Lilith Parker 1: Insel der Schatten - Janine Wilk - E-Book

Lilith Parker 1: Insel der Schatten E-Book

Janine Wilk

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Beschreibung

Kalte Nebelschwaden tasten sich durch die Gassen. Schatten lauern hinter den Fenstern. So gruselig hatte sich Lilith ihr neues Zuhause nicht vorgestellt. Auch wenn sie weiß, dass die Bewohner der Insel Bonesdale als Hexen, Vampire und klapprige Skelette das ganze Jahr über Halloween feiern. Doch was für die Touristen ein großer Spaß ist, wirkt auf Lilith erschreckend real. Immer wieder geschehen merkwürdige Dinge: Werwölfe machen Jagd auf sie, eine unheimliche Krähe greift sie an. Als sie dem Geheimnis der Insel mit ihren Freunden Mat und Emma auf den Grund gehen will, wird schnell klar: Hier ist alles echt. Und noch ahnt Lilith gar nicht, wie eng ihr Schicksal mit der Insel und den Wesen der Nacht verwoben ist. Für alle Mädchen ab 10 Jahren, die Grusel lieben

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Buchinfo:

Nebelschwaden tasten sich durch die Gassen. Schatten lauern hinter den Fenstern. So gruselig hatte sich Lilith ihr neues Zuhause nicht vorgestellt. Das neugierige Skelett ist ja noch lustig, aber dann verfolgt sie eine bösartige Krähe und Werwölfe machen Jagd auf Lilith. Als sie dem Geheimnis der Insel auf den Grund gehen will, wird schnell klar: Liliths Schicksal ist eng mit dem der Insel verwoben …

Autorenvita:

© Thienemann Verlag GmbH

Janine Wilk wurde am 07.07.1977 als Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Schon von Kindesbeinen an war die Literatur sehr wichtig für sie, mit elf Jahren schrieb sie ihre ersten Geschichten. Mit Anfang zwanzig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten Buch und schon bald folgten die ersten Veröffentlichungen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Heilbronn.

www.janine-wilk.de

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  Für Cedric,für deine Geduld, deine Fantasieund das Herz eines Ritters– und umdie Narben des Schicksalszu glätten.

  »Die Sterblichen nannten uns einst wertlose Kreaturen des Bösen, heute ist selbst ihre Erinnerung an uns verblasst. Nur in manch finsterer Stunde entsinnt sich ein uralter Teil ihrer Seele, die sie Angst nennen, an unsere Existenz. In der alten Zeit fühlten die Sterblichen sich jedoch erhaben über uns, obwohl ihre eigene Bösartigkeit in ihrer Verlogenheit die unsrige übertreffen mag. Denn wir, die Kinder der Dunkelheit, verleugnen nicht unsere wahre Natur. Wir folgen – rein und wahr – unserer vorgeschriebenen Bestimmung.«

Geheimer Auszug aus »Grimoire1 der Untoten«,Neuauflage von 2010

Der Zug hatte die grauen Vororte Londons längst hinter sich gelassen und ratterte unermüdlich weiter nach Norden, fraß sich wie ein hungriges Tier mit lautem Getöse durch die Landschaft. Die dunklen Wolken verschluckten das Licht des Tages und ein wütender Wind peitschte den Regen mal nach links, mal nach rechts, als ob er mit seinen eisigen Böen jeden Schlupfwinkel unter Wasser setzen wollte.

Lilith fröstelte und schlang ihre Jacke um sich.

»Ist kalt geworden, nicht?«, fragte die alte Dame, die mit Lilith im Abteil saß.

Ihre Stimme klang brüchig. Die Frau war sicherlich schon über siebzig, doch sanfte Augen strahlten aus dem mit Falten eingerahmten Gesicht.

Sie blickte schaudernd aus dem Fenster. »Als ob der Herrgott die Welt unter Wasser setzen wollte!«

Lilith nickte. »Ja, ein scheußliches Wetter!«

Die Frau musterte sie neugierig. »Bist du alleine unterwegs?«

»Mein Vater hat mich in London zum Bahnhof gebracht. Ich besuche meine Tante in Bonesdale.«

Leider war das nur die halbe Wahrheit. Lilith konnte sich einen tiefen Seufzer nicht verkneifen. Eigentlich hatte ihr Vater sie in aller Eile vor dem Bahnhof abgesetzt, da er noch zahlreiche Reisevorbereitungen für seinen Auslandsaufenthalt treffen musste. Joseph Parker war ein angesehener Archäologe und Historiker. Er hatte vor einigen Tagen überraschend die Genehmigung für die Mithilfe bei den Restaurierungsarbeiten der Tempelanlage Bagans erhalten. Schon seit Jahren hatte Joseph Parker im Namen des archäologischen Instituts um diese Möglichkeit gebeten, doch das burmesische Militärregime hatte kein Interesse daran, ausländische Wissenschaftler in ihrem Land rumschnüffeln zu lassen, und verweigerte jedem archäologischen Team den Zutritt. Es schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. Umso überraschender war es nun, dass Joseph Parker plötzlich als fachkundiger Berater angefordert worden war. Liliths Vater würde für Monate, wenn nicht gar für Jahre im Ausland sein. Sein Lebenstraum schien in greifbarer Nähe. Dabei hatte er nur noch ein Problem: seine Tochter Lilith. Was sollte mit ihr geschehen? Wer sollte sich um sie kümmern? Außer ihrem Vater und Tante Mildred hatte Lilith keine Verwandten.

Sie bettelte und flehte, in London bei ihrer besten Freundin Thea wohnen zu dürfen, aber ihr Vater, der ihr ansonsten keinen Wunsch abschlagen konnte, blieb dieses Mal hart. Für ihn schien die Sache eindeutig: Entweder er konnte Lilith bei ihrer einzigen lebenden Verwandten unterbringen, oder er musste seine Burmareise absagen. Wenigstens fürs Erste, so tröstete er Lilith, sollte sie bei ihrer Tante unterkommen, mit etwas Zeit und Geduld konnte man sich vielleicht nach einem passenden Internat umsehen.

Dabei hatte Lilith ihre Tante noch nie zu Gesicht bekommen. Ihr Vater und Tante Mildred mussten sich aus irgendeinem Grund zerstritten haben, was Lilith sehr ungewöhnlich fand. Sicher, ihr Vater war das typische Exemplar eines zerstreuten Wissenschaftlers und konnte manchmal etwas unsensibel sein, aber im Grunde war er ein herzensguter Mensch. Deswegen überraschte Lilith die Kälte in seiner Stimme, als er mit Tante Mildred vor einigen Tagen telefoniert hatte, um mit ihr Liliths Kommen abzusprechen. Warum verhielt sich ihr Vater nur so abweisend seiner Schwester gegenüber? Für Lilith gab es nur eine logische Schlussfolgerung: Ihre Tante musste eine durch und durch unsympathische Person sein. Und nun sollte Lilith auch noch bei ihr leben! Sie sank tiefer in sich zusammen.

