begegnung betrachtete ich ihn genauer. Er sah unbeschreiblich gut aus.

Seine Haut war etwas blass, aber seine Gesichtszüge waren ebenmäßig wie die einer Statue. Unter buschigen Brauen blitzten leuchtend grüne Augen hervor. Sein dunkelrotes Haar lag perfekt, als käme er gerade vom Friseur. Nur die strahlendweißen Zähne waren ungewöhnlich spitz, wie mit einer Feile bearbeitet – sie wirkten gefährlich.

»Also, Charly, kommen wir zur Sache«, sagte er mit sanfter Stimme.

Mein Herz hämmerte unkontrolliert in meiner Brust. Das Pochen bahnte sich den Weg hinauf zur Schläfe und dröhnte dort rhythmisch in meinem Kopf. Allmählich fürchtete ich mich vor ihm.

»Du hast gerade versucht dich von einem Hochhaus zu stürzen. Man könnte sogar sagen, ich habe dich gerettet.« Das klang, als hätte ihm die ganze Sache tierischen Spaß gemacht.

»Und nun möchtest du bestimmt wissen, warum.« Er breitete seine Arme aus und sah mich erwartungsvoll an.

Ich starrte mit offenem Mund zurück und versuchte ruhig ein- und auszuatmen. Gute Frage!

Er zuckte mit den Schultern. »Also schön. Du wolltest dich umbringen, weil du so ungeheuerliche Sehnsucht nach deinem Tommy hast.« Dabei verzog er angewidert die Mundwinkel. »Die Idee ist gar nicht so schlecht, doch für einen Selbstmord bist du nicht mutig genug. Und wenn du jetzt einfach so stirbst, dann wirst du ihn ganz bestimmt nicht wiedersehen!«

Mein Kopf dröhnte. Ich überlegte krampfhaft, ob es mir wohl gelingen würde, aus der Wohnung zu stürzen und nach Hilfe zu schreien.

»Denn wenn du jetzt stirbst, kommst du geradewegs in den Himmel, so ein nettes Mädchen wie du bist.« Das schien ihn köstlich zu amüsieren.

»Na und?«, erwiderte ich zögernd. »Da will ich doch auch hin.«

Er schnalzte mit der Zunge. »Aber dein geliebter Tommy ist nicht im Himmel. Er sitzt in der Hölle und wartet da auf dich.«

Das war zu viel. Meine Furcht war vergessen. Ich sprang auf, wobei ich einen Teil des grässlichen Zuckerwassers verschüttete, und fauchte ihn an: »Was fällt dir ein? Du sitzt hier in meiner Wohnung und behauptest, Tommy sei in der Hölle! Wenn es so etwas überhaupt gibt, dann ist Tommy der Letzte, der da hingeht! Und jetzt verschwinde!« Ich schwankte, da ich vor Aufregung noch mehr zitterte. »Tommy hat niemals irgendetwas Schlechtes getan!«

Luz sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Schließlich befahl er mir in einem strengen Ton, der selbst eine aufgebrachte Soldatenlegion zum Gehorsam gebracht hätte: »Zucker ist gut für dich! Setz dich hin und trink!«

Ich gehorchte, obwohl ich mich innerlich dagegen sträubte. Mein Mund klebte vor lauter Zucker, meine Kehle, alles in mir schnürte sich zusammen. Es war, als hätte er die Macht über meinen Körper übernommen. Es gab kein Entkommen vor ihm.

Luz schien langsam ungeduldig zu werden. »Liebe Charly, Tommy ist in der Hölle, weil er ein Nephilim ist. Sag bloß, das weißt du nicht?«

Ich schüttelte hastig den Kopf. Bitte lass das alles schnell vorbei sein, lieber Gott!

»Du hast all die Zeit mit ihm zusammengelebt und hast es nicht bemerkt?« Er schnaufte verächtlich.

»Was ist ein Nephilim?«, fragte ich tonlos und rieb nervös meine feuchten Hände an meiner Pyjamahose ab.

Luz rollte mit den Augen. »Nachfahren der Engel. Hast du etwa noch nie von ihnen gehört?«

Ich dachte fieberhaft an meine Konfirmationszeit, aber da war so etwas nicht vorgekommen.

»Es gab einmal eine Gruppe von Engeln, die sogenannten Grigori«, begann er.

