Lilly und die Zwölfen, 3, Zuckerguss und Elfenkuss - Sibylle Wenzel - E-Book

Lilly und die Zwölfen, 3, Zuckerguss und Elfenkuss E-Book

Sibylle Wenzel

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Beschreibung

Die 9-jährige Lilly träumt davon, Elfen zu sehen. Stattdessen lernt sie aber die Zwölfen kennen, die ungeliebten Verwandten der Elfen. Mit diesen Zauberwesen wird es nie langweilig: Sie sind rund, fröhlich, frech und singen für ihr Leben gern. Mit ihren Stummelflügeln können die Zwölfen zwar nicht sehr hoch fliegen, aber dafür haben sie das Herz am rechten Fleck. Bei ihnen lernt Lilly, dass es nicht wichtig ist, wie man aussieht, es zählt nur, was man tut! Lillys Mutter Henni verliebt sich in Felix, den neuen Konditor. Lily findet Felix eigentlich nett, doch dann beschleicht sie ein schlimmer Verdacht: Hat er die Stelle nur angenommen, weil er es auf die Rezepte für die zwölfigen Eissorten und den Apfelkuchen abgesehen hat? Lilly muss das unbedingt herausfinden! Hilfe bekommt sie von ihrer Zwölfenfreundin Flimm und dem Elfenmädchen Amarandel. Dumm nur, dass die beiden sich nicht gerade mögen …

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KOSMOS

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Anna-Lena Kühler

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© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50185-6

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Christel

Unheil im Anmarsch

„Hier kommt die Sprudelfontäne hin“, sagte Ziggy und fuchtelte mit der Fackel in seiner Hand nach links. „Dort hinten müsst ihr euch das Becken mit den Renngoldfischen vorstellen“, er wedelte in die andere Richtung, „und direkt vor euch den Chill-Bereich mit den Schwebeliegestühlen, in denen man eine Kleinigkeit zu sich nehmen kann.“

Lilly eilte neben ihrer Zwölfenfreundin Flimm Ziggy hinterher, der mit großen Schritten voranlief. Seinen Anweisungen folgend, guckte sie dabei nach links, nach rechts und geradeaus. Doch überall war bloß schwarze Erde, ab und zu unterbrochen von einer Wurzel oder einem Stein.

Die drei befanden sich tief unter dem Zwölfenbaum in einer weiten, hohen Höhle, die nur durch Ziggys Fackel und einige Wandleuchten notdürftig erhellt wurde. Lilly konnte kaum ihre eigenen Füße sehen. Während sie dem Zwölfen hinterherstolperte, der wie ein Wasserfall weiterredete, sah sie sich bang um. Wie stickig es hier war! Und was waren das für unheimliche Schatten, die da an den Wänden tanzten?

„Und? Wie findet ihr es?“ Ziggy war abrupt stehen geblieben und drehte sich mit ängstlichem Blick zu den Mädchen um. „Meint ihr, es wird den anderen gefallen?“

Überrumpelt sah Lilly ihn an. „Äh, was?“

„Also, ich finde es total zwölfig“, sprang Flimm für sie ein. „Vor allem auf die Wettrennen mit den Goldfischen freu ich mich schon!“

„Wirklich?“ Ziggy schien noch nicht überzeugt. „Ist es nicht zu langweilig?“

„Aber nein“, versicherte jetzt auch Lilly. „Das wird ein richtig tolles Spaßbad, wenn es fertig ist!“

Ziggy atmete angespannt ein. „Hoffentlich. Ist ja doch eine große Sache für mich, dass der Baumzwölf ausgerechnet mir diese Aufgabe anvertraut hat. Ich will niemanden enttäuschen. Nicht nach dieser Sache damals …“ Er verstummte.

