Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Paul, der jüngste Sohn der bekannten Bremer Schiffbauer-Familie Hartmann, ist System-Ingenieur im Raumfahrtbereich von Air & Space. Er findet die neue Nachbarin Lisa Kronberg sehr attraktiv. Durch eine unglückliche Verkettung von Umständen wird die sich anbahnende Romanze allerdings einer schweren Prüfung unterzogen. Hinzu kommt, dass seine resolute Mutter eigene Pläne für den Sohn hat und zusammen mit der Frau des Ex-Bürgermeisters für weiteren Wirbel sorgt. Gleichzeitig durchläuft sein Raumfahrt-Projekt gerade eine kritische Phase. Im Umfeld deutsch-französischer Spannungen ist sein ganzes Geschick und voller Einsatz gefordert. Gelingt es Paul, die beruflichen Herausforderungen zu meistern und gleichzeitig sein privates Glück zu finden?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 306
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
CHARLOTTE
APOTHEKE
LISA
TELEFONKONFERENZ
DREI FRAUEN
VERSCHWÖRUNG
WOCHENENDPLÄNE
LES MUREAUX
LES BORDS DE SEINE
WANDERAUSFLUG
MUSÉE D´ORSAY
STABILITÄTSANALYSE
SHAKESPEARE COMPANY
ODYSSEE
ROSENGARTEN
NILS
TOULOUSE
GEBURTSTAGSFEIER
BEDROHUNG
POLIZEITERMIN
AUSSCHWEIFUNGEN
NATUSCH
EINMISCHUNG
CHEFSACHE
MALLOW COVE
ABBITTE
STRAND
AUSSPRACHE
FAMILIENAUSFLUG
EIN VERRÜCKTER TAG
Im Garten der Hartmann-Villa war der Frühling eingezogen. In der warmen Nachmittagssonne zeigte der alte Birnbaum seine ersten Blüten. Am Rand der Rasenfläche standen in dichten, blauen Polstern die Perlhyazinthen in voller Blüte. Einzelne Gruppen von Osterglocken bildeten dazu einen hübschen Kontrast. Auch die ersten mutigen Tulpen hatten ihre Knospen geöffnet.
Charlotte und Paul hatten sich den schönsten Teil der Anlage ausgesucht und auf der Bank inmitten des Rosengartens Platz genommen. Die Rosen standen zwar im frischen und makellosen Grün des Frühlings, die zahlreichen Knospen waren aber noch geschlossen.
Drinnen feierte Pauls Mutter ihren 53. Geburtstag zusammen mit Verwandten und Freunden, zu denen auch Charlottes Eltern gehörten. Ihr Vater war der frühere Bremer Bürgermeister, Jakob Behrens, der mit Pauls verstorbenen Vater befreundet gewesen war.
Glücklich, der Geburtstagsfeier einstweilen entkommen zu sein, streckte Paul die Beine aus.
„Diese Familienfeiern sind doch immer recht anstrengend“, sagte er.
„Vor allem, wenn es offenbar nichts Wichtigeres zu geben scheint, als uns über sehr private Dinge auszufragen“, stöhnte Charlotte.
Sie schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht.
„Wobei meine Mutter eigentlich nur an einer Sache wirklich Interesse hatte“, präzisierte Paul, „ob sich an deinem Beziehungsstatus womöglich etwas geändert hat.“
„Ja genau!“, rief Charlotte und öffnete die Augen „Daran ist nur dieser blöde Zeitungsartikel schuld. Jetzt sind sie und Mama natürlich alarmiert und befürchten, dass ihre jahrelangen Bemühungen völlig umsonst waren. Dass die beiden nicht selber merken, wie durchsichtig das Ganze ist. Jeder weiß doch inzwischen, dass sie uns verkuppeln wollen.“
Charlotte, als einzige Tochter des prominenten Ex-Bürgermeisters, sollte nach Ansicht ihrer umtriebigen Mutter, Julia, selbstverständlich standesgemäß verheiratet werden. Paul, der jüngste Spross der bekannten Schiffbauer-Familie Hartmann und Sohn ihrer Freundin Elvira wäre natürlich die perfekte Wahl gewesen. Das sah diese im Übrigen ganz genauso. Und so waren die beiden Mütter emsig darum bemüht, für immer neue Gelegenheiten zu sorgen, um die beiden zusammenzubringen, wie zum Beispiel die heutige Geburtstagsfeier.
Die angestrengt unauffälligen Bestrebungen waren Paul und Charlotte nicht lange verborgen geblieben. Und so machten sie sich inzwischen einen Spaß daraus, immer wieder auf die angebotenen Gelegenheiten einzugehen.
Und Charlotte, dessen war Paul sich durchaus bewusst, war eine attraktive Frau. Mit den blauen Augen und dunklen Haaren, die im auffälligen Kontrast zu ihrer weißen Porzellanhaut standen, war sie auffallend hübsch. Außerdem belesen, kultiviert, humorvoll. Sie hatte ein gutes Auge für Fotoaufnahmen und konnte ein bisschen Klavier spielen. Dazu hatte sie einen Abschluss in Kunstgeschichte an der École National Superérieur des Beaux-Arts de Paris und, für seine Mutter nicht unwichtig, sie war eine sehr gute Kartenspielerin. Also eigentlich die perfekte Wahl. Und tatsächlich war er auch gern mit ihr zusammen, auf einer geschwisterlichen Basis sozusagen. Er war sich allerdings nicht ganz sicher, ob Charlotte das genauso sah.
Sie schwiegen eine Weile und genossen die Sonne.
„Sag mal, Charlotte, stimmt es denn, was der Weser Kurier geschrieben hat? Willst du deinem Vater wirklich nacheifern und in die Politik einsteigen?“
„Ach Quatsch. Du glaubst ja gar nicht, was ich seitdem für Diskussionen mit ihm auszustehen habe. Er kann einfach nicht verstehen, dass ich ausgerechnet bei der Konkurrenz anfangen will. Er fühlt sich persönlich angegriffen und um sein Lebenswerk betrogen.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass er noch immer so zu ihnen hält, obwohl sie ihm doch so übel mitgespielt haben bei seinem Rücktritt damals“, wunderte sich Paul.