»Ich hoffe, du bist nicht mehr allzu lange unterwegs zu diesem, wie hieß es noch? Bonesdale?« Die Frau betrachtete Lilith besorgt. »In deinem Alter sollte man nicht alleine reisen müssen. Du bist doch wahrscheinlich erst …«

»Dreizehn«, half ihr Lilith. »Eigentlich noch zwölf, aber in ein paar Wochen habe ich Geburtstag.«

»In deinem Alter konnte ich es auch kaum erwarten, älter zu werden.« Die alte Frau lachte auf. »Und heute muss ich manchmal nachrechnen, weil ich tatsächlich vergessen habe, wie alt ich bin.«

Der Zug begann sein Tempo zu drosseln. Die Frau sah erfreut auf. »Ah, endlich sind wir in Larkhall. Jetzt muss ich raus.«

Sie erhob sich schwerfällig und wollte sich strecken, um ihren Koffer aus der Ablage zu ziehen, als der Zug einige Male unsanft hin- und herruckelte. Die alte Dame drohte das Gleichgewicht zu verlieren und schrie erschrocken auf. Lilith konnte gerade noch rechtzeitig ihren Arm ergreifen und ihr Halt geben.

»Was für eine Reise«, stöhnte die Frau mit bleichem Gesicht. »Als ob einen das Unglück verfolgen würde.« Sie tätschelte erleichtert Liliths Hand. »Ohne dich wäre ich jetzt wohl gestürzt!«

»Kein Problem. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Lilith, die für ihr Alter groß gewachsen war, zog den kleinen Koffer aus der Ablage. Dankbar nahm ihn die Frau entgegen. »Viel Glück auf der Weiterreise«, wünschte sie Lilith zum Abschied.

»Danke!« Auch wenn es Lilith nichts ausmachte, alleine unterwegs zu sein, hatte sie doch das Gefühl, dass sie dieses Glück noch dringend nötig haben würde.

Nachdem die ältere Dame gegangen war, saß Lilith alleine im Abteil. Im ganzen Zug schienen sich kaum noch Passagiere zu befinden. Anscheinend war Liliths Reiseziel für andere Menschen wenig verlockend.

Lilith wurde unruhig. Sie hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Es war wie ein kaltes Prickeln auf ihrer Haut. Sie sah aus dem Fenster auf den belebten Bahnsteig, doch sie konnte im Gewühl keinen Blick ausmachen, der den ihren kreuzte. Niemand schien sie wahrzunehmen.

Das Kribbeln auf ihrer Haut wurde immer intensiver. Jede Faser ihres Körpers war angespannt.

Lilith stand auf und schob das Abteilfenster hinunter. Lautes Stimmengemurmel schlug ihr entgegen, gemischt mit den eintönigen Lautsprecherdurchsagen des Bahnhofs und einem wummernden Bass, der aus dem Ghettoblaster einiger Jugendlicher dröhnte. Nervös sah Lilith auf die Menschen hinab, die wie in einem unsichtbaren Labyrinth kreuz und quer durch die Gegend eilten, andere standen wartend auf dem Bahnsteig und starrten gelangweilt vor sich hin.

Schon glaubte Lilith, sie hätte sich alles nur eingebildet. Dann sah sie die schwarzen Augen. Lilith hielt erschrocken die Luft an.

Auf dem Dach des Schaffnerhäuschens saß eine Krähe. Sie fixierte Lilith mit stechendem Blick. Es gab keinen Zweifel. Die Augen der Krähe waren nur auf sie, Lilith, gerichtet und verfolgten jede ihrer Bewegungen. Lilith bekam eine Gänsehaut. Irgendetwas sagte ihr, dass dies keine gewöhnliche Krähe war. Lilith hatte den Aberglauben, nachdem dieser als Unglücksrabe verschriene Vogel Krieg und Tod ankündigt, nie nachvollziehen können. Im Gegenteil, sie hatte das schwarz glänzende Gefieder und die wachsame, fast menschliche Art dieser Vögel immer bewundert. Doch nicht bei diesem Tier. In seinen Augen lag eine Bösartigkeit, wie Lilith sie noch bei keinem anderen Lebewesen gesehen hatte. Der Blick der Krähe durchbohrte sie. Lilith hatte das Gefühl, als würde sie rundherum in Eis gepackt.

Sie zuckte zusammen. Die Türen der Waggons hatten sich mit einem lauten Schlag geschlossen. Nur einen Wimpernschlag später stieß die Krähe einen Schrei aus. Sie spreizte ihre Flügel und hüpfte bis zum äußersten Rand des Daches. Direkt in Liliths Richtung. Lilith trat so schnell vom Fenster zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Sofort wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Nun konnte die Krähe ungehindert durch das Fenster in ihr Abteil gelangen. Lilith glaubte ein erfreutes Blitzen in den Augen des Vogels erkennen zu können.

Quälend langsam setzte der Zug sich in Bewegung. Im gleichen Moment hob die Krähe mit einem einzigen Schlag ihrer Flügel ab und stürzte nach vorne. Lilith wurde aus ihrer Starre gerissen. Sie stolperte ans Fenster.

»Oh nein!«, entfuhr es ihr. Obwohl sie mit aller Kraft drückte, ließ sich das Fenster nicht nach oben schieben. Es klemmte.

Die Krähe krächzte erneut, dieses Mal klang es wie ein hämisches Lachen. Lilith drückte, so fest sie konnte, an den beiden Fensterhebeln. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Dann hörte sie ein metallenes Ächzen. Das Fenster glitt nach oben und rastete ein. Die Krähe, so kurz vor dem Ziel, schlug wütend den Schnabel zusammen und drehte im letzten Moment vor der geschlossenen Scheibe ab. Sie entschwand aus Liliths Blickfeld. Atemlos ließ sich Lilith auf ihren Sitz fallen.

Der Zug ließ den Bahnhof hinter sich und die Welt begann wieder vor ihrem Fenster vorbeizufliegen.

Was für eine seltsame Begegnung. Ob die Krähe tatsächlich zu ihr ins Abteil hatte fliegen wollen? Lilith schüttelte den Kopf, als wollte sie einen schlechten Traum vertreiben. Unsinn! Das hatte sie sich vermutlich nur eingebildet. Die Krähe verbarg sich wahrscheinlich wegen des Unwetters unter dem Bahnhofsdach und war nun auf der Suche nach etwas Essbarem. Liliths Abteil schien dem hungrigen Tier aus irgendeinem Grund wohl ein vielversprechendes Jagdgebiet gewesen zu sein.

