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Eine parabelhafte Erzählung voller Wärme und Weisheit Der sanftmütige Bruder Edik findet eines Morgens im Klosterstall ein schlafendes Mädchen, liebevoll beschützt von der starrköpfigen Ziege Answelica. Das Mädchen kann sich an nichts mehr erinnern, außer an ihren Namen – Beatryce. Der Mönch pflegt sie gesund und stößt bald auf ein gefährliches Geheimnis: Der König des Landes sucht Beatryce, ob tot oder lebendig. Denn eines Tages soll ein Mädchen kommen, das den König vom Thron stürzen und die Welt verändern wird. Im Kloster kann sie nicht bleiben, das weiß Beatryce. Und sie weiß, dass sie sich der Prophezeiung stellen muss. So kommt es, dass Beatryce sich auf die Suche nach dem Schloss eines Mannes begibt, der ihren Tod wünscht …
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Seitenzahl: 180
Kate DiCamillo
Die wundersame Reise der Beatryce
Aus dem amerikanischen Englisch von Uwe-Michael Gutzschhahn
Mit Bildern von Sophie Blackall
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für
Betty Gouff DiCamillo
1923–2009
KD
Für
Kate DiCamillo
SB
Es steht geschrieben in der Chronik des Trauerns,
dass eines Tages ein Kind kommen wird,
welches einen König absetzt.
Die Prophezeiung besagt, dass das Kind ein Mädchen sein werde.
Deswegen wurde
die Prophezeiung lange überhört.
Die Ziege Answelica hatte Zähne, die wie ein Spiegel ihrer Seele waren – groß, scharf und kompromisslos.
Eines ihrer Lieblingsspiele war es, durch einen harmlos scheinenden gleichmütigen Ausdruck die Mönche vom Orden der Chronik des Trauerns in ein Gefühl von Selbstzufriedenheit zu wiegen.
Wochenlang biss sie niemanden.
Wenn man sich ihr näherte, starrte sie bloß in die Ferne, als ob sie über etwas Tiefsinniges nachgrüble. Und dann, wenn die Brüder in ihrer Aufmerksamkeit nachließen und irgendwie hofften, dass sich Answelica vielleicht doch geändert habe, kam die Ziege von hinten und stieß sie so heftig wie möglich ins Gesäß.
Sie war sehr stark und sie hatte einen sehr harten Schädel. Deshalb brachte sie es fertig, die Mönche über weite Strecken durch die Luft segeln zu lassen.
Und wenn sie landeten, biss Answelica zu.
Sie war eine Ziege mit merkwürdigen und unerklärlichen Antipathien, was zu heftiger Ablehnung bestimmter Individuen führte. Einen aus der Bruderschaft hatte sie dabei besonders im Auge. Sie lauerte ihm in dem purpurnen Schatten eines Gebäudes auf, sprang hervor und stieß dabei einen gottlosen Lärm aus, der wie der Schrei eines Dämons klang.
Auch der Mönch – tief erschrocken und die Kontrolle verlierend – schrie.
Der Mönch und die Ziege bildeten schließlich ein schreiendes Duett, und zwar so lange, bis die Ziege zufrieden war, mit einem glückseligen Ausdruck davontrottete und einen zitternden und wimmernden Mönch zurückließ.
Die Brüder vom Orden der Chronik des Trauerns hätten die Ziege gern geschlachtet, aber sie fürchteten den Geist Answelicas.
Die Mönche waren sich einig, dass der Geist der Ziege sicher noch bösartiger, noch entschlossener und noch unmöglicher zu überlisten wäre als die Ziege aus Fleisch und Blut.
Wie würde sie wohl aus dem Jenseits heraus ihre Rache angehen?
Es überstieg die Vorstellungskraft, was der Geist der Ziege tun würde.
Und so lebte sie.
Was auch gut ist.
Was, ehrlich gesagt, wunderbar ist.
Denn ohne die Ziege wäre Beatryce sicher gestorben.