»Sie sollten den Erzengeln bei der Erschaffung des Garten Edens helfen. Aber sie haben sich nicht an die Spielregeln gehalten. Sie verliebten sich in die schönen Frauen der Menschen und zeugten Kinder mit ihnen. Dabei verrieten sie ihnen auch ein paar Dinge, die nur Himmelswesen wissen durften. Natürlich war das alles verboten. Als Gott davon Wind bekam, bestrafte er sie, indem er sie aus dem Himmel verstieß und in Dämonen verwandelte. Die Nephilim sind ihre Nachfahren. Und Tommy ist einer von ihnen. Einer der letzten«, erklärte er bedauernd. »Die Sintflut hat ganze Arbeit geleistet.«

»Was hat die Sintflut damit zu tun?«, wollte ich wissen.

»Die Sintflut wurde von Gott unter anderem gesandt, um die Nephilim auszulöschen«, erklärte Luz geduldig. »Aber sie waren schlau. Trotz der Sintflut, und was noch alles gegen sie unternommen wurde, gibt es auch heute noch ein paar wenige ihrer Blutlinie unter den Menschen. Obwohl sie nun bald tatsächlich aussterben. Na, auf jeden Fall schmort Tommy in der Hölle, wie man so schön sagt. Und du möchtest doch immer noch zu ihm.« Mit einem Mal klang seine Stimme ganz weich, fast zärtlich, ja, verlockend. »Du möchtest ihn doch wiedersehen, seine Stimme hören, seinen Atem riechen und seinen Körper spüren.« Luz’ Stimme war ein leises

Säuseln, eine sanfte Melodie, die mich einlullte.

Mir wurde schwummerig. Der Raum begann sich zu drehen. Erst langsam und dann immer schneller. Die Erinnerung an Tommy schoss mir Tränen in die Augen und schnürte mir die Luft ab. Ich krallte meine Hand fest in das Sofakissen.

»Du möchtest wieder in seinen Armen liegen, mit ihm lachen und seine Küsse schmecken.«

In meinem Kopf drehte sich alles. Engel, Sintflut, Hölle? Das durfte alles nicht wahr sein.

»Ja, natürlich will ich zu ihm«, wimmerte ich.

»Siehst du, und ich werde dir dabei helfen. Ich bringe dich zu ihm«, summte Luz.

Plötzlich wurde mir bewusst, wie absurd diese ganze Situation war. Ich saß mit einem Wildfremden in meiner Wohnung, der behauptete, dass mein verstorbener Mann in der Hölle schmorte. Mit einem Ruck stand ich auf. »Sie werden jetzt sofort meine Wohnung verlassen!«

Luz hob eine Augenbraue und schlürfte unbeeindruckt an seinem Zuckerwasser. Seine Augen leuchteten dunkelrot.

Mit einem Mal wurde mir alles klar. Das ganze Gerede von der Hölle und dieser bescheuerte Name. Er glaubte, er sei der Teufel!

»Luz ist nicht zufällig eine Abkürzung für Luzifer?«, fragte ich mit schwacher Stimme.

Er schien total darüber verzückt, dass ich sein Rätsel gelöst hatte. Begeistert klatschte er in die Hände. »So dumm scheinst du ja doch nicht zu sein!«

Ich setzte mich wieder und nahm einen großen Schluck Zuckerwasser. Schließlich fing ich an, idiotisch zu kichern. Mein Kichern wurde zu einem blöden Lachen und ich schlang meine Arme um meinen Körper, um mich festzuhalten.

Sein Grinsen erstarb. »Du glaubst mir nicht«, stellte er enttäuscht fest.

»Entschuldige«, murmelte ich. »Es kommt nicht so oft vor, dass jemand behauptet, er wäre der leibhaftige Teufel, der gerade frisch aus der Hölle kommt, nur um mich dorthin mitzunehmen, weil mein verstorbener Ehemann auf mich wartet.« Ich schüttelte erneut den Kopf. Einer von uns beiden war tatsächlich verrückt, so viel stand fest. Nachdenklich sah Luz mich an und zog einen glänzenden Gegenstand aus der Jackentasche. Ich schnappte nach Luft. Es war das Medaillon, das Tommy getragen hatte, als er starb. Es zeigte ein Bild von mir, wie ich auf einer Blumenwiese saß. Wir waren picknicken. Es war ein wunderschöner Sommertag. Das war Tommys Lieblingsbild und wurde zusammen mit seiner Leiche verbrannt. Ganz so, wie sein sorgfältig verfasstes Testament es wollte. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken.

»Woher hast du das?«, zischte ich und griff nach dem Medaillon.

Luz war schneller und zog es weg. »Tz. Vorsichtig! Es ist heiß!«

Er reichte es mir langsam. Meine Hand zitterte. Ich hielt den Atem an, aber noch bevor ich es berühren konnte, spürte ich schon die sengende Hitze, die von dem Metall ausging. Es war also wahr. Meine Gedanken rasten. Wenn dies kein Albtraum war und Luz kein verrückter Trickkünstler, sondern Luzifer persönlich, dann musste das bedeuten, dass mein armer Tommy tatsächlich in der Hölle gelandet war. Ich schüttelte bekümmert den Kopf. Vielleicht war ich durch all die Trauer verrückt geworden.