„Ich glaube, inzwischen trauern sie ihm ein bisschen nach“, antwortete Charlotte. „Die Partei war und ist halt sein Leben. Deshalb ist er ja so aufgebracht. Und er regt sich völlig umsonst auf. Ich will doch gar nicht in die Politik einsteigen, schon gar nicht bei der Konkurrenz. Ich hatte nur so etwas wie eine Verabredung und leider hat die Presse das zu einer großen Sache aufgeblasen. Aber jetzt würde es mir nicht mal im Traum einfallen, meinen Vater aufzuklären und ihm die Wahrheit zu sagen, so wie er sich inzwischen aufgeführt hat.“
Paul lächelte, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie leicht an sich.
„Ja, es ist wirklich ein Drama“, sagte er leichthin. „Eines musst du mir aber noch erklären, Charlotte. Soll die Sache mit der Verabredung heißen, du willst mir nach all dem Aufwand, den unserer Mütter betrieben haben, nun doch noch untreu werden?“
Sie drehte das Gesicht aus der Sonne und sah ihn nun direkt an.
„Paul“, begann sie und suchte nach den richtigen Worten. „Es gab eine Zeit, da wäre ich gern an deiner Seite gewesen. Ich glaube, das weißt du auch.“
Sie schwieg und senkte den Blick. Paul beugte sich zu ihr und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
„Ja“, sagte er und fügte nach einigen Sekunden des Zögerns hinzu:
„Und ich habe dich ja auch wirklich sehr gern.“
„Aber nicht so“, vervollständigte Charlotte seinen Gedanken, schien darüber aber nicht besonders traurig zu sein. Sie begann zu schmunzeln und sagte:
„Ich habe tatsächlich jemanden kennengelernt.“
„Den Politiker?“
„Quatsch, der war wirklich langweilig.“
„Wer ist es dann? Kenne ich ihn?“, fragte Paul und sah sie neugierig von der Seite an.
„Er weiß es noch nicht, denke ich“, sagte Charlotte zögernd. „Wir haben uns nur einmal gesehen.“
„Also Liebe auf den ersten Blick?“
„Von meiner Seite schon. Du weißt doch, dass ich beim Senator für Kultur arbeite. Vielleicht hast du auch von der Imagekampagne für die Bremer Innenstadt gehört, die der Senat aufgelegt hat. Eine Werbefirma aus Hamburg wurde engagiert. Und ich wurde auserkoren, die Hamburger in Bremen herumzuführen, die Highlights zu zeigen und auch selbst Fotos zu machen, die wir vielleicht für die Kampagne verwenden könnten.
Wir waren schon fast überall, zum Beispiel im Rathaus, im Schütting, in der Böttcherstraße, im Schnoor, bei Beck´s und Mercedes, in der Überseestadt, am Fallturm und in deiner Firma am Flughafen.
Na ja, jedenfalls waren wir vor zwei Wochen in der Shakespeare Company. Eigentlich sollte uns Peer Lobinger vom Vorstand herumführen. Aber er hatte sich krankgemeldet und einer der anderen Schauspieler sollte ihn vertreten - Nils Schröder. Als ich ihn das erste Mal sah, war ich wie vom Donner gerührt. Ich muss mich total dämlich aufgeführt haben, konnte keinen Satz vernünftig zu Ende bringen. Es war wirklich peinlich.“
„So kenne ich dich ja gar nicht“, antwortete Paul lächelnd. „Nils Schröder sagt mir jedenfalls nichts. Ist der neu bei der Company?“
„Ja, er kam erst kürzlich vom Wiener Burgtheater nach Bremen. War auch ein bisschen überfordert mit unseren Fragen. Zum Glück habe ich später meine Sprache wiedergefunden und wir haben uns ganz toll unterhalten, unter vier Augen. Ich hatte die anderen völlig vergessen und auch kein einziges Foto gemacht. Bis auf dieses hier.“
Sie holte es aus ihrer kleinen Handtasche und zeigte es Paul. Ein kantig-männliches Gesicht sah ihm mit einem verschmitzten Lächeln entgegen. Verstrubbelte blonde Haare und ein warmer Ausdruck in den Augen.
„Er sieht wirklich sehr gut aus“, musste Paul zugeben.
„Ich glaube, so schlimm hat es mich noch nie erwischt.“
„Ist er denn überhaupt noch zu haben?“, fragte Paul zweifelnd. „So, wie der aussieht, bleibt er bestimmt nicht lange allein.“
„Ich weiß es nicht so genau. Habe ein bisschen recherchiert, aber keinen Hinweis auf eine Frau gefunden.“
„Vielleicht ist er schwul.“
Charlotte stieß ihm den Ellenbogen so heftig in die Seite, dass er aufstöhnte.
„Du bist blöd!“, knurrte sie in gespielter Empörung.
„Nein, im Ernst, kann doch sein, oder?“, insistierte Paul. „Was hast du denn jetzt vor?“
„Ich habe zwei Karten für ´Die Lustigen Weiber von Windsor´. Er spielt in dem Stück zwei Frauen.“
„Also doch schwul!“, sagte Paul und zog sich den nächsten Rempler zu.
„Nein, sie führen das Stück wie im Mittelalter auf. Da wurden auch immer alle Rollen von Männern gespielt. Ehrbare Frauen durften damals nicht schauspielern. Begleitest du mich?“
„Aber sehr gerne!“, sagte Paul erfreut. „Die Frage ist nur, wie wir es hinkriegen sollen, dass du ihn nach der Vorstellung triffst.“
„Ich will ihn ja gar nicht treffen. Du sollst ihn dir nur ansehen.“
„Charlotte, du kannst doch nicht einfach nur abwarten. Komm, wir überlegen uns etwas.“
In diesem Augenblick erschien Pauls Mutter, Elvira, auf der Terrasse und spähte zu ihnen herüber. Ihre Zufriedenheit, sie so einträchtig nebeneinander sitzen zu sehen, war ihr deutlich anzumerken.