Lilly blickte ihn mitfühlend an. Ihr war klar, dass er an den Vorfall vor über dreißig Jahren dachte, als er verdächtigt worden war, die Elfen bestohlen zu haben. Zum Glück hatte sich inzwischen herausgestellt, dass er völlig unschuldig gewesen war. Seitdem ging es Ziggy viel besser. Nicht nur, dass er ordentlich zugenommen hatte und langsam wie ein richtiger Zwölf aussah, er ging auch wieder auf Partys, besuchte Freunde und ließ es sich nach Zwölfenart gut gehen. Und nun hatte Zinobius ihm sogar die Leitung des wichtigsten Projekts der Zwölfen übergeben: ein Riesenspaßbad mit einer Vielzahl von Becken, Rutschen und Wasserfällen! Lilly fand es toll, dass Ziggy die Aufgabe angenommen hatte. Trotzdem konnte sie verstehen, dass er sichergehen wollte, dass diesmal alles glattlief.

„Du wirst niemanden enttäuschen, Ziggy“, sagte sie deshalb. „Deine Planung ist großartig. Ich bin sicher, dass alle begeistert sein werden!“

Ziggy war endlich beruhigt. Lilly erspähte sogar ein Tränchen der Erleichterung in seinem Augenwinkel, doch das wischte er rasch weg. „Das wäre schön“, sagte er. „Schließlich ist zur Eröffnung eine große Feier geplant, zu der auch die Langflügler eingeladen sind. Also muss es richtig zwölfig werden!“

Lilly nickte lächelnd. Die Zwölfen und die Elfen – oder die „Langflügler“, wie die Zwölfen sie nannten – hatten sich seit ihrer Versöhnung im Herbst öfter gesehen als in den gesamten dreißig Jahren davor. Die Zwölfen hatten ihre Verwandten zu mehreren Partys eingeladen, die Elfen ihrerseits zu einer Harfendarbietung und einer Veranstaltung zum Thema Kräuterkunde im Garten. Und wenn man sich zwischen den Wohnbäumen über den Weg flog, grüßte man einander freundlich. Die Eiszeit zwischen den Zaubervölkern war endlich vorbei.

„Wollen wir wieder nach oben gehen?“, fragte Ziggy.

Lilly nickte sofort. Sie sehnte sich nach Licht und frischer Luft.

Nicht so Flimm. „Jetzt schon? Ich will noch so viel wissen! Zum Beispiel zu den Bauarbeiten. Wie entsteht eigentlich so eine neue Höhle?“

„Eine gute Frage“, gab Ziggy zurück, der sich über Flimms Interesse zu freuen schien. „Nun ja, vieles geschieht mit Magie. Schließlich haben wir ja unsere Zauberringe wieder.“ Wie zum Beweis hob er seine rechte Hand, an der ein Ring mit einem funkelnden grünen Stein steckte. „Aber nicht alles. Bei den schweren Grabungsarbeiten zum Beispiel helfen uns Maulwürfe. Natürlich gegen Bezahlung. Da hinten in der Ecke sind gerade ein paar dabei, einen Tunnel zu graben. Wollen wir mal gucken, ob wir einen sehen?“ 

Lilly schluckte. Sie hatte genug von dieser finsteren Höhle. Und jetzt sollte sie auch noch in einen Tunnel krabbeln?

„Oh ja!“, rief Flimm und hüpfte aufgeregt auf und ab, sodass ihre rotbraunen Strubbelhaare wippten. „Das würde ich gern!“

Lilly verkniff sich ein Seufzen. Wenn Flimms Entdeckerfreude einmal geweckt war, war sie nicht zu bremsen. Aber natürlich wollte sie ihrer Freundin das Abenteuer nicht vermiesen. Also schwieg sie und folgte den beiden tiefer in die Höhle hinein.

Hier war es so finster, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Unsicher stolperte Lilly dem flackernden Licht von Ziggys Fackel hinterher, bis sie in einem felsigen Winkel zum Stehen kamen.

„Hier unten“, sagte Ziggy und senkte die Fackel Richtung Boden.