»Du glaubst mir immer noch nicht?« Luz erhob sich seufzend und zog sein Jackett, sein Hemd und seine Schuhe aus. Verwundert beobachtete ich, wie er in die Hocke ging und auf den Boden starrte. Einen Moment lang passierte gar nichts, aber dann stieg Qualm von seiner Haut auf. Der Rauch verdichtete sich und schließlich ging sein gesamter Körper in Flammen auf. Ich stieß einen Schrei aus und sprang mit einem Satz hinter meinen Sessel.

Vorsichtig lugte ich aus meinem Versteck hervor. Das Feuer war erloschen und Luzifer hatte sich verändert. Aus dem schönen ebenmäßigen Gesicht war eine hässliche Fratze geworden. Seine Haut schimmerte grau-rötlich und aus seinem Mund blitzten weiße Fangzähne hervor. Auch das Haar war verschwunden, über den spitzen Ohren ragten zwei gebogene Hörner. Am beeindruckendsten waren jedoch die beiden gewaltigen fledermausartigen Flügel, die sich langsam quer durch den Raum ausbreiteten.

»Glaubst du mir jetzt?«, zischte er mit einer krächzenden Stimme und entblößte dabei eine gespaltene Zunge.

Ich kam nicht dazu, etwas zu antworten. Ein Schleier legte sich über meine Augen, ich wurde ohnmächtig.

Als ich erwachte, wedelte der wieder gut und menschlich aussehende Luzifer mir Luft zu.

»Toller Trick, oder?« Er grinste mich breit an. »Ich bin ein Gestaltenwandler, musst du wissen«, erklärte er stolz.

Ich nickte schwach. »Ich hab’s kapiert. Du bist Luzifer, der Teufel.« Vorsichtig wich ich vor ihm zurück.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Charly«, sagte er schnell. »Ich werde dir ganz bestimmt nichts tun, ich werde auf dich aufpassen.«

»Warum bist du hier?«, fragte ich misstrauisch. »Warum kommst du ausgerechnet zu mir?«

»Nun, das ist kompliziert«, begann er und lehnte sich zurück. »Tommy nervt mich. Er redet den ganzen Tag von dir. Diese Prahlerei von deiner Unschuld, von deiner reinen Seele. Er erzählt jedem, aber auch jedem, wie unglaublich unschuldig du bist. Das hat mich neugierig gemacht.« Luz erhob sich aus dem Schaukelstuhl, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wanderte im Zimmer auf und ab.

»Was habe ich nicht alles versucht. Ich habe ihm wunderschöne Frauen geschenkt, ihm die exklusivsten Weine und den besten Kaviar serviert, Vergnügen halt. Aber das interessiert ihn alles nicht!« Luz starrte mich ungläubig an. »Kannst du das verstehen?« Er ließ sich neben mich auf das Sofa fallen. Ich konnte einen leichten Brandgeruch in seinem Atem erkennen.

»Und das schlimmste ist, er schreibt nicht! Er erzählt nicht und er macht auch sonst nichts. Seine Legion verkümmert, alle seine Aufgaben bleiben liegen, während er dir hinterhertrauert. Dabei würde ich ihm jeden anderen Wunsch erfüllen.« Er schnupperte an meinem Haar. »Was hast du nur an dir, dass er dich nicht vergisst?«, murmelte er. »Ich kann wirklich nichts Besonderes an dir erkennen.«

Tommy lebte? Ich wusste nicht, ob ich weinen oder vor Freude jubeln sollte. Immerhin war mein größter Traum wahr geworden: Es gab eine Chance, ihn wiederzusehen. Andererseits war er ausgerechnet in der Hölle gelandet, einem Ort, an dem ich ihn niemals vermutet hätte.

»Kann ich zu ihm?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Kann ich ihn sehen?«

Luzifer lächelte geheimnisvoll. »Das liegt ganz an dir, meine liebe Charly. Aber bevor wir zu diesem Punkt kommen, hätte ich gerne noch etwas Zucker.« Er stand auf und rührte sich ein neues Getränk an.

Meine Hoffnung verstärkte sich. Tommys Bild rückte in meinem Kopf in greifbare Nähe. Was er wohl gerade in diesem Moment tat? Da fiel mir ein, was Luzifer erzählt hatte.

»Was soll Tommy denn schreiben?«, fragte ich.