Und wo stünden wir dann?
All dies geschah in einer Kriegszeit.
Leider unterscheidet sie das nicht von jeder anderen Zeit: Es waren immer Kriegszeiten.
Bruder Edik war derjenige, der das Mädchen fand.
Die Welt war an diesem Morgen von Raureif überzogen und der Bruder war spät dran mit Answelicas Fütterung, weil er zu lange das Licht der aufgehenden Sonne bewundert hatte, wie es auf die Grashalme und die Zweige der Bäume fiel.
Die ganze Welt schien wie von innen erleuchtet.
»Bestimmt ist das ein Zeichen«, sagte Bruder Edik laut. »Bestimmt bedeutet so viel Schönheit etwas.«
Er stand da und betrachtete die Welt, bis er die schmerzende Kälte in seinen Händen spürte und wieder zur Besinnung kam.
Er zitterte, als er die Scheune betrat, und war sich sicher, dass Answelica – ärgerlich über sein Zuspätkommen – bereits etwas gegen ihn ausheckte. Doch erstaunt stellte er fest, dass sie noch schlief, die Beine unter dem Körper zusammengezogen und mit dem Rücken zu ihm gewandt.
Was war das für eine neue List?
Bruder Edik räusperte sich. Er stellte den Eimer ab. Er trat näher heran. Er keuchte.
Sein Verstand spielte ihm einen Streich.
Oder vielmehr war es sein Auge, das ihm einen Streich spielte – das linke Auge, das niemals ruhig stand, sondern in seinem Kopf kreiste, auf der Suche nach etwas, das es erst finden müsse.
»Ein Dämon beherrscht das Auge«, hatte Bruder Ediks Vater behauptet, »und dieser Dämon hat sich auch in deinen Verstand gefressen.«
Und nun, in diesem frühmorgendlichen Dunkel der Scheune, erblickten Bruder Ediks wanderndes Auge und sein eigenartiger Verstand eine Ziege mit zwei Köpfen.
»Erbarme dich unser«, flüsterte Bruder Edik.
Schon mit einem Kopf war Answelica mehr, als die Ordensbrüder ertragen konnten. Wie sollten sie es mit der Ziege aushalten, wenn sie erst zwei Köpfe und zwei Paar Zähne hatte?
Sie würde die Ordnung des Universums auf den Kopf stellen. Sie würde den König aus seinem Schloss jagen. Answelica mit zwei Köpfen würde ein Wesen sein, das fähig wäre, die Welt zu beherrschen.
Der Bruder wagte einen zögerlichen Schritt vorwärts. Er blinzelte und erkannte, dass der zweite Kopf zu einem Kind gehörte, welches zusammengerollt neben der Ziege lag.
Bruder Edik stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Und dann erfasste ihn eine neue Woge der Panik, als er sah, wie das Kind ein Ohr der Ziege festhielt.
Ein Kind. Neben der Ziege.
Ein Kind, das sich zusammengerollt hat und an dem Dämon Answelica festhält!
Das Herz von Bruder Edik pochte vor Angst. Die schrecklichen Zähne der Ziege blitzten in seiner Erinnerung auf. Er kannte diese Zähne besser, als ihm lieb war.
An einem Sommertag im letzten Jahr war Bruder Edik eine Ewigkeit, wie es ihm schien, von Answelica durch eine blumenübersäte Wiese gejagt worden.
Was die Ziege in der Wiese, kilometerweit vom Kloster entfernt und ganz dicht am Schloss des Königs, wollte, war ein Rätsel, das Bruder Edik nie verstanden hatte.
Auch Bruder Edik hätte dort gar nicht sein dürfen. Nur weil ihm ein Reisender von den Blumen in der Wiese, von ihrer Pracht und ihrem Überfluss erzählte, hatte er überlegt, diese Schönheit mit eigenen Augen anzuschauen.
