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Schon als Kind wurde Feira mit den Seelen der Verstorbenen konfrontiert. Gierig lechzten sie nach ihrer Aufmerksamkeit, wohin sie auch ging. Trotzdem fühlte sich Feira stets einsam. Zu gerne hätte sie ihr Geheimnis mit jemandem geteilt, doch niemand konnte sie hören. Denn Feira ist stumm. Als eines Tages der sonderbare Veryn, in Gestalt eines großen Raben, vor ihrem Fenster landet und inständig um ihre Hilfe bittet, weiß sie noch nicht, dass das Vertrauen zu ihm weit mehr als nur ihre Unterstützung kosten wird. "Wenn du durch die Hölle gehst, ist Stehenbleiben einfach keine Option." – Veryn
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Seitenzahl: 351
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Triggerwarnung
Einige Themen, die in diesem Buch behandelt werden, können für manche Lesende sensibel sein. Eine Auflistung der triggernden Themen findest du am Ende des Buches.
WREADERS E-BOOK
Band 241
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: Sowa Sp. z o.o.
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendor
Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann
Illustrationen: Albita N.F (kalisdice), Alexandra Hammer
Lektorat: Sarah Maier, Lektorat Zeilenwunder
Satz: Ryvie Fux
www.wreaders.de
Wenn du durch die Hölle gehst, ist Stehenbleiben keine Option.
Veryn
Playlist
The Sound of Silence - Disturbed
Are you really okay? - Sleep Token
Get up! - Korn
Anti Hero - Taylor Swift
Born this way - Lady Gaga
She drives me crazy - Fine young Cannibals
Gives you Hell - The All-American Rejects
»Eosphoros«, deutsch (»Bringer der Morgendämmerung«) oder »Phosphoros« (deutsch »Lichtbringer«) ist in der griechischen
Mythologie die Personifikation des Teufels.
Asaheim
Prolog
Feuer fauchte Lux knisternd um die Ohren, als sie sich nach einem kurzen Wimpernschlag im Reich ihres Bruders Eosphoros wiederfand.
Die meterhohen Flammen züngelten gierig nach ihrem Fleisch, nur um gleich darauf wieder enttäuscht abzuprallen. Ganz wie Tautropfen, die sich morgens auf den Blättern ihrer Welt ansammelten und im Laufe des Tages unverrichteter Dinge abperlten.
Die anmutige Göttin mit dem weißblonden Haar seufzte. Gerade als Lux die Unterkunft ihres Bruders in der Ferne erkennen konnte, raunte ein raues Grollen durch die unzähligen Abgründe des Flammenreiches.
„Was für eine Ehre!“, polterte eine ihr wohlbekannte Stimme. Die Göttin verdrehte genervt die Augen. Ihr Bruder liebte dramatische Auftritte.
„Ich muss mit dir reden, Eos.“ In ihrer festen, selbstbewussten Stimme schwang ein Funken Sorge mit.
Sie lief den dunklen, lehmartigen Weg entlang, der zu Eosphoros‘ Haus führte. Es war ganz und gar aus Stein erbaut und sah alles in allem relativ schäbig aus. Zumindest für den Unterschlupf eines Gottes.
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich vor seiner Tür ankam, legte sie sanft ihre Hand auf den unversperrten Knauf. Die Kühle des Metalls strömte durch ihre göttlichen Venen.
Für den Bruchteil eines Augenblickes drehte sie sich noch einmal um und blickte gedankenverloren zurück auf den Weg. Wie konnte Eosphoros hier nur leben? All diese Wut, diese Angst ... Lux erschauderte. Verständnislos schüttelte die Göttin ihren Kopf, wobei ihr helles Haar sanft vor- und zurückwippte. Sie musste unbedingt mit ihrem Bruder reden. Kostet es, was es wolle. Sie bewegte ihren Arm nach rechts und mit einem viel zu lauten Knarren der Scharniere öffnete sich das schwere Eisen, das ihr bis gerade eben noch den Weg in das Innere der Hölle versperrt hatte.
Infinia
Kapitel 1
Das schwarze Loch, welches der Verlust von Lana in Feiras Herzen hinterlassen hatte, wog tonnenschwer. Wer war sie schon, ohne ihre starke, lebhafte Schwester?
Ein Niemand. Ein Nichts. Gerade gut genug, um die tägliche Arbeit zu verrichten.
Beim Gedanken an ihr bevorstehendes, einsames Leben schüttelte sie den Kopf.
Feiras braune lockige Haare strichen dabei abwechselnd über ihre Wangen und ein langes, klägliches Seufzen wurde vom Wind hinaus in den Wald getragen.
Es hilft ja doch nichts, dachte sie bedrückt, irgendwie muss es weitergehen. Mit diesen Worten zog sie sich den alten, dicken Schafsfellmantel fester um die Taille und setzte ihren Weg in Richtung Scheune fort.
Die Luft war kalt und der Himmel grau, als Feira Waldfang, wie jeden Morgen, in den kleinen Stall neben dem baufälligen, alten Bauernhaus trottete. Der Schatten des Mondes war noch schwach am Himmel zu erkennen. Ein erneutes Seufzen entglitt ihrer Kehle.
Mila und Rou, die beiden Familienkühe, wollten versorgt werden. Außerdem würde die Kartoffelernte bald wieder ihre müden Glieder strapazieren. Jedes Jahr der gleiche Trott.
Ein Anflug von Missmut vernebelte ihre sowieso schon trüben Gedanken, während der kühle Morgenwind ihr durch die dunklen Haare blies. Die letzten Tage schienen wie im Flug vergangen zu sein.
Und doch kommt es mir wie gestern vor.
Feiras haselnussbraune Augen wurden glasig.
Zum Glück kann mich Mutter so nicht sehen, dachte Feira, während sie mit ihrem Ärmel eine Träne von der Wange wischte. Ihr wurde ganz schwer zumute und sie senkte andächtig ihren Blick. Tatsächlich war es schon wieder eine ganze Mondphase her, seitdem ihre Schwester, Lana Waldfang, spurlos vom Erdboden verschwunden war.
Wie ein Donnergrollen hörte Feira noch immer die beißenden Worte ihrer Mutter in ihrem Kopf. Selbst des Nachts quälten sie die Schuldzuweisungen ihrer Eltern erbarmungslos.
»Ach. Wärst du doch bloß an ihrer Stelle gestorben!«, warf ihre Mutter ihr seit Lanas Verschwinden immer wieder an den Kopf. Die schweren Anschuldigungen krochen wie giftige Schlangen durch Feiras Gedanken.
Dabei war überhaupt nicht klar, dass ihre Schwester nicht mehr unter ihnen weilte. Ihre Seele zumindest hatte Feira bisher nicht ausfindig machen können. Und das war auch ihr einziger winziger Hoffnungsschimmer. Ganz schwach glomm er tief in ihrem Inneren vor sich hin, bereit, vom kleinsten Windhauch ausgelöscht zu werden.