»Und was hat er für eine Legion? Ich meine, er war schließlich Pazifist.«

Luz setzte sich wieder in den Schaukelstuhl und verdrehte theatralisch die Augen. »Genau das ist ja das Problem. Er ist absolut ungeeignet. Er sollte eine Legion von Dämonen leiten, die auf die verdammten Seelen aufpassen. Aber die Legionäre machen, was sie wollen.«

Der Brandgeruch kribbelte in meiner Nase und ich bemühte mich, nicht zu niesen. »Ich dachte immer, die Hölle wäre etwas Furchtbares. So mit Feuer und Schmerzen und so. Von Vergnügen und Essen höre ich das erste Mal.«

Luz lachte kalt. »Kommt darauf an. Er ist ein Nephilim. Die Nephilim sind den Dämonen sehr ähnlich. Sie gelangen nicht ins Fegefeuer, um dort eventuell geläutert zu werden, sie gehen in die Hölle als meine Untertanen und bleiben dort für den Rest der Ewigkeit. Und in der Hölle kann es tatsächlich ganz nett sein. Nicht für jeden, versteht sich.«

»Was ist der Unterschied zwischen Fegfeuer und Hölle?«, fragte ich neugierig.

»In die Hölle gelangen alle Wesen, die für immer verdammt sind. Diese haben keine Chance zur Bereinigung ihrer Seelen. Die richtig üblen Menschen zum Beispiel. Das Fegefeuer ist ein Zwischenort zwischen Himmel und Hölle. Dorthin kommen alle Seelen, die nicht heilig sind und nicht sofort in den Himmel aufsteigen. Sie können dort ihre Sünden bereuen und eventuell abbüßen. Wenn sie Glück haben steigen sie irgendwann in den Himmel auf.«

»Und eine Sünde büßt man durch Schmerzen?«, fragte ich weiter.

Luz nickte. »Unter anderem.«

»Was passiert mit den Seelen in der Hölle?«

»Sie sind für alle Ewigkeit verdammt. Sie sind die Sklaven der Dämonen«, erklärte Luz sachlich.

Trotz der Hitze draußen wurde mir kalt. Um mich zu wärmen, wickelte ich mich eng in eine Wolldecke ein.

Luzifer betrachtete mich von Kopf bis Fuß. Seine eisigen grünen Augen schienen mich zu durchbohren, als könnte er meine Gedanken lesen. Ich erschauderte. Vielleicht konnte er das ja wirklich? Luz lächelte flüchtig und begann gefährlich hin und her zu schaukeln. Mir wurde schon beim Zusehen schwindelig, also konzentrierte ich mich wieder auf das Glas in meiner Hand.

»Wo ist er denn genau? Wie kann ich zu ihm? Oder kannst du ihm etwas von mir ausrichten?« Wie gerne würde ich ihm ein letztes Mal sagen, wie sehr ich ihn liebte. In meinem Kopf kreisten immer noch Bilder von Menschen, die in einem Meer aus Flammen gefoltert wurden. Ich konnte in meiner Fantasie ihre Schreie hören.

»Er ist in einer Stadt im Ostens stationiert und unterliegt dem Befehl des Großfürsten Orobas. Ihm sind zwanzig meiner Legionen unterstellt«, erklärte Luzifer weiter. »Und ja, es gibt einen Weg in die Hölle. Auch für dich.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum du eigentlich hier bist«, meinte ich nachdenklich.

Luz schnalzte mit der Zunge. »Ich will Tommys Wissen. Ich will erfahren, wie er gelebt hat, wen er geliebt hat.« Dabei warf er mir einen vernichtenden Blick zu.

»Ich will alles über ihn, über euch Menschen erfahren.« Seine Lippen wurden schmal, seine Augen verengten sich, die Augenbrauen krochen zusammen. »Ich studiere euch seit hunderten von Jahren. Wie ihr euch verändert, wie ihr fühlt und denkt. Aber leider kann ich nicht allzu lange auf der Erde bleiben, um euch zu beobachten. Es scheint, als hinterließe ich jedes Mal eine gewisse … Verwirrung.

Und die meisten Menschen brechen bei meinem Anblick in Panik aus. Oder sie erstarren zu Tode.« Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte seine Lippen und er fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar. »Nun, das lässt sich nicht ändern. Daher nutze ich das Wissen der Nephilim. Sie schreiben ihr Leben auf, und ich kann es jederzeit lesen. Hat bisher auch immer gut funktioniert. Und dann kam Tommy.« Bei dem Gedanken seufzte er frustriert.

»Wie schon gesagt, die Nephilim sterben aus. Also hab ich mir gedacht, ich bringe dich einfach zu ihm, dann ist er glücklich und ich bekomme mein Wissen.« Er grinste schelmisch und schaukelte vergnügt vor sich hin.