In der Wiese war dann die Ziege hinter ihm aufgetaucht, ganz still und heimlich. Sie blies ihm zunächst ihren schrecklichen Atem auf den Hintern, dann gab sie ihm einen leichten, fast spielerischen Stoß mit dem Kopf.
Bruder Edik stürzte davon.
Er rannte und die Ziege folgte ihm. Die zwei jagten zusammen durch die Blumenwiese. Und als Bruder Edik stolperte und unvermeidlich zu Boden ging, trat Answelica heran und stellte sich, mit einem Huf auf seiner Brust, über ihn. Der Abdruck würde sein Lebtag zu sehen sein – ein roter Pfeil, der auf sein Herz deutete.
Als wenn jemand Hilfe brauchte, Bruder Ediks Herz zu finden.
»Hör mal«, sagte er jetzt. Er trat einen Schritt näher an die Ziege heran. »Wir müssen ganz vorsichtig sein.«
Die Ziege ignorierte ihn. Die kleine Gestalt, die eng an die Ziege geschmiegt lag, rührte sich nicht. Bruder Edik sah, dass sie barfuß und blutüberströmt war.
Er zitterte. Sollte er Hilfe holen?
»Du Feigling«, hörte er seinen Vater sagen. »Du Feigling mit deinem kaputten Auge.«
Und es stimmte. Er war ein Feigling.
Aber er schaffte es trotzdem nicht zu gehen und das Kind mit Answelica alleinzulassen. Er musste der Ziege entgegentreten.
»Du Schwachkopf von einem Ziegenschisser«, hörte er seinen Vater sagen.
Bruder Edik seufzte.
Er wünschte, die Stimme seines Vaters würde verschwinden. Er wünschte, er könnte sie ein für alle Mal auslöschen.
Bruder Edik zog seine Kutte fest und wollte über das Gatter steigen, in das Reich der Ziege.
Answelica erhob sich. Sie stieß einen scharfen Ton aus.
Das Kind setzte sich auf und Bruder Edik sah lange Haare, erstaunte Augen und ein Gesicht in Herzform.
Ein Mädchen.
Das Mädchen weinte.
Es war kein wütendes Weinen und auch kein trauriges Weinen.
Es war das Weinen von einem Menschen, der unbeschreiblich müde ist, das Weinen von jemandem, der mit aller Macht unterdrücken wollte zu weinen.
Tränen rannen ihr übers Gesicht, als sie in seine Augen blickte, in beide – das standhafte und das wild umherwandernde –, und sie sah nicht weg.
Bruder Edik schaute sie an. Er spürte, wie sich das Herz in seinem Innern rührte.
Er spürte, wie es sich öffnete.
»Oh«, sagte Bruder Edik.
Answelica stieß einen weiteren scharfen Laut aus.
»Psst«, sagte Bruder Edik zu der Ziege und dem Mädchen. »Psst. Alles wird gut. Alles wird gut.«
Und doch wurden, gerade als Bruder Edik diese Worte sprach, nicht weit entfernt andere, unheilvollere Worte gesprochen.
In dem zugigen Thronsaal des Königsschlosses verbeugte sich ein Soldat vor dem König und sprach: »Sire, die Frau ist im Kerker verwahrt, wie Ihr befohlen habt. Aber ich muss Euch sagen, dass das Kind vermisst wird. Ich habe das ganze Schloss Abelard und seine Umgebung abgesucht, doch ich konnte das Mädchen nicht finden.«
»Was soll das heißen, du konntest das Mädchen nicht finden?«
»Ich will sagen, Sire, dass es nicht da ist. Ihr Körper war nicht zu finden. Das Kind ist weg.«
Answelica stand in grimmiger, schützender Haltung neben dem Kind.
Bruder Edik hatte ein Bein über das Gatter geschwungen, das andere noch am Boden.
»Bitte«, sagte er zu der Ziege.
