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Liebeswirren verfolgen nicht nur Birgit und Jan, sondern auch ihren Sohn, David und dessen Sohn, Edgar. In der Annahme, Liebe sei etwas Selbstverständliches, tun sich die Figuren schwer, sie alltagstauglich zu machen. David findet seinen Ausgleich in seinen Zeichnungen als Comiczeichner, Edgar in der Philosophie. Doch wie sehr sie sich auch abschotten, die Sehnsucht nach Liebe holt sie immer wieder ein. Die irrwitzigsten Liebesgeschichten nehmen ihren Lauf, in dem die Protagonisten nicht nur handeln, sondern sich gleichzeitig von außen beobachten ohne sich gänzlich einzulassen. Ein Roman über Sehnsüchte, Zerwürfnisse und Eigenarten in der Liebe. Melancholisch und versöhnlich zugleich.
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Seitenzahl: 242
INHALT
IMPRESSUM 2
ZITAT 3
TEIL I 4
Jans Recht, zu verschwinden 4
Liebe und Ruhm 37
Jans Abschiedsbrief 66
TEIL II 73
Liebesgeflüster I 73
Das, was bleibt … 82
Edgar 100
Mias Abschiedsbrief 143
TEIL III 145
Liebesgeflüster II 145
Alles auf Anfang 154
IMPRESSUM
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© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-084-7
ISBN e-book: 978-3-99130-085-4
Lektorat: Mag. Eva Reisinger
Umschlagfoto: Ines Sulj, Daniel Dash, Vadymvdrobot | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
ZITAT
„Wer über gewisse Dinge den Verstand
nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“
(Lessing, Emilia Galotti, Gräfin Orsina)
TEIL I
Jans Recht, zu verschwinden
3.7.2012 Ich bin gestern hier angekommen und habe fürchterlich geweint. Der Abschied von zuhause – er hat mich mehr berührt, als ich es mir eingestehen wollte.
Ich bekomme David nicht mehr zu Gesicht.
Ich möchte von vorne anfangen, denn ich habe mich in unaufhaltsamen Geschichten verloren.
Dieser Platz scheint mir dafür geeignet zu sein.
Die Leere, die Einöde, viel Arbeit und eine andere Sprache …
ich verstehe sie kaum.
Ich möchte vergessen –
vergessen, was geschehen ist …
alles das, was mit Jan und Eric geschehen ist.
Schuldgefühle erdrücken mich, vor allem David gegenüber, und sein Schweigen macht alles nur noch schlimmer.
David liest in den Tagebüchern seiner Mutter. Es sind mehrere und er blättert darin vorwärts und rückwärts.
4.7.2012 Ich möchte mein Leben verändern. Eine Andere werden …
Dazu fühle ich mich jetzt irgendwie stark genug …
Das Angebot in diesem kleinen Architekturbüro hier ist gut für mich.
Die neue Umgebung, andere Gesichter …
Niemand kennt mich hier und ich kenne niemanden.
Keine alten Geschichten …
Ein Neuanfang –
Ich vermisse David. Er antwortet nicht auf meine SMS.
Birgit hatte nach ihrer ersten Ehe mit Jan zwei Jahre lang mit einem Mann in einer Beziehung gelebt, der sie, mehr oder weniger, nur äußerlich zu begeistern vermochte. Weshalb sie ihm nicht schon früher den Laufpass gegeben hatte, fragte sie sich, nach der Trennung, fast täglich. Diese Trennung wäre aber gefühlsmäßig ein zu großer Aufwand für sie gewesen, da Eric, sie und ihr Sohn David in dieser Konstellation ein einigermaßen lebenswertes Leben ergaben.
Die noch anfallenden Unfallkosten, die zu decken und alle anderen bürokratischen Angelegenheiten, die damit verbunden waren, kosteten Birgit genau so viel Nerven wie Zeit,wie auch der Umzug, die Therapien und der Kampf um das alleinige Sorgerecht von David.
David schlägt ein anderes Tagebuch seiner Mutter auf.
28.8.2009 Ich kann nicht schlafen.
Ich zittere, schwitze und mein Kopf tut furchtbar weh.
Diese Bilder …
David vor mir, wie er weint und schreit. Dann, seine Vorwürfe …
wie einst Jans Vorwürfe …
Als kleines Kind ist David auf dem Boden gesessen und hat zugehört, wie Jan und ich uns ebenfalls Vorwürfe gemacht haben.
Über unsere Ehe, über die Schwangerschaft und die Liebe, die nicht vorhanden war.
Ob Jan mich nicht geliebt hat oder ich ihn, kann ich gar nicht mehr sagen.
