Das Vierte Mädchen - Uwe Brüge - E-Book

Das Vierte Mädchen E-Book

Uwe Brüge

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Beschreibung

Ein ehemaliger Fremdenlegionär führt einen riskanten Mordauftrag im Duisburger Clan-Milieu durch. Dabei trifft er auf eine entführte Frau und befreit sie unter dramatischen Umständen aus der Hand des Mannes, den er töten soll. In der Folge interessiert sich nicht nur die Polizei für die junge Frau und ihr Wissen um den Auftragsmörder, auch der Clan-Chef setzt alles daran, sie in seine Finger zu bekommen. Für den Attentäter hat die Begegnung ebenfalls Folgen. Seine Anonymität steht auf dem Spiel und sein ganzes Leben droht, aus den Fugen zu geraten. Sein Schicksal ist fortan eng mit dem des Mädchens verknüpft. Unfreiwillig werden sie in eine Auseinandersetzung viel größerer Tragweite hineingezogen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

1

Mit beiden Händen an ihrem Zylinderhut ließ Colette ihre Hüften kreisen. Sie führte einen verführerischen Tanz auf und machte viel Aufhebens davon, sich auf laszive Art und Weise ihrer Kopfbedeckung zu entledigen. Ben verlor sie dabei nicht aus den Augen. Endlich segelte das Teil wie eine Frisbee-Scheibe zu Boden.

Zum wiederholten Male musste er sich eingestehen, dass er bei der ganzen Sache von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt hatte. Das Warnsignal hatte er ignoriert, einfach weil zu viel Geld im Spiel war, selbst wenn man die Bedeutung und Gefährlichkeit der Person berücksichtigte, die er töten sollte.

Colette beschäftigte sich inzwischen in aller Ausführlichkeit, Knopf für Knopf, mit ihrer transparenten Bluse und setzte dabei ihre geschmeidigen Hüftbewegungen fort. Als diese schließlich geöffnet war, zog sie das luftige Teil nur halb über die Schultern, so dass ihr schwarzer BH zum Vorschein kam. Eine Weile tanzte sie so weiter, bevor sie es in hohem Bogen zur Seite warf. Sie machte sich sogleich am Verschluss des BHs zu schaffen und strahlte ihn dabei auf eine Weise an, als würde sie ein besonders aufregendes Geschenk für ihn öffnen.

Die ungewöhnlich hohe Summe hatte dem Auftrag eine enorme Attraktivität verliehen und er hatte unwillkürlich damit angefangen, das Geld zu verplanen. Die Aussicht, mit Hilfe der Summe seinen Ausstieg vorzubereiten oder zumindest zu beschleunigen, hatte dann den Ausschlag gegeben. Und so hatte er schon nach kurzer Zeit seine Zustimmung in den E-Mail-Entwurf geschrieben, über den er mit seinem Mittelsmann, Dr. Sander, in Zürich kommunizierte. Als seine zustimmende Nachricht am Bildschirm verschwand, wusste er, dass Sander sie gelesen und sogleich wieder gelöscht hatte. Von diesem Zeitpunkt an hatte er den Auftrag in fahrlässiger Weise nur noch als reine Routine-Angelegenheit betrachtet.

Endlich flog der BH zur Seite und landete zufällig genau auf ihrer Bluse. Ihre wohlgeformten Brüste wippten. Sie legte beide Hände darunter, stellte ihre Hüfte aus und leckte sich gleichzeitig über die Unterlippe. Gekonnt! Sie senkte den Kopf, legte ihn schief und sah ihn mit einem herausfordernden Augenaufschlag an. Ihre Hände lösten sich von ihrem Busen und fuhren mit aufreizender Langsamkeit an ihrem flachen Bauch hinunter. Sie begann nun, an der Schließe ihres Minirocks zu nesteln. Das Öffnen schien sich zu einer länger dauernden Angelegenheit zu entwickeln.

Die Zielperson war kein Unbekannter. Er hatte sie sofort auf dem Foto erkannt. Es handelte sich um einen der mächtigsten Männer der Unterwelt in Europa, den alle nur Khan nannten. Am Ende einer jahrelangen Gewaltorgie quer durch Mitteleuropa war die Organisierte Kriminalität in den letzten Jahren einem enormen Konzentrationsprozess unterworfen gewesen. Alle kriminellen Gruppen in Deutschland, Österreich und den Benelux-Ländern mit Wurzeln aus dem Nahen Osten und Nordafrika waren nun vereint. Eine Macht, die weit über kriminelle Geschäfte hinausging. Der Versuch, Politik und Gesellschaft über Erpressung, Drohung und Gewalt gefügig zu machen, schien mehr und mehr von Erfolg gekrönt zu sein.

Endlich hatte sie den Rock geöffnet, streckte die Arme über den Kopf und ließ ihn langsam nur mit Hilfe von Hüftschwüngen heruntergleiten. Ihr Busen wippte dabei wunderbar im Takt. Der Slip und die perfekt geformten, glatten Oberschenkel wurden sichtbar. Sie drehte sich herum und präsentierte ihren ebenso formvollendeten Po. An dieser Stelle bedauerte Ben es jedes Mal, dass ein körperlicher Kontakt völlig ausgeschlossen war. Seine Verkleidung wäre sonst sofort aufgeflogen. Mit Cowboyhut, Vokuhila-Perücke, angeklebtem Schnurrbart, Lederhandschuhen und insbesondere dem künstlichen Bauch war das absolut tabu.

Khan war zwar nicht der Anführer dieses kriminellen Riesenkonzerns, aber einer der bedeutendsten Unterführer. Er war für den eminent wichtigen Bereich der Geldwäsche verantwortlich und herrschte zu diesem Zweck über ein unüberschaubares Netz von Restaurants, Spielhallen, Shisha-Bars und Bordellen in ganz Mitteleuropa.

Colette wusste natürlich von Bens früheren Besuchen her, dass es keinen körperlichen Kontakt geben würde. Umso mehr schien sie sich ins Zeug zu legen, um ihn zu reizen. Sie behielt ihren Slip, die Seidenstrümpfe und die hochhackigen schwarzen Pumps an und bewegte sich derart verführerisch, dass Ben abwechselnd kalt und heiß wurde.

Inzwischen war seine Anwesenheit in diesem Duisburger Etablissement so zur Routine geworden, dass niemand vom Personal auch nur einen zweiten Blick bemühte, und das war ja auch der Sinn der Sache.

Die Unterlagen des Auftraggebers enthielten auch ein ungewöhnlich detailliertes Bewegungsprotokoll der Zielperson, das jedoch so gut wie keine Routinetermine enthüllte. Es gab nur einen einzigen Ort außerhalb seines gut gesicherten Hauptquartiers, den er mit einer gewissen Regelmäßigkeit aufsuchte. Und das war dieses Bordell in Duisburg. Sein Auftraggeber machte für sich geltend, einen Tag im Voraus zu wissen, wann Khan diesem einen Besuch abstatten würde.

Colette hatte aufgehört sich zu räkeln und schmiegte sich mit schräg gestelltem Kopf und einer in die Taille gestemmten Faust an die Sprossenwand.

„Ich bin dann soweit“, sagte sie in geschäftsmäßigem Ton.