„Kinder, kommt rein, es gibt Torte!“
Ein paar Tage später befand sich Paul nach einem langen Arbeitstag auf dem Heimweg. Es war schon Viertel vor sechs, als er auf der Schwachhauser Heerstraße endlich dem gröbsten Stau entkommen war. Der leichte Niederschlag steigerte sich zu einem ergiebigen Sprühregen und die Scheibenwischer erhöhten automatisch ihre Geschwindigkeit. Ähnlich erging es seinem Kopfschmerz, der jetzt wirklich unerträglich wurde.
Schuld daran war der Wirbel in der Firma. Er arbeitete bei Air & Space am Flughafen, und zwar im Raumfahrt-Bereich. Das derzeit wichtigste Projekt, der Raumtransporter Space-Truck-System, oder kurz STS genannt, befand sich in einer kritischen Phase und für jedes gelöste Problem tauchten zwei neue auf. Er war für die Flugbahn im Endanflug zuständig und eine saubere Lösung, die alle Anforderungen hinsichtlich Sicherheit und Performance erfüllte, schien in weiter Ferne.
An Lisas Apotheke lenkte er seinen Wagen auf den Parkplatz, wo schon ein protziger, schwarzer Mercedes gleich zwei Parkplätze gleichzeitig blockierte. Um genau zehn vor sechs öffnete er die Apothekentür und trat ein.
Paul merkte sofort, dass Spannung in der Luft lag. Die schöne Apothekerin, Lisa, die ihm seit Übernahme des Geschäfts vor einem halben Jahr im Kopf herumschwirrte, stand mit etwas Abstand an ihrer Seite des Tresens. Sie sah kurz zu ihm auf und Erleichterung blitzte kurz über ihr Gesicht. Der andere Kunde schob sein Rezept gerade zu ihr hin und sagte mit Nachdruck:
„Setz´ doch Datum einfach zurück. Dann stimmt wieder!“
Er sprach mit Akzent.
„Ja, das würde ich ja gerne machen“, antwortete Lisa und schob das Rezept zurück in seine Richtung, „wenn es sich nicht um ein Betäubungsmittel handeln würde und wenn es nur ein oder zwei Tage abgelaufen wäre. Aber zwei Wochen! Das kann ich nicht verantworten. Sie müssen sich ein neues Rezept geben lassen.“
Der Mann war sichtlich verärgert und trat ein bisschen näher an den Tresen heran.
„Das du machen nur, weil ich Ausländer bin!“
„Nein“, sagte Lisa entrüstet, „das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich riskiere meine Zulassung, wenn ich mich nicht an die Vorgaben halte.“
Der Mann setze seine geballten Fäuste auf den Tresen.
„Ich hierbleiben, bis du gibst Tabletten!“
Wieder sah Lisa entnervt zu Paul herüber.
„Das Rezept ist zwei Wochen alt. Das Mittel ist gegen starke Schmerzen. Haben Sie es denn damals nicht gebraucht?“
„Das dich nichts angehen“, sagte er und schob das Rezept wieder in Richtung Lisa. „Gib mir Tabletten, dann keine Probleme für dich!“
Der Mann war nicht größer als Lisa, aber stämmig. Diese sah den renitenten Kunden nun fassungslos aber auch ein bisschen ängstlich an. Wieder ein kurzer Blick auf Paul, der inzwischen Ungemach kommen sah. Lisa straffte die Schultern und antwortete mit bemüht fester Stimme:
„Das kann ich nicht machen. Bitte gehen Sie jetzt!“
„Nein, ich will sprechen Chef.“
„Ich bin der Chef hier“, betonte Lisa. „Gehen Sie jetzt!“
Jetzt spürte auch Paul langsam Verärgerung in sich aufsteigen. Konnte der Mann sich denn überhaupt nicht benehmen?
„Sie haben doch gehört, dass das Rezept nicht mehr gültig ist. Warum lassen Sie die Dame nicht einfach in Ruhe?“
Einen Augenblick war er selbst über seine Einmischung überrascht. Verdammt, das musste an den verfluchten Kopfschmerzen liegen. Er merkte auch gleich, dass Ärger drohte. Der Mann kam langsam auf ihn zu und baute sich dicht vor ihm auf. Obwohl mehr als einen halben Kopf kleiner, starrte er wütend zu ihm auf.
„Das ist Privatgespräch. Warum du nicht warten draußen?“
Paul wollte einwenden, dass es dort wie aus Kübeln goss. Allerdings ging ihn die ganze Angelegenheit tatsächlich auch überhaupt nichts an, oder? Außerdem konnte Lisa auch gut für sich selber sprechen, was sie ja gerade eben erst bewiesen hatte. Also nickte er nur und ging wortlos hinaus. In den strömenden Regen! Mistwetter, dachte er nur. Aus Sorge um Lisa blieb er draußen stehen und wartete ab. Er dachte kurz darüber nach, die Polizei zu rufen. Am Ende aber blieb er, wo er war und spürte, wie ein Rinnsal aus Wasser sich langsam einen Weg vom Kopf in seinen Kragen bahnte.
Es dauerte jedoch nur zwei Minuten, bis sich die Tür wieder öffnete. Über den Kopf des Mannes hinweg, der mit rotem Kopf herausgestürmt kam, wechselte er einen kurzen Blick mit Lisa. Es ging ihr offensichtlich gut. Im Vorbeigehen sagte der Mann nur:
„Opfer!“
Das war wohl nicht ganz von der Hand zu weisen, musste Paul sich eingestehen. Da er Lisa aber nun in Sicherheit wähnte, trollte er sich zu seinem Wagen, setzte sich hinter das Lenkrad und blieb einen Moment lang still sitzen. Er hörte den Mercedes mit durchdrehenden Reifen wegfahren. Ohne hinzusehen, wusste er, dass ihm der Mittelfinger gezeigt wurde. Doch das kümmerte ihn nicht. Er hatte das Gefühl, die Situation irgendwie vermasselt zu haben. Na ja, wenigstens habe ich den aufdringlichen Kerl aus dem Konzept gebracht und niemand ist im Krankenhaus gelandet, redete er sich den Ablauf schön.
Plötzlich fiel ihm das Rezept seiner Mutter wieder ein, das noch immer in seiner Jackentasche steckte. Das konnte auch bis morgen warten, entschied er. Und aus dem geplanten Kauf der Schmerztabletten wird heute auch nichts mehr werden. Er startete den Motor.