Irgendwann werde ich dich finden, dachte Feira vorsichtig. Wie zerbrechliches Glas hielt sie den Gedanken sanft umklammert.
Sie ließ den Kopf hängen, während sie den Milcheimer in ihrer Hand missmutig vor- und zurückschwang. Er störte den ansonsten ruhigen Morgen mit seinem blechernen, kargen Klappern.
Verdammt, Lana. Du fehlst mir so sehr, dachte Feira.
Früher hatten sie oft zwischen den hohen Tannen Verstecken gespielt. Ein halbherziges Lächeln wanderte auf ihr fahles Gesicht.
Kurz bevor ihre Schwester fortgegangen war, hatten sie sogar einen großen Ausflug in die Stadt Kerin geplant. Er hätte sie weit weg von den Sorgen und Nöten ihrer Eltern bringen sollen. Zumindest einen Tag lang hatten sich die beiden Schwestern frei fühlen wollen.
Frei.
Erneut seufzte Feira schwer. Ohne die stets optimistische Lana wirkte ihr Leben leer und trostlos. Von Freiheit war sie nun weiter entfernt denn je.
Es war Herbst und die goldgelben Blätter der großen Laubbäume leuchteten hell wie die Sonne zwischen den dichten Tannen und Zedern hindurch.
Der Hof, auf dem sie lebte, war umringt von Bäumen aller Art. Besonders die prächtigen Eichen hatten es Feira angetan. Stark und unnachgiebig ragten sie hinauf in den beinahe wolkenlosen Himmel.
Feira liebte es, dass das nächste Dorf Belrád einen halben Tag Fußmarsch von ihnen entfernt lag. Hier, auf ihrer Lichtung, lebte ihre Familie abgeschieden vom Lärm und Stress der belebten Wege.
Bevor Lana sie verlassen hatte, hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie es sich anders gewünscht hätte.
Jetzt allerdings fühlte sich Feira immer häufiger wie ferngesteuert. Als wäre der Sinn ihres Lebens mit dem Verschwinden ihrer Schwester ebenso verpufft.
Nun, wo ihre fehlende Stimme ihr den Weg zu den Menschen ganz und gar versperrte, wünschte sie sich manchmal, dass sie zu Lanas Lebzeiten mehr Freundschaften geschlossen hätte. Und damit meinte sie nicht die freudlosen Seelen, die sie hin und wieder heimsuchten.
Feira wünschte sich menschliche Freunde, die ihr zuhörten, die ihr die Leichtigkeit zurückgaben. So wie Lana es einst getan hatte.
Einen Augenblick lang schien sich ihr Magen krampfhaft zusammenzuziehen. Feira ließ den Eimer erschrocken fallen, der mit einem lauten Klappern auf den kiesigen Boden fiel.
Abrupt blieb sie stehen, ihre Lungen pressten sich zusammen. Sie ächzte und japste gierig nach Luft, doch es fühlte sich an, als drückte ihr jemand die Kehle mit den Händen zusammen.
Atmen.
Der Puls rauschte in ihren Ohren und sie hatte das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.
Warten.
Das war das Einzige, das bei dieser Art von Attacken half. Feira durchlebte sie mehrmals pro Tag, seit ihre Schwester zum letzten Mal den Hof ihrer Eltern verlassen hatte. Routiniert schloss Feira ihre Augen und versuchte sich auf das Rauschen des Windes zu konzentrieren. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie sogar einzelnen Blätter hören, die langsam über den steinernen Boden tanzten.
Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich und sie stieß ein Dankesgebet gen Himmel. Feira sollte sich mittlerweile an diese körperlichen Zustände gewöhnt haben, trotzdem trafen sie sie stets hart und ohne Vorwarnung.
Sie öffnete ihre Augen und strich sich eine lockere Strähne aus dem schweißgebadeten Gesicht. Dann nahm sie den Milcheimer wieder in die Hand und lief, nun erschöpfter als zuvor, hinüber zum Stall.
Feira berührte die hölzerne Tür und spürte ein leichtes, kühles Schaudern, als eine verlorene Seele sanft ihre Schulter streifte. Im Hintergrund konnte sie einen Raben krächzen hören.
Kaum merklich zuckte sie zusammen.
Die Tür hing mehr schlecht als recht in ihren Angeln und der leichte Herbstwind pfiff bereits durch den zugigen Stall.
Zwei kleine Kinder kamen ihr schnatternd und kichernd entgegen, nur Schatten ihrer selbst.
Die beiden nahmen keinerlei Notiz von ihr und jagten einfach durch Feira hindurch. Das leicht bekleidete, durchscheinende Mädchen zeigte mit überraschter Mine nach draußen und der ärmlich aussehende Junge grinste schelmisch, während er zustimmend nickte. So schnell sie kamen, verschwanden die Seelen wieder im immer heller werdenden Licht des Morgengrauens. Schön, dass wenigstens diese beiden ihren Spaß haben, dachte Feira wehmütig. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, zu jeder Tages- und Nachtzeit von herumwandernden Seelen umgeben zu sein, trotzdem stellten sich ihr bei diesen Begegnungen stets die Nackenhaare auf. Die eisige Kälte, die die Geister heraufbeschworen, wenn sie in der Nähe waren, hatte definitiv ihren Anteil daran. Und niemals ließen die Toten Feira allein.
Und doch fühlte sie sich meistens einsam. Unverstanden.
Bei dem Wort stahl sich ein sarkastisches Lächeln auf ihre Lippen. Unverstanden ist gut, bemerkte sie. Die Gabe der Stimme ist mir schließlich verwehrt geblieben.
Ein begrüßendes ›Muh!‹ riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Mila erkannte die leichten, sicheren Schritte der jungen Frau bereits von Weitem.
Feira lächelte der betagten Kuh freundlich zu und streichelte ihr sanft über das warme, raue Fell. Bei ihren Tieren fühlte sich Feira stets willkommen. Sie verstanden sie, ohne dass sie mit ihnen reden musste. Aber das Allerwichtigste dabei war, dass sie ihr das Gefühl gaben, gemocht zu werden. Neben ihren pelzigen Freunden war Lana immer die Einzige, auf die sie hatte zählen können.
Ein dumpfer, stechender Schmerz presste ihre Lungen abermals zusammen, als ihre Gedanken erneut begannen, um ihre Schwester zu kreisen.
Vorsichtig schob Feira den Holzschemel unter Mila, die schwarz-weiß getupfte Kuh, und melkte sie versonnen.
Feiras Gedanken sprangen haltlos umher und das flaue Gefühl von vorhin lauerte dumpf in ihrer Magengegend. Bereit, wieder hervorzuschießen, sobald sie am wenigsten damit rechnete.