Susi –
Sie ist schon von Anfang an meine Konkurrentin gewesen. Das hab’ ich völlig vergessen …
vielleicht hab’ ich mit der Hochzeit auch nur so gedrängt, damit ich Jan haben kann. Ja, mehr noch: ihn besitzen kann …
Ich wollte wenigstens etwas in meinem Leben besitzen und Jan war einfach zu überreden.
Ja, so war’s …
Er wollte doch das Kind haben.
Ich habe gemerkt, dass er mich nicht liebt und dennoch habe ich eingewilligt und gedacht, dass ich im Doppelpack mit einem Kind attraktiver wäre als nur meine Wenigkeit.
Das war aber nicht der Fall.
Ich bin in meiner Mutterrolle immer unattraktiver geworden und Susi ist währenddessen aufgeblüht.
Ja, so war’s …
David war ein Spielball – zwischen Jan und mir.
Ich habe Jan oft damit gedroht, dass ich eines Tages mit David verschwinden würde, wenn er sich weiterhin mit Susi heimlich träfe. Keiner von uns beiden hat jemals bemerkt, dass David das alles mitbekommen hat …
Das ist viel –
Davids Worte ergeben nun Sinn …
mehr als noch vor einer halben Stunde.
Bilder, Worte, Gefühle, sie sind in mir ungeordnet, aber überdeutlich und zum Fassen nah.
Ich möchte das alles wieder gut machen, aber ich weiß nicht, wie.
Ich bin so müde …
unsagbar müde.
David erinnert sich: Der Unfall. Das Spitalbett. Sein Gespräch mit seiner Mutter.
„David, ich …“
„Ich bin müde, lass’ es gut sein.“
„Ich will mich bei dir entschuldigen.“
„Wofür genau?“
„Für alles, was falsch war.“
„Das ist viel.“
David hatte damals den Kopf gesenkt. Dicke Tränen kullerten seine Wangen entlang herunter und Birgit hätte ihn umarmen oder seine Tränen trocknen sollen. Stattdessen saß sie, wie gelähmt, auf dem Stuhl dem Spitalbett gegenüber, und ihre Schuldgefühle hätten sie beinah erdrückt. Zwischen David und ihr hatte sich die unüberwindbare Kluft wieder geöffnet, die vor ihrer gemeinsamen Reise in Vergessenheit geraten und nun sogar wieder grösser geworden war als je zuvor.
„Ich werde es wieder gut machen.“
„Das kannst du doch gar nicht!“, schrie David seine Mutter an und weinte so sehr, dass es den ganzen jugendlichen Körper schüttelte.
„Lass’ es mich wenigstens versuchen“, bat Birgit mit leiser Stimme.
David nimmt das erste Tagebuch seiner Mutter wieder zur Hand und blättert darin weiter.
10.7.2012 Meine Arbeitskollegin Elke macht mir das Leben hier zur Hölle. Dauernd schaut sie mir auf die Finger und bemängelt meinen ungenauen Strich. Ich weiß, dass er ungenau ist, kann ihn aber nicht von heute auf morgen ändern. Ich finde es sowieso sehr anstrengend, dass gewisse Pläne hier noch von Hand gezeichnet werden. Völlig vorsintflutlich ist das …
Ich hab’ immer noch nichts von David gehört. Er hat von seinem Baby ein Bild auf Facebook gepostet. Er hat mich nicht einmal benachrichtigt, als es auf die Welt gekommen ist. Es zerreißt mich innerlich. Ich kann es nicht fassen, dass wir uns so entfremdet haben.
Ich denke an die Zeit zurück, als David, Eric und ich unter einem Dach gewohnt haben. Es war die beste Zeit, die wir hatten. Eric war zwar auch manchmal fies zu ihm. Er hat David immer gestichelt … war wohl eifersüchtig …
Aber die Tage, an denen David und ich zu zweit waren, waren richtig gemütlich. Warum habe ich das damals nicht gemerkt? Warum habe ich Eric und Jan in diese Zweisamkeit reingelassen? Ich wollte doch eigentlich etwas Neues mit David aufbauen …
Dann kam Jan mit seiner Krankheit und alles ging wieder bachabwärts.
David denkt an die Zeit nach dem schweren Autounfall: Seine Mutter wollte ein neues Leben beginnen, mit ihm zusammen und er hatte sich richtig darauf gefreut.
Doch dann kam Eric.
Wenn Eric nicht auf Besuch war, konnte David aufatmen und einen guten Bezug zu seiner Mutter aufbauen, der jedes Mal, wenn Eric wiederauftauchte, zunichte gemacht wurde. Das war jedes Wochenende der Fall. Eric war in allerhöchstem Maße selbstsüchtig. Sechzehn Jahre älter als David, konnte er es keine Sekunde dabei belassen, sich nicht mit ihm zu messen.