Vor ihnen wurde das Einstiegsloch eines Tunnels erkennbar. Leise Kratzgeräusche drangen daraus hervor. Lilly schauderte.

„Sind das die Maulwürfe?“, fragte Flimm gespannt.

„Genau“, erwiderte der Zwölf. „Sie sind dabei, einen Durchgang zum Bach –“

„IIIeeeck!“ Weiter kam er nicht, denn plötzlich ertönte ein schrilles Geräusch, das Lilly die Haare zu Berge stehen ließ. Es klang, als würde jemand mit sehr langen Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzen.

„IIIIIEEEECKCK!!“

Entsetzt hielt Lilly sich die Ohren zu, drehte sich um und lief weg. In der Mitte der Höhle blieb sie schlotternd stehen. Kurz darauf tauchten Flimm und Ziggy neben ihr auf. Sogar die Maulwürfe flitzten aus dem Tunnel und verschwanden im Dunkel der Höhle.

„Wa…wa…was war das denn?“, stotterte Lilly.

„Kkkeine Ahnung“, erwiderte Ziggy, der genauso erschrocken wirkte wie sie. „Es kkkam von da vorn, glaube ich. Aus dem Erdreich. Klang wie ein Tier.“

Das Geräusch war zu einem fernen Röcheln verebbt.

„Wie ein Tier, dem jemand ordentlich auf den Fuß getreten ist“, ergänzte Flimm trocken.

„Aber welches Tier kann denn so fürchterlich schreien?“, fragte Lilly.

„Vielleicht Wühlmäuse?“, riet Ziggy. Er war ganz blass um die Nase.

Flimms Wangen hingegen glühten vor Aufregung. „Glaub ich nicht“, widersprach sie. „Das war etwas Größeres! Ein Dachs oder ein Fuchs.“

„Kann sein. Auf jeden Fall scheint es jetzt weg zu sein.“ Ziggy atmete tief durch. „Kommt, wir sollten nun wirklich aufbrechen.“

Lilly stimmte ihm erleichtert zu. Sie wollte bloß noch raus hier!

Nur Flimm blickte noch einmal in die Ecke der Höhle, aus der das Geräusch gekommen war. „Na gut“, sagte sie. „Dann lasst uns gehen.“ Damit folgte sie den beiden zum Ausgang.

Nachdem sie eine lange Leiter hochgeklettert waren, verabschiedeten sich Lilly und Flimm von Ziggy und verließen die Glückseiche.

Draußen war es dunkel und kalt. Direkt neben ihnen hinter dem Maschendrahtzaun stand nun die Wand des neuen Kuhstalls, den Herbert Gräuerling, der Nachbar der Liebigs, im Herbst hatte bauen lassen. Das Muhen der Kühe drang gedämpft bis nach draußen.

Lilly atmete die Winterluft in tiefen Zügen ein. „Puuh, war das stickig da unten. Und dann dieses entsetzliche Geräusch. Voll gruselig!“ Sie schauderte erneut.

„Oh ja“, sagte Flimm. „Wir müssen unbedingt rausfinden, was das war. Nicht, dass es gefährlich ist.“

Lilly sah sie lächelnd an. „Du hast echt vor gar nichts Angst, was?“ Auch wenn sie es nicht immer verstehen konnte, fand sie es toll, dass ihre Freundin so draufgängerisch war.

„Kann schon sein“, sagte Flimm grinsend. „Aber daran bist du selbst schuld. Seit dieser Sache vor ein paar Monaten fühle ich mich irgendwie verantwortlich dafür, dass hier drin alles glattgeht.“ Sie klopfte auf den Stamm ihres Wohnbaums.

Lilly nickte. Das konnte sie verstehen. Als genau dieser Baum im Herbst von Gräuerling hatte gefällt werden sollen, hatte sich nämlich gezeigt, dass die Zwölfen mit solch schwierigen Situationen nicht sonderlich gut umgehen konnten. Sie machten eben lieber Party und genossen ihr Leben, als sich um ernste Dinge Gedanken zu machen.