Wenig später fuhr er die Auffahrt zu seinem Elternhaus hinauf. Die Mischung aus klassizistischer Villa und Altbremer Haus strahlte gleichzeitig Behaglichkeit und eine gewisse Strenge aus. Eigentlich ein Widerspruch. Aber es spiegelte auf erstaunliche Weise das Naturell seiner Mutter wider. So, als wäre das Haus eine architektonische Erweiterung ihrer Persönlichkeit. Als er die Haustür öffnete, hörte er schon ihre triumphierende Stimme aus dem Spielzimmer, das gleichzeitig auch die gut bestückte Bar enthielt:
„Schweinchen und Hochzeit, meine Damen! Der erste Stich geht mit mir. Ich sage schon mal Re an.“
Sie spielte mit ihren Freundinnen Doppelkopf. Das konnte schon mal bis spät in die Nacht gehen. Paul vermutete, dass die Frau des ehemaligen Bürgermeisters, Julia Behrens, wie meist mit von der Partie war. Solange sie spielten, dachte er, konnten sie sich wenigstens nicht das Maul über ihn zerreißen und weitere Intrigen zu seiner Verkuppelung mit Charlotte schmieden. Wenn die wüssten, was sich inzwischen hinter ihrem Rücken abspielte.
Seufzend machte Paul sich leise auf den Weg ins Obergeschoss. Aber seine Mutter hatte die Haustür gehört und rief:
„Paul, Schätzchen, hast du meine Tabletten mitgebracht?“
Wie Paul diese Kosenamen hasste. Er war inzwischen 31 Jahre alt, Raumfahrt-Ingenieur und Teamleiter, hatte den grünen Gürtel im Jiu-Jitsu, war ein Meter achtundachtzig groß und überragte sie um einen Kopf. Außerdem konnte er weitgehend unfallfrei mit Messer und Gabel umgehen und sprach sehr gut Englisch und ein bisschen Französisch.
„Habe ich vergessen, Mutter. Ich kümmere mich morgen darum.“
„Wie kannst du das nur vergessen? Wo hast du nur deinen Kopf, mein Kleiner?“
Ein leichter Vorwurf in der Stimme und wieder ein Kosename. Paul verharrte am Fuß der Treppe und verdrehte die Augen.
„Willst du nicht noch kurz reinkommen und Guten Tag sagen?“
„War ein harter Tag heute. Ich geh nach oben. Kann ich mir eine Schmerztablette ausleihen?“
„Nein, ich habe keine mehr. Frag Oma Violet. Sie ist sicher noch wach.“
Zur gleichen Zeit in der Schwachhauser Apotheke war Lisa gerade dabei, den Tagesabschluss zu machen. Sie hatte zugesperrt und war allein. Weil der Nachmittag sehr ruhig verlaufen war, hatte sie ihre beiden Angestellten, Anja und Christina, schon um 17:30 Uhr heimgeschickt. Deshalb hatte sie sich dem aufdringlichen Besucher auch ein bisschen ausgeliefert gefühlt. Sie musste sich eingestehen, dass sie tatsächlich Angst gehabt hatte. Sie nahm sich für die Zukunft vor, nicht mehr allein in der Apotheke zu bleiben. Zum Glück war Paul Hartmann zur rechten Zeit aufgetaucht und hatte die Situation entschärft.
Sie hatte ihn noch draußen im Regen stehen sehen. Er hatte also noch abgewartet, bis die Luft wieder rein war. Dafür war sie ihm dankbar. Sie verstand nicht ganz, warum er anschließend nicht noch hereingekommen war, um nach ihrer ´Rettung´ sein eigentliches Anliegen vorzubringen.
Außerdem fand sie ihn in seiner zurückhaltenden Art sehr sympathisch. Und er sah ziemlich gut aus, fand sie, vor allem, wenn er lächelte, was leider nur selten vorkam. Sie registrierte das ganz unbewusst, ohne konkrete Absicht. Sie dachte nicht im Traum daran, etwas Neues mit einem Mann anzufangen. Ihre letzte Beziehung war ziemlich unerfreulich zu Ende gegangen. Sechs Monate waren seitdem vergangen. Er hatte sie sang- und klanglos per SMS abserviert. Fast schon ein Klassiker.
Nein, die Apotheke stand für sie im Moment an allererster Stelle. Erst einmal musste sie wirtschaftlich auf sicheren Füßen stehen. Nicht schon wieder Beziehungsstress.
Außerdem wusste sie nicht viel über Paul Hartmann. War er überhaupt noch zu haben? Natürlich kannte jeder in und um Bremen die Hartmanns, die Schiffbauer-Familie. Oder die absurde Geschichte des Großvaters, der als Jagdflieger an der Luftschlacht von England teilgenommen hatte, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Und seine englische Frau aus einer Reeder-Familie, die er kurz vor dem Krieg kennengelernt hatte, also Paul Hartmanns Großmutter. Der erfolgreiche Wiederaufbau der Werft kam nicht zuletzt auch mit Hilfe der britischen Kontakte seiner Frau zustande.
Lisa versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Dreimal hatte sie schon addiert und drei verschiedene Ergebnisse zu Tage gefördert. Wieder schweiften ihre Gedanken ab.
Paul Hartmann wohnte sogar in ihrer Nachbarschaft in der Nähe des Rhododendron-Parks. Er lebte dort in der bekannten Hartmann-Villa zusammen mit seiner Mutter und der berühmten Großmutter. Dies fand Lisa etwas seltsam für einen erwachsenen Mann. Andererseits, eine schönere Wohnsituation konnte man sich kaum vorstellen. Der Garten der Villa soll nach wie vor von seiner Großmutter in guter englischer Tradition gepflegt werden. Das hatte sie einmal im Weser Kurier gelesen, als dort klassische Gartenanlagen vorgestellt wurden. Die Rosensammlung soll noch immer von ausgesuchter Qualität sein, obwohl nur wenige sie zu Gesicht bekommen.
Lisa gab es auf. Sie hatte die Zahlen erneut zusammenaddiert, mit einem vierten Ergebnis. Sie machte Feierabend.