Bei diesem Gedanken fiel Lilith auf, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie zog ihren Rucksack auf den Schoß und warf einen Blick in ihre Verpflegungsdosen, die ihre Haushälterin Clara ihr noch heute Morgen mit Tränen in den Augen in die Hand gedrückt hatte. Karottensalat mit Sojasprossen und Schwarzbrot mit Tofuwurst. Lilith verzog das Gesicht. Igitt. Zum Glück hatte sie sich auf dem Bahnhof mit dem Geld, das ihr Vater ihr zugesteckt hatte, mit etwas weniger gesundem Reiseproviant eingedeckt. Sie zog zwischen einer Chipspackung und einer Tafel Schokolade einen Energydrink hervor. Clara hatte ihr wegen des Koffeins und dem vielen Zucker immer verboten, solche Getränke zu kaufen. Lilith grinste. Dies war einer der Vorteile, wenn man ohne Erwachsene reiste: Man konnte plötzlich tun und lassen, was man wollte. Im Überschwang hatte sich Lilith sogar gleich drei Koffeindrinks gekauft. Wenn sie die bis Bonesdale alle ausgetrunken hatte, würden ihr vor Anspannung wahrscheinlich ihre schwarzen Haare zu Berge stehen.

Lilith nahm einen Schluck des zuckersüßen Getränks und seufzte wehmütig. Trotz der Tofuwurst würde sie Clara vermissen. Sie war wie eine Freundin für Lilith, ja, nach all den Jahren, die Clara bei den Parkers gearbeitet hatte, war sie fast schon so etwas wie eine Mutter.

Wie von selbst wanderte Liliths Hand zu dem Amulett, das sie unter ihrer Jacke um den Hals trug. Das Amulett ihrer Mutter. Es war alles, was sie von ihr besaß. Es gab sonst nichts, nicht einmal ein Foto, und ihr Vater war nicht bereit, mit seiner Tochter über dieses Thema zu sprechen. Lilith wusste nur, dass ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben war und Lilith ihr sehr ähnlich sehen musste. Denn die ebenholzschwarzen Haare, die helle, fast schon weiße Haut und die großen blauen Augen hatte Lilith eindeutig nicht von ihrem Vater geerbt. Er musste sich jedes Mal, wenn er Lilith ansah, an ihre Mutter erinnert fühlen. Ob er sie nach all den Jahren immer noch so sehr vermisste, dass er es nicht ertrug, über sie zu sprechen? Lilith hatte es aufgegeben, mit ihrem Vater darüber reden zu wollen. Sie drehte das Amulett zwischen ihren Fingern. Automatisch meldete sich ihr schlechtes Gewissen.

Sie hatte es gestohlen.

Schon als kleines Kind hatte sie gewusst, dass sie nicht an Vaters Vitrinen mit seinen wertvollen Sammlerstücken gehen darf, und der Wandtresor in seinem Arbeitszimmer, in dem er seine kostbarsten Schätze hütete, war absolut tabu. Sie hatte sich immer an diese Regel gehalten, nur dieses eine Mal nicht.

Es war an dem Tag, als ihr Vater den Anruf erhalten hatte, als archäologischer Berater in Burma arbeiten zu können. Wahrscheinlich hatte er deshalb vergessen, den Tresor zu schließen. Als Lilith in sein Arbeitszimmer kam, um ihren Vater zu suchen, fiel ihr sofort auf, dass der Tresor offen stand. Wie in Trance lief sie darauf zu und nahm die schwarze Schatulle heraus, in der das Amulett ihrer Mutter lag. Sie hatte es zuvor nur ein einziges Mal gesehen. Damals hatte Lilith ihren Vater so inständig darum angebettelt, ihr etwas von ihrer Mutter Cathy zu erzählen, dass er schließlich seufzend aufgestanden war und die Schatulle aus dem Tresor holte. Lilith hatte beim Anblick des Amuletts überrascht die Luft angehalten. Ein Schmuckstück dieser Art hatte sie noch nie gesehen. Es war geformt wie ein fünfspeichiges Zepter, in dessen Inneren ein Bernstein, wie von unsichtbarer Hand gehalten, in der Luft schwebte. Die goldenen Speichen des Zepters waren umwickelt mit einer Art silbernem Faden und jeder Zwischenraum war mit fremdartigen Symbolen verziert. Als Tochter eines Archäologen erkannte Lilith sie sofort: Es handelte sich dabei um Runen. Obwohl die Form und die feinen Linien nicht altmodisch wirkten und das Metall den Glanz des Lichtes spiegelte, erweckte das Amulett den Eindruck, schon ungeheuer alt zu sein. Am meisten faszinierte Lilith jedoch der reine und vollkommen runde Bernstein, der jeden Lichtstrahl in ein goldenes Schimmern verwandelte. In der Mitte des Steins schien etwas eingeschlossen zu sein, womöglich ein Insekt, doch es war zu klein, um es zu erkennen. Auch konnte Lilith selbst bei genauerer Betrachtung nicht feststellen, von was der Stein im Inneren des Zepters gehalten wurde. Es war ein wirklich außergewöhnliches Schmuckstück.

Doch etwas war seltsam gewesen. Ihr war aufgefallen, dass ihr Vater darauf bedacht war, das Amulett auf keinen Fall zu berühren. Als sie ihn gebeten hatte, das Schmuckstück aus der Schatulle nehmen zu dürfen, hatte er nur wortlos genickt und sie nervös beobachtet. Lilith legte es sich vorsichtig um den Hals und fühlte sich einen Atemzug lang vom Kopf bis zu den Zehenspitzen wie von einem wärmenden Energiestrahl durchdrungen. Aber dies lag wahrscheinlich nur an ihrer Aufregung. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich ihrer Mutter so nah gefühlt wie in diesem Moment. Als Lilith ihrem Vater nach einigen Minuten das Amulett wieder zurückgab, kämpfte sie immer noch mit den Tränen. Joseph Parker jedoch schien aus irgendeinem Grund überrascht, ja fast schockiert zu sein.

Als sie ihren Vater einige Wochen später darum gebeten hatte, sich das Amulett noch einmal ansehen zu dürfen, war er nicht mehr dazu bereit gewesen, es aus seinem Tresor zu holen.

So konnte Lilith an diesem Tag, allein in Vaters Arbeitszimmer und vor dem geöffneten Tresor, nicht widerstehen. Sie klappte die Schatulle auf und wieder raubte ihr die Schönheit des Amuletts den Atem. Zu welchen Anlässen ihre Mutter diese Kette wohl getragen hatte? Das Schmuckstück war sehr auffällig, wahrscheinlich war sie damit der Mittelpunkt jeder Veranstaltung gewesen.

Plötzlich keimte in Lilith eine Idee. Wenn ihr Vater nicht bereit war, ihr mehr über ihre Mutter zu verraten, so konnte es vielleicht das Amulett. Lilith biss sich nachdenklich auf die Lippe. Aber würde sie damit nicht ihren Vater hintergehen? Mit zitternden Fingern strich sie über das Schmuckstück. Wie schon beim ersten Mal erfüllte sie dabei eine tiefe Ruhe und Sicherheit. Wie aus weiter Ferne nahm sie wahr, dass die Haustüre ins Schloss fiel. Das Geräusch ließ Lilith zusammenzucken. Ihr Vater war zurückgekehrt. Sie musste sich entscheiden.