Inzwischen war auch Lilly zum Stamm der alten Eiche geflattert und hatte sich unter einen Vorsprung in der knorrigen Rinde gestellt. Über ihr befand sich ein Griff.

Diese Konstruktion war eine Zauberstaubdusche. Die Zwölfen hatten sie extra für Lilly angebracht, damit sie sich selber wachsen oder schrumpfen lassen konnte. Sie hatte zwei Ausgänge: Einen in etwa 1,40 Meter Höhe, unter den sie sich in Menschengröße stellen konnte, um zu schrumpfen. Und diesen hier fast am Boden, wenn sie wieder wachsen wollte.

Mit einer geübten Bewegung zog Lilly an dem Griff, und schon fiel ein Schwall bunt glitzernder Zauberstaub auf sie herab. Rasch hielt sie sich die Nase zu, denn der Zauberstaub der Zwölfen roch sehr gewöhnungsbedürftig. Nach Kaninchenpups, um genau zu sein. Eilig machte Lilly einen Schritt nach vorn, damit sie sich nicht den Kopf stieß, da strömte schon das wohlbekannte Kitzeln durch ihren Körper, und sie begann rasend schnell zu wachsen.

„Kommst du morgen wieder vorbei?“, fragte Flimm, als Lilly ihre normale Größe erreicht hatte. „Dann will Mama das neue Sofa für unsere Wohnhöhle herbeizaubern. Mal sehen, vielleicht kann ich sie ja überreden, dass sie es mich mal versuchen lässt!“

Seit die Zwölfen ihre magischen Schätze zurückbekommen hatten, genossen sie es in vollen Zügen, dass sie wieder zaubern konnten. Besonders Flimm war ganz begeistert davon und wünschte sich nichts mehr als einen eigenen Zauberring. Doch zu ihrem Ärger hatte sie keinen bekommen. Flimm fand das ungerecht, schließlich hatten die Zwölfen es nur Lilly und ihr zu verdanken, dass der Tresor der Elfen hatte geöffnet werden können! Doch egal, wie viel sie bettelte und bat, der Zauberring der Fünfvorzwölfens steckte, wie es bei den Zwölfen üblich war, fest an der Hand der Zauberin der Familie. Und das war Flimms Mutter Zirbeline.

Seitdem dieser Ring wieder mit Zauberkraft aufgeladen war, hatte sich die Familie einiges gegönnt: eine neue Küche, eine Spielzeugraupe für den kleinen Flumm, auf der er reiten konnte, und ein größeres Schlagzeug für Finley und Florin, die ja zusammen als „Die Drachen-Brüder“ auftraten.

Lilly freute sich für die Zwölfen, dass sie ihre Zauberkraft wiederhatten. Schließlich hatten sie über dreißig Jahre lang sparen müssen. Und wenn sie es jetzt ein bisschen übertrieben, war das auch egal, fand sie.

„Ich komme gern“, beantwortete sie Flimms Frage daher lächelnd. „Dann bis morgen.“

„Bis morgen!“ Flimm winkte Lilly noch einmal zu und schon war sie – flupp – in der Wurzelrutsche verschwunden.

Lilly lief durch den Garten zu dem Bauernhaus mit dem dunklen Fachwerk, in dem sie mit ihrem Opa Kurt und ihrer Mutter Henni lebte. Direkt an das Wohnhaus schloss sich das Ausflugslokal der Familie Liebig an, die „Glückseiche“. Es bestand aus einer Gaststätte nebst Biergarten, einem Tretbootverleih und einem Badesteg am See.