Ben nickte und öffnete seinen Aktenkoffer, der am entscheidenden Tag zusätzlich seine Waffen enthalten würde. Heute aber lagen nur Handschellen und eine Augenbinde darin. Er nahm sie an sich und trat zu ihr. Sie lächelte ihn herausfordernd an, als er ihr die Augenbinde reichte. Ohne zu zögern, legte sie das Tuch an und verknotete es an ihrem Hinterkopf. Wortlos drehte sie sich mit dem Rücken gegen die Sprossen und breitete die Arme aus. Er nahm ihr linkes Handgelenk und machte es mit einer der Handschellen an der Sprossenwand fest. Genauso tat er es auf der anderen Seite.

Sein Auftraggeber glaubte auch zu wissen, in welchem Teil des Gebäudes Khan sich aufhalten würde, und zwar im gut ausgestatteten, schallgeschützten Folterkeller des Bordells. Für seine eigenen Besuche im Vorfeld, so wie heute, buchte Ben deshalb immer einen der beiden benachbarten, kleineren und weniger gut bestückten Kellerräume. Er hoffte so, sich seinem Opfer am fraglichen Tag ohne Aufsehen auf wenige Meter nähern zu können, beziehungsweise schon dort zu sein, wenn es auf der Bildfläche erscheinen würde.

Colette blieb ruhig stehen und sagte kein Wort. Genau wie Ben, der es sich auf seinem Stuhl bequem machte und einfach die kommenden fünfzehn Minuten abwarten würde. Colette kannte diese Zeitspanne und würde mindestens so lange geduldig abwarten. Sie würde vor allem nicht bemerken, wenn er am fraglichen Tag, anstatt zu warten, geräuschlos den Raum verlassen und seinen eigentlichen Job erledigen würde.

Ben nutzte die Zeit um seine bisherigen Vorbereitungen zu rekapitulieren. Die Prominenz und Gefährlichkeit des Opfers und sein ungutes Gefühl hatten ihn zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen veranlasst.

Den ersten Gedanken, seine Fähigkeiten als Scharfschütze einzusetzen, hatte er nach der ersten Sondierung des Geländes verworfen. Fehlende Rückzugsmöglichkeiten nach dem Schuss machten diese Option zunichte. Außerdem konnte er nicht sicher sein, freie Schussbahn zu erhalten, wenn Khan, von seinen Leibwächtern umgeben, die wenigen Schritte vom Auto ins Gebäude zurücklegen würde. Die hohe Anzahl möglicher Gegner war ein weiterer Faktor, der für ein heimlicheres Vorgehen sprach. Die Alarmierung des Gefolges sollte möglichst erst dann erfolgen, wenn Ben schon über alle Berge sein würde. So zumindest stellte er sich die ideale Vorgehensweise vor.

Die Unterlagen des Auftraggebers enthielten eine ungewöhnliche Fülle an Detailinformationen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Khan vor Jahren bei einem Schusswechsel wohl eine leichte Verletzung davongetragen hatte. Diese Verletzung betraf ausgerechnet seinen Penis, dem seither ein Teil fehlte. Ein medizinisches Gutachten war beigelegt, das sich mit den Konsequenzen für sein Liebesleben beschäftigte. Es mündete in das Fazit, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein deutlich höherer Kick für die Höhepunkt-Fähigkeit notwendig sein würde.

Auch, dass überhaupt ein Bewegungsprotokoll angelegt und sogar der Tatort faktisch vorgegeben war, sprach für die Beteiligung offizieller Stellen. Normale Auftraggeber verließen sich voll und ganz auf seine Expertise, was die Observierung des Opfers und die Wahl des Tatortes anging. Wenn dieser Verdacht zuträfe, hätte dieser Kunde ganz andere Möglichkeiten, um zum Beispiel seine Identität aufzudecken, was er gern vermeiden würde.

Ben hatte sich einen Plan zurechtgelegt und eine entsprechende Beschaffungsliste an Doktor Sander abgesetzt. Inzwischen war alles vorbereitet.

2

Die 22-jährige Marie Kramer verließ gerade das Sportgelände ihres Feldhockeyvereins in Köln-Müngersdorf. Ihre langen blonden Haare waren noch feucht vom Duschen. Das Föhnen hatte sie sich geschenkt, denn in einer halben Stunde schon würde ihr Französisch-Konversationskurs beginnen, den sie neben ihrem Architekturstudium besuchte. Sie liebte die Sprache seit ihrer Schulzeit und sprach sie inzwischen recht flüssig.

Bereits beim Überqueren der Straße öffnete sie die Zentralverriegelung ihres Kleinwagens. Augenblicke später begann ihr Telefon zu klingeln. Sie zog es hervor und blickte, an ihrem Wagen stehend, auf das Display. Ihr Bruder Corvin. Sie erwog, ihn einfach wegzudrücken. Was er von ihr wollte, konnte sie sich denken. Geld natürlich. Wie oft hatte sie schon versucht, ihn zur Vernunft zu bringen? Es war vollkommen zwecklos. Er kriegte sein Leben einfach nicht in den Griff und hatte auf der Suche nach der großen Glückssträhne immer wieder mit zwielichtigen Gestalten zu tun, die ihn nur noch tiefer in die Bredouille brachten.

„Corvin?“

„Marie, ich habe Mist gebaut“, begann Corvin ohne weitere Einleitung. Seine Stimme hatte diesen weinerlichen Ton angenommen, wie immer, wenn er etwas von ihr wollte.

„Was ist es diesmal?“, fragte Marie ohne großes Interesse. „Du hast wieder dein ganzes Geld verzockt oder ein todsicheres Geschäft in den Sand gesetzt, richtig?“

„Ja, nein“, er fing fast an zu heulen. „Es tut mir so leid, aber ich hatte keine andere Wahl. Sie hätten mir sonst ...“

Er schluchzte auf eine Weise auf, die so authentisch wirkte, dass selbst Marie, die einiges von ihrem divenhaften Bruder gewohnt war, aufhorchte.

„... sie hätten mir sonst … sonst ...“

Seine Stimme verlor sich.

„Was ist los Corvin?“, fragte sie mit nun aufkommender echter Besorgnis.

Ihre Aufmerksamkeit wurde auf einen weißen Lieferwagen gelenkt, der mit hoher Geschwindigkeit die Straße heraufkam. Er hielt direkt auf sie zu und Marie drängte sich schutzsuchend an ihren Wagen. Der Lieferwagen bremste scharf ab und hielt direkt vor ihr an. Zwischen ihrem Wagen und dem Transporter blieb kaum ein Meter Platz. Die Schiebetür öffnete sich und eine Pistole wurde von innen heraus auf sie gerichtet. Links und rechts tauchten zwei weitere Männer auf, Schlägertypen. Sie war eingekreist. Noch immer hielt sie das Telefon an ihr Ohr.

„Marie, steig ein!“, sagte Corvin mit plötzlich deutlich festerer Stimme. „Tu alles, was sie verlangen, und wir überleben beide irgendwie diesen Tag!“

Damit legte ihr Bruder auf. Marie überlegte einen Moment lang, die Fahrertür ihres Wagens zu öffnen, um sich dort einzuschließen. Der Impuls kam zu spät. Die Männer waren bis auf Armeslänge herangekommen und behielten sie im Auge.

Zögernd machte sie einen Schritt auf den Wagen zu. Die beiden Männer neben ihr gaben ihr mit einem Stoß zusätzlichen Schwung und sie stolperte hinein. Die Männer folgten ihr und die Schiebetür wurde zugeschlagen. Marie sah sich gebückt um. Eine Sitzbank im Heck und eine hinter dem Fahrer entgegen der Fahrtrichtung ausgerichtet. Dazwischen ein einzelner Sitz quer dazu.