David verbrachte deshalb schon früh seine Wochenenden bei Sabine, seiner Freundin. Als sie schwanger wurde, wollte David mit ihr zusammenziehen, doch da tauchte Jan, sein Vater, auf einmal auf der Bildfläche auf und verlangte von Sabine, ihr Kind abzutreiben. Sabine, vom dreisten Verhalten des Vaters sehr schockiert, verließ David daraufhin. Interessant aber war, dass Jan, der so plötzlich aufgetaucht war, nicht genauso plötzlich wieder verschwand, sondern direkt in Birgits Bett landete. David, der zwar in den letzten zwei Jahren wieder einen besseren Draht zu seinem Vater gefunden hatte, konnte das nächtliche Jauchzen und Stöhnen seiner Eltern, die anscheinend einen zweiten Frühling erlebten, nicht mit derselben Freude teilen. Beim Frühstück saßen sie nun des Öfteren wieder als Familie beieinander, aber die Frage, wie es nun mit Susi oder mit Eric weitergehen sollte, blieb erst einmal ungeklärt. David hatte es damals mit zwei Liebhabern seiner Mutter zu tun und einer davon war sein Vater. Des Nachts belauschte er seine Eltern, die sich gegenseitig bei mehreren Gläsern Champagner anerkennende Worte zuflüsterten. David verstand die Welt nicht mehr. Zudem fing er an, seine Mutter wegen ihres unmoralischen Lebensstils zu kritisieren, die aber weniger zuzuhören schien als noch zu den Zeiten, in denen sein Vater nicht so regelmäßig bei ihnen ein und aus gegangen war.
„Mutter, du wolltest doch was ändern“, ermahnte sie David unaufhörlich. Doch sie verstand es nicht.
„Ich habe doch so viel verändert, David, siehst du es denn nicht? Die Wohnung, wir zwei …“
Sie verstand einfach nicht, dass sie nicht mehr zu zweit waren, sondern zu viert, ja manchmal sogar zu fünft, oder zu sechst, wenn man Marie Joe, die Tochter von Susi und seinem Vater, also seine Halbschwester, dazu zählte. Der Streit, der nun sehr häufig zwischen David und seiner Mutter entfachte, endete jedes Mal damit, dass Birgit darauf beharrte, auch mal etwas genießen zu dürfen.
„Was genießt du denn?“, fragte David dann entrüstet.
„Dass ich begehrt werde und aussuchen kann.“
Eines Nachts, als David wieder nicht schlafen konnte, da sich seine Gedanken unaufhörlich um die Liebschaften seiner Mutter drehten, hörte er ein ihm nicht geläufiges Stöhnen, das nicht aus dem Schlafzimmer, sondern aus dem Bad kam.
Als David in der Badezimmertüre erschien, lag sein Vater auf dem Boden und japste nach Luft. Neben ihm eine Schachtel Tabletten.
„Was ist los mit dir?“ David ließ die Szene völlig kalt. Ihm kam das Ganze wie eine Inszenierung vor. Er hob die Schachtel vom Boden auf und las die darauf aufgeführte Inschrift laut vor: „Sequase.“ Dann richtete er seine Augen in Jans Richtung und fragte mit einem Hauch von Angst in der Stimme: „Was ist das, Papi?“
„Das sind Neuroleptika. Ich habe zu viel davon genommen und bin umgefallen.“
„Ernsthaft?“
„Ja. Wieso?“
„Naja, das Ganze kommt mir hier langsam vor wie eine Realityshow.“
„David, kannst du mir bitte etwas Wasser vom Hahn geben?“
„Klar.“
David liest erst nach einer Weile im Tagebuch seiner Mutter weiter.
13.7.2012 Ich bekomme noch immer die Bilder von Jan nicht aus dem Kopf, wie er in seinem Erbrochenem auf dem Fußboden lag. Jetzt ist es schon zwei Jahre her und die Bilder schwirren immer noch in meinem Kopf herum. Der Krankenwagen, der Notarzt, alle kamen zu spät.
Das Schlimmste für mich ist aber, dass ich zu spät gekommen bin.
Ich weiß auch nicht, wieso ich nicht auf mich gehört habe, als ich am Abend zuvor noch das Bedürfnis hatte, zu ihm zu fahren. Ich kann mir diese Fehlentscheidung nicht verzeihen.