Jetzt im Winter war das Ausflugslokal geschlossen. Nur die Konditorei, die sich im Erdgeschoss des Bauernhauses befand, blieb geöffnet. Und damit hatten die Liebigs zurzeit mehr als genug zu tun. Denn seit Lilly im Herbst das Rezept des fantastischen Apfelkuchens ihrer Oma Thesi entdeckt hatte, rannten die Kunden ihnen regelrecht die Bude ein. Der Apfelkuchen und die Eissorten, die Lilly zusammen mit den Zwölfen erfunden hatte, fanden so reißenden Absatz, dass Kurt mit dem Nachschub kaum hinterherkam. Deshalb hatten er und Henni beschlossen, endlich einen Konditor einzustelle,n.

Als Lilly durch die Terrassentür ins Wohnzimmer schlüpfte, fiel ihr Blick auf die große Standuhr. Verflixt, schon zwanzig nach sieben! Sie hätte längst zu Hause sein müssen. Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären?

Während Lilly noch unschlüssig dastand, hörte sie leises Stimmengewirr aus der Gaststätte. Plötzlich fiel ihr ein, dass Kurt und Henni heute ja einige Gespräche mit Bewerbern auf die Konditorstelle führen wollten.

Sie schöpfte Hoffnung. Vielleicht war den beiden gar nicht aufgefallen, dass sie unterwegs gewesen war?

Auf Zehenspitzen lief sie in den Flur, um ihre Jacke aufzuhängen und die Schuhe auszuziehen. Wenn sie es ungesehen hoch in ihr Zimmer schaffte, konnte sie immerhin behaupten, dass sie schon länger da war …

„Hallo, Lilly“, sagte da eine helle Stimme hinter ihr. „Schön, dass du auch noch mal nach Hause kommst.“

Erwischt.

Seufzend hängte Lilly ihre Jacke auf und drehte sich um. Ihre Mutter Henni stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und sah sie an. „Du weißt doch, dass wir um sieben essen. Wo warst du bloß?“ 

Was sollte sie antworten? Dass sie in einer gruseligen Höhle unter dem Zwölfenbaum gewesen war? Wohl eher nicht …

Aber was dann?

„Spazieren!“, sagte Lilly das Erste, was ihr einfiel. „Ich war spazieren. Unten am See. Jetzt in den Ferien hab ich ja endlich mal Zeit dafür. Und du sagst doch immer, dass ich nicht nur in meinem Zimmer herumsitzen soll!“

Damit machte sie einen Punkt bei ihrer Mutter. Wegen Lillys Übergewicht war diese nämlich ständig hinterher, dass Lilly sich ja genug bewegte.

Tatsächlich wurde Hennis Blick sofort milder. „Ja, schon. Aber du musst trotzdem auf die Zeit achten. Das Essen wird doch kalt.“

Lilly nickte betont reumütig. „Hast recht, es tut mir leid. Ich verspreche, dass ich in Zukunft daran denke!“

„Das wäre schön. Dann wasch dir mal die Hände, damit wir essen können.“

Als Lilly kurz darauf in die Küche kam, hatte ihre Mutter den kalorienarmen Spinatauflauf, den sie gemacht hatte, bereits auf die Teller verteilt. Dazu gab es Salat.

„Na endlich“, brummte Kurt und häufte sich die Gabel voll. „Guten Appetit.“

„Guten Appetit!“, wünschte auch Henni und griff nach ihrem Besteck.

Lilly setzte sich. „Und? Habt ihr schon jemanden für die freie Stelle gefunden?“

Ihre Mutter ließ die Gabel sinken. „Leider nein“, sagte sie. „Es will einfach nicht passen. Entweder ist den Bewerbern die Anfahrt zu weit oder die Bezahlung zu gering … oder“, sie blickte seufzend zu Kurt hinüber, „dein Opa ist nicht mit ihnen einverstanden.“

„Echt? Warum das denn?“, fragte Lilly.

„Weil sie alle nichts taugen, wenn man ihnen ein bisschen auf den Zahn fühlt“, murrte Kurt.