Als Joseph Parker wenige Sekunden später das Arbeitszimmer betrat, war Lilith verschwunden und die Schatulle lag wieder im Tresor. Sie war leer.

Der Schaffner zog die Tür des Abteils auf und riss Lilith aus ihren Gedanken. Sie fuhr erschrocken in die Höhe, sodass der rote Energydrink aus der Dose schwappte und sich über ihre Jacke und das weiße T-Shirt ergoss. Im Nu sah es aus, als sei es von Blut durchtränkt. Damit würde ihre Tante Mildred sicherlich einen großartigen ersten Eindruck von ihr bekommen!

»Oh, verfluchte Sch…« Lilith konnte sich gerade noch rechtzeitig stoppen. Sie hatte mit ihrem Vater und ihren Lehrern schon oft genug Ärger bekommen, weil sie so herzhaft fluchen konnte. Clara meinte immer, selbst gestandene Hafenarbeiter würden vor Scham rot werden, wenn Lilith richtig loslegte.

»Na, na, junge Dame!«, rügte sie der Schaffner schmunzelnd. »Wenn ich dich nicht schon kontrolliert hätte und wüsste, dass du ein Ticket hast, hätte ich dich gerade garantiert für einen Schwarzfahrer gehalten. So schuldbewusst zucken nur die zusammen, die ein schlechtes Gewissen haben.«

Lilith spürte, wie sie rot wurde. Der Schaffner wusste ja nicht, wie recht er hatte.

»Hast du nicht gesagt, dass du nach Bonesdale auf die Insel St. Nephelius reist?«, erkundigte er sich.

Lilith nickte.

»Zwei Waggons weiter sitzt ein Junge mit seiner Mutter, die dasselbe Reiseziel haben. Ich habe ihnen erzählt, dass du alleine unterwegs bist. Sie würden sich freuen, wenn du dich ihnen anschließt.« Der Schaffner nickte ihr aufmunternd zu. »Ihr müsst euch nachher in Greynock beeilen, um noch rechtzeitig die letzte Fähre zu erreichen. Könnte knapp werden, da wir etwas Verspätung haben.«

»Ich werde die beiden gleich suchen gehen«, versprach Lilith. »Vielen Dank!«

»Du kannst sie nicht verfehlen. Es sind kaum noch Leute im Zug.« Der Schaffner tippte sich an die Mütze und wandte sich zum Gehen. Dabei blieb sein Blick an Liliths Amulett hängen, das sie bei seinem Eintreten vergessen hatte wie üblich unter ihr T-Shirt gleiten zu lassen. Etwas Dunkles begann in seinen Augen aufzuflackern.

»Du hast eine schöne Kette«, sagte er mit seltsam belegter Stimme. Wie hypnotisiert hing sein Blick an dem Schmuckstück um Liliths Hals. Mit ausgestreckter Hand ging er langsam auf Lilith zu.

»Ähm. Danke.«

Eilig ließ Lilith das Amulett unter ihrem T-Shirt verschwinden.

Der Schaffner fuhr sich mit den Händen kurz über die Augen, setzte wieder ein Lächeln auf und verließ das Abteil. Lilith sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Dies war nicht die erste merkwürdige Reaktion auf das Amulett. Einen Tag nachdem sie es aus dem Tresor ihres Vaters entnommen hatte, stattete Lilith dem kleinen, an der Themse gelegenen Schmuckladen von Jacob de Vries einen Besuch ab. Eigentlich hatte sie sich erhofft, von dem versierten Juwelier und Goldschmied einige Informationen zur Herkunft des Amuletts zu erhalten. Doch die Begegnung war alles andere als positiv verlaufen. Die Erinnerung daran jagte ihr immer noch einen kalten Schauer über den Rücken.

Ihr Rollkoffer polterte über die Straße und ihr Rucksack hüpfte auf ihrem Rücken unsanft auf und ab. Lilith bekam Seitenstechen. Nur mit Mühe konnte sie die heftigen Stiche unter ihren Rippen ignorieren.

Greynock war selbst im sanften Licht der Abenddämmerung eine ungastliche, wie ausgestorben wirkende Arbeiterstadt. Allein die eiligen Schritte der drei Reisenden hallten durch die Straßen und wurden von den ungepflegten Häusern unnatürlich laut zurückgeworfen. Wenigstens, so hatte Lilith beim Verlassen des Bahnhofes erleichtert festgestellt, regnete es nicht mehr. Dafür hatte sich der eisige Wind zu heftigen Sturmböen ausgewachsen, die Liliths Haare immer wieder wild durcheinanderwirbelten.

»Wir haben es gleich geschafft! Da vorne ist der Hafen«, rief Eleanor O’Conner über ihre Schulter. »Schneller, Kinder, schneller!«

Ihr bodenlanger Mantel wehte wie eine schwarze Schleppe hinter ihr her, sodass ihr Sohn Matt einigen Abstand zu ihr halten musste. Er war nur einige Monate älter als Lilith, und wie sie festgestellt hatten, würden sie in Bonesdale dieselbe Klasse besuchen.

Lilith hatte die beiden problemlos im Zug gefunden und sich schnell mit ihnen angefreundet. Die zierliche, aber trotzdem energisch wirkende Eleanor O’Conner arbeitete als Schriftstellerin für Grusel- und Horrorbücher. Zur Freude der ganz in Schwarz gekleideten Frau mit dem streichholzkurzen dunklen Haar hatte Lilith sogar schon ein Buch von ihr gelesen. Eleanor wollte sich zum Schreiben auf Bonesdale zurückziehen und ihr Sohn Matt musste sie, ob er wollte oder nicht, begleiten. Und er wollte ganz eindeutig nicht. Genau wie Lilith war der Junge mit den dunkelbraunen Augen und der verstrubbelten Frisur wenig erfreut darüber, seine Schule und Freunde verlassen zu müssen, um in ein entlegenes Inselstädtchen zu ziehen.

»Warum konnten wir denn nicht ein Taxi nehmen?«, jammerte Matthew keuchend.

»Nun, vielleicht deshalb, weil keines da war?«, gab seine Mutter genervt zurück.

Lilith hätte es vor Matt zwar nicht zugegeben, doch auch sie hätte in diesem Moment alles für ein Taxi gegeben. Sie spürte, wie ihr trotz der Kälte die Schweißtropfen über den Rücken liefen, und ihr rechter Arm, mit dem sie den Koffer zog, wurde immer schwerer. Während sie in London noch gedacht hatte, ihr Koffer sei viel zu klein und sie könnte nur einen Bruchteil ihrer Sachen mitnehmen, so hatte sie jetzt das Gefühl, sie würde eine Schubkarre mit Backsteinen hinter sich herziehen.