Der routinierte Tagesablauf war alles, was sie aktuell funktionieren ließ.
Dass ihre Eltern noch immer keinen Weg gefunden hatten, mit ihr zu kommunizieren, verwunderte sie überhaupt nicht. Viel zu sehr waren die beiden damit beschäftigt, sie anzuschreien oder geflissentlich zu ignorieren. Natürlich störte es Feira, dass ihre Eltern, Loren und Gregor Waldfang, sie schlecht behandelten, aber was sollte sie tun?
Ich kann ihnen ja sowieso nichts recht machen, dachte Feira in. Nicht so wie Lana.
Mila schien mit einem lang gezogenen, entspannten ›Muh!‹ zustimmend auf iher Gedanken zu reagieren. Dann kaute sie versonnen auf einem Stück Stroh herum und ließ sich vom geschickten Melken der jungen Frau nicht weiter stören.
Auch wenn die kalte Ignoranz ihrer Mutter seit Lanas Verschwinden deutlich schlimmer geworden war, Feira kannte es nicht anders. Und sie wollte sich auch überhaupt keine Gedanken über ein sogenanntes ›besseres Leben‹, wie Lana es immer genannt hatte, machen. Feira steckte fest im Alltag aus Arbeit und Trauer.
Irgendwie hatte sie sogar Mitleid mit ihren Eltern. Sie war sich sicher, dass Loren und Gregor ein ebenso unglückliches Dasein führten. Wahrscheinlich war das Gefühl der Kontrolle über Feira der einzige Höhepunkt ihrer Tage. Sie brauchen mich, redete sie sich in Gedanken ein.
Ja. Feira nickte leicht. Sie wurde gebraucht. Diese Gedanken brachten sie einigermaßen durch den Tag.
Mit ihnen reden zu können, würde keinen beträchtlichen Unterschied machen, überlegte sie gleichzeitig. Feira machte einen tiefen Atemzug und war erleichtert, als sie endlich die volle Kraft ihrer Lungen spürte.
Es konnte zwar ein Fluch sein, nicht sprechen zu können, aber es hatte sie auch schon vor so manch langer Diskussion gerettet. Seit sie denken konnte, war ihr die Magie der Wörter versagt geblieben. Ihre Schwester hatte dafür immer für zwei geredet.
Feira lächelte schmal, als sie an das eine Mal dachte, an dem Lana einen Brief von einem heimlichen Verehrer mit nach Hause gebracht hatte. Was hatte ihre Schwester damals für den jungen Mann geschwärmt. Feira musste sie mit ihrem Kissen bewerfen, damit sie endlich aufhörte, Lobeshymnen auf ihren Angebeteten zu singen.
Langsam und zaghaft verblasste die schöne Erinnerung in Feiras Gedanken, und das rhythmische, beruhigende Plätschern der frischen Milch drang wieder in den Vordergrund. Es wirkte wie Balsam auf Feiras geschundener Seele.
Mila ließ erneut ein zufriedenes ›Muh!‹ erklingen, als Feira den Eimer schließlich beiseitestellte und routinemäßig den dampfenden Mist wegschaufelte. Und doch. Trotz der Vorteile, welche die gewohnte Arbeit für sie bereithielt, irgendwas tief in ihrem Inneren machte sie unruhig.
Ganz vorsichtig und ungewohnt drängte sich das Gefühl von Veränderung durch ihre abgearbeiteten Glieder. Sie verspürte urplötzlich den dringenden Impuls zu rennen, gab diesem jedoch nicht nach.
Irgendeine sonderbare Kraft schien sie weg – hinaus in den tiefen Wald – zu ziehen.
Feira schüttelte den Kopf. Sie benahm sich schon wie Lana.
„Feira!“, erklang eine fordernde Stimme aus der Richtung des Hauses. „Vergiss nicht, die Milch später ins Dorf zu bringen, ja?“ Kurz darauf hörte sie auch schon, wie die alte Holztür wieder krachend ins Schloss fiel.
Auf Feiras Antwort zu warten war zwar sinnfrei, trotzdem fühlte sie sich viel zu oft mehr wie eine Bedienstete als ihre Tochter.
Das war auch einer der Gründe, warum sie bisher kein einziges Mal versucht hatte, ihren Eltern von den wandelnden Seelen zu berichten.
Als würde sie das überhaupt interessieren, dachte Feira, während sie die Zähne zusammenbiss.
Meistens waren ihr die ruhelosen Wesen sowieso freundlich bis neutral gegenüber eingestellt. Viele der Seelen beachteten sie nicht einmal. Eine Begegnung aber war Feira noch bis heute tief ins Gedächtnis eingebrannt.
Es war ein heller, freundlicher Tag gewesen, und Lana und sie waren gerade dabei gewesen, das frische Stroh auf den Heuboden zu hieven. Die lebendigen, bunten Bilder schossen Feira scharf wie Messer durch den Kopf. Ihre Schwester war unten im Stall gestanden und hatte die hölzerne Leiter gehalten, während Feira einen Ballen nach dem anderen mühsam aufeinanderstapelte.
Wie aus dem Nichts heraus hatte sie damals ein lang gezogenes, jämmerliches Grunzen aus dem hinteren Teil des großen Lagers gehört. Lana hatte noch scherzhaft gesagt, dass Feira doch aufpassen solle, dass sie keine Geister bei der Kopulation entdecke.
Gleichwohl war das, was Feira hinter den alten, kaum noch riechenden Strohballen erspähte, alles andere als lustig gewesen.
Niemals würde sie die bleiche, grausam entstellte Fratze der Frau vergessen, welche mit verdrehten Augen und aufgerissenem Mund leblos von der Decke des Dachbodens gebaumelt hatte. Ihre Füße hatten reglos und knapp über die hölzernen Dielen geschliffen und das leichte Kratzen der Fußnägel jagte Feira selbst in der Erinnerung noch einen kalten Schauer über den Rücken.
Anders als die meisten Seelen schien dieser Geist in seiner tödlichen Ausgangslage verharrt gewesen zu sein. Bis heute hatte sie nicht verstanden, warum sich die Frau dieser dauerhaften Qualen ausgesetzt hatte.
Oder konnten die Seelen sich das vielleicht überhaupt nicht aussuchen?
Bei dem Gedanken zuckte Feira schauerlich zusammen. Sie stellte die Mistgabel zurück an die Wand und machte sich mit der mauen Ausbeute an Milch auf den Weg zum Haus.
Wenigstens Lana hat mir immer geglaubt, dachte sie sehnsüchtig.
Geduldig hatte das blonde große Mädchen stets ihre Gebärden über umherirrende tote Menschen verfolgt. Oder es zumindest versucht.