Answelica sah ihn an, dann drehte sie den Kopf, schaute das Kind an und wandte sich wieder zurück. In der dämmerigen Scheune ließen sich nur schwer die Feinheiten von Gefühlen ermessen, besonders in den Augen eines Wesens, das bisher selten Feinheiten von irgendwas gezeigt hatte, aber Bruder Edik war der Ansicht, ein Flackern in den Augen der Ziege zu erkennen. Es war sowohl ein Aufblitzen von Mitgefühl für das Kind als auch eine Warnung an ihn.
Die Ziege senkte den Kopf zu einer Drohgebärde.
»Es ist kalt«, sagte Bruder Edik von oben auf dem Gatter. »Es ist sehr kalt. Zu kalt für ein Kind. Ich will ihm nichts tun. Ich will ihm nur helfen.«
Die Ziege und der Mönch starrten sich an. Währenddessen weinte das Kind leise.
Draußen stieg die Sonne immer höher. Ein Lichtkeil drang in die Scheune – golden und warm. Staubteilchen tanzten in der Luft.
Schönheit, erneut.
»Lass mich rein«, sagte Bruder Edik zu der Ziege. Er sprach leise. »Du musst mich zu ihr lassen.«
Answelica machte einen Schritt rückwärts.
Garantiert zum ersten Mal in ihrem Leben wich sie zurück.
Bruder Edik schwang das zweite Bein übers Gatter. Er betrat das Gehege der Ziege.
»Bist du verletzt?«, fragte er das Mädchen.
Es war jung. Nicht älter als zehn, auch wenn er das nicht beschwören konnte, so von Dreck und Blut verkrustet, wie es war.
Das Mädchen antwortete nicht.
»Wie heißt du?«, fragte Bruder Edik.
Tränen rollten weiter über ihre Wangen und wuschen einen schmalen Streifen in dem Schmutz frei.
Bruder Edik machte einen Schritt auf sie zu. Answelica knurrte. Du glaubst, eine Ziege knurrt nicht? Aber diese hier steckte für immer und ewig voller Überraschungen.
»Darf ich dich tragen?«, fragte Bruder Edik.
Wieder antwortete das Mädchen nicht. Konnte sie vielleicht nicht sprechen?
Answelica starrte ihn an. Sie senkte den Kopf. Sie bot ihr Ohr an und das Kind griff zu. Die Ziege stand still, mit geneigtem Kopf da.
»Ich werde dich tragen«, sagte Bruder Edik. Und dann verkündete er der Ziege seine Absicht: »Ich werde sie tragen.«
Das Mädchen ließ Answelicas Ohr los.
Bruder Edik beugte sich hinab und nahm sie in seine Arme. Ihre Haut fühlte sich heiß an. Sie glühte vor Fieber.
»Sie ist sehr krank«, sagte Bruder Edik zu der Ziege, die zu ihm hochstarrte. »Als Erstes müssen wir versuchen, ihr Fieber zu senken. Und wir müssen sie waschen. Den Dreck und das Blut entfernen. Sie kommt aus einem Krieg, nehme ich an. Glaubst du nicht auch?«
Answelica nickte.
Gott hilf mir, dachte Bruder Edik. Ich unterhalte mich mit einer Ziege.
Er trat aus der Scheune ins Tageslicht und hielt das Kind in den Armen. Der Reif war getaut. Die Erde glänzte nicht mehr, doch es war sehr hell.
Answelica folgte ihm auf dem Fuße.
Er drehte sich um und schaute sie an. Und er sah, dass ihre Augen jetzt freundlich waren und voller Sorge.
Seltsame Welt! Unmögliche Welt!
Bruder Edik spürte sein Herz, es fühlte sich leicht an, fast so, als wenn es mit Luft gefüllt wäre.
Answelica stieß ihren Kopf gegen seine Beine. Es war keine Warnung, sondern eine Bitte: »Lauf schneller. Bitte beeil dich. Sorg für das Kind.«
Oh, diese seltsame Welt.
Die Sonne schien warm auf Bruder Ediks Gesicht.
Diese unmögliche Welt.