Sie quält mich …
Es ist nicht die einzige Fehlentscheidung, die im Zusammenhang mit Jans Tod gefällt wurde. Als ich gelesen habe, dass die Diagnosen der Ärzte, falsch waren, war ich einfach baff.
Das ist aber auch nicht das Einzige, was mich baff macht, sondern:
Wie konnte ich mit ihm zusammenleben und nichts von seiner Krankheit bemerken? Das frage ich mich die ganze Zeit.
Eine große Schuld lastet auf mir … Sie erdrückt mich fast.
„Ich bin psychisch krank. Wahrscheinlich leide ich an einer Schizophrenie“, klärte Jan seinen Sohn auf.
„Was sagst du da?“, fragte David sichtlich empört. „Du leidest an einer Schizophrenie und sagst niemandem was? Liegst hier plötzlich am Boden rum und röchelst, nimmst von irgendwelchen Tabletten zu viel und niemand weiß etwas davon? Sag’ mal …“
„David“, unterbrach ihn Jan. „Ich war dir zwar nie ein guter Vater, das weiß ich, aber hör’ auf, mir eine Moralpredigt zu halten. Es ist so schon schwer genug.“
„Und glaubst du, für mich nicht? Mein Vater sagt mir gerade, er sei schizophren und ich soll dabei ruhig bleiben? Was ist das überhaupt genau, eine Schizophrenie? Muss ich jetzt Angst haben, dass du in der Nacht in mein Zimmer kommst, mich umbringst und du selbst am nächsten Tag vergessen hast, dass du’s warst?“
„Nein, ganz so dramatisch ist es nicht. Nicht so, wie du es dir vorstellst …“
„Du weißt doch gar nicht, wie ich mir irgendetwas vorstelle“, unterbrach ihn David, „du weißt sowieso nichts von mir …“
„Ach, jetzt kommt der schon wieder …“
„Was macht ihr beide da, mitten in der Nacht?“ Birgit war in der Tür erschienen und schaute auf die beiden runter. David hatte sich neben Jan auf den Badezimmerboden gesetzt.
„Wir streiten“, antwortete Jan auf Birgits Frage. David schwieg.
„Mitten in der Nacht? Fällt euch da nichts Besseres ein?
Ich meine so was wie schlafen zum Beispiel …“ Birgit roch, dass irgendetwas an der ganzen Sache faul war und David, dass nun sein Moment gekommen war, um die Bombe platzen zu lassen.
„Papi hat laut geröchelt, da konnte ich nicht einschlafen.“
Jan, der in Davids blaue Augen schaute und einen hämischen Blick darin erkannte, bekam es mit der Angst zu tun.
„So, du hast geröchelt …“ Birgit hielt nun ihre Arme verschränkt. Da wusste Jan, dass Alarmstufe Rot war.
„Ja, ich hab’ geröchelt wie ein Schwein … so …“
Er kroch nach dieser Aussage röchelnd und ein Schwein nachahmend auf dem Badezimmerboden umher und Birgit musste auf einmal lauthals lachen. Jan schlängelte sich daraufhin an ihren Beinen entlang und fing an, diese auch genüsslich abzulecken. Birgit quietschte, lachte und wieherte wie ein Pferd, während Jan aufgestanden war, um sie in den Hals zu beißen. Er hörte nicht auf zu röcheln und Birgit nicht zu wiehern, woraufhin Jan seine Exfrau packte und sie ins Schlafzimmer verschleppte. David blieb weiterhin auf dem Boden sitzen und sagte lethargisch vor sich hin: „So werden im Haus Bollersberger Probleme gelöst.“ Er verdrehte seine Augen und ging langsam in sein Zimmer zurück.
David blättert weiter.
30.7.2012 Endlich Urlaub! Ich bin zwar froh, obwohl es eigenartig ist, Urlaub zu haben, wo ich doch erst vor vier Wochen damit begonnen habe, hier zu arbeiten.
Ich habe nichts vor.
Vielleicht erkunde ich hier ein bisschen die Gegend oder so und unterbreche dadurch meine Gedanken, die immerfort um Dasselbe kreisen: Um Jans Selbstmord und Davids Rückzug.
David atmet schneller. Er denkt an die vielen Male, an denen er sich zurückgezogen hat. „Ich muss hier weg“, hatte er mehrmals zu sich gesagt. „Ich muss hier weg.“
Es schaudert ihn. Sein Blick schwenkt auf seinen Balkon. Auf dem Boden sitzt sein Sohn Edgar und spielt mit einer Wurst.
„Nein, das kannst du mir nicht antun, David, was mache ich ohne dich?“ Birgit stand in Davids Zimmertür und weinte bitterlich.
David hatte seinen Koffer gepackt, eine Reisetasche und drei Kisten.