Ganze Bücher hatte Feira mittlerweile mit derartigen Begegnungen gefüllt und immer noch keinen Weg gefunden, den ruhelosen Seelen zu helfen. Falls sie das überhaupt wollten.
Sie vermisste ihre Schwester so sehr. Jeder Gedanke an sie war qualvoll. Wie eine schattenhafte Schlinge zog die Trauer kontinuierlich an ihrer Zuversicht. Zeitgleich brachte der Schmerz sie Lana aber auch immer etwas näher. Zumindest auf der Gefühlsebene.
Manchmal hatte Feira Angst, dass sie die Erinnerungen an ihre Schwester vergessen könnte. Dass sie einfach verblassten, wie der Morgennebel im zarten Licht der aufgehenden Sonne.
Als Feira aus der Stalltür hinausschritt, blickte sie sich suchend um. Von den Kinderseelen war nichts mehr zu sehen. Nicht, dass das sonderbar war. Die Geister kamen und gingen, wie es ihnen gerade passte.
Der Hof lag still, beinahe verlassen da. Wenn Feira es nicht besser wüsste, würde sie denken, dass hier schon lange niemand mehr lebte.
Erneut krächzte ein Rabe und sie schreckte auf.
Seltsam, überlegte sie nachdenklich. Normalerweise trauen sich die scheuen Vögel nicht so nah an den Hof heran.
Feiras Vater hatte rings um den Stall und das Haus Fallen aufgestellt, die die ›dreisten Biester‹, wie er sie nannte, qualvoll verenden ließen. Hunderte Male hatte sie versucht, es Gregor klarzumachen, aber dieser hatte sich nicht vom Gegenteil überzeugen lassen.
Nicht, dass Feira bei ihrem Vater wirklich ein offenes Ohr erwartet hätte.
Traurig holte sie einmal tief Luft. Sie verscheuchte den dunklen Gedanken und lief den kiesbedeckten erdigen Weg entlang.
Ziellos ließ Feira ihren Blick umherirren. Die kleinen Steine knirschten unter ihren dünnen ledernen Schuhen, doch dank der täglichen Routine spürte sie sie schon gar nicht mehr.
Das baufällige Bauernhaus, in welchem sie wohnte, war klein und sah nicht viel besser aus als der Stall. Alter Lehm bedeckte den von Holzwürmern zerfressenen Türrahmen. Feira hatte es mittlerweile aufgegeben, sich darüber zu wundern, wie die hölzerne Tür überhaupt noch in den Angeln hängen konnte.
Nicht weit von dem Grundstück ihrer Eltern entfernt bahnte sich ein ruhiger Fluss den Weg durch den dichten Wald. Feira liebte das klare, kalte Wasser, welches sie täglich frisch für ihre Familie und die Tiere holte – holen musste, korrigierte sie ihre eigenen Gedanken. Der Weg dorthin kam ihr jedes Mal wie eine Reinigung vor, weswegen sie es auch nicht wagen würde, sich darüber zu beklagen.
Ich darf nicht vergessen noch einen Eimer Wasser zu holen, bevor ich die Milch ins Dorf bringe, überlegte Feira.
Am Haus angekommen betrat sie die kleine, karge Wohnstube, in der ihre Mutter schon wieder dabei war, das Essen vorzubereiten. Die morschen Dielen knarrten unter jedem von Feiras Schritten und das, obwohl sie nicht mit wirklich viel Gewicht gesegnet war. Sie ließ ihre Augen durch die spärliche Wohnstube gleiten. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und der große Kessel, der über dem Feuer hing, dampfte vielversprechend.
Als Loren sie bemerkte, zog ihre Mutter ihre Augenbrauen überrascht nach oben.
»Bist du noch nicht im Dorf?«, fragte sie spitzzüngig.
Feira stimmte gehorsam zu, nickte und zeigte mit der freien Hand auf den zur Hälfte gefüllten Eimer.
Loren wandte sich wortlos wieder ihrem hölzernen Schneidebrett zu und schüttelte dabei den Kopf.
Verständnislos zuckte Feira mit den Schultern, versuchte Lorens Ignoranz an sich abperlen zu lassen und lief auf das Regal mit den leeren Flaschen zu.
In letzter Zeit dachte sie häufiger daran, was wäre, wenn sie ohne ihre Eltern im Dorf Belrád leben würde. Oder gar in Kerin selbst. Die Idee, sich etwas Eigenes aufzubauen, hatte Feira immer eine Heidenangst eingejagt. Und das hatte sich auch jetzt nicht geändert.
Lana hingegen war nur allzu gerne in ihren großen zukünftigen Plänen aufgegangen.
Hätte ich doch bloß ein bisschen mehr der Charakterstärke meiner Schwester abbekommen. Sie ließ die Schultern hängen. Wie soll ich für mich selbst sorgen, wenn ich nicht einmal anständig nach Arbeit fragen kann? Seit Lanas Verschwinden fühlte sie sich noch ungeschickter als zuvor. Es war furchtbar.
Mit einem leisen Knarren öffnete sie die beiden Schranktüren und holte zwei gläserne Flaschen heraus.
Einen Moment lang schloss sie die Augen. Sie fühlte sich hilflos wie ein kleines Kind.
Na, das ist ja nichts Neues, Feira, dachte sie sarkastisch. Enttäuscht von sich selbst öffnete sie wieder die Augen und wischte mit dem Schließen des Schrankes schnell die drängenden Gedanken beiseite.
Sie stellte den Eimer auf die Erhöhung, füllte die Milch in zwei kleinere Glasflaschen und packte diese geschickt in einen ebenholzfarbenen Korb.
Beinahe mechanisch taten ihre Hände das alles, ohne dass Feira wirklich darüber nachdachte. Mit der kostbaren weißen Flüssigkeit im Gepäck wandte sie sich wieder der Haustüre zu. Eine Verabschiedung hielt Feira für absolut unnötig.
Loren interessiert sich sowieso nur dafür, dass die Arbeit verrichtet wurde. Mit weiterhin trüben Gedanken verließ sie ihr Elternhaus und machte sich auf den Weg nach Belrád. Ihre Mutter wusste, dass sie ins Dorf ging, und sie hatte keinerlei Anstalten gemacht, besorgt zu wirken. Und das, obwohl Lana damals genau bei jener Tätigkeit spurlos verschwunden ist, huschte es Feira flüchtig durch den Kopf. Ihr selbst war das egal.
Bevor sie den Hof verließ, holte sie zwei Eimer frisches Wasser aus dem Fluss, welches zumindest die Kühe dankbar quittierten. Dann lief sie los in Richtung Belrád und mit jedem Schritt, den sie aus der Waldlichtung tat, fühlte sie sich ihrer Schwester wieder etwas näher.