Obwohl er wegen der oft drangvollen Enge und der unangenehmen Gerüche ungern mit der Straßenbahn fuhr, hatte er sich diesmal trotzdem dafür entschieden. Denn aus unerfindlichen Gründen gönnte sich die Stadt wieder einmal mehrere große Baustellen gleichzeitig, um wichtige Einfallstraßen zu blockieren. Da die Firma ihren Standort am Flughafen hatte, also auf der anderen Seite der Stadt, hätte er die ganze verstopfte Innenstadt durchqueren oder über die Autobahnen A27 und A1 drumherum fahren müssen, um sich am Ende in den Stau auf dem Autobahnzubringer einzureihen. Es gab kaum ein Durchkommen. Im Radio wurde dringend vom Autofahren abgeraten.
Paul war sich mit Kollegen und Bekannten darüber einig, dass die Baustellenplanung nicht etwa, wie sonst immer, einfach nur unkoordiniert war, sondern vom neuen Senat mit voller Absicht eingesetzt wurde, um den Autoverkehr zu sabotieren. Denn die Stadt und gleichzeitig das Weltklima sollten mit der autofreien Bremer Innenstadt gerettet werden. Seine Mutter hatte ihm brühwarm berichtet, dass sogar Ex-Bürgermeister Jakob Behrens die Politik des Senats nicht mehr verstand.
Auf dem Weg zur Haltestelle musste Paul zwangsläufig an Lisas Haus vorbei. Nach dem gestrigen Vorfall in der Apotheke wusste er nicht so recht, ob er auf eine Begegnung hoffen oder diese eher fürchten sollte. Er entschied sich für Letzteres und beschleunigte unwillkürlich seine Schritte.
Zwanzig Meter bevor er die Doppelhaushälfte, die Lisa mit ihrer Studienfreundin Sandra bewohnte, passieren würde, sah er, wie sich die Haustür öffnete und Lisa herauskam. Sie winkte, lief direkt auf ihn zu und, zu seiner grenzenlosen Überraschung, umarmte sie ihn fest.
„Herr Hartmann“, flüsterte sie ihm atemlos ins Ohr, „entschuldigen Sie bitte den Überfall, aber der Typ von gestern sitzt nur zwanzig Meter weiter in seinem Mercedes. Tun Sie bitte so, als wären wir ein Paar.“
Ihr Atem kitzelte ihn im Ohr und er hatte ein paar ihrer blonden Strähnen im Gesicht. Tatsächlich, der schwarze Protz-Wagen parkte am Straßenrand direkt in seiner Sichtlinie. Gehorsam legte er die Arme um ihren Körper, was sich schon mal sehr gut anfühlte. Er neigte den Kopf und gab ihr die Andeutung eines Kusses auf die Wange.
„Ja, gerne“, antwortete er leise, „aber er wird mich sicher erkannt haben und sich über mein Verhalten von gestern wundern.“
Sie sah jetzt zu ihm auf. Paul hütete sich davor, ihr zu lange in die Augen zu schauen, weil er aus Erfahrung wusste, dass seine sprachlichen Fähigkeiten darunter leiden würden. Dieses Gemisch aus verschiedenen Grüntönen und dem schmalen braun-goldenen Ring rund um die Pupille hatte unvorhersehbare Auswirkungen auf ihn. Leider wurde es unterhalb der Augen auch nicht viel besser. Ihre Unterlippe konnte er nur mit dem Wort sinnlich beschreiben. Also konzentrierte er sich auf ihre Nase, an der es zwar nichts auszusetzen gab, die aber wenigstens keinen negativen Einfluss auf seine kognitiven Fähigkeiten hatte.
„Ja, ich weiß“, antwortete Lisa. „Aber ich kann mich doch nicht einem völlig Fremden an den Hals werfen, oder? Kommen Sie, ich nehme Sie in meinem Wagen mit!“
Um den Schein zu wahren, gingen sie Arm in Arm zur Garage, die sich bereits öffnete. Lisa hatte die Fernbedienung gedrückt. Dahinter kam ihr gelber Fiat 500 zum Vorschein. Er hatte ein schwarzes Stoffverdeck. Paul zwängte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Lisa startete den Wagen und fuhr vorsichtig an die Straße, um nach links abzubiegen. Beim Vorbeifahren am Mercedes sah Paul einen Mittelfinger und rollte stöhnend mit den Augen.
„Stimmt etwas nicht, Herr Hartmann?“, fragte Lisa sofort. „Ist es Ihnen zu eng? Ich weiß, Männer mögen meinen kleinen Flitzer nicht besonders.“
„Nein, es ist alles in Ordnung. Und ja, ich mag das Auto auch nicht besonders. Aber dafür ist die Gesellschaft sehr angenehm.“
Hupps! Das war ihm so herausgerutscht. Lisa schielte ihn von der Seite an, sagte aber nichts dazu.
„Herr Hartmann, kann ich Sie auf dem Weg zur Apotheke irgendwo absetzen?“
„Nein danke. Ich steige dann einfach dort in die Straßenbahn.“
Paul sah sich nach dem Mercedes um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
„Ihr Verehrer scheint für heute das Interesse verloren zu haben“, konstatierte er und dachte einen Moment nach.
„Ich finde das schon ziemlich bedenklich“, fuhr er fort, „dass er sogar vor Ihrer Haustür auftaucht. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Polizei Anzeichen dafür sieht, dass die Clans ihre Finger nach Apotheken ausstrecken. Ich weiß nicht genau, wie sie das anstellen wollen und ich habe den Artikel auch nicht komplett gelesen, aber das hier könnte etwas mit dem Thema zu tun haben.“
„Ja“, bestätigte sie, „ich habe auch davon gehört. Offensichtlich versuchen sie, über Erpressung einen Hebel zu finden.“
„Wenn noch einmal etwas Ähnliches passiert, sollte man die Polizei informieren, denke ich“, schlug Paul vor.
„Ja, habe ich auch schon gedacht.“
Sie warf ihm einen abschätzenden Seitenblick zu.