„Hinsetzen!“, sagte der Mann mit der vorgehaltenen Pistole und zeigte auf den mittleren Sitz. Marie setzte sich zögernd und wurde sich bewusst, dass sie von ihren drei Entführern schamlos angestarrt wurde.

„Telefon und Handtasche!“

Sie reichte ihm beides.

„Hände auf den Rücken!“

Der Sprecher hielt plötzlich ein paar Handschellen hoch. Marie wurde schlagartig von einer Panikwelle überrollt. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein!“

Gleichzeitig machte sie Anstalten aufzustehen und rief in Richtung des Fahrers:

„Sofort anhalten! Ich mache nicht mehr mit! Ich steige hier aus!“

Sie wurde mit sanfter Gewalt auf den Sitz zurückgeschoben.

„Hände auf den Rücken!“, wiederholte der Mann mit den Handschellen.

Marie hatte jetzt wirklich Angst. Was hatte Corvin nur wieder angestellt? Und was wollten diese Leute dann von ihr?

„Nein, bitte nicht!“, bettelte sie jetzt und krampfte ihre Hände auf ihrem Schoss zusammen.

Die beiden Männer links und rechts von ihr nahmen wortlos jeder eines ihrer Handgelenke und zwangen ihr die Arme auf den Rücken. Ihr schwacher Widerstand war eigentlich nur symbolischer Natur. Der dritte beugte sich über sie. Dabei bemerkte sie seinen unangenehmen Körpergeruch.

„Nein“, schluchzte sie leise.

Dann klickten die Handschellen.

3

Ben saß mit Colette im Foyer des Madeleine an der langgezogenen Bar aus poliertem Marmor. Bei einem Glas sündhaft teuren Champagners auf ihrer Seite und einem Glas Wasser auf seiner unterhielten sie sich leise. Sie hatten Plätze übers Eck eingenommen und Ben hatte sich so hingesetzt, dass er einen guten Überblick auf den Eingangsbereich und den Vorplatz hatte.

Colette studierte nebenbei und mit wenig Nachdruck Anglistik. Ben hatte den Verdacht, dass sie das Studium eher als Hobby betrachtete. Ihre eigentliche Berufung schien der Job hier im Madeleine zu sein. Um Zeit zu gewinnen, hielt Ben das Gespräch am Laufen.

„Colette, du kennst dich doch ziemlich gut in englischer Literatur aus“, sagte er jetzt. „Hast du eigentlich einen Lieblingsautoren?“

Heute war der Tag der Entscheidung und Ben wollte erst dann mit ihr in den Keller verschwinden, wenn Khan definitiv am Anrücken war. Davon wollte er sich selbst überzeugen. Colette wusste das natürlich nicht und es war ihr wohl auch egal, wie lange er sich mit ihr beschäftigte, solange er die Überstunden bezahlte.

„Edgar Allan Poe“, sagte sie ohne zu zögern.

„Warum?“

„Ich weiß nicht“, sagte Colette und nippte an ihrem Glas. „Ich finde seine Geschichten haben oft etwas Erschreckendes, das sich aber erst unterschwellig entwickelt und plötzlich zu Tage tritt.“

„Ja, stimmt“, sagte Ben. „Ich erinnere mich an eine Kurzgeschichte im Englisch-Leistungskurs, die von einem Gehenkten handelt, der auf abenteuerliche Weise entkommt und am Ende seine Frau wiedersieht. Nur, dass er sich das alles in der einen halben Sekunde ausgemalt hatte, die der Strick brauchte, um sein Genick zu brechen.“

„Genau das meine ich“, sagte Colette und sah ihn lächelnd und mit neu erwachtem Interesse an. „Du scheinst mehr auf dem Kasten zu haben, als auf den ersten Blick ersichtlich ist“, fügte sie hinzu und ließ ihren Blick über seinen etwas unpassenden Cowboyhut, die altmodische Frisur und seinen Schnurrbart gleiten.

„Genau wie du, Colette“, gab Ben das Kompliment zurück und ärgerte sich ein bisschen darüber, dass er unabsichtlich eine private Information über sich preisgegeben hatte. Das lag natürlich an der vertraulichen Atmosphäre, die Colette zu schaffen in der Lage war.

Ben hatte seinen Aktenkoffer, der nun auch seine Waffe und ein kleines Mobiltelefon zum Auslösen von Spezialeffekten, wie er es bezeichnete, enthielt bereits im Kellerraum deponiert. Seine Hauptwaffe war die Neun-Millimeter-USP mit Schalldämpfer. Sie war zwecks Geräuschvermeidung bereits durchgeladen und die im Lauf wartende Patrone durch eine neue im Magazin ersetzt. 16 Schuss Munition also. Das sollte im Normalfall mehr als reichen. Zusätzlich hatte er zwei volle Ersatzmagazine bereitgelegt. Sein Messer steckte bereits in einer Scheide am linken Unterarm.

Schon früher, als Mitglied der Fremdenlegion, gaben ihm ausreichend Waffen und Munition ein Gefühl von Sicherheit, insbesondere wenn der brisante Einsatz unmittelbar bevorstand. Mit seiner Schusswaffe unerreichbar im Keller liegend fühlte er sich jetzt besonders hilflos und verwundbar.

Er merkte, dass Colette ihm wohl eine Frage gestellt hatte. Er tauchte aus seinen Gedanken auf und sah sie fragend an.

„Bernhard, du hörst mir überhaupt nicht zu!“, beschwerte sie sich. „Fast so, als wären wir schon seit zwanzig Jahren verheiratet“, fügte sie lächelnd hinzu. Bernhard Müller war der Name, unter dem er hier bekannt war.

„Entschuldige, Colette. Was wolltest du wissen?“

„Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, wie oft wir uns wohl noch sehen werden. Irgendwie habe ich das Gefühl, es liegt eine Spur von Abschied in der Luft.“

Einmal mehr überraschte ihn ihr Gespür. Vermutlich hatte sie seine latente Anspannung irgendwie wahrgenommen.

„Wenn es so sein sollte, werde ich deine Gesellschaft in jedem Fall vermissen“, sagte Ben augenzwinkernd. Und das stimmte sogar. Für einen einsamen Wolf wie ihn war sie fast schon so etwas wie ein Familienmitglied geworden.

Bens Gedanken schweiften wieder zu seinen Vorbereitungen ab. Drei Fahrzeuge hatte er an verschiedenen Orten bereitgestellt und eines sogar mit Sprengstoff präpariert.

Sein erstes Ziel nach dem Anschlag würde eine Wohnung in einem noblen und unpersönlichen Teil Düsseldorfs sein, die den Vorteil hatte, von der Tiefgarage direkt über den Fahrstuhl erreichbar zu sein. Vorräte für zwei Wochen und ein neuer Pass lagen dort bereit, dazu eine neue, nicht registrierte Waffe als Ersatz für die, die er heute entsorgen würde.

„Ich glaube“, sagte Colette, „es würde mir Spaß machen, dir auf angenehme Weise deine Geheimnisse zu entlocken.“

Sie sah ihm nun herausfordernd in die Augen und fügte lächelnd hinzu.

„Dazu müssten wir aber die Spielregeln ändern! Ich hätte da schon ein paar Ideen.“

Dem konnte Ben nur vorbehaltlos zustimmen, sagte aber nichts dazu.

Auf dem Vorplatz tat sich nun etwas. Khans Vorauskommando fuhr gerade in einem SUV vor und parkte zwei Meter entfernt von Bens eigenen Wagen. Vier Männer stiegen aus und sondierten das Gelände.