Henni rollte mit den Augen. „Ach, Papa, findest du nicht, dass du übertreibst?“

„Aber ich hab doch recht!“, beharrte Kurt grimmig. „Entweder sind sie unhöflich oder faul oder haben einfach keine Ahnung, was sie da machen! Der vorletzte Bewerber wusste nicht mal, wie lange man Eischnee aufschlagen muss, damit er nicht flockig wird!“

Lilly schüttelte ungläubig den Kopf. Das wusste ja sogar sie.

„Und am schlimmsten sind die, die keine Leidenschaft mitbringen“, wetterte ihr Opa weiter. „Hast du gehört, wie abfällig dieser junge Mann – du weißt schon, der mit der Brille – von der Qualität der Zutaten geredet hat? Dem ist es doch völlig egal, womit er seine Kuchen belegt!“

„So etwas geht natürlich nicht“, sagte Henni. „Aber das gilt doch nicht für alle. Die Letzte zum Beispiel, die Blonde, die war doch sehr kompetent. Und fleißig wirkte sie auch!“

„Schon“, gab Kurt zu. „Aber als sie dachte, wir kriegen es nicht mit, hat sie Fritz ganz gemein angeraunzt.“ Fritz war der Student, der stundenweise in der „Glückseiche“ arbeitete. „Nein, mit der würde es nur Streit geben. Die ‚Glückseiche‘ ist aber ein Familienunternehmen, da muss man sich auch menschlich verstehen!“

Da hatte er recht, fand Lilly und nickte ihrem Opa zustimmend zu.

„Jaja, das sehe ich ja auch so“, versicherte Henni, während sie Lilly ungefragt etwas von dem Salat auftat. „Aber was du dir vorstellst, ist die Eier legende Wollmilchsau! Das war schon die dritte Bewerberrunde, die wir veranstaltet haben. Bis wir jemanden finden, der alles erfüllt, was du verlangst, ist es Sommer! Wir brauchen aber jetzt Unterstützung!“

Das stimmte natürlich auch, dachte Lilly und nickte diesmal ihrer Mutter zu. In den letzten Wochen waren ihre Mutter und ihr Opa wegen der vielen Arbeit ziemlich gestresst gewesen.

„Also, ich werde keinen nehmen, den ich nicht wirklich für geeignet halte“, gab Kurt trotzig zurück. „Da stelle ich mich lieber selbst bis nachts in die Backstube!“

Henni seufzte erneut. „Das wirst du auch müssen, wenn das so weitergeht“, erwiderte sie. „Na ja, morgen kommen ja noch ein paar Bewerber. Hoffen wir, dass da deine Wollmilchsau dabei ist!“

Als Lilly später im Bett lag und las, hörte sie ein Klopfen. Kurz darauf ging die Tür auf, und ihr Opa steckte den Kopf ins Zimmer.

„Gut, dass du noch wach bist! Ich muss nämlich etwas mit dir besprechen“, sagte er, während er die Tür hinter sich schloss. „Ohne deine Mutter.“

Lilly legte ihr Buch auf die Decke und richtete sich auf. „Ist etwas passiert? Du guckst ja so besorgt.“

„Nein, nein“, brummte Kurt und setzte sich auf die Bettkante. „Es geht nur um das Lararyllis. Es ist schon wieder alle.“

Lararyllis war die Geheimzutat aus der Gewürzküche der Elfen, die den Apfelkuchen der „Glückseiche“ so unglaublich lecker machte – so wie der Zauberstab der Zwölfen ihre neuen Eissorten. Henni ahnte nichts davon, nur ihren Opa hatte Lilly eingeweiht, allerdings ohne Genaueres zu erzählen. Zum Glück vertraute er ihr und streute seitdem eine Prise des moosgrünen Pulvers über jeden Kuchen, bevor er ihn in den Ofen schob.