„Ich möchte Ihnen übrigens noch einmal wegen gestern danken“, fuhr sie fort. „Ich war allein in der Apotheke und hatte wirklich ein mulmiges Gefühl. Aber zum Glück sind Sie ja aufgetaucht. Danach war bei ihm erkennbar die Luft raus. Ich habe ihn nochmal aufgefordert zu gehen und das tat er dann auch.“
Paul sagte nichts dazu.
„Warum kamen Sie denn nicht noch einmal herein?“ Wieder sah sie ihn kurz von der Seite an. „Hatten Sie ein Rezept?“
„Ach ja“, sagte Paul, „das Rezept meiner Mutter. Kann ich es Ihnen gleich hier mitgeben? Ich hole das Medikament dann nach der Arbeit ab.“
Paul merkte, dass dies ihre Frage nicht wirklich beantwortete und er wollte nicht unhöflich sein.
„Ich hatte starke Kopfschmerzen“, wich er ihrer Frage aber erneut aus.
„Ja und Sie werden es kaum glauben“, sagte Lisa triumphierend, „ich bin Apothekerin. Genau dafür bin ich doch da. Eine meiner leichtesten Übungen!“
Sie sah ihn strahlend an. Jetzt musste er auch lachen.
„Komisch, jetzt wo Sie es sagen!“
Diesmal sah er ihr direkt in die Augen und spürte seinen Herzschlag schneller werden.
Mit Lisas Hilfe hatte der Tag für Paul schon einmal einen guten Anfang genommen. Im Büro lag ihm jedoch bereits eine neue Meeting-Einladung für elf Uhr beim Chef vor, also direkt nach seiner Telefonkonferenz mit den Franzosen, die sicherlich nicht angenehm werden würde.
Wegen der Einladung beim Chef schwante ihm Böses. Er war jetzt schon mehr als ausgelastet. Und der Mann würde sicherlich irgendetwas auf dem Herzen haben, was bestimmt noch mehr Arbeit mit sich brachte. Außerdem tendierte er, wie die meisten Vorgesetzten, regelmäßig dazu, den Aufwand für solche Spontan-Aktionen zu unterschätzen.
Paul erledigte so viel seiner Korrespondenz wie möglich und machte sich um kurz vor halb zehn auf den Weg zum Projektleiter, wo das Franzosen-Meeting stattfinden sollte.
Die Zusammenarbeit mit den Kollegen in Paris war von starker gegenseitiger Konkurrenz geprägt. Die Franzosen ließen immer wieder durchblicken, dass eine deutsche Abteilung für die Flugsteuerung von Satelliten und Raketen einfach völlig überflüssig war. In Frankreich war doch alles überreichlich vorhanden.
Das stimmte sogar. In Les Mureaux, westlich von Paris gelegen, gab es drei Abteilungen, von denen jede für sich sogar größer war als die hiesige Gruppe. Solange die Bremer jedoch genug Auslastung vorzuweisen hatten und gute Arbeit ablieferten, konnte am Status Quo wenig gerüttelt werden.
Ein weiteres, erstaunliches Phänomen bestand darin, dass die sonst untereinander streitlustigen Franzosen immer perfekt abgestimmt waren, wenn es gegen die Deutschen ging. Dies konnte man von der deutschen Seite allerdings überhaupt nicht behaupten. Im Gegenteil, von Absprache oder gar Strategie konnte meist keine Rede sein, zumal jede beteiligte Gruppe aus dem deutschen Anteil bezahlt werden musste und somit weniger für die anderen übrigblieb.
Hinzu kam, zumindest sah Paul es so, dass die französische Seite technische Entscheidungen oft an der Machtfrage ausrichtete und dafür gern Nachteile für das Projekt in Kauf nahm. Dagegen war der deutsche Ingenieur eher an der optimalen technischen Lösung interessiert, ansonsten aber machtpolitisch völlig naiv. Vielleicht waren seine Ansichten etwas überzogen, aber viele Kollegen dachten ähnlich. In diesem Spannungsfeld ein gemeinsames Projekt erfolgreich durchzuziehen, ähnelte einem Drahtseilakt.
Paul betrat das Büro des Projektleiters Volker Herbst, seines Zeichens sozusagen ein alter Veteran des Kleinkriegs mit der französischen Seite. Das Fenster stand weit offen. Volker hatte also wieder geraucht, obwohl das am Standort untersagt war. Na ja, ihm sollte es egal sein.
Volker war nicht allein. Sabine Sauerwein saß ihm gegenüber und lachte. Die beiden verband eine Bürogemeinschaft, die allerdings schon einige Jahre zurücklag. Seitdem frotzelten sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an.
„Moin Volker, moin Sabine“, grüßte Paul und setzte sich auf den zweiten der beiden Stühle vor Volkers Schreibtisch. Sabine nickte ihm, noch immer leise lachend, freundlich zu.
„Moin Paul“, antwortete Volker in gewohnt tiefenentspannter Weise. Das bevorstehende Gespräch mit dem französischen Projektleiter Gregor Patron und dessen Abteilungsleiter Patrice Delpoint schien seine Ausgeglichenheit nicht im Geringsten zu beeinträchtigen.
„Habt ihr euch wieder mit Radiergummis beworfen?“, fragte Paul lächelnd. „Oder hast du Sabine endlich für das Projekt rekrutiert?“
„Gott bewahre!“, rief Sabine und hob abwehrend beide Hände. „Ich bin froh, dass ich damit nichts zu tun habe. Habe für die Raumstation auch so genug Arbeit.“
„Schade“, sagte Paul. „Wir könnten ein bisschen mehr Freude bei der Arbeit gut gebrauchen.“
Sabine erhob sich.
„Ich lasse euch dann mal allein. Lasst euch nicht über den Tisch ziehen!“
Als sie draußen war, fragte Volker.
„Wo bleibt Thomas?“
„Keine Ahnung“, antwortete Paul, „er wird schon noch kommen. Wenn nicht, fangen wir schon mal ohne ihn an, oder?“
Wie aufs Stichwort klingelte das Telefon. Schon am Anfangsklingelton konnte man erkennen, dass der Anruf von außerhalb des Standortes kam. Volker wartete erst einmal ein paar Sekunden ab. Es sollte nicht so aussehen, als würden sie wie auf heißen Kohlen sitzen. Dann nahm er ab.