Sie träumte.
Der Hauslehrer hielt etwas in der Hand, umschlossen von seiner Faust.
»Ist für Beatryce«, sagte er.
»Was ist es?«, riefen ihre Brüder. »Zeig mal, zeig mal!«
»Tipp auf meine Hand«, sagte der Hauslehrer zu ihr.
Sie berührte seine Finger und er löste sie langsam und ließ ein seltsames Wesen sehen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Ein Seepferdchen«, antwortete er. »Ein Pferdchen der See.«
»Lebt es?«, fragte sie.
»Nein, es ist tot«, antwortete der Lehrer.
Sie nahm ihm das Seepferdchen aus der Hand. Es war leicht, so leicht, dass es sich anfühlte, als würde sie den Traum von jemandem in ihrer Hand halten.
Sie bewunderte den geringelten Schwanz des Seepferdchens und betrachtete seine lange Nase. Sie drehte es um und sah, dass es nur ein Auge hatte.
»Ist das immer so?«, fragte sie. »Dass es nur ein Auge hat?«
»Nein«, sagte der Lehrer. »Es ist verletzt worden, nehme ich an.«
»Kaputt!«, rief Asop.
»Ich will es auch mal halten«, sagte Rowan.
»Gleich«, erwiderte Beatryce.
Rowan rempelte ihren Ellenbogen und das Seepferdchen fiel ihr aus der Hand.
Das geschah langsam, so langsam, dass es schien, als würde das Seepferdchen durch die Luft schweben, sich drehen und wenden, sein Auge tauchte auf und verschwand wieder – es blinzelte ihr zu.
Und dann gab es einen Lichtblitz.
Ein Soldat platzte in den Raum.
Das Seepferdchen erreichte nie den Boden.
Der Traum brach ab, bevor es seinen Sturz vollenden konnte, und danach fing alles von vorn an. Die geschlossene Faust des Hauslehrers, seine langen Finger, die sich lösten und das Wesen freigaben, seine Stimme, die sagte: »Ein Seepferdchen. Ein Pferdchen der See.«
Dann folgten das Wort tot und die Leichtigkeit, die Gewichtslosigkeit des Seepferdchens in ihrer Hand, das Fallen und Fallen des Wesens, der Soldat, der hereinplatzte.
Der Traum wiederholte sich. Er wiederholte sich, ohne sich je zu ändern.
Es schien, als ob das Seepferdchen nie etwas anderes tun würde, als fallen.
Beatryce, gefangen in ihrem Fieber, gefangen in ihrem Traum, wälzte sich von einer Seite auf die andere, um zu fliehen.
Sie setzte sich auf und schrie.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Stirn.
Sie hörte ein Schnuppern und spürte warmen Atem.
Sie streckte die Hand aus und fand den Trost eines dicht mit Fell besetzten Ohrs.
Ich muss es festhalten, dachte sie. Es gibt nichts anderes, was ich tun kann, als dieses Ohr festhalten.
Und dann schlief sie wieder ein, zurückgeführt in den Traum, zurück zu der sich langsam öffnenden Faust des Lehrers und dem Seepferdchen, das fiel und fiel und fiel.
Bruder Ediks Aufgabe im Orden der Chronik des Trauerns war das Illuminieren. Er schuf wunderbare goldene Lettern, die auf jeder Seite der Chronik den Text einführten.
Es war sowohl Linderung als auch Freude für ihn, die Lettern der Welt anzupassen, wie er sie so oft erlebte: großartig und strahlend. Nachts ging er mit den leuchtenden Buchstaben im Kopf schlafen und wachte mit ihnen auch wieder auf – eleganten, kompliziert geformten Gebilden, die strahlten und strahlten.
Manchmal, wenn er arbeitete, gaben ihm die Lettern Wahrheiten preis – eine prophetische Zeile, die sich in seinem Kopf so lang wiederholte, bis er wusste, dass sie stimmte.