„Du hast genug Menschen um dich herum, Mami, du brauchst mich nicht.“
Er wollte nichts mehr mit seiner Mutter zu tun haben und schon gar nicht etwas mit ihr besprechen. Sie hatten die Jahre zuvor genug diskutiert. Ohne Ergebnis. David war sich sicher, dass er das Richtige tat.
Er hatte Sabine angerufen und sie gebeten, ihn, trotz der misslichen Lage, in die er sie gebracht hatte, bei sich aufzunehmen. Sabine stimmte zu, nachdem ihre Mutter ein paar Bedingungen aufgestellt hatte, welche die beiden im Falle von Davids Einzug erfüllen mussten. Eine davon war, Davids Mutter von seinem Auszug zu überzeugen. Doch dies gelang nicht.
„Ich gehe, Mutter, du kannst an meiner Entscheidung nichts mehr ändern, verstehst du? Mir reicht’s einfach mit dir.“
David blickte seiner Mutter während dieser Aussage direkt ins Gesicht, woraufhin Birgit noch lauter zu schluchzen anfing. Sie wollte David plötzlich umarmen. Doch dieser wies sie mit einer schroffen Handbewegung ab. Da er den angemessenen Schwung nicht finden konnte, manövrierte er sie direkt zu Boden und Birgit, die sich auf der Kommode abstützen wollte, zog eine kleine grüne Vase mit sich, die in tausend Einzelteile zersprang. Sie verletzte sich an den vielen Scherben am rechten Unterarm.
Heulend und blutend saß sie da und schrie David an: „Du hast mich verletzt, David, siehst du’s denn nicht?“
„Du hast mich auch verletzt und hast es nicht gesehen.“
David blättert wieder im zweiten Tagebuch. Die Tagebücher sind für ihn ein Schlüssel. Vielleicht der Schlüssel zu seinen Ängsten und seiner Einsamkeit.
29.8.2009 Ich möchte alles so gut es geht aufschreiben, um den Hergang des Unfalls nachvollziehen zu können. Denn ich habe teilweise einen Filmriss.
David hat auf den Knöpfen des Armaturenbretts herumgedrückt und dadurch seinen Autosessel in jegliche Richtung verschoben, während ich gefahren bin. Ich habe bei mir gedacht: Hoffentlich erwischt er nicht auch meinen Knopf.
Er hat ihn erwischt.
Es blies mir zeitweise einmal kalt und einmal heiß in die Nase, auf die Stirn und auf meine Füße.
Ich weiß noch, dass ich David daraufhin relativ genervt in die Augen gesehen habe, doch er hat meinen Blick nicht bemerkt, weil ich eine Spiegelsonnenbrille trug.
Geil, gell?, war das Einzige, was er mir geantwortet hat. Naja, habe ich mir im Stillen gedacht. Doch ich habe nichts gesagt.
Ich hatte mir ja fest vorgenommen, diese Woche weder zu schimpfen noch zu nörgeln noch sonst etwas zu tun, was David den Urlaub versauen könnte.
Es ist mir nicht leichtgefallen.
I’m on a Highway to hell, on a Highway to hell …, dröhnte es aus dem Radio.
Ich habe wieder zu David rüber gesehen und sein Geil, gell? hat mich zum Schmunzeln gebracht.
Ich fand Highway to hell nicht gerade das richtige Lied für diese Autobahnfahrt, obwohl sie mir tatsächlich wie eine Hölle erschien. Die Hitze hat dermaßen auf den Boden gebraten, dass es zu Spiegelungen auf der Fahrbahn kam.
David hat plötzlich gesagt, dass er mir ein schöneres Lied vorspielen wolle. Es kam mir so vor, als hätte er wieder mal meine Gedanken gelesen. Das hier ist doch was für dich …, hat er zu mir gesagt und die Lautstärke höher gedreht.
Hast du etwas Zeit für mich, dann singe ich ein Lied für dich von 99 Luftballons. Das so was von so was kommt …, dröhnte es nun aus den Lautsprechern.
Ich musste plötzlich lachen.
Ich habe ihn amüsiert gefragt, wo er diese ganzen Oldies bloß herhabe.
Uuhuu, Geheimnis …, war seine Antwort.
Er war lustig und hatte gute Laune.
Ich schaute ihm, nachdem ich meine Sonnenbrille abgenommen hatte, verträumt in seine schönen blauen Augen, was ihn zu verunsichern schien.
Was?, hat er etwas genervt gefragt.
Ich habe ihm geantwortet: Du hast schöne blaue Augen, David, da werden sich die Mädchen alle reihenweise in dich verlieben.