„Herbst speaking.“
In diesem Augenblick trat auch Thomas ein. Paul hatte mit ihm zusammen schon einige Krisen erfolgreich gemeistert beziehungsweise ohne Erfolg einfach nur überlebt. Thomas war der Spezialist für den Simulator und die Lageregelung. Außerdem wurde er immer zu Rate gezogen, wenn Koordinatentransformationen oder Quaternionen nicht richtig funktionierten, was beim ersten Versuch eigentlich immer der Fall war.
Die Telefonkonferenz begann, wie üblich, mit dem Erfassen des Bearbeitungszustandes der noch ausstehenden Actions, also Aufgaben, die abgefragt und entsprechend in der Tabelle vermerkt wurden. Das dauerte schon mal eine gute halbe Stunde, bevor es ans Eingemachte ging. Gregor, der sich immer gern tough zeigte, fing an:
„Wie weit seid ihr mit der Monte-Carlo-Analyse der Flugbahn?“
Paul war dafür verantwortlich. Der vorletzte Teil der Flugbahn des Raumtransporters STS bestand aus einem sogenannten Hop, also einem Hüpfer, bei dem das Raumfahrzeug ein Manöver durchführte, das ihn während eines halben Erdumlaufs ein bestimmtes Stück näher an die Station heranbrachte, um dann wieder einen stabilen Punkt hinter der Raumstation einzunehmen. Dieser Hop sollte jederzeit sicher sein und auch bei Ausfall aller Triebwerke niemals zu einer Kollision mit der Raumstation führen. Erst der darauffolgende allerletzte Teil der Flugbahn brauchte dann nicht mehr komplett sicher zu sein, schließlich wollte man ja andocken, also kontrolliert zusammenstoßen.
Die angesprochene Monte-Carlo-Analyse war eine tausendfach durchgeführte Simulation, bei der immer wieder andere Randbedingungen berücksichtigt wurden. Das Problem war nur, es klappte nicht. Die Bahn war nicht immer sicher. Paul antwortete deshalb:
„Wir haben die ganze Woche durchrechnen lassen. In zwölf Prozent der Fälle verletzen wir nach einem Triebwerksausfall den Sicherheitsbereich der Raumstation.“
Aus Gregors Stimme war deutlich sein Missfallen herauszuhören.
„Aus unseren Analysen hier in Les Mureaux geht eindeutig hervor, dass es in jedem Fall funktionieren muss. Ist die Simulation denn korrekt?“
Der Simulator war Thomas´ Gebiet.
„Wir haben alles doppelt und dreifach überprüft. Es gab ein kleines Problem bei der Transformation von Inertial- zu Bahnkoordinaten, was am Ergebnis aber nichts geändert hat, weil der Fehler nicht zum Tragen kam.“
Gregor ging nicht darauf ein, sondern in die Offensive.
„Dieses Ergebnis können wir nicht akzeptieren. Ihr müsst das hinkriegen und wir bestehen auf termingerechter Lieferung des Bahnmodels!“
Paul rollte mit den Augen. Gregors Lieblingswort war insist on, also bestehen auf. Inzwischen brachte ihn das Wort regelmäßig zur Weißglut. Man kann auch darauf bestehen, dass man übers Wasser laufen kann. Klappen wird es trotzdem nicht. Volker hatte das Augenrollen bemerkt und schritt ein.
„Gregor, der Zielpunkt der Flugbahn kommt von euch. Wenn er ungünstig gewählt wurde, ist das nicht unser Problem!“
„Wir können den Zielpunkt nicht ändern. Das zieht einen Rattenschwanz von Änderungen und mehr Zeit und Kosten nach sich.“
„Dann ist es eben so“, antwortete Volker ruhig. „Es ist ja der Sinn einer Simulation, dass man Probleme rechtzeitig erkennt und darauf vernünftig reagiert.“
Der letzte Teil mit der Vernunft ging Gregor offensichtlich gehörig gegen den Strich. Sein Stolz war angekratzt und er platzte heraus:
„Wenn ihr das nicht schafft, geht das über das Management!“
Paul wusste, dass dies eine Finte war. Eine fehlerhafte Flugbahn fiel auch auf die französische Seite zurück. Bevor die Diskussion eskalieren konnte, warf er ein:
„Gregor, wir haben auch noch mit anderen Zielkoordinaten Monte-Carlo-Analysen durchgeführt. Ein um fünf Meter zurückgenommener Zielpunkt mit einem halben Meter mehr Höhe würde alle Anforderungen erfüllen. Das würde einen zwei Prozent höheren Treibstoffverbrauch für den Endanflug bedeuten. Was hältst du davon?“
Ein Daumen hoch von Volker, keine Antwort von der anderen Seite. Dafür eine lebhafte Diskussion auf Französisch. Auf der deutschen Seite lächelten sich alle zufrieden an. Schließlich die Antwort von Patrice, dem Abteilungsleiter:
„Volker, schickt uns die Daten bitte elektronisch zu. Wir treffen bis Montag eine Entscheidung.“
Gregor hatte noch einen weiteren Punkt.
„Paul, die NASA verlangt eine Stabilitätsanalyse des Reglers bis in drei Wochen!“
Paul hatte keine Ahnung, was das im Detail bedeutete. Er war kein Regelungsspezialist. Er sah Volker fragend an.
„Steht das im Arbeitsauftrag?“, flüsterte dieser.
Paul schüttelte den Kopf und Volker beugte sich vor:
„Gregor, das steht so nicht im Arbeitsauftrag. Der Aufwand ist also nicht gekostet.“
„Ich bestehe darauf!“, antwortete Gregor energisch.
Paul rollte wieder mit den Augen. Volker setzte ein diebisches Lächeln auf und sagte:
„Wir schicken euch bis Montag eine Aufwandsabschätzung. Können wir uns Dienstag wieder zusammenhocken?“
Gregor ging hörbar die Luft aus. Man konnte sich förmlich vorstellen wie sein Kopf rot anlief.
„Okay!“, sagte er. „Dienstag 14 Uhr. Au revoir.“
„Ciao!“, sagten alle drei gleichzeitig und lächelten sich zufrieden an.