Sie hetzten an einem wartenden Reisebus vorbei, dessen graue Abgaswolke Lilith fast die Luft raubte, und bogen in den Hafen ein. Er war so winzig, dass Lilith die Fähre problemlos ausmachen konnte. Neben einigen Sportbooten und Fischkuttern schaukelte ein nur geringfügig größeres Schiff – es glich eher einem Ausflugsboot als einer Fähre – unruhig im Wasser. Hier, direkt am Meer, waren die Sturmböen noch heftiger und wie große unsichtbare Hände drängten sie die drei Reisenden ein ums andere Mal zurück. Schon schwappten einige Wellen über die Kaimauer und tasteten sich gierig in den Hafen hinein. Liliths Magen zog sich krampfhaft zusammen. Sie mochte zwar das Meer, allerdings nur, wenn sie ihm nicht zu nahe kommen musste. Diese gewaltige, dunkle Wassermasse war ihr einfach nicht geheuer und bei dem Gedanken daran, mit diesem winzigen Schiff in den Sturm hinauszufahren, wurde ihr ganz übel. Lilith konnte nicht einmal besonders gut schwimmen.

»Die Fähre ist noch nicht ausgelaufen!«, jubelte Eleanor. »Wir kommen noch heute Abend nach Bonesdale!«

»Jippie«, gab Matt freudlos zurück.

Die Fähre spuckte gerade ihre letzten Passagiere aus. Während Eleanor, Matt und Lilith am Fuße des Stegs warteten und sich von der Hetzerei zu erholen begannen, lief eine Gruppe chinesischer Touristen schwatzend und mit lautem Getöse nach unten. Einer von ihnen stolperte und rempelte dabei Lilith unsanft an. Der Mann trug, genau wie die anderen, eine Kette aus kleinen Plastikkürbissen um den Hals und hatte eine Pappkartonkrone mit blutigen Knochen auf dem Kopf. Anstatt einer Entschuldigung grinste er Lilith mit benebeltem Blick an. »Happy Halloween!«, johlte er mit starkem Akzent.

»Happy Halloween?«, wiederholte Lilith verwundert, doch der Mann war schon mit seiner Gruppe in Richtung Reisebus weitergelaufen.

Liliths Meinung nach war es eindeutig zu früh für solche Glückwünsche, immerhin war erst Anfang Oktober. Dem Halloween-Tag sah Lilith jedes Jahr aufs Neue mit Aufregung entgegen, denn an diesem speziellen Abend, kurz vor Mitternacht, war sie geboren worden und dieses Jahr feierte Lilith ihren dreizehnten Geburtstag.

»Kommst du, Lilith?«, rief Matt ihr zu und riss sie aus ihren Gedanken. Erst jetzt bemerkte sie, dass Matt und seine Mutter schon vorausgegangen waren und an Bord neben einem ungeduldigen Kapitän mit Vollbart standen. »Sie wollen wegen des Sturms so schnell wie möglich ablegen.«

Lilith hechtete den schwankenden Steg hinauf und einige Minuten später ließen sie sich zu dritt im verlassenen Aufenthaltsraum der Fähre nieder. Mit den metallenen Stühlen und Tischen, die auf dem grauen Plastikboden festgeschraubt waren, wirkte der Raum schmucklos und trist. Auch die in einer Nische untergebrachten Automaten mit diversen Erfrischungsgetränken, Tee und Süßigkeiten änderten daran nicht viel.

»Ich hole uns eine schöne Tasse Tee«, verkündete Eleanor. »Der tut uns sicherlich gut!«

Lilith nickte dankbar. Sie spähte aus der zerkratzten Fensterscheibe, konnte aber nur den Abendhimmel und die dunklen Wellen des Meeres erkennen. Die Fähre lag trotz ihrer geringen Größe und der stürmischen See überraschend ruhig im Wasser.

»Ist es weit bis zur Insel?«

»Nur zwanzig Minuten«, gab Matt zurück. »Bald müsste man St. Nephelius sehen können.«

»Diese chinesischen Touristen waren doch wirklich seltsam«, erinnerte sich Lilith schmunzelnd. »Einer von ihnen hat mir sogar ein Happy Halloween gewünscht!«

Anstatt ihr Grinsen zu erwidern, starrte Matt sie mit großen Augen ungläubig an. »Hat dir dein Vater nichts über Bonesdale erzählt?«

Lilith schüttelte den Kopf. Hätte er das tun sollen? Sie war davon ausgegangen, dass Bonesdale ein ganz normales Dorf auf einer Insel war. Was sollte es daran Außergewöhnliches geben?

Doch Matt amüsierte das anscheinend köstlich. Er prustete los und lachte Tränen.

»Dein Vater hat ja vielleicht Nerven!«, japste er. »Oh Mann, ich freu mich schon auf dein Gesicht, wenn wir anlegen.«

Lilith presste unwillig die Lippen zusammen. Sie hatte Matt für einen ganz netten Jungen gehalten, doch dass er sich nun auf ihre Kosten lustig machte, fand sie nicht sonderlich sympathisch.

»Jetzt sag schon! Was ist mit Bonesdale?«, fragte sie ungeduldig.

»Ich verrate dir nichts. Meine Lippen sind versiegelt.« Matts Augen blitzten vergnügt auf. »Lass dich überraschen.«

Als er Liliths bösen Gesichtsausdruck auffing, fügte er jedoch versöhnlich hinzu: »Na schön, einen kleinen Tipp gebe ich dir: Meine Mutter will nach Bonesdale ziehen, da sie dort eine inspirierende Atmosphäre für ihre Gruselbücher gefunden hat.«

Lilith verstand kein Wort.

»Eine inspirierende Atmosphäre?«, wiederholte Eleanor O’Conner. Sie kam gerade mit drei Pappbechern zurück, die sie in ihren Händen balancierte. »Erzählst du Lilith gerade von dem Spukschloss?«

Lilith und Matt nahmen die warmen Getränke dankbar entgegen.

»Ursprünglich wollte ich mit Matt nämlich auf ein schottisches Spukschloss ziehen«, erzählte Eleanor. »Es wäre herrlich gewesen. Es gab unzählige Geheimgänge, eine Gruft und einen Kerker, in dem früher Menschen zu Tode gefoltert wurden.« Sie seufzte wehmütig. »Das wären ideale Arbeitsbedingungen für mich gewesen. Ich sage euch, wenn mein neues Horrorbuch nicht gut wird, ist das nur die Schuld meines Agenten. Wenn der bessere Verträge für mich aushandeln würde, hätte ich mir dieses Spukschloss locker leisten können«, plapperte sie weiter. Wie Lilith schon während der Zugfahrt festgestellt hatte, redete Eleanor ohne Punkt und Komma, wenn es um ihre Arbeit ging. So erklärte sie Lilith nun auch lang und breit, wie wichtig für einen Künstler die richtige Arbeitsumgebung sei. Matt verdrehte neben seiner Mutter die Augen und zuckte hilflos mit den Schultern.

»… aber immerhin ist Bonesdale eine ganz gute Alternative«, endete Eleanor schließlich. »Auch wenn es wirklich ein Kampf war, bis wir endlich die Erlaubnis bekommen haben, hinziehen zu dürfen.«

»Warum das denn?«, hakte Lilith nach.