Dann ging er zu Vater Caddis und sagte: »Diese Worte wurden mir während der Arbeit verkündet.«
Vater Caddis nickte und schrieb die Prophezeiung mit tiefem Ernst auf, sodass sie in das große Buch eingefügt werden konnte. Danach erhob er sich, legte seine Hand auf Bruder Ediks Kopf und sprach die Worte, die auch all die vielen Propheten vom Orden der Chronik des Trauerns gehört hatten, die Bruder Edik vorausgegangen waren. »Ich danke dir für deine Vision. Diese Worte werden aufgeschrieben.«
Und danach, wenn Bruder Edik seiner Tagesarbeit folgte, leuchteten die Gegenstände der Welt selbst – die Schale auf dem Tisch, die Blumen auf der Wiese und die Hacke, die seitlich an der Scheune lehnte.
Das Leuchten musste das Werk seines missratenen, kaputten Auges – seines merkwürdig schrägen Verstands sein. Das zumindest war die Erklärung, die sein Vater gegeben hätte.
Was auch immer der Grund war, Bruder Edik sah überall Schönheit. Er malte diese Schönheit in seine Lettern und er horchte auf die Worte der Wahrheit.
Oft wünschte er sich, dass die Lettern einen weniger düsteren Text illuminieren würden, einen Text, der nicht so voller Enthauptungen, Verrat, Krieg und Prophezeiungen über Schicksal und Leiden wäre.
Bruder Edik hatte Krieg und Gewalt nur allzu satt.
Und doch waren es Krieg und Gewalt, die ihm das Kind zugeführt hatten.
Wer verstand diese Welt?
»Ich verstehe nicht«, sagte der König zu dem Soldaten.
»Ich auch nicht«, sagte sein Berater. »Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein. Sie kann sich ja schließlich nicht fortgezaubert haben.«
»Wenn die Prophezeiungen wirklich sie meinen«, sagte der König zu seinem Berater, »wer weiß, was für Kräfte sie besitzt?«
»Wo ist der, der geschickt wurde, sie zu töten?«, fragte der Berater.
»Auch er ist weg«, antwortete der Soldat.
»Dann finde sie«, sagte der Berater. »Finde ihn. Finde sie beide. Sie dürfen nicht leben. Das ganze Königreich ist in Gefahr.«
»Ja«, sagte der König. »Das Königreich selbst ist in Gefahr, so steht es doch in den Prophezeiungen. Nicht wahr?«
»Genau«, erwiderte der Berater. »So steht es in den Prophezeiungen.«
Lange Zeit glühte ihr Fieber so heftig, dass Bruder Edik nicht wusste, ob sie überleben würde. Er träufelte ihr Wasser in den Mund. Er badete sie in kühlenden Kräutersuden. Und er betete für sie.
Die Ziege beobachtete jede seiner Bewegungen mit sowohl skeptischem als auch besorgtem Blick.
Der ganze Orden beobachtete ihn.
»Es sind Kriegszeiten«, sagte Vater Caddis. »Da gibt es viele Bedürftige. Wir können nicht jeden Flüchtling, der gerade vorbeikommt, tagein, tagaus umsorgen. Wir müssen den Bedürftigen etwas zu essen geben, ihnen Segen spenden und sie danach weiterschicken.«
»Aber sie ist ein Kind«, antwortete Bruder Edik. »Und sie ist so krank.«
»Sie hat sich in deinem Kopf breitgemacht«, sagte Vater Caddis, »und wenn sich etwas in deinem Kopf breitmacht, kann er sich nicht mehr richtig auf die Arbeit konzentrieren, die zu tun ist – auf die Worte, die du empfangen musst. Und dann ist da ja auch noch die Sache mit der Ziege.«
Hier schwieg Bruder Edik, denn dazu gab es nichts zu sagen.
Answelica hatte sich im Kloster einquartiert, im Krankenzimmer, am Kopfende der Pritsche, auf der das Mädchen lag, und ließ sich von dort nicht vertreiben. Jeder, der versuchte, sie zu verscheuchen, wurde sofort attackiert.