Madeleine, die Betreiberin und Namensgeberin des Etablissements, gab Colette von der Zapfanlage her ein Zeichen.

„Komm, lass uns nach unten verschwinden“, sagte Colette und stand auf. „Hier wird es gleich ungemütlich.“

Und das war natürlich ganz in Bens Sinne.

Auf der anderen Straßenseite in einer Wohnung im dritten Stock hatte eine weitere Person auf den Aufmarsch der Khan-Truppe gewartet und begann nun, sich bereit zu machen. Seine Kamera mit dem Teleobjektiv war fertig auf dem Dreibein montiert. Die Entfernung zum Eingang des Madeleine betrug weniger als fünfzig Meter. Dort würde ihm also nichts entgehen. Sein Ausblick war auch für den Rest der Straße immer noch relativ komfortabel, weil das Haus genau an der Außenseite einer leichten Kurve stand.

Er hatte sich natürlich von der Anwesenheit der Zielperson überzeugt. Sie befand sich seit etwa einer Stunde innerhalb des Gebäudes. Deren Identifikation hatte im Vorfeld eine andere Abteilung anhand von Indizien übernommen, denn es gab anfangs keine Personenbeschreibung des Mannes.

4

Nach ihrer Entführung und dem Schock, der mit dem Anlegen der Handschellen verbunden war, hatte Marie zunächst mit einem Gefühl von Ungläubigkeit und Realitätsverleugnung reagiert. Jetzt, eine Viertelstunde später, begann ihr Verstand langsam wieder zu arbeiten.

Hatte ihr Bruder sie tatsächlich gerade an diese Männer verkauft? Und was hatten diese mit ihr vor? Sie hielt ihren Blick gesenkt, aber wann immer sie kurz aufblickte, musste sie feststellen, dass sie auf beinahe gierige Weise angestarrt wurde. Sie war froh, mit Jeans und Bluse zurückhaltend gekleidet zu sein. Die Männer hatten sie zwar bisher nicht angerührt, doch wenn sie es wollten, gab es nichts, was sie dagegen tun konnte.

Die Fahrt führte aus Köln heraus und auf der A3 in Richtung Norden. Wegen der abgedunkelten Scheiben war sie für die zahlreichen anderen Verkehrsteilnehmer jedoch unsichtbar. Von dieser Seite war also keine Hilfe zu erwarten, dachte sie mit zunehmender Verzweiflung. Wann spätestens würde man sie vermissen? Die Polizei würde erst nach Tagen tätig werden. Und der Einzige, der dann Hinweise geben konnte, steckte mit den Entführern unter einer Decke. Ihr Bruder hatte es jetzt eindeutig zu weit getrieben. Beim Gedanken an seinen Verrat spürte sie Wut aufsteigen.

Hinzu kam, dass ihre Sitzposition auf die Dauer immer unbequemer wurde. Sie konnte wegen ihrer auf dem Rücken gefesselten Hände nur seitlich sitzen.

Als sie schon befürchtete, man wolle sie außer Landes nach Holland schaffen, setzte der Fahrer den Blinker und fuhr in Duisburg von der Autobahn. Das heutige Ziel rückte also näher und Marie spürte ihren Herzschlag bis zum Hals.

Nach weiteren etwa zwanzig Minuten ging dann alles ganz schnell. Der Wagen zog in eine scharfe Kurve und bremste dabei stark ab. Sie kippte zur Seite, schrie kurz auf, wurde aber von einem ihrer Entführer aufgefangen. Der Wagen hielt vor einem Lokal, das seinen Bezug zum Rotlichtmilieu nicht verleugnen konnte. In geschwungener Schrift war über dem Eingangsportal der Name ´Madeleine´ angebracht. Links und rechts des Schriftzuges waren die Silhouetten tanzender Frauen zu erkennen. Die Schiebetür öffnete sich und schon wurde sie grob an den Oberarmen herausgezerrt und vorwärtsgetrieben. Es ging für sie stolpernd durch die menschenleere Lobby, dann eine Wendeltreppe hinunter, wieder ein kurzes Stück geradeaus und dann links herum durch zwei Türen. Nach weiteren zehn Schritten bremsten ihre Entführer abrupt ab und sie kam zusammen mit ihnen zum Stehen. Sie hörte, wie die Türen hinter ihr geschlossen wurden.

Was sie sah, jagte ihr gehörig den Schrecken in die Glieder. Der Raum war offensichtlich eine Art Folterkammer. Ein Tisch mit Beschlägen am Rand nahm einen Platz in der rechten Hälfte des Raumes ein. Ein Andreaskreuz stand an der Rückwand links. Von der Decke hingen Seile, die zu Handwinden führten. An der linken Wand gab es ein Regal mit Stricken, Peitschen und Stöcken. Verschiedene elektrische Geräte und Kabel sammelten sich auf einem Sideboard daneben.

Einer ihrer Entführer schlang nun seine Arme von hinten um die ihren und hielt so ihren Körper aufrecht. Der andere machte sich an ihrem Hosengürtel zu schaffen. Augenblicklich erwachte in Marie eine unbezwingbare Wut. Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen den Mann in ihrem Rücken, der sie jedoch einfach nur anhob.

„Aufhören!“, rief sie und begann gleichzeitig mit den Beinen auszutreten.

Mit einem Ruck wurde ihr die Jeans herunter auf die Oberschenkel gezogen, was ihre Beinfreiheit nun erheblich einschränkte. Ihre Schuhe und Socken wurden ihr heruntergerissen, die Hose folgte kurz darauf mit zweimaligem Zerren. Während sie endlich auf die nackten Füße heruntergelassen wurde, lagen die Hände ihres Gegenübers auch schon auf ihrem Ausschnitt.

„Nein!“, schrie sie und verdoppelte ihre Anstrengungen. Ohne Erfolg. Ihre Arme lagen hinter ihrem Rücken wie in einem Schraubstock. Allerdings fanden ihre wütenden Tritte endlich ein Ziel. Der Mann vor ihr fluchte laut auf und die Hände verschwanden von ihrer Brust. Auf den folgenden Fausthieb in den Bauch war sie allerdings nicht vorbereitet. Die Luft wurde ihr aus den Lungen getrieben und sie konnte nicht mehr atmen. An weitere Gegenwehr war nun vorerst nicht mehr zu denken. Die Bluse wurde aufgerissen. Marie hörte Knöpfe auf dem Fußboden klackern.

Plötzlich wurde sie losgelassen und sie klappte auf dem Fußboden zusammen. Die Reste ihrer Bluse rutschten dabei herunter auf ihre gefesselten Handgelenke.

Die beiden Männer standen grinsend über ihr.

„Wenn der Boss mit dir fertig ist, kommen wir wieder!“

Damit drehten sie sich um und verließen den Raum. Als Marie wieder Luft bekam, rappelte sie sich mühsam auf. Sie wunderte sich darüber, dass man ihr BH und Slip gelassen hatte.

Mühsam zog sie die Beine unter ihren Körper und stand auf. Panik durchströmte ihre Adern wie Feuer. Sie musste hier raus! Sofort! Aber es gab erkennbar keine Fenster und nur die eine Tür, durch die sie hereingekommen war und hinter der sicherlich ihre Bewacher warteten. Sie war immer noch gefesselt und in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Mit bewusster Anstrengung kämpfte sie ihre Panik nieder. Sie atmete tief durch und begann dann prüfend die Wände abzusuchen. Sie war gerade an der Rückwand angekommen, als sie hinter sich eine Stimme hörte.