»Die Einwohner von Bonesdale haben wohl etwas gegen Fremde«, erklärte Matt.

»Die wollten uns nicht in ihr Dorf ziehen lassen!«, empörte sich Eleanor. »Das Geld von den Halloweentouristen nehmen sie gerne, aber meins war ihnen anscheinend nicht gut genug.«

Eleanor spielte gedankenverloren mit ihrem Ohrring. Er war das einzige Schmuckstück, das sie trug – ein in Silber eingefasster Vampirzahn. Schon während der Zugfahrt hatte sie Lilith erzählt, wie sie ihn von einem rumänischen Handelsmann erstanden und sogar ein offizielles Zertifikat erhalten hatte, das die Echtheit des Vampirzahns bestätigte. Lilith hatte sich ein Grinsen verkneifen müssen. Eleanors Vampirzahn sah verdächtig nach dem Reißzahn einer kleinen Raubkatze aus.

»Mom hat sie so lange genervt, bis sie ihr schließlich ein leer stehendes Haus am Rande des Dorfes verkauft haben.« Matt grinste. »Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie nicht locker.«

Die Bewohner von Bonesdale schienen wahre Sympathieträger zu sein. Gerade als Lilith fragen wollte, was es denn nun mit diesen Halloweentouristen auf sich hatte, sah sie aus den Augenwinkeln einen Schatten auftauchen, dessen Anblick sie frösteln ließ.

»Ist … ist das St. Nephelius?«

Eine schwarze Insel ragte düster aus dem Meer heraus. Man sah weder einen Leuchtturm noch freundliche Lichter, die dem Reisenden im Dunkeln entgegenblitzten. Nur auf dem höchsten Punkt, auf der Spitze eines Felsens, ragte ein gezackter Burgturm wie ein verkrüppelter Finger aus dem wabernden Nebel, der die Insel wie eine Dunstglocke umgab.

Eleanor folgte Liliths Blick. »Unheimlich, nicht wahr? Die Insel der Finsternis. Das Grabesdunkel eines uralten Landes, das unter seinem Nebelschleier die Geheimnisse des Bösen in sich trägt. Spürst du es, Lilith? Spürst du, wie es sein kaltes Auge auf uns richtet? Es streckt seine klammen Finger nach jedem aus, der sich ihm nähert, begierig, alles auszulöschen, was an Freude und Glück in seinem Herzen ist.«

Bei Eleanors Worten war es Lilith kalt den Rücken hinuntergelaufen. Sie klangen wie eine düstere Prophezeiung. Lilith verspürte den innigen Wunsch, nie auf dieser Insel anzukommen. Am liebsten wäre sie jetzt daheim in London gewesen und hätte sich in ihr gemütliches Bett gekuschelt.

Als Eleanor Liliths bleiches Gesicht sah, erstarrte sie wie vom Donner gerührt. »Das war gut, oder nicht? Diese Finsternis-Glück-Passage muss ich mir unbedingt merken. Wo ist mein Laptop?« Sie eilte zu ihrem Gepäck.

»Mom steht etwas unter Druck, weil sie bald einen Abgabetermin hat«, meinte sich Matt für seine Mutter entschuldigen zu müssen.

»Wie viel hat sie denn schon geschrieben?«

»Nun, mit dieser Passage dürften es jetzt vier Sätze sein.«

»Oh.«

»Keine Sorge, sie schafft das schon.«

Der Blick, den Matt seiner eifrig tippenden Mutter zuwarf, war Lilith nur allzu bekannt. Er drückte diese Mischung aus Bedauern, Scham und Mitleid aus, die man nur für einen geliebten Menschen empfinden konnte, der in einer vollkommen anderen Welt zu leben schien als man selbst. Joseph Parker war auf seine Art nicht weniger eigentümlich als Matts Mutter. Oft hielt er zum Beispiel Liliths Freundinnen lange und begeisterte Vorträge über die englische Geschichte und bemerkte dabei gar nicht, dass die Mädchen lieber allein gewesen wären, um über die wirklich wichtigen Dinge wie Schule, Jungs und Mode zu sprechen. Lilith hatte ihrem Vater genau den gleichen Blick zugeworfen, als er vor zwei Wochen in ihr Zimmer gestürmt kam und aufgeregt rief, sie würde zu spät zu ihrem Zahnarzttermin kommen. Der Termin war jedoch am Tag zuvor gewesen und Lilith war alleine mit dem Bus zur Arztpraxis gefahren.

»Ich verstehe das mit deiner …«, wollte sie Matt gerade erklären, als die Fähre von einem lauten Schlag erschüttert wurde und urplötzlich zur Seite kippte. Als sich das Schiff wieder aufrichtete, gab es ein metallisches Ächzen von sich. Es klang erschreckend menschlich, wie das Stöhnen eines Verletzten.

»Was war das?«, keuchte Lilith. »Sind wir etwa gegen eine Klippe gefahren?«

Auch Matt war blass geworden, doch er konnte sie beruhigen: »Das haben wir schon bei unserer ersten Fahrt nach St. Nephelius erlebt. Laut Kapitän gibt es direkt vor der Insel Untiefen und Gegenströmungen, die die Fähre etwas durchrütteln. Er meinte, das wäre ganz normal.«

Für Lilith klang das ganz und gar nicht normal. Die Fähre taumelte erneut zur Seite, dieses Mal mit einer Wucht, die das ganze Schiff erbeben ließ.

»Ich … ich glaube, mir wird schlecht!«, stammelte Lilith.

Sie hatte noch nie davon gehört, dass Untiefen und Gegenströmungen einem Schiff solche Stöße versetzen konnten.

Sie klammerte sich ängstlich am Tisch des Aufenthaltsraumes fest, während Eleanor ihr, für alle Fälle, eine Spucktüte reichte.

Aber Matt sollte recht behalten. Nur wenige Augenblicke später legte die Fähre sicher im Hafen an.

»Wir sind da!«, verkündete Eleanor feierlich.

Lilith atmete auf. Sie konnte es kaum glauben, dass sie heil in Bonesdale angekommen war. Endlich war diese merkwürdige Reise zu Ende und sie würde den Ort kennenlernen, der von nun an ihr Zuhause sein sollte. Doch als Lilith am oberen Ende des Stegs stand und zum ersten Mal einen Blick auf Bonesdale werfen konnte, wäre sie am liebsten sofort wieder umgekehrt.

  »Laut der großen Übereinkunft der VIER, darf sich keiner den Sterblichen offenbaren, denn sie sind nicht imstande zu schweigen. Auch wenn sie den Mund halten mögen, so quillt ihnen der Verrat aus den Fingerspitzen.«

Geheimer Auszug aus »Grimoire der Untoten«,Neuauflage von 2010

Als Lilith hinter Matt und seiner Mutter an den Steg trat, war kein Mensch mehr zu sehen. Selbst die Besatzung der Fähre war spurlos verschwunden, als ob sie mit einem Geisterschiff in Bonesdale eingelaufen seien.