Der halbe Tag Fußmarsch nach Belrád tat Feira ungeheuer gut. Sie genoss die Ruhe und Einsamkeit, fernab von ihren stets fordernden Eltern. Vorbei an satten dunkelgrünen Tannen und bunten Laubbäumen führte ein schmaler Pfad hinaus aus dem Wald, in dem sie mit ihrer Familie, seit sie denken konnte, lebte.
Feira liebte den würzig-erdigen Geruch nach Tannennadeln, welchen die laue Herbstluft in ihre Nase trug. Für einen kurzen Augenblick schloss sie die Augen, hob den Kopf und genoss die zarten Sonnenstrahlen, die ihr sanft die Lider wärmten.
Als sie sie wieder öffnete, blickte sie direkt in den hellen, wolkenlosen Himmel. Ein tiefschwarzer Rabe kreiste über ihrem Kopf, als wollte er sie markieren. Feira runzelte die Stirn.
Was zum … Sie ließ ihren Blick umherwandern, doch es waren keine anderen Vögel am Himmel zu entdecken. Suchend drehte sie sich um die eigene Achse. Sie schaute durch die vielen Bäume hindurch, die sich rechts und links am Wegesrand auftürmten, doch niemand war zu sehen. Dann hob sie erneut den Kopf.
Der Rabe war verschwunden.
Hm, seltsam … Ein letzter prüfender Blick nach hinten und dann führte sie achselzuckend ihren Weg fort.
Kurz darauf erhaschte auch schon wieder ein leises Raunen, das sich durch die raschelnden Blätter am Wegesrand zog, ihre Aufmerksamkeit.
Wie viele einsame Seelen hier wohl hausen?, fragte sie sich unmittelbar. Unsicher kaute Feira auf ihrer Wangeninnenseite. Zu gerne würde sie den armen Kreaturen helfen. Mehr als einmal hatte sie es schon versucht, doch die wandelnden Geister waren entweder ignorant oder ganz und gar nicht kooperativ gewesen.
Ein kühler Schauer lief ihr über den Rücken, als sie den dichten Wald endgültig hinter sich ließ und endlich das kleine Dorf vor sich liegen sah. Schon von Weitem konnte sie die aufgeregten Stimmen der Leute vernehmen.
Infinia
Kapitel 2
Einige der Dorfbewohner liefen aufgebracht an ihr vorbei, als Feira die ersten Häuser von Belrád passierte. Die ärmlich wirkenden Lehmhütten der Bewohner waren heruntergekommen, doch man konnte sehen, dass sie schon einmal durchaus stattlichere Zeiten durchlebt hatten. Teilweise waren die Wände der Behausungen mit goldenen und bunten Bildern bemalt, welche allerdings aufgrund der jahrelangen Sonneneinstrahlung bereits völlig ausgeblichen und nicht wieder erneuert worden waren. Auch die zahlreichen Verzierungen der Fensterrahmen ließen auf eine einst deutlich wohlhabendere Arbeiterschicht schließen.
Mittlerweile aber roch es in den steinigen Straßen nach Unrat und die leeren Minen der Dorfbewohner verrieten, dass sie ihren Leben nicht mehr viel Positives abgewinnen konnten. Eine stille Trostlosigkeit hing über Belrád und es war, als würde das gesamte Dorf in einer tiefen Trauer liegen.
Der Weg zum Markt führte Feira über die deutlich belebtere Dorfmitte. Männer, Frauen und Kinder herrschten eilig an ihr vorüber und streiften ihre Schulter ungeschickt im Vorbeigehen. Feira musste aufpassen, dass sie den geflochtenen Korb mit den Milchflaschen nicht fallen ließ. Verständnislos schüttelte sie den Kopf.
Was ist nur los mit denen?, fragte Feira sich nachdenklich. Es war noch nicht einmal Bußtag. Warum hetzen all die Menschen zu dieser Tageszeit so zielstrebig in die Kirche? Feira richtete ihren Blick zum Turm hinauf.
Die Sonnenuhr zeigte noch nicht einmal Nachmittag an. Verwundert hob Feira eine Augenbraue. Ich habe diese Religiosität sowieso noch nie verstanden.
Wie aufgescheuchte Hühner liefen die Bewohner auf dem großen Platz umher, in dessen Mitte das Gotteshaus mit dem kunstvoll verzierten Kirchturm thronte. Das prunkvolle Gotteshaus war der ganze Stolz der, ansonsten sehr dürftig lebenden, Menschen hier.
Seit Feira Belrád das erste Mal betreten hatte, war kein Tag vergangen, an dem die Dorfbewohner nicht versucht hatten, die junge Frau für ihren Glauben zu gewinnen. Sie waren das beste Beispiel für jemanden, den man als gottesfürchtig bezeichnen würde.
Der Allmächtige, wie sie ihn hierzulande nannten, war Feiras Meinung nach, ein rücksichtsloser, ja geradezu wankelmütiger Gott, der sich niemals zeigte, aber trotzdem immer Demut und Frömmigkeit von seinen Gläubigen einforderte. Es fiel ihr schwer, zu verstehen, warum man an eine solch höhere Macht glauben sollte. Vor allem aber hatte Feira nicht das Gefühl, dass dieser Allmächtige, sollte es ihn wirklich geben, bisher viel Positives zu ihrem Leben beigesteuert hatte. Ganz im Gegenteil.
Das Läuten der großen, hohl klingenden Glocke riss sie aus ihren Gedanken. Der raue, helle Ton war so laut, dass Feira sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Sie biss die Zähne zusammen, bis sie ein leichtes Knirschen in ihrem Unterkiefer spüren konnte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann lag der sonst so belebte Marktplatz wie leer gefegt vor ihr dar.
Feira hoffte inständig, dass die Schenke, an die sie normalerweise ihre Milch verkauften, trotz der Andacht offen haben würde. Mit jedem Schritt, mit dem sie sich von der Kirche entfernte, verspürte sie, wie sich Erleichterung in ihrer Brust ausbreitete.
Der Lärm der Glocken wurde leiser und Feira merkte, wie sich ihr Kiefer ebenfalls nach und nach entspannte, als sie um die nächste Ecke bog.
Über ihrem Kopf ragte ein metallener rostiger Rabe aus der lehmfarbenen Hauswand heraus und wehte geräuschvoll im leichten Herbstwind hin und her.
Die Gaststätte, die den passenden Namen ›Zum rostigen Vogel‹ trug, sah weder von außen noch von innen wirklich einladend aus. Trotzdem freute sich Feira bereits auf die obligatorische Suppe, die sie jedes Mal bekamen, wenn sie ihre Milch vorbeibrachten.
Hoffnungsvoll legte sie ihre Hand auf den kalten eisernen Knauf. Die alte Holztür der Schenke ließ sich mit einem leisen Knarren problemlos öffnen und Feira atmete erleichtert auf.