Die Ziege biss, knurrte und schnappte – und nutzte perfekt ihre schrecklichen Zähne. Und dann, wenn sie den Angreifer besiegt und ihm gerne auch blutige Wunden zugefügt hatte, kam sie zurück und beobachtete wieder das Kind.
Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich dabei auf wundersame Weise von Böswilligkeit in Bewunderung.
Es war erschreckend zu sehen.
Wenn das Mädchen offenbar Qualen litt, wenn sie schrie, kümmerte sich Answelica um sie. Sie schob ihren Kopf heran und das Kind nahm ihn und beruhigte sich.
»Ich glaube …«, sagte Bruder Edik zu Vater Caddis. Er räusperte sich. »Es ist möglich, es könnte sein, dass sich das Herz dieses Viehs gewandelt hat.«
»Wenn es ein Wandel ist, dann nur ein äußerst geringer«, antwortete Vater Caddis. »Und was mich betrifft, ist mir egal, ob sich eine Veränderung zeigt. Es zählt nicht zu unseren Aufgaben, die Seelen von Ziegen zu retten. Eine Woche noch – mehr erlaube ich nicht, Bruder Edik. Eine Woche, dann muss das Mädchen fort. Am besten, am allerbesten wäre, die Ziege würde gleich mit ihr gehen.«
In jenen Momenten, in denen sie wach war, erinnerte sie sich.
Und sie wollte sich nicht erinnern.
Sie glaubte, wenn sie sich erinnere, würde sie vielleicht sterben. Doch sie hatte die Entscheidung getroffen zu leben.
Deshalb erhob sie sich mutwillig aus den Fängen ihres Fiebers und ließ alles hinter sich: ihre Brüder, ihren Hauslehrer, das Seepferdchen und was immer geschehen war, als das Seepferdchen schließlich doch auf den Boden fiel.
Sie schenkte die Erinnerungen dem Fieber. Sie bot das Vergessen als Geschenk an, als einen Weg hinaus, einen Weg, um zu überleben.
Und als das Fieber nachließ, als sie schließlich erwachte und sich in der Wirklichkeit wiederfand, brachte sie nur eines aus der Vergangenheit mit – ihren Namen.
Beatryce.
Es war etwas sehr Kleines, was man mitbringen kann, doch zugleich war es alles, denn es war ein Name, der noch oft in der Chronik des Trauerns auftauchen würde.
Was sie sah, als sie aufwachte, war das Sonnenlicht, das durch ein schmales Fenster weit oben hereindrang. Sie lag in einem kleinen Raum auf einer Matratze aus Stroh. Eine Ziege war bei ihr und von draußen rief ein Vogel – er sang drei hohe, helle Töne, wieder und immer wieder.
Sie lag da und lauschte dem singenden Vogel.
Sie ließ den Gedanken zu, dass der Vogel sie suche und ihren Namen sang.
Beatryce.
Beatryce.
Beatryce.
»Hörst du das?«, sagte sie zu der Ziege. »Der Vogel singt meinen Namen. Ich heiße Beatryce und der Vogel singt ihn, findest du nicht?«
Die Ziege starrte sie aus goldglänzenden, lichterfüllten Augen an.
»Beatryce«, sagte Beatryce. »Ich bin Beatryce.«
Die Ziege nickte. Beatryce setzte sich auf.
»Bestimmt hast du auch einen Namen.« Sie schob ihr Gesicht ganz dicht an das der Ziege. »Massop«, sagte sie. »Heißt du Massop? Oder vielleicht Bleckdor?«
Die Ziege sah sie verliebt an.
»Vielleicht ja auch Morlych. Stimmt’s? Heißt du Morlych?«
Die Sonne umspielte die Haare auf den Ohren der Ziege. Der Vogel sang.
Beatryce überlegte, ob sie träumte. Wenn ja, dann war es ein schöner Traum.