„Neugierig?“

Sie drehte sich um. Ein mittelgroßer Mann mit südländischem Aussehen stand mit verschränkten Armen in der Nähe der Eingangstür, die sich gerade wieder schloss. Er sah eigentlich ganz gut aus, nur dass seine Augen seltsam kalt und emotionslos wirkten. Er strahlte Autorität und Gnadenlosigkeit aus.

„Keine Angst, du wirst heute noch einige der Teile kennenlernen.“

Marie hob das Kinn und versuchte, mit dem letzten Mut der Verzweiflung selbstbewusst aufzutreten.

„Ich habe mit den Geschäften meines Bruders nichts zu tun. Lassen Sie mich gehen und ich vergesse alles, was bisher geschehen ist.“

Der Mann lächelte herablassend und trat einen Schritt näher. Marie wich unwillkürlich zurück.

„Dass dein Bruder noch in einem Stück ist, liegt einzig und allein an deiner Anwesenheit hier. Und ich finde, bisher sieht alles nach einem sehr attraktiven Geschäft aus.“

Sein Blick wanderte über ihren halbnackten Körper. Er nahm die Arme herunter und kam jetzt langsam auf sie zu. Marie wich wegen der Rückwand nicht weiter zurück, sondern starrte ihn wütend an.

Kaum hatte er sie in seiner Reichweite, verpasste er ihr ansatzlos einen kräftigen Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht. Marie wirbelte herum, stürzte und schlug mit dem Kopf gegen eines der Tischbeine. Sekundenlang tanzten Sterne vor ihren Augen und sie war nur halb bei Bewusstsein. Sie hörte seine Stimme wie durch Watte.

„Wage es noch einmal, mich so anzustarren, und du wirst es bereuen. Hast du das verstanden?“

Marie spürte siedend heiße Wut in ihren Adern. Sie rappelte sich hoch auf Hände und Knie und schrie ihn an:

„Du dreckiges Schwein! Du wirst es bereuen!“

„Ich habe dich gewarnt.“

Er trat an die Tür und klopfte drei Mal. Zwei Sekunden später wurde sie aufgerissen und die beiden Schläger von vorhin stürmten herein. Sie packten Marie und warfen sie kommentarlos rücklings auf den Boden. Einer hockte sich auf ihre Beine und umklammerte ihren linken Fuß. Plötzlich durchzuckte sie ein stechender Schmerz an einem ihrer Zehen. Marie schrie laut auf und wand sich verzweifelt. Erfolglos. Der Schmerz vervielfachte sich, wurde schier unerträglich. Marie schrie jetzt aus Leibeskräften.

5

Colette hatte ihren Strip-Tanz ungefähr zur Hälfte absolviert, als Unruhe auf dem Flur aufkam. Schnelle Schritte mehrerer Personen wurden hörbar und verklangen wieder. Bens Mobiltelefon in seiner Hosentasche hatte aber bisher keinen Vibrationsalarm ausgelöst. Also gab es noch keine Nachricht über die Ankunft der Zielperson. Die Geräusche auf dem Flur entstammten vermutlich nur Khans Gefolge zusammen mit der Frau, die heute das zweifelhafte Vergnügen seiner Aufmerksamkeit genießen durfte. Na ja, der Abend dürfte in jedem Fall einen anderen Verlauf nehmen, als von Khan angenommen. Soviel war schon mal sicher.

Fünf Minuten später vibrierte das Telefon tatsächlich. Ben schaute nicht nach, weil Colette noch mindestens drei weitere Minuten brauchen würde, bis sie soweit war. Ben versuchte, sich so gut es ging zu entspannen. Endlich hörte sie auf, sich zu räkeln und wartete auf die Augenbinde und darauf, dass er sie an der Sprossenwand festmachte.

Als das erledigt war, warf er einen schnellen Blick auf das Display. Richtig, Khan war eingetroffen. Es ging also los. Nahezu geräuschlos bereitete er sich vor. Seine USP wanderte in den Schulterholster. Der Schalldämpfer und die Ersatzmagazine verschwanden in jeweils einer eigenen Tasche, damit sie nicht klackerten.

Er war nervöser als sonst vor einem Einsatz. Zu viele Gegner befanden sich in unmittelbarer Nähe. Sein Überleben hing einzig und allein am Überraschungsmoment und daran, dass seine Vorkehrungen für den anschließenden Rückzug griffen. Vieles konnte schiefgehen, der Zufall eine fatale Rolle spielen.

Er warf noch einen letzten Blick auf Colette, zog das Messer aus der Scheide und hielt die Klinge in der linken Hand flach an seinen Unterarm gepresst. So hatte er seine rechte frei. Dann öffnete er die Tür und trat betont gleichmütig auf den Flur hinaus. Schon aus den Augenwinkeln bemerkte er die Wache an der mittleren Tür, kaum zehn Meter entfernt. Der grobschlächtige Mann wirkte alarmiert. Er stand neben seinem Stuhl, auf dem er wohl eben noch gesessen hatte und verbarg seine rechte Hand unter der Jacke. Wahrscheinlich umklammerte in diesem Moment den Griff seiner Waffe.

Ben nickte ihm freundlich zu. Dies, zusammen mit seiner behäbigen und kuriosen Erscheinung, ließ den Mann sichtlich ruhiger werden. Er zog die Hand hervor und setzte sich entspannt zurück auf den Stuhl.

Ben atmete auf und schlenderte in Richtung der Wendeltreppe. Dieser Weg führte ihn zwangsläufig am Wachtposten vorbei. Nochmals nickte er ihm zu und tippte sich mit der rechten Hand an den Hut. Der Mann wirkte gelangweilt und schaute weg. Gut so.

Auf gleicher Höhe mit ihm, nahm er den Messergriff von der linken fest in die rechte Hand. Mit einer fließenden Körperdrehung und einem blitzschnellen Aufwärtshaken rammte er es dem Mann tief in den Hals. Mit einer raschen Bewegung durchtrennte er Luftröhre und Schlagader. Ein Schwall Blut ergoss aus der Wunde und über Bens Hand. Der Mann erstarrte mit einem abscheulich röchelnden Geräusch und aufgerissenen Augen. Wenig später erschlaffte er. Ben fing den Körper auf und lehnte ihn auf dem Stuhl sitzend an die Wand. Er wischte Hand und Messer so gut es ging an dessen Jacke ab.

Der nächste Schritt erforderte jedoch seine schallgedämpfte Handfeuerwaffe, auch wenn diese nicht so leise war wie sein Messer, denn er wusste nicht genau, wie viele Männer ihn im Vorraum erwarteten. Er steckte das Messer weg und zog seine USP. Gleichzeitig nahm er den Schalldämpfer mit der linken Hand aus der Hosentasche. Das Aufschrauben dauerte nur Sekunden. Noch einmal atmete er tief durch. Dann stieß er die Tür auf und machte einen langen Schritt in den Raum hinein. Er schwenkte seine Waffe. Erstaunlicherweise war niemand zu sehen. Zwei halbgefüllte Gläser auf dem Tisch ließen jedoch den Schluss zu, dass zumindest zwei Personen vor Kurzem noch hier gesessen hatten.

In diesem Augenblick ertönte der schrille Schrei einer Frau aus dem Hauptraum. Jetzt bemerkte er auch, dass die Tür dorthin nur angelehnt war. Gleich darauf ein weiterer langgezogener Schrei, der in ein heftiges Schluchzen überging.

Ben überlegte fieberhaft, wie er weiter vorgehen sollte. Draußen lag die Leiche der Wache. Wenn sie entdeckt werden würde, saß er hier unten in der Falle. Was auch immer er tat, es musste schnell gehen. Er machte sich gerade bereit, den Hauptraum zu stürmen, als er Schritte von dort näherkommen hörte.

Er presste sich neben den Türangeln an die Wand. Ein Mann mit blutverschmierten Händen trat als Erster ein, ohne den Blick zur Seite zu wenden. Ben hob die Waffe und richtete sie aus. Der zweite Mann folgte und schloss die Tür hinter sich, ohne sich umzudrehen. Beide strebten der Sitzgruppe entgegen.

Ben zögerte keine weitere Sekunde und schoss. Ein zweimaliges leises Poppen und die Männer brachen mit Kopfschüssen zusammen. Er kontrollierte kurz, dass sie keine Gefahr mehr darstellten, und wandte sich zur Tür.

Er öffnete sie vorsichtig einen Spalt breit und schlüpfte mit vorgehaltener Waffe hinein. Er schloss die Tür rasch hinter sich.

Das Erste, was er sah, war eine Frau, die aufrecht und mit ausgebreiteten Armen in der Mitte des Raumes stand. Ihre Handgelenke wurden von Seilen gehalten. Sie stand auf dem rechten Bein. Von ihrem linken Fuß, den sie angehoben hatte, tropfte Blut. Den Kopf ließ sie hängen und blonde Haare verdeckten ihr Gesicht.

Hinter ihr stand Khan, ein Messer in der Hand. Er war wohl gerade damit beschäftigt gewesen, ihr den BH herunterzuschneiden. Dieser baumelte nämlich an nur nocheinem Träger hängend von ihrer Schulter. Ihr Busen lag frei. Sie war nur noch mit ihrem Slip bekleidet.

Khan reagierte beeindruckend schnell. Noch bevor Ben auch nur annähernd seine Waffe ausrichten konnte, umklammerte er den Brustkorb seiner Gefangenen mit seinem linken Arm und hielt ihr die Spitze seines Messers an den Hals. Seine linke Hand ruhte dabei auf ihrer rechten Brust. Die junge Frau machte zunächst einen halbherzigen Versuch, sich aus dem Griff herauszuwinden, als sie Ben bemerkte. Ihre Augen weiteten sich und auf ihrem Gesicht breitete sich ein hoffnungsvoller Ausdruck aus.

„Los, erschießen Sie das Schwein!“, rief sie. „Achten Sie nicht auf mich.“

Ben zögerte.

„Los, schießen Sie! Schießen Sie!“

Die Worte rissen Ben unvermittelt zurück in eine verdrängt geglaubte Vergangenheit. Er lag mit seinem Spotter und bestem Freund Mattis in der Deckung irgendwo in den Bergen Nordpakistans. Die Hitze war schier unerträglich und er roch Mattis´ Schweiß vermischt mit seinem eigenen Körpergeruch. Jetzt, kurz vor dem Schuss, blendete er alles aus.

„Zielobjekt hat den Wagen verlassen“, flüsterte Mattis. „Abstand zum Haus – fünfzehn Meter.“

„Kein freies Schussfeld“, konstatierte Ben gleichmütig und hielt Atmung und Herzfrequenz bewusst niedrig. Eine schwangere Frau verdeckte die Sicht auf die in einem Rollstuhl sitzende Zielperson.

„Alpha eins an Gamma drei, schießen Sie nach eigenem Ermessen, bevor er das Haus erreicht!“, meldete sich das Hauptquartier zu Wort.

„Zehn Meter“, flüsterte Mattis.

Ben folgte dem Ziel und behielt es im Fadenkreuz, doch die Frau verdeckte nach wie vor die Sicht. Sie bewegte sich parallel mit der Zielperson. Es wurde nun schwieriger, Atmung und Herzschlag auf dem niedrigen Niveau zu halten, das er für einen sicheren Schuss brauchte. Gegen seinen Willen und seine antrainierten Reflexe registrierte er Einzelheiten der Frau. Graziler Körperbau, jung, vermutlich ihr erstes Kind. Ben schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder.

„Eine Frau versperrt die Sicht“, sagte er mit emotionsloser Stimme.

„Fünf Meter.“

„Alpha eins an Gamma drei!“ Die Stimme seines Kommandanten. Ruhig, befehlsgewohnt, fordernd. „Schießen Sie, Berger! Verdammt noch mal! Schießen Sie!“

Ben drückte ab, ohne nachzudenken, so wie er es gelernt hatte. Die Frau stürzte zu Boden. Auch der Mann im Rollstuhl wurde von derselben Kugel getroffen. Ben zielte auf seinen nun frei sichtbaren Kopf und drückte ein weiteres Mal ab.

„Ziel eliminiert“, sagte Mattis mit ruhiger Stimme.

Ben senkte den Kopf und schluckte. Nicht nur das Ziel, dachte er.

„Alpha eins an Gamma drei. Gut gemacht! Rückzug, wie geplant!“

Ben hielt seine Pistole nach wie vor auf Khans Kopf ausgerichtet, der aber größtenteils von dem der Frau verdeckt war.

„Schießen Sie, verdammt noch mal!“, rief diese erneut und sah ihn wütend an.

„Legen Sie die Waffe nieder!“, forderte Khan ihn jetzt auf. „Oder ich töte die Kleine.“

Er drückte die Messerspitze gegen ihren Hals und ein kleiner Blutstropfen trat hervor.

Ben war nicht so naiv, sich noch als Teil der normalen menschlichen Gemeinschaft zu sehen. Im Gegenteil, streng genommen war er ein Monster. Für ihn galten andere Maßstäbe. Aber er hatte sich eines geschworen: Keine Frauen, keine Kinder. Das war das dünne Band, das ihn noch als einigermaßen menschlich durchgehen ließ, zumindest aus seiner Sicht.

Also hob Ben beschwichtigend die linke Hand und begann, langsam die Waffe zu senken. Er legte sie auf dem Fußboden ab und stieß sie mit dem Fuß von sich fort. Sie landete direkt vor den Füßen der Frau. Stattdessen zog er sein blutiges Messer. Khan quittierte das mit einem breiten Grinsen.

„Wenn ich die Witzfigur da erledigt habe“, sagte er an seine Gefangene gerichtet, „wirst du das bereuen!“

Er duckte sich hinter der Deckung hervor und trat von Ben aus gesehen nach links, wo der Raum mehr Platz bot. Immer noch lag Vorfreude in seinem Gesicht, was Ben ziemlich rätselhaft fand. Ein offener Messerkampf ließ normalerweise auch den Sieger nicht unverletzt zurück.

Ben wurde sich jetzt bewusst, dass seine Verkleidung wohl dazu führte, dass sein Gegner ihn unterschätzte. Das war zwar gut so, aber sie behinderte ihn tatsächlich. Die Beeinträchtigung seiner Bewegungsfreiheit, vor allem durch den künstlichen Bauch, konnte den entscheidenden Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Ben nahm wenigstens seinen albernen Cowboyhut ab und hielt ihn als improvisierten Schutzschild in der linken Hand.

Khans Grinsen erstarb und er fixierte ihn nun mit einem kalten lauernden Blick. Langsam und leicht geduckt kam er näher. Sie umkreisten einander. Schließlich stand Ben seitlich hinter dem Rücken der Frau. Ben bemerkte, dass Khan sich jetzt ein bisschen aufrichtete. Vermutlich versuchte er unwillkürlich, seine geringere Körpergröße zu kompensieren. Das schadete allerdings seiner Stabilität. Khans Hauptproblem aber war eher seine geringere Reichweite. Ben rechnete deshalb mit einem blitzartigen Angriff, der diesen Nachteil ausgleichen würde. Dafür würde er aber vorher seine aufrechte Haltung aufgeben müssen.