Am Kai spendete eine schaukelnde Laterne an einem Pfahl spärliches Licht. Der Nebel, den sie schon von der Fähre aus beobachtet hatten, war hier so dicht und weiß wie eine Mauer. Man konnte keine fünf Schritte weit sehen und außer dem Plätschern der Wellen war kaum ein Geräusch zu hören. Alles schien wie ausgestorben.

Großartig, dachte Lilith seufzend, Bonesdale war wohl ein so langweiliges und ausgestorbenes Kaff, dass nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr unterwegs war.

Doch wo war ihre Tante? Eigentlich wollte sie Lilith direkt von der Fähre abholen. Und wenn sie nicht gekommen ist?, fragte sich Lilith zweifelnd. Vielleicht war Tante Mildred genauso zerstreut und unzuverlässig wie ihr Bruder und hatte am Ende völlig vergessen, dass heute ihre Nichte anreisen würde. Lilith hatte nicht einmal ihre Adresse.

Plötzlich waren auf den Holzbohlen der Anlegestelle schwere Schritte zu vernehmen, die sich der Fähre näherten. Lilith glaubte im Nebel eine Bewegung auszumachen. Kam da nicht jemand auf das Schiff zu? Tatsächlich!

Eine große Gestalt trat an das untere Ende des Stegs. Aber es war kein Mensch. Lilith zog scharf die Luft ein. Es … es war ein Monster! Ein grünes Monster mit bösartigen, rot glühenden Augen. Sein Körper und auch sein kahler Kopf waren mit fasrigen Algen, Auswüchsen und Warzen bedeckt. Von seinen Händen und Füßen glibberte eine ekelerregende grünliche Masse herab.

Lilith krallte sich an Matts Arm fest. »Siehst du das auch?«

Sie war so geschockt, dass sie Matts Kichern nicht einmal registrierte.

Das Wassermonster ging weiter. Lilith runzelte die Stirn. Etwas irritierte sie. Ein Monster sollte nicht auf diese Art und Weise gehen. Es hatte einen federnden Laufstil und bei genauerem Hinsehen waren die Schultern für ein Monster viel zu schmächtig. Es blieb erneut stehen und stemmte die Hände in die Taille.

»Hey, Cynthia«, rief es mit einer durch und durch menschlichen Stimme. »Stell doch mal die Nebelmaschine ab. Ich wäre gerade fast im Wasser gelandet. Als ob ich nicht schon genug Zeit im Dorfteich verbringen müsste.«

»Okay«, antwortete eine krächzende Frauenstimme aus dem Nebel.

Lilith wandte sich fragend zu Matt um.

Er grinste sie breit an und machte eine ausladende Handbewegung. »Herzlich willkommen in Bonesdale, dem Dorf, in dem immer Halloween ist!«

Lilith starrte ihn ungläubig an. »Sie feiern jeden Tag Halloween?«

»Einige der Einwohner leben zwar vom Fischfang, doch das ist leider nicht sehr einträglich«, erklärte Eleanor. »Ansonsten hat Bonesdale nur einen sehr alten, weitläufigen Friedhof und einige der ältesten Portalgräber Großbritanniens zu bieten. Sehr interessant, musst du dir unbedingt einmal ansehen! Um Touristen anzulocken, hat sich der Ort in ein Gruseldorf verwandelt.«

Nun wurde Lilith so einiges klar. Matts ominöse Andeutung auf der Fähre und der seltsame Auftritt der chinesischen Touristengruppe ergaben nun endlich einen Sinn.

Wie konnte ihr Vater nur vergessen, ihr so etwas Wichtiges mitzuteilen?

Nun gut, wenn sie ehrlich war, hatte sie auf seine Mitteilung, zu Tante Mildred ziehen zu müssen, nicht gerade positiv reagiert. Wahrscheinlich hatte ihr Vater befürchtet, dass Lilith sich weigern würde, ihre Koffer zu packen, wenn er ihr auch noch von Bonesdales Gruselatmosphäre erzählte.

Ein Motorengeräusch, das Lilith bisher nur unbewusst wahrgenommen hatte, verebbte, und schon wenige Atemzüge später verflüchtigte sich der dichte Nebel, verschwand allerdings nicht vollständig.

Mit jedem Fetzen Nebel, der sich verzog, gab er ein kleines Stück von Bonesdale preis, als ob sich das Dorf nur widerwillig den drei Fremden präsentieren wollte. Lilith sah uralte Fachwerkhäuser mit windschiefen Dächern, die sich wie zu alt gewordene Menschen tief über die Straße beugten und düstere Schatten auf das grobe Kopfsteinpflaster warfen. Einige der Häuser besaßen Erker und geschnitzte Holzfiguren, die den Menschen ihre bösartigen Fratzen und spitzen Klauen entgegenstreckten.

»Wie malerisch!«, entfuhr es Lilith in bitterer Ironie. Widerwillig folgte sie Matt und Eleanor den Steg hinab. Was für ein unheimlicher und unwirklicher Ort! Und hier sollte sie ihr neues Zuhause finden? Lilith konnte sich nicht vorstellen, dass man sich auf diesem Fleckchen Erde heimisch und aufgehoben fühlen konnte.

Sie war so in ihre düsteren Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sich die Rollen ihres Koffers in den Spalten des Stegs verhakten. Ihre Füße verloren durch den unerwarteten Widerstand auf dem feuchten Untergrund den Halt. Sie rutschte aus, und ehe sie es verhindern konnte, flogen ihre Beine in einem weiten Bogen nach oben. Unsanft fiel sie auf den Steg, der daraufhin bedenklich schwankte und ächzte. Ein blitzartiger Schmerz durchfuhr ihren Körper und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzuschreien. Nach der ersten Schrecksekunde tastete sie vorsichtig ihre Beine und ihr Hinterteil ab. Lilith atmete erleichtert auf. Sie schien noch einmal glimpflich davongekommen zu sein. Einen Moment lang war sie versucht, der alten Dame aus dem Zugabteil mit ihrer unheilschwangeren Prophezeiung recht zu geben: War man auf dieser Reise nicht auf seltsame Weise vom Unglück verfolgt?

Lilith rappelte sich auf. Hoffentlich hatte Matt nichts von ihrer peinlichen artistischen Einlage mitbekommen! Doch ihre Sorge war unbegründet. Als sie aufsah, musste sie erkennen, dass Matt und seine Mutter schon weitergegangen waren.

Lilith wischte sich über ihre Jeans, die von der Nässe des Stegs feucht geworden war. Sie seufzte. Das wurde ja immer besser! Ihre Tante würde gleich einer Nichte mit vom Sturm zerzausten Haaren, einem rot befleckten T-Shirt und nassem Hosenboden gegenüberstehen. Sie konnte nur hoffen, dass Mildred nicht einer der Menschen war, die ihre Meinung über eine Person allein vom ersten Eindruck abhängig machten. Um einen weiteren Sturz zu vermeiden, ging Lilith vorsichtig weiter und war erleichtert, als sie das Ende des Stegs unbeschadet erreichte.