Die alte, vollbusige Wirtin Geesh Kellinger stand, wie immer, hinter dem Tresen und trocknete einige der zahllosen Biergläser mit einem Geschirrtuch.
Sie war eine gute Seele, auch wenn man ihr das nicht sofort ansah. Mit ihren unsauberen, verknoteten grauen Haaren, die sie ständig zu einem schlampigen Dutt gebunden trug, und dem stets grimmigen Blick konnte die Frau einen schnell verschrecken. Die raue, dunkle Stimme tat ihr Übriges. Doch wenn man Geesh erst einmal richtig kannte, wurde einem nach kurzer Zeit klar, dass sie noch nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun könnte.
Die Schankstubbe war, bis auf die Wirtin, verwaist. Es roch nach abgestandenem Bier und altem Leder, als Feira von der Tür zum hölzernen Tresen lief. Und sie war sich sicher, dass sie auch den modrigen Geruch von altem Urin wahrnehmen konnte. Es erforderte all ihre Selbstbeherrschung, nicht zu würgen.
»Feira! Mädchen!« Geesh blickte von ihrem Glas auf und winkte Feira unwirsch mit dem Geschirrtuch zu. »Darfst du mal wieder Botenmagd spielen, mh?«
Ein gezwungenes Lächeln stahl sich auf Feiras Gesicht. Sie nickte zaghaft und stellte den Korb auf die Ablage. Geesh jedoch wirbelte herum, lief in die Küche herüber und kam mit einer großen Schüssel Gemüsesuppe zurück.
»Du wirst mit jeder Woche erwachsener, weißt du?«, sagte die Wirtin liebevoll. »Ich weiß noch, als du ein ganz kleines Mädchen warst …« Sie stellte das noch dampfende Gericht auf den Tresen und nahm die kleinen Flaschen entgegen.
Feiras Mundwinkel begannen bereits zu krampfen, doch sie wollte das stumpfe Grinsen nicht aufgeben. Geesh war immer so freundlich. Feira wollte nicht, dass sie sich Sorgen um sie machte. Dankbar nahm sie den Suppenlöffel entgegen und stocherte noch etwas unsicher im frischen Gemüse herum.
»Ihr zwei wart immer solche Wirbelwinde!«, fuhr Geesh unbehelligt fort, während sie die Milch verstaute und ihr dafür ein paar Kupfermünzen neben die Schüssel legte. Besorgt schaute sie Feira an. »Es tut mir so leid um deine Schwester.« Die Wirtin legte ihr ihre große, warme Hand auf die Schulter. Es war unangenehm, doch Feira traute sich nicht zurückzuzucken. »Ich verspreche dir, Bertram und ich haben alles in unserer Macht Stehende getan. Aber nachdem dieser Mann hier in der Schenke aufgetaucht war, und Lana einfach mit ihm mitgegangen ist – « Sie warf ihre Hände hilflos in die Höhe. »Hätte ich gewusst, dass sie – « Die Wirtin stockte. »Dass wir sie kurz danach bereits zu Grabe tragen müssen …« Geesh hielt für einen Augenblick lang inne.
Feira blickte auf und schaute die um die richtigen Worte ringende Wirtin mit großen, glasigen Augen an. Ihr Kopf begann schmerzhaft zu drücken.
Wer war dieser Mann bloß, von dem alle bei der Beerdigung geredet hatten? Handelte es sich hier um den Verehrer, von dem Lana immer gesprochen hatte? Sie konnte noch immer nicht glauben, dass die Dorfbewohner, einschließlich ihrer Eltern, sich einfach mit Lanas augenscheinlichem Tod abgefunden hatten.
Am Tag ihrer Beerdigung gab es weder eine Leiche noch einen anderen Hinweis auf Lanas endgültiges Ableben.
Feira seufzte leise. Da war noch so vieles, das sie Geesh gerne gefragt hätte. Doch Feiras Lippen blieben wie immer versiegelt.
»Tut mir leid, Liebes«, stammelte Geesh unbeholfen. Es war seltsam, eine so große und starke Frau hilflos zu sehen. Feira verspürte das paradoxe Gefühl, Geesh trösten zu wollen. Dabei war sie selbst es doch, die ihre Tränen kaum mehr zurückhalten konnte. Sie schluckte den aufkommenden Anflug von Trauer herunter.
Feira nickte freundlich und schob die finsteren Gedanken beiseite. Sie deutete mit einem Finger auf die vor ihr liegende Schale, schloss für einen kurzen Moment die Augen und versuchte, ein dankbares Gesicht aufzusetzen.
»Ist doch selbstverständlich, meine Gute«, entgegnete Geesh zufrieden, dann wandte sie sich erneut ihrem Geschirrtuch zu. Die Gläser quietschen, als sie wieder damit begann, sie zu polieren.
Um einem weiteren unangenehmen Gespräch auszuweichen, schlang Feira den Rest der Suppe gierig herunter und leckte sich über die Lippen.
Beim erneuten Läuten der Kirchturmglocke hätte sie beinahe die hölzerne Schüssel fallen lassen. Selbst hier im Haus war es noch laut und deutlich zu hören. Die Andacht war zu Ende. Schon bald würde sich die Schenke wieder mit stinkenden alten Männern, armen Frauen und Huren füllen.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, öffnete sich auch schon die alte Tür der Schenke mit einem lauten Knarren. Schwere Stiefel polterten über die hölzernen Dielen und wenige Augenblicke später stand der Dorfwart Bertram Grimm vor ihr. Ein beißender Geruch von Schweiß und alten Kleidung kroch Feira in die Nase.
»Geesh!«, rief eine raue Stimme der Wirtin aufgeregt entgegen. »Es sind schon wieder Dorfbewohner verschwunden. Oh.« Bertram stockte, als er Feira erblickte.
Sie nahm den Korb vom Tresen, schenkte Geesh noch ein freundliches Lächeln und wollte sich dann an dem, deutlich in die Jahre gekommenen, Mann vorbeidrücken.
»Sieh einer an! Feira Waldfang!«, rief der Alte ihr zu, obwohl sie mittlerweile direkt neben ihm stand. »Was bist du nur für eine erwachsene junge Frau geworden«, murmelte er abschätzend, während sein gieriger Blick über ihren Körper schweifte. Sein langer verknoteter Bart ging ihm bis zum Bauchnabel und die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf waren fettig und stanken fürchterlich.
Feira rümpfte angeekelt die Nase, ohne dass sie es verhindern konnte.
Wie kommt Geesh nur mit diesem Widerling klar?, fragte sie sich selbst. Es war kein Geheimnis, dass die Wirtin und der Dorfwart etwas miteinander hatten, auch wenn Geesh Kellinger das niemals öffentlich zugeben würde. Einzig und allein Feira hatte sie ihre Beziehung zu Bertram in einer einsamen Stunde anvertraut.