„Schon wieder?“, fragte Lilly überrascht. „Ich habe dir doch erst letzte Woche etwas gebracht.“

„Ich weiß“, sagte Kurt. „Aber seit sich herumgesprochen hat, wie fantastisch unser Apfelkuchen schmeckt, verkaufen wir halt immer mehr davon. Denkst du, es wäre möglich, dass deine … ähm, ich meine, dass du in Zukunft eine größere Menge bekommst?“

Lilly dachte kurz nach. „Keine Ahnung. Aber ich kann natürlich fragen.“

„Das wäre toll.“ Kurt lächelte sie an. „Weißt du, ich bin so froh, dass wir nach den letzten schlechten Jahren durch die Konditorei jetzt auch im Winter richtig Geld verdienen. Das würde ich ungern wieder verlieren.“

Lilly lächelte zurück. „Das will ich auch nicht.“ Dann fiel ihr etwas ein. „Sag mal, Opa, wie soll das eigentlich laufen, wenn der neue Konditor anfängt? Du wirst ihm doch nichts von dem Lararyllis oder dem glitzerndem Staub, den du über das Eis streust, sagen, oder?“ Sie war sich sicher, dass es weder den Elfen noch den Zwölfen gefallen würde, wenn sich ihr Beitrag zum Erfolg der „Glückseiche“ unter den Menschen herumspräche.

„Da musst du dir keine Sorgen machen“, versprach Kurt. „Wen auch immer wir einstellen, ich werde ihm oder ihr ganz klar sagen, dass die Geheimzutat für den Apfelkuchen ein altes Familiengeheimnis ist und auch bleiben wird. Und dasselbe gilt natürlich für die Rezepte unserer Eissorten.“

Lilly nickte beruhigt. „Das ist gut.“

Kurt gab ihr noch einen Gutenachtkuss und ging.

Lilly griff wieder nach ihrem Buch, als es erneut klopfte. Erstaunt wanderte ihr Blick zur Tür. Hatte Kurt etwas vergessen? Es klopfte wieder. Jetzt wurde Lilly klar, dass das Geräusch diesmal gar nicht von der Tür kam – sondern vom Fenster.

Sie bekam Besuch!

Hastig sprang Lilly aus dem Bett und öffnete das Fenster. Auf dem Außensims stand Amarandel und streckte ihr lächelnd ein goldenes Säckchen hin. „Hallo, Lilly. Ich bringe dir Lararyllis-Nachschub.“ 

„Amarandel! Du kommst wie bestellt! Gerade hat mein Opa mir gesagt, dass wir nichts mehr haben“, rief Lilly und nahm ihr das Säckchen ab. „Oh, komm doch herein. Du musst ja ganz durchgefroren sein!“ Die Elfe trug über ihrem violetten Kleid nur einen dünnen Umhang. Und keine Strümpfe in den rosa Schläppchen.

Amarandel lachte ihr glockenhelles Lachen. „Ach, das ist kein Problem. Wir Elfen frieren zum Glück nicht leicht. Nur Regen können wir gar nicht leiden! Aber herein komme ich trotzdem gern.“

Lilly merkte, wie ihr Herz vor Aufregung schneller schlug. Bisher hatten sie sich zwar schon öfter kurz unterhalten, wenn Amarandel ihr die Zauberzutat vorbeigebracht hatte, aber mehr nicht. Genau genommen war das also ihr erster richtiger Elfenbesuch!

Fasziniert beobachtete sie, wie Amarandel mit leichten Flügelschlägen ins Zimmer flog. Auf der Suche nach einem Landeplatz steuerte sie das Regal an und setzte elegant auf – genau zwischen Lillys Elfenfiguren, die dort aufgereiht standen. Erstaunt blickte sie zwischen der Figur der Elfenkönigin Caitlinn und der des Fürsten Lenetor hin und her und begann zu kichern. „Sollen das etwa meine Oma und mein Großonkel sein?“