Die Sache mit der Stabilitätsanalyse könnte noch sehr viel Stress bedeuten, dachte Paul, weil ein im Umgang etwas schwieriger Kollege damit betraut werden musste, der den Lageregler entworfen oder anders gesagt, verbockt hatte.
„Volker, das muss wohl der Reinhold machen“, sagte Paul, „und du weißt doch, wie er ist.“
„Lass uns gleich morgen früh ein Meeting mit ihm machen“, antwortete Volker stirnrunzelnd. „Diesmal muss er spuren.“
Die restliche Zeit bis zur Sitzung beim Chef, verbrachte Paul in seinem Büro und bereitete das Sitzungsprotokoll vor, das er per Mail an Gregor schickte, der natürlich postwendend, aus Prinzip, wie Paul vermutete, einige nicht kritische Änderungswünsche hatte. Dann war es auch schon fünf vor elf.
Paul hatte von seinem Chef Ulrich Westermann eine hohe Meinung. Er war kein Experte für den Entwurf und Analyse von Flugbahnen, sondern durch und durch Software-Mann. Seine Abteilung schrieb zum Beispiel die umfangreiche Software für den europäischen Teil der Raumstation und die wenigen Flugbahnexperten hatte man ihm sozusagen untergejubelt. Trotzdem war er stets loyal und engagierte sich für die kleine Truppe.
Als Paul sein Büro betrat, sah er schon Rufus Römer entspannt in einem Stuhl lümmeln. Paul bekam schlagartig ein mulmiges Gefühl und seine Laune rutschte in den Keller. Ulrich tippte noch etwas in die Tastatur seines Computers und sagte:
„Hallo Paul, kleinen Moment noch. Bin gleich soweit.“
„Moin“, sagte Paul, ohne Römer anzusehen.
Dieser sagte gar nichts. Paul setzte sich in einen der beiden anderen Stühle und zwar in den mit dem größten Abstand zu ihm.
Doktor Rufus Römer gehörte der Abteilung erst seit ein paar Monaten an. Er verdankte seinen Vertrag hauptsächlich seiner zugegebenermaßen beeindruckenden Doktorarbeit, die sich mit der interplanetaren Flugbahnoptimierung mit Hilfe von Ionentriebwerken beschäftigte. Dagegen war auch nichts einzuwenden.
Paul hatte jedoch schon bald gemerkt, dass der Neue unter erheblicher Geltungssucht litt und eine völlig unangebrachte Überheblichkeit an den Tag legte. Auch bei völliger Ahnungslosigkeit führte er in Sitzungen immer das große Wort. Seine großartigen Ideen im Detail umzusetzen, dazu war sich der Gockel aber zu fein. Das konnten ja die anderen mit weniger Intelligenz gesegneten Mitarbeiter für ihn erledigen.
Was den unerfreulichen Gesamteindruck in Pauls Augen perfekt abrundete, war Dr. Römers dandyhafte Erscheinung. Während die meisten Ingenieure an normalen Arbeitstagen in Jeans und bequemer Kleidung im Büro erschienen, trug er immer modisch angesagte Markenkleidung und die halblangen dunklen Haare lässig in die Stirn gebürstet. Von Zeit zu Zeit wurden die Haare mit Schwung oder einer eleganten Handbewegung zur Seite befördert, was die aufdringlich vorgetragene Lässigkeit noch betonte.
Ulrich war fertig und wandte sich seinen Mitarbeitern zu.
„Paul, schön dass du so kurzfristig Zeit hattest. Wie war das Meeting mit den Franzosen?“
„Na ja, so wie immer. Sie drängeln und beschweren sich über unsere Ergebnisse. Außerdem verlangen sie eine neue Analyse, die nicht im Arbeitspaket steht.“
Paul vermied es, zu sehr in die technischen Einzelheiten zu gehen, weil Ulrich ohnehin nicht vom Fach war. Wenn er etwas genauer wissen wollte, würde er schon nachfragen.
„Ihr habt hoffentlich einen Nachschlag verlangt, oder?“
„Ja, wir machen eine Kostenschätzung und sprechen nächste Woche darüber.“
„Okay“, Pauls Chef wollte wohl zur Sache kommen. „Wir haben ein kleines Terminproblem. Rufus ist zu einem Workshop in Houston eingeladen. Er soll seine Methode der Bahnoptimierung vorstellen. Das ist natürlich auch für uns als Abteilung ein wichtiger Schritt. Leider findet zeitgleich am Freitag auch die Abgabe des Entwurfs für das Flexible Modes Modell des STS statt. Rufus sagt, die mathematische und software-technische Beschreibung des Knotenmodells ist abgeschlossen und in trockenen Tüchern. Die Veranstaltung ist sozusagen nur Formsache. Deshalb haben wir uns gefragt, ob du diesen Termin nicht für ihn wahrnehmen könntest. Du brauchst dich auch nicht groß einzuarbeiten, sammelst vielleicht ein paar Kommentare ein und fährst wieder nach Hause.“
Aus leidvoller Erfahrung bezweifelte Paul diese Aussage. Regelmäßig wurden Aufgaben klein- und der Zustand von Projekten schöngeredet, wenn das nützlich erschien. Hatte man die vermeintlich leichte Aufgabe erst übernommen, gab es dann kein Zurück mehr. Andererseits sollte diese Sache ja wirklich nur kurzfristig und in Vertretung übernommen werden. Also war sein Misstrauen gleich wieder etwas besänftigt.
„Also gut“, sagte er deshalb. „Aber Rufus soll mir den Entwurf und die möglichen Knackpunkte erklären, damit ich wenigstens ungefähr Bescheid weiß.“
„Das ist überhaupt nicht notwendig“, erklärte Rufus großspurig. „Es ist alles geklärt und es gibt keine Knackpunkte.“
„Trotzdem“, insistierte Paul, „sonst könnten wir ja genauso gut auch gleich eine Sekretärin schicken.“
Doch Rufus ließ sich nicht beirren.
„Nein, dafür habe ich keine Zeit. Schau dir einfach vorher das Dokument an. Das reicht völlig aus.“
Ulrich wollte das Thema ebenfalls möglichst schnell vom Tisch haben, weil er heute noch einige andere Baustellen zu bearbeiten hatte. Also fasste er zusammen: