Little Miss Florida - Kate DiCamillo - E-Book

Little Miss Florida E-Book

Kate DiCamillo

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Beschreibung

Drei Mädchen. Ein Sommer. Und eine Freundschaft, die ihr Leben für immer verändert. Sommer in Florida. Anfangs sind sie erbitterte Konkurrentinnen: die drei so unterschiedlichen zehnjährigen Mädchen – Raymie, Beverly und Louisiana, die alle an einem Wettbewerb um die »Little Miss Central Florida« teilnehmen. Jede von ihnen hat einen Verlust erlitten und erhofft sich durch den Sieg beim Wettbewerb, das Schicksal korrigieren zu können. Wie sie schließlich enge Freundinnen werden und in einer spektakulären Rettungsaktion, als Louisiana fast ertrinkt, beweisen, was echte Freundschaft vermag, das erzählt Kate DiCamillo, wie nur sie es kann.

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Seitenzahl: 163

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Kate DiCamillo

Little Miss Florida

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Ludwig

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für meine glorreichen Freunde … ich danke euch

1. Kapitel

Sie waren zu dritt, drei Mädchen.

Ganz dicht standen sie beieinander.

Und rührten sich nicht.

Plötzlich sagte das Mädchen in dem rosa Kleid, das rechts von Raymie stand: »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Angst habe ich. Ich traue mich einfach nicht weiterzumachen.«

Dann presste das Mädchen den Stab an ihre Brust und sank in die Knie.

Raymie starrte sie erstaunt an und bewunderte ihren Mut.

Sie hatte auch oft viel zu große Angst, um weiterzumachen, aber das hätte sie nie zu sagen gewagt.

Das Mädchen in dem rosa Kleid stöhnte kurz auf und kippte zur Seite.

Sie lag regungslos da, nur ihre geschlossenen Augenlider flatterten. Plötzlich riss sie die Augen weit auf und schrie: »Archie, es tut mir so leid! Es tut mir so leid, dass ich dich verraten habe!«

Wieder schloss sie die Augen, doch ihr Mund blieb offen.

Raymie hatte etwas Ähnliches noch nie gehört oder gesehen.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Raymie. »Es tut mir so leid, dass ich dich verraten habe.«

Irgendwie schien dieser Satz es wert zu sein, wiederholt zu werden.

»Hör sofort mit diesem Blödsinn auf!«, rief Ida Nee.

Ida Nee war die Twirling-Lehrerin. Und obwohl sie schon alt war – über fünfzig mindestens –, waren ihre Haare unglaublich blond. Sie trug weiße Stiefel, die ihr bis zu den Knien reichten.

»Ich mache keinen Spaß«, sagte Ida Nee.

Raymie glaubte ihr.

Ida Nee machte nicht den Eindruck, als ob sie für Späße etwas übrighatte.

Die Sonne stand hoch oben am Himmel und das Ganze erinnerte an einen Showdown in einem Western. Aber es war kein Western, es war die Twirling-Stunde im Garten hinter Ida Nees Haus.

Es war der Sommer 1975.

Der fünfte Juni.

Und genau zwei Tage vorher, am dritten Juni, war Raymies Vater von zu Hause abgehauen, durchgebrannt mit einer Zahnhygienikerin.

Hey, diddle, diddle, der Löffel rannte mit der Schüssel davon.

Das war die Liedzeile, die Raymie jedes Mal durch den Kopf ging, wenn sie an ihren Vater und die Zahnhygienikerin dachte. Aber sie hütete sich, sie noch einmal laut aufzusagen, denn ihre Mutter war völlig außer sich, und da von weglaufenden Löffeln und Schüsseln zu sprechen, schien nicht sehr passend.

Das Ganze war schließlich eine große Tragödie.

Meinte zumindest Raymies Mutter.

»Das ist eine große Tragödie«, sagte sie. »Hör auf mit diesem Kinderliederquatsch.«

Es war eine große Tragödie, weil Raymies Vater sich zum Narren gemacht hatte.

Es war aber auch eine große Tragödie, weil Raymie nun ohne Vater war.

Der Gedanke daran, dass sie, Raymie Clarke, keinen Vater mehr hatte, fuhr ihr jedes Mal als stechend scharfer Schmerz durchs Herz.

Manchmal war der Schmerz so stark, dass Raymie viel zu große Angst hatte, um weiterzumachen. Manchmal wünschte sie sich, in die Knie gehen zu können.

Aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie ja einen Plan hatte.

2. Kapitel

Steh auf«, sagte Ida Nee zu dem Mädchen in dem rosa Kleid.

»Sie ist ohnmächtig«, bemerkte die dritte Twirling-Schülerin, ein Mädchen namens Beverly Tapinski, dessen Vater Polizist war.

Raymie wusste den Namen des Mädchens und den Beruf des Vaters, weil Beverly beides zu Beginn der Stunde verkündet hatte. Sie hatte geradeaus geschaut, ohne jemanden dabei anzusehen, und gesagt: »Ich heiße Beverly Tapinski und mein Vater ist Polizist. Ihr solltet euch also besser nicht mit mir anlegen.«

Auch ohne diese Ansage hätte Raymie nicht die Absicht gehabt, sich mit ihr anzulegen.

»Ich hab schon oft gesehen, wie Leute ohnmächtig wurden«, sagte Beverly nun. »Das ist normal, wenn man die Tochter eines Polizisten ist. Man sieht alles Mögliche. Man sieht wirklich alles.«

»Halt die Klappe, Tapinski«, sagte Ida Nee.

Die Sonne stand immer noch sehr hoch am Himmel.

Sie hatte sich kein Stückchen bewegt.

Es sah aus, als hätte sie einer da oben festgepinnt und sei dann weggegangen und hätte sie dort vergessen.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Raymie noch einmal. »Es tut mir so leid, dass ich dich verraten habe.«

Beverly Tapinski kniete sich hin und legte ihre Hände rechts und links neben das Gesicht des ohnmächtigen Mädchens.

»Was machst du da um alles in der Welt?«, fragte Ida Nee.

Die Kronen der Kiefern über ihnen schwangen vor und zurück. Der Lake Clara, in dem sich vor hundert Jahren eine Frau namens Clara Wingtip ertränkt hatte, gleißte und glitzerte in der Sonne.

Der See sah hungrig aus.

Vielleicht wartete er auf eine neue Clara Wingtip.

Raymie wurde von einer Welle der Verzweiflung überflutet.

Warum war das Mädchen ausgerechnet jetzt ohnmächtig geworden? Raymie musste lernen, wie man einen Stab herumwirbelte, und sie musste es schnell lernen, denn wenn sie erst einen Stab richtig drehen konnte, hätte sie eine gute Chance, Little Miss Florida zu werden.

Und wenn sie Little Miss Florida wäre, dann sähe ihr Vater sie in der Zeitung und würde wieder nach Hause kommen.

Das war zumindest Raymies Plan.

3. Kapitel

Raymie stellte sich vor, dass ihr Vater in einem Restaurant saß, in welcher Stadt auch immer. Bei ihm wäre Lee Ann Dickerson, die Zahnhygienikerin. Beide säßen in einer Nische, Raymies Vater rauchte eine Zigarette und tränke Kaffee, und Lee Ann würde irgendetwas Dummes und Unpassendes tun, zum Beispiel ihre Nägel feilen (was man ja niemals in der Öffentlichkeit tun sollte). Nach einer Weile würde ihr Vater seine Zigarette ausdrücken, die Zeitung aufschlagen, sich räuspern und sagen: »Mal sehen, was es Neues gibt.« Und neu wäre Raymies Foto.

Auf dem Foto würde er seine Tochter sehen mit einer Krone auf dem Kopf, einem Blumenstrauß im Arm und einer Schärpe um die Brust, auf der stünde: LITTLEMISSFLORIDA1975.

Und Raymies Vater, Jim Clarke von der Clarke Familienversicherung, würde sich zu Lee Ann Dickerson umdrehen und sagen: »Ich muss sofort zurück nach Hause. Alles hat sich geändert. Meine Tochter ist berühmt. Sie wurde zur Little Miss Florida gekürt.«

Lee Ann hört auf, ihre Nägel zu feilen. Überrascht und betroffen schnappt sie nach Luft (vielleicht auch vor Neid und Bewunderung).

So stellte sich Raymie vor, was passieren würde.

Möglicherweise. Vielleicht. Hoffentlich.

Aber zuerst einmal musste sie lernen, einen Stab zu drehen.

So hatte Mrs Sylvester es jedenfalls gesagt.

4. Kapitel

Mrs Sylvester war die Sekretärin von Clarkes Familienversicherung.

Die Stimme von Mrs Sylvester war sehr hoch. Wenn sie sprach, dann klang sie wie ein kleiner Vogel aus einem Zeichentrickfilm und dadurch schien alles, was sie sagte, lächerlich zu sein, aber auch möglich – beides zugleich.

Als Raymie Mrs Sylvester erzählte, dass sie bei dem Little-Miss-Wettbewerb einer Reifenfirma mitmachen wollte, hatte Mrs Sylvester in die Hände geklatscht und gerufen: »Was für eine wundervolle Idee. Wie wär’s mit Candy Corn?«

Mrs Sylvester hatte tagein, tagaus, sommers wie winters ein riesiges Glas mit Candy Corn auf ihrem Schreibtisch stehen, denn sie fütterte gern Menschen.

Sie fütterte ebenso gern Schwäne. Jeden Tag in der Mittagspause nahm Mrs Sylvester einen Beutel Vogelfutter und ging hinunter zu dem Teich neben dem Krankenhaus.

Mrs Sylvester war sehr klein und die Schwäne mit ihren langen Hälsen sehr groß. Wenn Mrs Sylvester mitten unter ihnen stand mit ihrem Turban auf dem Kopf und der riesigen Tüte Vogelfutter in den Armen, sah sie ein wenig aus wie eine Gestalt aus einem Märchen.

Raymie wusste nur nicht, aus welchem Märchen.

Vielleicht war es ja ein Märchen, von dem sie noch nie gehört hatte.

Als Raymie Mrs Sylvester fragte, was sie davon hielt, dass Jim Clarke die Stadt mit einer Zahnhygienikerin verlassen hatte, hatte sie geantwortet: »Nun, meine Liebe, ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Dinge am Ende gut werden.«

Wurden die meisten Dinge am Ende gut?

Raymie war sich da nicht so sicher.

Die Idee schien lächerlich (aber auch möglich), als Mrs Sylvester in ihrer piepsigen Vogelstimme sagte: »Wenn du den Little-Miss-Florida-Wettbewerb gewinnen möchtest, dann solltest du lernen, wie man einen Stab dreht. Und beibringen kann dir das am allerbesten Ida Nee. Sie ist Weltmeisterin im Stabdrehen.«

5. Kapitel

Das erklärt, warum Raymie in Ida Nees Garten unter Ida Nees Kiefern stand.

Sie lernte, wie man einen Stab dreht.

Zumindest war es das, was sie vorhatte.

Doch dann fiel das Mädchen in dem rosa Kleid in Ohnmacht und der Twirling-Unterricht kam zu einem unschönen Ende.

Ida Nee sagte: »Das ist einfach albern. In meiner Stunde wird niemand ohnmächtig. Ich glaube nicht an Ohnmachten.«

Ohnmächtig zu werden, schien nicht unbedingt etwas zu sein, woran man glauben musste (oder nicht), damit es geschah, aber Ida Nee war eine Twirling-Weltmeisterin und wusste wahrscheinlich, wovon sie sprach.

»Das ist der reinste Blödsinn«, sagte Ida Nee. »Und für Blödsinn habe ich keine Zeit.«

Auf diese Ankündigung folgte kurzes Schweigen und dann gab Beverly Tapinski dem Mädchen im rosa Kleid eine Ohrfeige.

Sie schlug ihr erst auf die eine Wange, dann auf die andere.

»Was um alles in der Welt tust du da?«, fragte Ida Nee.

»Das macht man so mit Leuten, die bewusstlos sind«, sagte Beverly. »Man schlägt sie.« Sie ohrfeigte das Mädchen noch einmal. »Wach auf!«

Das Mädchen öffnete die Augen. »Uh-oh. Bin ich schon im Heim? Ist Marsha Jean hier?«

»Ich kenne keine Marsha Jean«, sagte Beverly. »Du bist ohnmächtig geworden.«

»Bin ich das?« Das Mädchen blinzelte verwirrt. »Ich bin etwas schwach auf der Brust.«

»Die Stunde ist um«, sagte Ida Nee. »Ich denke nicht daran, meine Zeit mit Nichtstuern und Simulanten zu verplempern. Oder mit Leuten, die einfach so umkippen.«

»In Ordnung«, sagte Beverly entschieden. »Es will sowieso keiner lernen, wie man so einen dämlichen Stab dreht.«

Das stimmte nicht.

Raymie wollte es lernen.

Um genau zu sein, sie musste es lernen.

Aber sie hielt es für keine gute Idee, Beverly zu widersprechen.

Ida Nee ließ die Mädchen stehen und ging hinunter zum See. Sie hob ihre weiß bestiefelten Beine sehr hoch. Schon an ihrem Gang konnte man erkennen, dass sie eine Weltmeisterin war.

»Setz dich hin«, befahl Beverly dem ohnmächtig gewordenen Mädchen.

Das Mädchen setzte sich auf. Erstaunt blickte sie sich um, als ob sie irrtümlicherweise in Ida Nees Garten gelandet wäre. Sie blinzelte und legte ihre Hand auf ihren Kopf. »Mein Gehirn fühlt sich federleicht an.«

»Ach was«, sagte Beverly. »Das kommt daher, weil du bewusstlos warst.«

»Ich befürchte, dass aus mir keine gute Flying Elefante geworden wäre«, sagte das Mädchen.

Eine Zeit lang herrschte Schweigen.

»Was für eine Elefante?«, fragte Raymie schließlich.

Wieder blinzelte das Mädchen. Ihr Haar schimmerte in der Sonne. »Ich bin eine Elefante. Ich heiße Louisiana Elefante. Meine Eltern waren die Flying Elefantes. Habt ihr nie von ihnen gehört?«

»Nein«, sagte Beverly. »Wir haben nie von ihnen gehört. Versuch mal aufzustehen.«

Louisiana legte ihre Hand auf die Brust. Pfeifend holte sie Atem.

Beverly verdrehte die Augen. »Hier«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. Es war eine nicht sehr saubere Hand. Die Finger waren schmutzig und die abgekauten Nägel hatten schwarze Ränder. Doch trotz des Schmutzes oder vielleicht gerade deswegen war es eine sehr vertrauenserweckende Hand.

Louisiana ergriff sie und Beverly zog sie hoch.

»Ach du meine Güte«, sagte Louisiana. »Ich bin bis oben voll mit Federn und Bedauern. Und Angst. Ich habe viele Ängste.«

Sie stand da und schaute Beverly und Raymie an. Sie hatte dunkle Augen. Braune Augen. Nein, sie waren schwarz und saßen tief in den Höhlen. Louisiana blinzelte. »Ich möchte euch etwas fragen. Habt ihr schon mal erlebt, dass alles, absolut alles, ganz allein von euch abhing?«

Raymie musste keine Sekunde über die Antwort nachdenken. »Ja«, sagte sie.

»Was denn sonst?«, sagte Beverly.

»Das ist schrecklich, nicht wahr?«, fragte Louisiana.

Die drei standen da und sahen sich an.

Raymie spürte, wie etwas in ihrem Inneren immer größer wurde. Es fühlte sich an wie ein riesiges Zelt, das sich langsam aufblähte.

Raymie wusste, was das war, es war ihre Seele.

 

 

Mrs Borkowski, die gegenüber von Raymie wohnte und die sehr, sehr alt war, erzählte immer wieder, dass die meisten Menschen ihre Seele verkümmern ließen.

»Wie machen sie das?«, hatte Raymie gefragt.

»Sie lassen sie schrumpfen«, sagte Mrs Borkowski. »Phhhhtttt.«

Raymie war sich nicht ganz sicher, aber wahrscheinlich war das das Geräusch, das eine Seele beim Schrumpfen machte.

Doch als Raymie zusammen mit Beverly und Louisiana in Ida Nees Garten stand, fühlte es sich überhaupt nicht so an, als würde ihre Seele schrumpfen.

Ganz im Gegenteil, sie füllte sich, wurde größer, heller und stärker.

Unten am See, auf dem Bootssteg, ließ Ida Nee ihren Stab herumwirbeln. Er funkelte und schimmerte. Sie warf ihn hoch in die Luft.

Der Stab sah sehr geheimnisvoll aus, wie er da schmal und silbern und einsam im blauen Himmel glitzerte. Wie eine große Nadel.

Raymie fiel ein, was Louisiana zu Beginn gesagt hatte.

Es tut mir leid, dass ich dich verraten habe.

Sie drehte sich zu ihr um und fragte: »Wer ist Archie?«

6. Kapitel

Gut, dann will ich ganz von vorn beginnen, denn so fängt man eine Geschichte immer am besten an«, sagte Louisiana.

Beverley schnaubte verächtlich.

»Es war einmal«, begann Louisiana, »in einem Land sehr weit fort und doch ganz nah, und in diesem Land lebte ein Kater mit Namen Archie Elefante, der von allen sehr bewundert und geliebt wurde und der nicht zuletzt auch bekannt war als König aller Katzen. Doch dann eines finsteren Tages –«

»Warum erzählst du nicht einfach, was passiert ist?«, unterbrach sie Beverly.

»Nun gut, wenn es das ist, was du möchtest, dann werde ich es dir sagen.« Ihre Lunge pfiff. »Wir haben ihn verraten.«

»Wie?«, fragte Raymie.

»Wir haben Archie in das Happy Heimtiercenter gebracht, weil wir uns sein Futter nicht länger leisten konnten …«

»Was denn für ein Happy Heimtiercenter?«, fragte Beverly. »Ich habe noch nie von einem glücklichen Tierheim gehört.«

»Das glaub ich nicht«, sagte Louisiana. »Du hast noch nie vom Happy Heimtiercenter gehört? Das ist ein Ort, wo Archie dreimal am Tag gefüttert wird und wo man ihn hinter den Ohren krault, genau wie er es mag. Trotzdem hätten wir ihn nie dort lassen dürfen. Es war ein Verrat. Ich habe ihn verraten.«

Raymies Herz schlug heftig. Verraten.

»Aber macht euch keine Sorgen.« Louisiana legte eine Hand auf ihre Brust und atmete tief ein. Sie lächelte ein strahlendes Lächeln. »Ich mache mit bei dem Little-Miss-Florida-Wettbewerb und werde die tausendneunhundertundfünfundsiebzig Dollar gewinnen und mich damit vor dem Heim retten und Archie aus dem Happy Heimtiercenter holen und nie wieder vor irgendetwas Angst haben.«

Raymies Seele war nicht länger ein Zelt.

»Du machst bei dem Wettbewerb mit?«, fragte sie.

»Ja, das tue ich«, sagte Louisiana. »Und ich glaube, meine Chancen zu gewinnen sind sehr gut, weil ich nämlich aus einer Show-Business-Familie komme.«

Raymies Seele wurde kleiner, fester. Sie verwandelte sich in etwas Hartes, so hart wie ein Kieselstein.

»Wie ich ja schon sagte, meine Eltern waren die Flying Elefantes.« Louisiana hob ihren Stab auf. »Sie waren berühmt.«

Beverly sah Raymie an und verdrehte die Augen.

»Das ist die Wahrheit. Meine Eltern sind in der ganzen Welt herumgekommen«, sagte Louisiana. »Sie hatten Koffer, auf denen ihr Name stand. Die Flying Elefantes. Das stand auf ihren Koffern.«

Louisiana hielt ihren Stab hoch und bewegte ihn hin und her, als ob sie goldene Wörter in die Luft über ihnen schrieb. »Ihr Name stand in Schreibschrift auf jedem Koffer und das F und das Y hatten am Ende einen Schnörkel. Ich mag Buchstaben mit Schnörkeln am Ende.«

»Ich will auch bei dem Wettbewerb mitmachen«, sagte Raymie.

»Was für ein Wettbewerb?«, fragte Louisiana und blinzelte.

»Na, der Little-Miss-Florida-Wettbewerb«, sagte Raymie.

»Du meine Güte«, sagte Louisiana und blinzelte noch einmal.

»Und ich werde diesen Wettbewerb sabotieren«, sagte Beverly. Sie schaute Raymie an, dann schaute sie Louisiana an und schließlich griff sie in die Tasche ihrer Shorts und zog ein Taschenmesser heraus. Sie klappte es auf. Die Klinge sah ziemlich scharf aus.

Mit einem Schlag schien die Welt dunkler zu werden, obwohl die Sonne noch immer hoch oben am Himmel stand.

Die alte Mrs Borkowski meinte, dass auf die Sonne kein Verlass wäre.

»Was ist die Sonne?«, pflegte sie zu sagen. »Ich will es dir erzählen. Die Sonne ist nichts weiter als ein sterbender Stern. Eines Tages geht sie aus. Phhhhtttt.«

»Phhhhtttt« war etwas, das Mrs Borkowski sehr oft und zu vielen Dingen sagte.

»Was willst du mit dem Messer machen?«, fragte Louisiana.

»Das hab ich doch gesagt. Ich werde diesen Wettbewerb sabotieren. Ich werde alles sabotieren.« Beverly zog das Messer durch die Luft.

»Ach du meine Güte«, sagte Louisiana.

»Ganz recht«, sagte Beverly. Sie lächelte ein sehr schmales Lächeln, dann klappte sie ihr Messer zusammen und steckte es zurück in die Tasche ihrer Shorts.

7. Kapitel

Gemeinsam gingen sie zur Auffahrt vor Ida Nees Haus.

Ida Nee war immer noch auf dem Bootssteg. Sie lief vor und zurück, wirbelte ihren Stock durch die Luft und sprach mit sich selbst. Raymie konnte Ida Nees Stimme hören – ein leises, ärgerliches Murmeln –, aber sie konnte nicht verstehen, was sie sagte.

»Ich hasse diese Little-Miss-Wettbewerbe«, sagte Beverly. »Ich hasse Schleifen und Bänder und das ganze Flitterzeug. Meine Mutter hat mich bei jedem Little-Miss-Wettbewerb angemeldet, den es irgendwo gab, und ich habe es satt. Darum werde ich den jetzt sabotieren.«

»Aber man kann eintausendneunhundertundfünfundsiebzig Dollar gewinnen«, sagte Louisiana. »Das ist eine riesige Summe. Ein unglaubliches Vermögen! Weißt du, wie viel Büchsen Thunfisch du für eintausendneunhundertundfünfundsiebzig Dollar kaufen kannst?«

»Nein«, sagte Beverly. »Und es interessiert mich nicht die Bohne.«

»Thunfisch enthält sehr viel Eiweiß«, fuhr Louisina fort. »Im Heim gibt es nur Brot mit Fleischwurst. Fleischwurst ist nicht gut für Leute mit schwacher Lunge.«

Sie wurde von einem lauten Krach unterbrochen. Ein Kombi mit Holzverkleidung an der Seite brauste heran. Die hintere Tür auf der Fahrerseite hing halb in den Angeln, sie schwang auf und schlug dann wieder zu.

»Da kommt Granny«, sagte Louisiana.

»Wo?«, fragte Raymie.

Denn es sah nicht so aus, als würde irgendjemand den Wagen steuern. Wie der kopflose Reiter, nur dass der auf einem Pferd gesessen hatte statt in einem Kombi.

Doch dann sah Raymie zwei Hände auf dem Steuerrad, und gerade als der Wagen in die Auffahrt einbog und dabei Kies und Staub aufwirbelte, schrie eine Stimme: »Louisiana Elefante, steig ein!«

»Ich muss jetzt gehen«, sagte Louisiana.

»Scheint so«, sagte Beverly.

»War nett, dich kennenzulernen«, sagte Raymie.

»Beeil dich!«, rief die Stimme aus dem Wagen. »Marsha Jean ist hinter uns her. Ich bin ganz sicher. Ich spüre ihre böse Aura.«

»Ach du meine Güte«, sagte Louisiana. Sie setzte sich auf den Rücksitz und versuchte, die kaputte Tür festzuhalten. »Wenn Marsha Jean auftaucht«, rief sie Beverly und Raymie zu, »dann sagt ihr, dass ihr mich nicht gesehen habt. Lasst nicht zu, dass sie sich Notizen macht. Und sagt ihr, dass ihr nicht wisst, wo ich mich aufhalte.«

»Wir wissen sowieso nicht, wo du dich aufhältst«, sagte Beverly.

»Wer ist Marsha Jean?«, fragte Raymie.

»Hör auf, ihr Fragen zu stellen«, sagte Beverly. »Sonst hat sie einen Grund, Geschichten zu erzählen.«

Der Kombi schoss vorwärts. Die rückwärtige Tür schwang auf, dann schlug sie mit einem lauten Knall zu und blieb geschlossen. Der Wagen beschleunigte in einem atemberaubenden Tempo, der Motor heulte und ächzte, und dann war der Kombi verschwunden und Raymie und Beverly standen zusammen in einer Wolke aus Staub, Sand und Abgasen.

»Phhhhtttt«, wie Mrs Borkowski sagen würde.

»Phhhhtttt.«

8. Kapitel

Scheinen irgendwie Kriminelle zu sein«, sagte Beverly. »Dieses Mädchen und seine fast unsichtbare Großmutter. Erinnern mich stark an Bonnie und Clyde.«

Raymie nickte, obwohl Louisiana und ihre Granny sie an niemanden erinnerten, den sie jemals gesehen oder von dem sie je gehört hätte.

»Weißt du überhaupt, wer Bonnie und Clyde waren?«, fragte Beverly.

»Bankräuber?«