Feira wusste so einige Geheimnisse von den Dorfbewohnern aus Belrád, was sie selbst auf ihre Stummheit schob. Zu gerne vertrauten die Leute ihr hier etwas an. Oft genug war es Feira unangenehm, doch hier und da bekam sie für das erleichterte Gemüt der Menschen einen kleinen Obolus, welchen sie fein säuberlich unter ihrem Bett zu Hause versteckte.
Für irgendwann einmal, wenn ich –
Das Räuspern des Dorfwartes holte sie zurück in die Realität.
Feira nickte Bertram knapp zu und wollte gerade zum Weitergehen ansetzen, da stellte sich der Alte ihr plötzlich breitbeinig in den Weg. Sie riss verwundert die Augen auf und deutete eindringlich auf ihren leeren Korb, welchen sie noch immer unter dem Arm trug.
»Berti, jetzt lass die Kleine doch«, schimpfte Geesh ihn von hinter der Theke.
Ohne auch nur einen Funken Angst zu zeigen, stemmte Feira die freie Hand in die Hüfte und starrte den Dorfwart erwartungsvoll an. Sie fürchtete sich nicht vor dem alten Sack. Da war sie viel Schlimmeres gewohnt.
Ob es nun daran lag, dass sie Geesh im Hintergrund wusste, oder ob es wirklich an den regelmäßigen schauerhaften Begegnungen der geisterhaften Seelen lag, das war ihr in diesem Moment egal.
»Schon gut, ich mach doch nur Spaß«, entgegnete Bertram beschwichtigend, während sein breites Grinsen einige verfaulte Zähne zum Vorschein brachte.
Als sich Feira endlich an ihm vorbeidrückte, begleitete sie der unangenehme Gestank der Verwesung noch bis nach draußen. Sie stürmte aus der Tür und atmete begierig die abgestandene Dorfluft ein.
Immer noch besser als der Mief da drinnen, dachte sie erleichtert. Feira hatte das Gefühl, zu Hause erst einmal in den Fluss steigen zu müssen. Und zwar mit all den Kleidung, die sie gerade am Leibe trug. Es schüttelte sie kurzzeitig.
Wie kann Geesh nur diesen widerlichen Typen küssen? Geschweige denn – Angeekelt verzog Feira das Gesicht. Der Satz des Widerlings ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es sind schon wieder Dorfbewohner verschwunden. Ich wusste es, dachte sie bei sich. Lana ist nicht einfach so irgendeinem Mann zum Opfer gefallen. Der kleine Hoffnugnsschimmer in ihrem Inneren begann zu wachsen. Hier steckt mehr dahinter, ganz bestimmt.
Sie klopfte ihren Strickpullover mit der freien Hand aus, in der sinnlosen Erwartung, etwas von dem Gestank loszuwerden.
Verschwunden heißt nicht automatisch tot, wiederholte Feira in Gedanken. Irgendwas stimmte da nicht. Wieso hatten sie Lana nur so schnell begraben? Es gibt vielleicht noch Hoffnung für meine Schwester. Ein Funke Optimismus breitete sich in Feiras Brust aus. Er glomm, zart, wie es die übrig gebliebenen, schwarzen Kohlen im Feuer taten, wenn der Morgen dämmerte.
Dann machte sich Feira, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf den Weg zurück zum Hof ihrer Eltern.
Infinia
Kapitel 3
Als Feira erneut über den großen Marktplatz lief, fand sie bloß gähnende Leere vor. Sie hätte eigentlich erwartet, dass besonders nach der Andacht dort einiges los sein würde. Meist waren die Leute danach noch eine halbe Ewigkeit damit beschäftigt, sich über die Predigt des Dorfältesten Phos auszutauschen.
Sie hielt ihren geflochtenen Korb fest umklammert, als sie die Kirche mit den zahllosen Verzierungen passierte. Ein unangenehm kalter Luftzug blies Feira um den Nacken und ließ sie frösteln. Der Geruch von abgestandenem, altem Holz stieg ihr in die Nase. Sie blickte zur großen, schweren Eisentüre herüber, welche tatsächlich einen Spaltbreit offen stand. Irgendetwas an der großen Kirche wollte sie einfach nicht in Ruhe lassen.
Ob ich mal nachsehen sollte? Irritiert schaute Feira sich um, doch immer noch war niemand zu erblicken.
Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht, dachte sie misstrauisch. Ein beklemmendes Gefühl dehnte sich in ihrer Magengegend aus, als sie neugierig und gleichzeitig angespannt näher auf das große Gebäude zulief. Da war wieder diese seltsame fordernde Kraft, die sie dieses Mal in das Innere des prunkvollen Hauses zu ziehen schien.
Die alten steinernen Stufen staubten leicht unter Feiras abgewetzten Schuhen.
Als sie die Hand an die kalten Eisengriffe legte, schaute sie sich nochmals verstohlen um. Es war so still, dass sie den leichten Wind in den morschen Fensterläden der gegenüberliegenden Häuser hören konnte.
Die Kirche ist nie einfach so offen, überlegte Feira stumm. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Wertvolles gestohlen werden könnte, war viel zu groß. Besonders in diesen Zeiten.
Eine schwere Hand legte sich urplötzlich auf ihre Schulter und ließ sie ungewollt zusammenzucken.
Feira wirbelte erschrocken herum. Augenblicklich schoss ihr das Blut stechend durchs Herz und sie schnappte aufgeregt nach Luft. Feira musste hilflos mitansehen, wie ihr der Korb aus den Händen glitt und die Flaschen mit einem lauten Klirren auf den Stufen des heiligen Hauses zerbarsten.
Mist!, schrie sie in Gedanken.
»Na, na«, brummte eine tiefe, düstere Stimme ihr entgegen. Erst jetzt bemerkte Feira, dass Phos direkt vor ihr stand und sie mit hochgezogenen Augenbrauen angestrengt musterte. »Was macht denn eine wie du hier, ganz allein, am Eingang des heiligen Hauses?« In der Stimme des Dorfältesten schwang eine große Portion Neugierde mit. Seltsamerweise konnte Feira auch etwas Sorge in seinen Worten erkennen. Vielleicht hätte sie seinem Satz mehr Beachtung geschenkt, wenn sie nicht bereits die mahnenden Worte ihrer Mutter im Kopf gehabt hätte.
Sie blickte Phos entschuldigend an und beugte sich dann zu ihrem Bastkorb hinunter.
Die Glasflaschen kann ich wohl vergessen.So ein Mist aber auch! Vorsichtig sammelte sie die großen Scherben zusammen. Sie konnte jetzt schon Lorens wüste Beschimpfungen hören und die unnachgiebigen Schläge des Besenstiels auf ihrem Rücken spüren. Unvermittelt zuckte sie zusammen.