Insofern war Ben vorgewarnt. Trotzdem war Khan sehr schnell. Und er setzte alles auf eine Karte. Er blockte beim Vorwärtsstürmen Bens Messerhand mit seinem linken Arm und riskierte dort eine Verletzung. Dafür hoffte er offensichtlich seinerseits auf einen tödlichen Stich mit seinem eigenen Messer.

Ben tat zwei Dinge gleichzeitig. Er führte sein Messer schneidend über Khans blockenden Unterarm und versuchte, die auf ihn zustoßende Klinge mit dem Hut in seiner Hand von seinem Körper abzuhalten und sich dabei an Khans Körper vorbeizudrehen. Khan hatte wohl mit dem Block gerechnet und senkte die Klinge unter seiner Hut-tragenden Hand hindurch. Ben schaffte es gerade noch, den eigenen Arm zu senken und Khans Messer abzulenken. Trotzdem schnitt die Klinge in seinen Oberschenkel.

Beide umrundeten sich während der Attacke und trennten sich wieder, sodass Ben wieder seitlich vor dem Mädchen zu stehen kam. Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Sie starrte besorgt auf seinen Oberschenkel. Khans Unterarm blutete ebenfalls, was ihn sichtlich wütend machte.

„He!“, rief das Mädchen plötzlich.

Ben schaute sie an. Sie stand auf ihrem verletzten linken Fuß und kickte ihm mit einem gezielten Tritt des rechten Fußes seine Pistole zu.

Ben nutzte die unverhoffte Gelegenheit und bückte sich. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Khan zum Sprung ansetzte, das Messer zum Stoß bereit. Ben griff nach der Pistole. Gleichzeitig wich er nach rechts aus. Khans Messer erwischte ihn trotzdem noch quer über den Bauch und schnitt zentimetertief ein. Dann war Ben auch schon herumgewirbelt, richtete die Waffe grob aus und schoss. Khan wurde in den Bauch getroffen und stürzte. Ein zweiter, besser gezielter Kopfschuss folgte.

Ben sackte zusammen und befühlte im Liegen hektisch seinen Bauch. Sein Hemd war aufgeschlitzt, aber er fühlte keinen Schmerz und auch kein Blut. Tatsächlich hatte der letzte Angriff Khans nur seine Bauchattrappe ruiniert. Sie war fast komplett durchgeschnitten.

Ben rappelte sich auf und bemerkte eine kleine Blutpfütze dort, wo gerade noch sein Oberschenkel gelegen hatte. Jetzt setzte auch das Schmerzempfinden wieder ein.

„He, was ist mit mir?“, fragte das Mädchen nun fordernd. „Machen Sie mich los!“

Ben antwortete nicht. Er hatte noch einen zweiten Grundsatz, und zwar: Schnell rein und raus! Den Auftrag ausführen, und sonst nichts, gar nichts! Er blickte sich zum Ausgang um.

„Bitte“, sagte sie nun mit einem flehenden Ausdruck im Gesicht.

Ben warf ihr einen Blick zu. Obwohl ziemlich mitgenommen und mit Schrammen im Gesicht, gab ihr Anblick ihm einen Stich. Seltsamerweise kam ihm unwillkürlich der Song She´s got that light von Orange Blue in den Sinn. Sie löste etwas in ihm aus. Mitleid? Beschützerinstinkt? Vielleicht, weil sie unwissentlich die Erinnerung an Pakistan aus der Versenkung gespült hatte.

Er zögerte noch immer. Ihr Blick veränderte sich und drückte nun Verachtung aus.

„Du verdammter Mistkerl!“

Wenn er sie ihrem Schicksal überließ, konnte das ihr Todesurteil bedeuten. Khans Männer wären in jedem Fall eher hier unten als die Polizei. Ben zweifelte daran, dass irgendjemand erfahren würde, dass sie überhaupt hier gewesen war. Irgendwann würde halt eine Frauenleiche im Duisburger Hafen auftauchen.

Er traf seine Entscheidung aus dem Bauch heraus, nahm sein Messer vom Boden auf und schnitt sie los.

„Danke!“, sagte sie nur und bückte sich nach ihrer Hose.

„Liegen lassen!“, kommandierte er. „Raus hier!“

Er steckte das Messer in die Scheide an seinem Arm und die Pistole mit dem Schalldämpfer in den Hosenbund. Dann riss er die Trittleiter von ihrem Haken an der Wand. Er holte das humpelnde Mädchen im Vorraum ein, nahm sie bei der Hand und zerrte sie mit sich. Sie ließ leise Schmerzlaute von sich hören, beschwerte sich ansonsten aber nicht. Er zog sie hinter sich her in Richtung der rückwärtigen Außenwand. Schnell befanden sie sich somit wieder vor dem Raum, in dem Colette nach wie vor wartete.

Er riss die Tür auf und stürmte in den Raum. Da seine Begleiterin mit diesem abrupten Richtungswechsel nicht gerechnet hatte, stolperte sie hinter ihm her. Er ließ ihre Hand los, stellte die Klappleiter ab und fischte das Telefon für seine Spezialeffekte hervor. Das Mädchen sah Colette an der Sprossenwand stehen und fragte verwundert:

„Was ist mit ihr?“

„Sie tut das freiwillig“, antwortete Ben nur und öffnete das Display.

„Bernhard, was ist hier los?“, fragte Colette alarmiert. „Wer ist da bei dir?“

Er blickte kurz von seinem Mobiltelefon hoch und zeigte auf den kleinen Tisch, auf dem sich noch sein Koffer befand. Dort lag der Schlüssel für die Handschellen.

„Mach sie los!“

Die junge Frau gehorchte und humpelte auf Colette zu. Ben drückte die Kurzwahltaste auf seinem Mobiltelefon. Eine Sekunde später explodierten zwei Sprengsätze. Ein großer in seinem vor dem Eingang geparkten Wagen, der den danebenstehenden SUV der Khan-Truppe hoffentlich gleich mit demolierte, und ein kleiner, der die alte Stahltür des Kohlenschachtes oberhalb des Kellerflures wegsprengte. Sein Fluchtweg.

Das Mädchen hatte instinktiv den Kopf eingezogen, als die Detonationen erfolgten, dann aber zügig Colettes Handschellen geöffnet.

„Bernhard, was ist passiert?“, fragte Colette, als sie seine zerschnittene Kleidung und das Blut an der Hose bemerkte. „Du siehst schlimm aus.“

„Colette, halte dich hier verborgen, bis sich der Sturm gelegt hat“, entgegnete Ben, ohne auf ihre Frage einzugehen.

„Okay“, antwortete sie mit fragendem Unterton und schloss ihren BH.

Sie wirkte erstaunlich abgeklärt und reichte der jungen Frau ihr eigenes Top, das diese ohne zu zögern sofort überzog.

„Wir müssen los!“, sagte Ben.

„Mach´s gut, Bernhard!“ Colette lächelte ihm trotz der angespannten Situation kurz zu. „Viel Glück!“

Ben nahm die Klappleiter und trat auf den Flur, auf dem jetzt Trümmer herumlagen. Er überzeugte sich davon, dass die Öffnung oben in der Wand groß genug war und bereitete die Leiter vor. Das Mädchen stand hinter ihm.