Pfff, mag schon sein …, war seine Antwort.
Was für eine Gleichgültigkeit er diesbezüglich an den Tag legt, wundert mich.
Hast du denn schon eine, die dir gefällt?, wollte ich wissen.
Ich gehe diesen Dingen aus dem Weg, hat er mir geantwortet und hat mit seiner Hand an der Kante des Beifahrersitzes entlang geknubbelt. Ich habe mir diesen Satz genau gemerkt, denn er kam so ernst und direkt rüber.
Diese Dinge … die Bezeichnung will mir nicht aus dem Kopf.
David ist entweder reif … oder philosophisch … oder zutiefst verletzt von seinen Eltern. Anders ist der Satz nicht zu deuten.
Diese Dinge – das hat er gut zusammengefasst.
David hat nach einer Weile verlautbart, dass er Hunger hat.
Ich weiß, Schatzi, bis zur nächsten Autobahnraststätte ist es nicht mehr weit, gab ich ihm zur Antwort, doch David lag mir danach zwanzig Minuten mit seinem Hunger in den Ohren und die blöde Raststätte kam und kam nicht.
Das sagst du schon seit zwanzig Minuten und es kommt keine …, meckerte David.
Wenn David Hunger hat oder aufs Klo muss, ist er immer noch wie ein Baby und ich werde genauso nervös wie früher.
Wo ist die blöde Raststätte?, fragte er mich andauernd.
In mir ist plötzlich eine so große Hitzeflut aufgetaucht, ich wusste gar nicht, woher die kam, und habe versucht, ruhig zu bleiben.
Deshalb habe ich möglichst ruhig geantwortet: Ich weiß es nicht, David, ich frag’ mich doch dasselbe.
Schlecht organisiert, Mama, sehr schlecht, hat David geantwortet und es fing an, in mir zu kochen.
Aushalten, habe ich innerlich zu mir gesagt. Er meint es nicht so, er ist nicht Jan, er ist David und das Klo kommt gleich. Wie ein Mantra habe ich mir diese Sätze innerlich vorgemurmelt.
David hat plötzlich geschrien: Mamaaa! Klohoooo und Huunger!
Verdammt nochmal, David, hab´ ich plötzlich losgeschrien. Und: Stell’ dich nicht an wie ein kleines Kind, ich kann keine Raststätte herzaubern!
Ich habe die Fassung verloren und geschrien.
David hat auch angefangen zu schreien und mich entsetzt gefragt, wieso ich denn plötzlich schreie.
Ich schreie nicht, hab’ ich weiter geschrien.
Doch!, hat David wieder geschrien.
Ich wieder: Neiiiiin!
Und er: Doooch!
Ja, so war’s …
Und die Raststätte erschien so plötzlich, wir hätten früher auf die rechte Fahrbahn wechseln müssen. Ich habe das Lenkrad nach rechts gerissen und bin über die rechte Spur zur Ausfahrt gerast.
Ein Hupkonzert ist entstanden.
Ich habe noch geglaubt, die Kurve zu kriegen … als ich ein dumpfes Geräusch hörte …
Wie in Zeitlupe und doch so schnell hat sich das Auto gedreht.
David schrie und ich tat nichts, habe alles losgelassen.
Das Auto hat sich überschlagen.
Ich habe Davids Schreie gehört und hatte nur die eine Angst: dass er sich verletzt, dass es ihn auseinanderreißt. Ich selbst war starr, als ob ich mich verstecken und den Atem anhalten könnte, damit mich niemand findet.
Das Auto ist eine Zeit lang auf dem Dach in eine für mich undefinierbare Richtung gerutscht. Das war der erste Moment, in dem ich wieder aktiv etwas denken konnte.
Es soll aufhören, habe ich gebetet.
Da hat das Auto gestoppt.
Dann: Viele Menschen. Davids Schreie.
Ich wurde aus dem Auto gezogen.
David, David, war mein einziger Gedanke.
Asseyez vous, hat dann, glaub’ich, eine Stimme zu mir gesagt.
David!?, hab’ ich darauf erwidert.
Attendez. Il est là. An diesen Satz kann ich mich noch genau erinnern. Er kam von einem alten Mann, der aus der Raststätte zu mir angerannt kam, nachdem das Auto auf dem Dach gelandet war.
Ich wollte wiederum zu David, wurde aber festgehalten und auf den Boden gesetzt.
Vous sentez vos jambes?, hat mich jemand gefragt.
Ich wollte nur wissen, was mit David los ist.
Er schrie, als ihn zwei Männer aus den Autotrümmern zogen.
Da hab’ ich bei mir gedacht: Er lebt. Gott sei Dank. Meine Beine, ja, ich spüre sie.