Gerade entdeckte sie Eleanor und Matt, die bei den beiden Einheimischen angekommen waren, als …

Hatte sie sich das nur eingebildet?

In dem Moment, als Liliths Füße den Boden von St. Nephelius berührt hatten, spürte sie ein Vibrieren, das durch ihren ganzen Körper ging und immer stärker wurde. Dann …

Bumm – Bumm!

Lilith sprang vor Schreck fast in die Höhe. Sie hatte eine Art Beben wahrgenommen, ein Pulsieren der Erde direkt unter ihren Füßen. Nur kurz und flüchtig, aber zu intensiv, als dass sie es hätte leugnen können. Wie ein Herzschlag der Insel, schoss es ihr durch den Kopf, auch wenn sie wusste, wie absurd das klang – doch genau so hatte es sich angefühlt. Lilith sah zu den anderen, aber außer ihr selbst schien niemand etwas bemerkt zu haben. Sie wartete atemlos ab. Der Boden unter ihren Füßen blieb ruhig und bewegungslos.

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Vielleicht war sie von dem Sturz immer noch etwas wacklig auf den Beinen und hatte sich alles nur eingebildet.

Lilith schloss zu Eleanor und Matt auf. Das Wassermonster hatte inzwischen die Maske abgenommen und über dem grünen Körper kam ein hageres Gesicht zum Vorschein, das mit einer jugendlichen Akne überzogen war. Bei näherem Hinsehen erwies sich das Monsterkostüm als dunkelgrüner Neoprenanzug, an dem künstliche Algen, gummiartige Auswüchse und Pailletten befestigt waren. Der junge Mann war so hochgewachsen, dass Lilith den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen.

»Was wollen Sie denn hier?«, fragte er gerade an Eleanor gewandt und sah sie unfreundlich an. »Mit der letzten Fähre kommen eigentlich nur Einheimische.«

Neben ihm stand eine in Lumpen gehüllte, als Hexe verkleidete Frau mit strähnigen Haaren, die sich vornübergebeugt auf einen Stock stützte. Sie nickte so eifrig, dass ihre lange gebogene Nase wie ein Beil auf und nieder fuhr. »Das Halloweenspektakel für Touristen ist vorbei und es gibt hier keine Übernachtungsmöglichkeiten«, krächzte sie.

Die Nase der Hexe zog Liliths und Matts Aufmerksamkeit wie magisch an. Sie ging so fließend in ihr faltiges Gesicht über, dass sie unglaublich echt wirkte. Auch die Farbe stimmte mit ihrem Gesicht bis zur kleinsten Nuance überein. Entweder war hier ein unglaublich begabter Maskenbildner am Werk gewesen oder – was Lilith der Frau nicht wünschte – die Nase war tatsächlich echt.

»Was glotzt ihr beide so?«, fuhr sie Lilith und Matt an. »Gefällt euch etwa meine Nase nicht?«

»Doch … doch«, stammelte Matt. »Sie ist …« Er stockte.

»Beeindruckend«, half ihm Lilith.

»Wenn ihr weiter so frech seid, hexe ich euch eine doppelt so große Nase ins Gesicht, ihr elenden Bälger!«, fauchte sie und gab beim Anblick der erschrockenen Gesichter von Matt und Lilith ein grausiges Lachen von sich. Die Frau schien in ihrer Halloweenrolle regelrecht aufzugehen.

»Hören Sie, ich hab Ihnen doch gerade schon versucht zu erklären, dass wir keine Touristen sind«, sagte Eleanor in ruhigem Ton. »Wir …«

»Sie gehören zu mir«, unterbrach sie eine weibliche, sehr melodisch klingende Stimme. »Jedenfalls eine von ihnen.«

Aus einem der Nebelfetzen trat eine schlanke junge Frau in Jeans und einem dunkelroten Regencape. Ihr blondes Haar reichte ihr bis zu den Hüften und war im Nacken zu einem praktischen Zopf zusammengebunden. Ihr fester, gerader Blick heftete sich auf Lilith.

»Du musst meine Nichte sein«, stellte sie fest. Es war nicht zu erkennen, ob sie dieser Umstand freute oder ob sie ihn bedauerte.

Lilith dagegen musste sich zusammenreißen, ihre Tante nicht mit weit geöffnetem Mund anzustarren. Auch wenn ihr Vater nie viel von seiner Familie erzählt hatte, so wusste Lilith doch, dass Mildred seine ältere Schwester war und schon über vierzig sein musste. Die Frau, die vor Lilith stand und sich als ihre Tante ausgab, sah aus wie Mitte zwanzig. Ihre Haut war makellos, hatte eine jugendliche Frische und zeigte nicht einmal die Spur kleiner Fältchen. Diese Frau konnte unmöglich ihre Tante sein! Allerdings war ihre Ähnlichkeit mit Joseph Parker nicht zu leugnen. Die Art, wie sie nun entschlossenen Schrittes auf Lilith zukam, erinnerte sie genauso an ihren Vater wie Mildreds türkisfarbene Augen.

Lilith holte tief Luft und setzte ein, wie sie hoffte, höfliches Lächeln auf. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Tante Mildred!«

Ihre Tante erwiderte ihren Händedruck und ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Bevor ich es vergesse: Ich soll dir von Dad einen Brief geben.« Lilith nahm ihren Rucksack ab und durchforstete ihre Innentasche. »Ich musste ihm an die hundert Mal versprechen, dass ich ihn dir sofort bei meiner Ankunft übergebe.«

Endlich fand Lilith den Brief. Ihr Vater hatte ihn sogar mit einem Wachssiegel verschlossen. Zwar hatte er eine Marotte für solche alten Traditionen, doch Lilith wurde das Gefühl nicht los, dass er mit dem Siegel ein vorzeitiges Öffnen verhindern wollte.

Mildred nahm den Brief mit einem kaum hörbaren Seufzen entgegen. Sie stellte sich unter eine der gusseisernen Laternen, doch das wenige Licht konnte kaum ausreichen, um in der Dunkelheit und dem Nebel Vaters kleine Handschrift entziffern zu können. Zu Liliths Erstaunen gelang es ihrer Tante scheinbar mühelos. Allerdings schien sie über seinen Inhalt nicht gerade erfreut zu sein. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend beobachtete Lilith, wie sich die Augenbrauen ihrer Tante immer mehr zusammenzogen. Stellenweise stieß sie sogar ein ärgerliches Schnauben aus. Schließlich faltete Mildred den Brief achtlos zusammen und stopfte ihn unwillig in ihre Jackentasche.

»Los, gehen wir!«, fuhr sie Lilith an.

Sie sah ihrer Tante verständnislos hinterher, während diese zu einer einspännigen, nicht überdachten Kutsche stapfte, die am Rand der Straße abgestellt war.