„Da rauf! Der silberne Golf.“

Von der Wendeltreppe ertönten jetzt Schritte. Ben zog seine Waffe. Noch zwölf Schuss. Als der erste Unterschenkel sichtbar wurde, feuerte er auf ihn. Ein Schrei ertönte. Der Mann stürzte und Ben feuerte ein zweites Mal. Diesmal tödlich. Das Schicksal ihres Kameraden ließ die anderen vorsichtig werden. Es erschien kein weiterer Fuß.

„Bin oben!“

Ben drehte sich um. Auf der Klappleiter war jede zweite Stufe blutverschmiert. Trotzdem hatte sie die Hürde erstaunlich schnell genommen. Respekt! Jetzt feuerten Khans Leute blind in den Flur hinunter. Ein Querschläger fehlte ihm jetzt gerade noch. Ben stieg rasch auf die Leiter und durch das Loch in der Wand, das direkt auf den Parkplatz führte. Das Mädchen hockte bereits schutzsuchend hinter dem Golf, den er in Fahrtrichtung zur Straße geparkt hatte. Sehr vernünftig, dachte Ben nur.

Da hörte er auch schon Laufschritte, und zwar von mehr als einer Person. Augenblicke später stürmten zwei Khan-Leute um die Ecke. Ben musste drei Mal feuern. Noch sieben Schuss. Er wechselte sicherheitshalber auf ein volles Magazin und steckte das alte weg. Er drückte auf den Funkschlüssel.

„Einsteigen!“, befahl er.

Da hörte er weitere Schritte. Er stieg gleichzeitig mit ihr ein und startete den Wagen.

„Nicht anschnallen! In den Fußraum!“

Sie ließ den Gurt los und gehorchte augenblicklich. Er hatte den Fahrersitz für alle Fälle mit einer Stahlplatte präpariert, den Beifahrersitz natürlich nicht. Er fragte sich, wann bei ihr die unvermeidbare Schockreaktion einsetzen würde. Im Moment funktionierte sie wie ein Roboter. Gut so.

Er fuhr mit quietschenden Reifen an und beschleunigte weiter auf die Fahrbahn. Er fuhr direkt an einer Gruppe bewaffneter Männer vorbei. Sie feuerten hinter ihm her. Maschinenpistolen. Die Frontscheibe wurde getroffen und überzog sich mit einem Netz aus Rissen. Wenig später war er außer Schussweite.

„Du kannst hochkommen.“

Er warf ihr einen Seitenblick zu, während sie sich hoch auf den Sitz kämpfte. Ihre Hände zitterten. Er versuchte es mit beruhigenden Worten.

„Hör zu!“, sagte er. „Was du da gerade erlebt und gesehen hast, war schlimm, aber du hast es unbeschadet überstanden.“

Sie schien überhaupt nicht zuzuhören und saß vornübergebeugt da.

„Unbeschadet?“, fragte sie mit zittriger Stimme und sah ihn kurz an.

„Die haben mir einen Zehennagel rausgerissen“, sagte sie fassungslos.

Und dann noch einmal lauter, fast hysterisch:

„Die haben mir einen Zehennagel rausgerissen!“

„Komm, lehn dich zurück. Nicht nachdenken. Atme einfach nur ein und aus.“

Wenigstens tat sie ihm den Gefallen. Ben dachte angestrengt nach. Was sollte er nur mit ihr anfangen? In wenigen Minuten würde ein entscheidender Moment kommen und er wusste noch immer nicht, was er tun sollte.

„Ich heiße Marie“, sagte sie plötzlich. „Und du bist Bernhard?“

Ben antwortete nicht. Jede weitere Minute mit ihr machte es schlimmer, machte aus Anonymität Nähe und vor allem Wissen. Das durfte er nicht zulassen.

Sie sah ihn jetzt sekundenlang aufmerksam an.

„Das ist nicht dein richtiger Name, stimmt´s?“

Ben sagte nichts dazu, warf ihr einen Seitenblick zu und nickte. Er hatte die Tiefgarage erreicht und steuerte durch die Schrankenanlage. Er fuhr in das unterste Stockwerk und parkte den ramponierten Golf neben seinen glänzenden, anthrazitfarbenen C-Klasse-Mercedes. Er zog den Zündschlüssel ab und blieb einfach nur still sitzen.

Auch bei ihm führte das Abschwellen des Adrenalinschubes nun dazu, dass er die Erschöpfung spürte. Sein Oberschenkel blutete nicht mehr so stark, schmerzte aber pochend. Die wohlbekannte Übelkeit, die ihn nach jedem schwierigen Einsatz überkam, setzte jetzt ebenfalls ein. Ben schluckte.

Auch seinen Mercedes würde sie jetzt sehen. Auch nicht gut, aber korrigierbar. Er würde sich einen anderen Wagen beschaffen.

„Was ist?“, fragte sie.

Er sah ihr ins Gesicht. Sie war blass und ihre Unterlippe zitterte leicht. Grundsätzlich galt die gleiche Argumentation wie vorhin im Madeleine. Die Clan-Leute würden sie aufspüren und befragen wollen. Und sie würden nicht zimperlich mit ihr umgehen. Einer ihrer wichtigsten Leute war eben erschossen worden. Dass sie am Leben bleiben würde, war nicht sicher. Mist!

„Du willst mich loswerden!“, dämmerte es Marie. Ihr Gesicht verzog sich. Sie war kurz vor einem Weinkrampf.

Ben schlug plötzlich mit der Faust aufs Lenkrad, sodass Marie zusammenzuckte.

„Ja, verdammt!“, knurrte er, ohne sie anzusehen. „Du kannst nicht nach Hause. Die werden dich einfangen. Die Polizei wird dich nicht dauerhaft schützen können. Das haben die noch nie gekonnt.“

„Dann nimm mich mit.“

„Dann wirst du mich beschreiben können.“

„Das kann ich doch jetzt schon.“

Ben wendete den Kopf und sah sie sekundenlang an.

„Dies ist nicht dein richtiges Aussehen, stimmt´s?“

Ben nickte. Marie richtete den Blick nach vorn und überlegte.

„Okay“, sagte sie schließlich mit erstaunlich fester Stimme.

„Du hast mir das Leben gerettet und ich will nicht undankbar sein. Ich will dir nicht zur Last fallen oder dich gefährden. Dann gehe ich jetzt einfach.“

Sie öffnete die Beifahrertür und trat hinaus. Sie schloss die Tür und machte sich barfuß weiter auf den Weg in Richtung Treppenhaus. Ihr Anblick, nur mit Top und Slip bekleidet, leicht humpelnd aber aufrecht, nötigte ihm irgendwie Respekt ab.

Ben wandte seinen Blick ab und legte die Stirn aufs Lenkrad. Mit einem leisen Fluch öffnete er die Tür, lugte über das Autodach und rief ihr hinterher.

„Marie, komm zurück! Ich nehme dich mit.“

Sie drehte sich langsam zu ihm um.

„Wirklich?“, fragte sie unsicher und rührte sich nicht von der Stelle. Sie warf einen Blick hinüber zum Treppenhaus.

„Nun komm schon. Es tut mir leid. Ich bin es nicht mehr gewohnt, für andere mitzudenken.“

Ben achtete nicht mehr auf sie und fing an, sich umzuziehen. Er nahm den Müllbeutel von der Rückbank. Schnurrbart, Handschuhe, Hut und Perücke nahm er ab und stopfte alles in