Ich habe Wasser getrunken und die Ambulanz kam.
Elle est consciente, habe ich eine Stimme den Männern berichten gehört, die aus dem Auto ausgestiegen sind. Drei von ihnen sind zu David gegangen und einer zu mir.
Madame, comment ca va?, hat er, glaub’ ich, gefragt.
Mon fils, comment?, habe ich zurückgefragt. Das war der einzige Satz, den ich auf Französisch irgendwie rausbrachte.
David wurde auf der Bahre ins Notfallauto gebracht.
Er schrie nicht mehr.
Ich habe angefangen zu weinen.
Und ich glaube … dann … bin ich zusammengebrochen.
David schaut auf die Uhr. Die Zeit ist schnell vergangen.
Er schaut nochmal zu Edgar. Er hat die Wurst aufgegessen und spielt mit einer weißen Blume. David fragt sich, ob Edgar unglücklich ist, auch nur ein Spielball zwischen Sabine und ihm und erschrickt bei diesem Gedanken.
Als Birgits Sohn auf die Welt kam, hatte sich schlagartig alles verändert. Sie hatte damals gemerkt, dass Jan nicht anders war als andere Männer und darüber war sie enttäuscht gewesen. Sie war nicht bloß von ihm, sondern auch von ihrem Baby enttäuscht, nachdem sie festgestellt hatte, dass dass die Blase ihres Traums vom Leben geplatzt war. Deshalb hatte sie sich zurückgezogen. Später bekam sie schwermütige Gedanken und fragte sich, ob Jan sie aufgrund ihres innerlichen Rückzugs verlassen hatte. Sie beneidete seine neue Freundin dafür, dass diese so lässig mit allem umgehen konnte. Mit ihrem Kind beispielsweise. Denn Jan war ihr, so dachte Birgit zumindest darüber, ziemlich egal. Susi hatte nur jemanden gebraucht, der genug Geld besaß und sie schwängerte. Dafür war Jan irgendwie der Richtige gewesen: ein frustrierter Ehemann auf der Höhe seiner Karriere. Birgit hatte sich oft gedacht: „Wenn ich ihn in dem Zustand getroffen hätte, wäre zwischen uns vielleicht auch alles einfacher gewesen.“ Jan hatte immer nur gearbeitet, wollte abends nichts mehr von Frau und Kind wissen und fand es deshalb nicht den Aufwand wert, Birgit nach ihrem Tag zu fragen. Dass sie in ihrer Beziehung unzufrieden gewesen war, hatte er gar nicht bemerkt. Dabei war es seine Idee gewesen, die mit dem Kind, und plötzlich war es Birgits Alltagsbeschäftigung. Ihre Mutter hatte einmal zu ihr gesagt: „Was hast du dir denn vorgestellt?“ Und Birgit hatte viel über diese Frage nachgedacht, ganz ernsthaft, obwohl die Frage rhetorisch gemeint war. Sie konnte sich mit der Zeit sogar eine Antwort darauf geben: „Ich habe mir vorgestellt, dass Jan und ich uns immer lieben und noch mehr lieben werden und die Zeit mit dem Baby ganz wunderbar wird. Mehr konnte ich mir gar nicht vorstellen. Wer kann sich denn bitte mit einundzwanzig etwas anderes vorstellen?“
David blättert zurück und liest weiter.
23.6.2009 Ich sollte mich mehr dafür interessieren, was bei David in der Schule läuft, ob er gute Freunde hat oder sich verlieben möchte. Und ich sollte ihn warnen. Vor dem Leben, vor der Liebe und alldem. Kurzum, ich sollte ihn erziehen. Aber ich bin wie gelähmt und denke insgeheim, dass doch Jan dies tun soll. Schließlich ist er nicht alleine und hat sowieso wieder ein Kind. Ob nun ein Kind mehr oder weniger zu erziehen da ist, ist auch schon egal.
Morgens, wenn ich aufstehe, bin ich gerädert von meinen Träumen, denn sie sind die intensive Zweitfassung meiner Tagträume. Ich habe das Gefühl, dass ich im Moment nachts lebe und tagsüber schlafe.
Dieses Gefühl habe nicht nur ich, sondern alle, die mit mir zu tun haben.
David macht sich deshalb das Frühstück selber und ist froh, mir morgens nicht über den Weg zu laufen, glaube ich … Denn er ist jedes Mal, wenn ich aufstehe, bereits auf dem Weg zur Tür, auch wenn ich früher aufstehe, um ihn noch beim Frühstücken zu erwischen. Er muss spüren, wann ich aufstehe und dann möglichst schnell verschwinden.