Der Dorfälteste trat noch ein Stück näher an sie heran und bückte sich unerwartet zu Feira herunter.
Einen Moment lang hielt sie mit ihrer Tätigkeit inne. Sie konnte bereits seinen warmen Atem an ihrem Ohr spüren, als er leise zu flüstern begann.
»Du bist bald so weit, Prehenderat«, säuselte Phos, während er das letzte Wort ungewöhnlich lange betonte. Feira lief es kalt den Rücken hinunter, als der Älteste sich wieder ein Stück weit von ihr entfernte. Ungewollt atmete sie erleichtert auf.
Der alte Mann spinnt doch! Feira zog rätselnd ihre Augenbrauen zusammen. Zu was soll ich bitte bereit sein?, fragte sie sich verunsichert. Sie erhob sich und strich dabei ihre graue Kleidung glatt.
Er fixierte ihren Blick mit seinen rostbraunen funkelnden Augen. Ohne Vorwarnung traf sie ein Anflug von Furcht.
Bloß keine Panik, flehte Feira insgeheim, während sie bereits ihren Puls in den Ohren pochen spürte.
Phos jedoch ließ nicht von ihr ab. Für sein Alter hatte er sich erstaunlich gut gehalten. Die kinnlangen grauen Haare trug Phos sauber zu einem knappen Pferdeschwanz zusammengebunden, und das markante, hagere Gesicht musste in jüngeren Jahren durchaus attraktiv gewesen sein. Der Dorfälteste schob seine Hände in die grauen Taschen seines Filzmantels und legte prüfend den Kopf schief.
Um sich irgendwie aus der unangenehmen Situation zu lösen, machte Feira einen völlig fehlplatzierten Knicks und huschte dann, Hals über Kopf, mit ihrem Korb die Kirchenstufen hinunter.
Phos schien sie nicht daran hindern zu wollen, doch sie spürte noch immer seinen eindringlichen Blick in ihrem Nacken.
Prehenderat. Das Wort ging Feira nicht mehr aus dem Kopf, als sie Belrád endlich verließ und den ihr wohlbekannten Wald betrat. Sie spürte, wie sich ihre Schultern beim beruhigenden Geruch der Tannen merklich entspannten. Die Luft hier war angenehm rein und Feiras Lungen saugten die frische, stärkende Brise förmlich auf wie ein Schwamm.
Prehenderat, wiederholte sie in Gedanken erneut. So ein komisches Wort habe ich noch nie zuvor gehört. Sie atmete angestrengt aus. Das Einzige, für das ich bald bereit bin, ist mein Bett, fügte sie spöttisch hinzu, während sie ihre anfängliche Furcht belächelte. Feira hob ihren Blick und bemerkte, dass bereits die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren.
Wahrscheinlich geht es langsam mit dem alten Mann zu Ende, überlegte die junge Frau andächtig. Schade wäre es ja für das Dorf. Ich habe das Gefühl, dass er ihnen zumindest etwas Struktur in ihrem trostlosen Leben gibt. In Gedanken versunken schlenderte sie den Trampelpfad entlang, der nach einer gefühlten Ewigkeit in einem etwas breiteren Kiesweg, nicht weit von ihrem elterlichen Hof, endete.
Zuhause, dachte Feira, als sie nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt war. Es klang mehr wie eine ängstliche Vorahnung als eine bloße Feststellung. Es war beinahe windstill, und aus einem der wenigen Fenster des Hauses drang das Licht einer Kerze.
Sie sind noch wach, stellte Feira nüchtern fest. Natürlich sind sie das. Die Enttäuschung stand ihr vermutlich ins Gesicht geschrieben.
Sie blickte in den Korb und schluckte schwer. Die zerbrochenen Glasflaschen würden ihren Eltern wieder einen Grund geben. Einen Grund, den negativen Gefühlen des Tages endlich freien Lauf lassen zu können.
Es war nicht direkt Angst, die sie beim Gedanken an ihre bevorstehende Hasstirade verspürte. Eher eine Mischung aus Wut, Frustration und dem Gefühl des Kontrollverlustes, das sie die verletzenden Worte ihrer Eltern fürchten ließ.
Den Bastkorb fest umklammert, näherte sie sich der alten Holztür. Als Feira die Klinke zaghaft betätigte, konnte sie schon das Geschrei ihres Vaters aus dem Inneren hören.
»Was fällt dir ein, so spät im Heim deiner Eltern aufzutauchen, du undankbare Göre!«, plärrte seine kratzige, wütende Stimme durch die gesamte Wohnstube. Feira war sich sicher, dass selbst die Kühe im Stall es gehört haben mussten.
Die junge Frau schloss einen Moment lang die Augen und schritt dann endlich in die spärlich beleuchtete Stube. Die wohlige Wärme, die sich sogleich um ihr kühles Gesicht schmiegte, stand in hartem Kontrast zu dem dick bekleideten Mann, der sie eindringlich anstarrte. Seine wulstigen Augenbrauen waren wie immer wütend zusammengezogen.
Das heißt, ich kann mir wieder anhören, wie wertlos und faul ich doch bin. Und warum ich mich nicht schon längst selbst lebendig begraben habe. Mehr als einmal hatte er ihr gesagt, dass ihre Eltern ohne sie besser dran wären.
Feira schluckte schwer und schloss die Augen. Sie spürte die Spannung in ihrem Unterkiefer, während sie ihre Zähne fest aufeinanderdrückte. Mit ihrem nächsten Schritt brach die Hölle über sie herein.
Feira wartete, bis sie Gregors Schritte vernahm, die sich nun endlich langsam und schwerfällig von ihr entfernten. Erst jetzt traute sie sich wieder, die Augen zu öffnen.
Ihr Vater hatte getobt, gespuckt und geschrien, doch wie immer war Feira nur dagestanden und hatte es ertragen. Es mochte seltsam klingen, aber jedes Mal, wenn Gregor sie so beschimpfte, schien die Welt um sie herum zuzufrieren. Selbst wenn ihre Eltern sie nie körperlich angefasst hatten, der psychische Terror kostete Feira ihre letzte Kraft.
Sie könnte vor ihm davonlaufen, doch was würde ihr das bringen? Früher oder später würde sie sich immer seiner toxischen Ansprache stellen müssen. Und da sie nicht reden konnte, hatte sie beschlossen, einfach die Augen zu schließen, um sein feuerrotes schwitzendes Gesicht und den anschuldigenden Blick nicht ertragen zu müssen.
Ihr Vater war im Waschzimmer des Hauses verschwunden und von Loren war keine Spur. Der Kessel, aus dem es heute Morgen noch so angenehm geduftet hatte, stand mittlerweile kalt und leer neben dem Feuer.
Feira blickte sich suchend um.