Naja, und wenn er weg ist, nehme ich mir wieder Zeit für meine Tagträume. Um 9.00 ruft mich meine Mutter an und fragt mich, ob alles in Ordnung ist bei mir. In solchen Momenten nehme ich meine ganze Kraft zusammen, um meine lockerste Stimmfarbe hervorzuholen und sage: „Ja, alles bestens!“
Danach ärgere ich mich, dass ich ihr nicht die Wahrheit sage und dass sie nicht merkt, dass ich nur vorgebe, mit der Situation zurecht zu kommen. Ich frage mich dann aber, was die Wahrheit ist und ob ich wirklich nicht mit der Situation zurechtkomme. Ich meine, mein Sohn hat gegessen, er hat getrunken und sitzt jetzt in der Schule. Wer könnte da sagen, dass ich etwas falsch mache?
David hört auf zu lesen. Er weiß noch, wie froh er gewesen war, wenn er alle zwei Wochen bei seiner Mutter zu Besuch sein konnte. Bei Susi hatte er sich nie zugehörig gefühlt.
Er schaut nochmals in Richtung Balkon. Sabine und Edgar sitzen auf zwei Klappstühlen und spielen mit Steinen und Blättern. Ein idyllisches Bild. David gibt dieses Bild aber einen Stich ins Herz, weil er sich auch hier nicht wirklich zugehörig fühlt.
ZUGEHÖRIGKEIT, schreibt er in seinen Notizblock. Er wird das Thema in seinen neuen Comic von Harry the Hacker aufnehmen. Danach liest er in einem anderen Tagebuch weiter.
31.7.2012 Herr Hallgestrôm hat mich angerufen und zum zweiten Mal eine Einladung ausgesprochen, ihn und seine Frau zu besuchen. Ich tue ihm leid, weil ich niemanden kenne und alleine diesen Urlaub rumkriegen müsse …
Mir ist es peinlich, dass ich ihm leid tue …
Mir ist es peinlich, dass er mich zu sich einlädt. Er hat doch eine Frau. Ich meine, soll ich da mit beiden an einem Tisch sitzen, wie in einer ménage à trois?
Außerdem ist er ein Ekelpaket, untersetzt, halb kahl und kleinwüchsig.
Naja, ich übertreibe wieder mal. Aber mein Beuteschema ist er nun mal nicht. Aber wen kümmert denn mein Beuteschema momentan? Nicht einmal mich selbst. Ich bin hierhergekommen, um zu vergessen. Wenn das nur einfacher wäre.
Ich werde Herrn Hallgestrôm absagen. Auch wenn sich das nicht gehört.
David gibt wieder keine Antwort. Ich habe ihm eine SMS geschrieben. Ich habe Angst, ihn für immer verloren zu haben. Wie schrecklich.
Was ist nur mit uns passiert?
„Ich finde es total cool von dir, dass du mich aufgenommen hast, Biene, nach dem, was passiert ist“, hatte David zu Sabine gesagt, kurz nachdem er bei ihr eingezogen war. Er hatte dabei gelächelt.
Sabine nahm Davids Hand und schwieg. Sie war nie besonders gesprächig, aber David verstand die kleinen Gesten und Zeichen, durch die sie zu ihm sprach. Dieses Verständnis mochte Sabine an David und David mochte an Sabine, dass sie ohne Worte viel zu sagen vermochte. Es gab ihm die Ruhe, die er in seiner Familie immer gesucht, aber nie gefunden hatte.
„Mein Vater ist schizophren, hat er mir erzählt. Glaubst du so was?“
David schaute Sabines Hand an, dann Sabines Arm, dann ihre Schultern und endete mit seinem erkundenden Blick in Sabines Augen, die grün und sehr tiefgründig waren.
„Ich fand ihn immer schon komisch“, antwortete sie nach einer Weile.
„Echt?“
David seufzte und ließ sich auf Sabines Bett fallen.
„Wie komisch denn?“
„Na, sein Blick. Hast du denn noch nie bemerkt, dass er zwei unterschiedliche Blicke in seinen Augen hat?“
„Zwei verschiedene Blicke? Oh mein Gott, jaaaaa, jetzt wo du’s sagst … nein, ich hab’ noch nie gesehen, dass er zwei verschiedene Blicke in seinen Augen hat. Das ist albern, Biene, und gruselig.“
„Hmm, mag’ sein. Aber vielleicht siehst du’s nicht mehr, weil du’s gewöhnt bist.“
„Was?“
„Was:Was?“
David setzte sich auf, streifte mit seiner Nase über Sabines Nase und sagte sanft: „Was:Was was