12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Mit der Geschichte der vier Schwestern Jo, Meg, Beth und Amy March schuf Louisa May Alcott einen Welterfolg. Das emanzipatorische Werk ist ein Klassiker der US-amerikanischen Literatur und inspirierte Schriftstellerinnen wie J. K. Rowling, Simone de Beauvoir, Margaret Atwood und Elena Ferrante.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 954
Louisa May Alcott
Beth und ihre Schwestern
Reclam
RECLAM TASCHENBUCH Nr. 962261
2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildungen: Kera Till
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962261-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020738-3
www.reclam.de
Little Women
1 Das Pilgerinnenspiel
2 Ein fröhliches Weihnachtsfest
3 Der Laurence-Junge
4 Bündel
5 Gute Nachbarschaft
6 Beth findet den Palast der Schönheit
7 Amy im Tal der Demütigung
8 Jo ringt mit Apollyon
9 Meg besucht den Jahrmarkt der Eitelkeiten
10 Der P.-K. und das P. A.
DIE PICKWICKER WOCHENSCHRIFT
11 Experimente
12 Camp Laurence
13 Luftschlösser
14 Geheimnisse
15 Ein Telegramm
16 Briefe
17 Treue Seele
18 Dunkle Tage
19 Amys Testament
20 Vertraulich
21 Laurie treibt Unfug und Jo schließt Frieden
22 Saftige Wiesen
23 Tante March spricht ein Machtwort
Good Wives
24 Klatsch und Tratsch
25 Die erste Hochzeit
26 Künstlerische Versuche
27 Literarische Lektionen
28 Häusliche Erfahrungen
29 Besuche
30 Konsequenzen
31 Unsere Auslandskorrespondentin
32 Zarter Kummer
33 Jos Tagebuch
34 Ein Freund
35 Herzschmerz
36 Beths Geheimnis
37 Neue Eindrücke
38 Auf dem Abstellgleis
39 Lauries Lotterleben
40 Das Tal der Schatten
41 Vergessen lernen
42 Ganz allein
43 Überraschungen
44 Mylord und Mylady
45 Daisy und Demi
46 Unter dem Regenschirm
47 Erntezeit
Anmerkungen
Zeittafel
Nun geh, mein Büchlein, allen sollst du sagen,
Die dich mit großer Freude aufgeschlagen,
Was tief in deinem Herzen sich verbirgt;
Und wünsch dir, dass Gesagtes auf sie wirkt,
Dass sie es als Geschenk von uns begreifen
Und so zu vorbildlichen Pilgern reifen.
Erzähle ihnen von der Gnade, denn
Die Gnade war die früheste Pilgerin.
Die jungen Damen sollen sich von ihr leiten
Und lenken lassen für künftige Zeiten.
Mit Klugheit sollen die Mädchen fortan handeln
Und stetig auf gerechten Pfaden wandeln.
Frei nach John Bunyan
Teil I
»Weihnachten ohne Geschenke ist kein Weihnachten«, grummelte Jo, die auf dem Teppich lag.
»Es ist so schrecklich, arm zu sein!«, sagte Meg seufzend und an ihrem alten Kleid herunterblickend.
»Ich finde es unfair, dass manche Mädchen lauter hübsche Sachen bekommen und andere überhaupt nichts«, fügte die kleine Amy gekränkt hinzu.
»Immerhin haben wir Vater und Mutter, und einander«, sagte Beth zufrieden aus ihrer Ecke.
Bei diesen munteren Worten hellten sich die vier jungen Gesichter im Schein des Kaminfeuers auf, verdüsterten sich aber wieder, als Jo mit trauriger Miene sagte:
»Wir haben Vater nicht und werden ihn noch sehr lange nicht haben.« Sie sagte nicht ›vielleicht nie wieder‹, aber alle fügten es im Stillen hinzu und dachten an ihren Vater, der weit weg war, im Krieg.
Kurze Zeit sprach niemand. Dann sagte Meg in verändertem Ton:
»Ihr wisst doch, warum Mutter vorgeschlagen hat, dieses Jahr Weihnachten auf Geschenke zu verzichten – weil es für alle ein harter Winter werden wird und sie findet, dass wir kein Geld für Unnötiges ausgeben sollten, während unsere Soldaten so viel leiden müssen. Viel können wir nicht tun, aber wir können unsere kleinen Opfer bringen und sollten es gern tun. Was bei mir leider nicht der Fall ist«, sagte Meg und schüttelte den Kopf. Mit Bedauern dachte sie an all die schönen Dinge, die sie haben wollte.
»Wobei ich nicht glaube, dass wir viel ausrichten könnten mit unserem bisschen Geld. Wir haben jede einen Dollar, und damit wäre der Armee wohl kaum geholfen. Ich bin einverstanden, von euch oder Mutter nichts zu erwarten, aber ich würde mir so gern Undine und Sintram kaufen. Das Buch will ich schon seit Ewigkeiten haben«, sagte Jo, ein Bücherwurm.
»Ich wollte mir eigentlich neue Noten besorgen«, sagte Beth mit einem kleinen Seufzer, den niemand hörte außer dem Kaminbesen und dem Topflappen.
»Ich werde mir eine schöne Schachtel Malstifte zulegen. Die brauche ich wirklich«, sagte Amy entschlossen.
»Von unserem eigenen Geld war keine Rede, und Mutter möchte bestimmt nicht, dass wir auf alles verzichten. Lasst uns kaufen, was wir wollen, und ein bisschen Spaß haben. Ich finde, wir schuften hart genug und haben’s uns verdient«, rief Jo und betrachtete wie ein Gentleman die Absätze ihrer Stiefel.
»Ich auf jeden Fall – fast den ganzen Tag lang diese schrecklichen Kinder unterrichten, wo ich nichts lieber täte, als mich zu Hause zu vergnügen«, begann Meg erneut in ihrem klagenden Tonfall.
»Du hast es nicht halb so schwer wie ich«, sagte Jo. »Oder hättest du Lust, stundenlang mit einer nervösen, pingeligen alten Dame eingesperrt zu sein, die dich herumscheucht, nie zufrieden ist und dir auf die Nerven geht, bis du kurz davor bist, aus dem Fenster zu springen oder sie zu ohrfeigen?«
»Ich weiß, es ist ungezogen – aber ich finde, es gibt nichts Schlimmeres als Abwaschen und Aufräumen. Es ist so lästig. Und meine Hände werden so steif, dass ich nicht mehr richtig üben kann.« Beth betrachtete ihre rauen Hände mit einem Seufzer, den diesmal jeder hören konnte.
»Ich glaube nicht, dass jemand von euch so leidet wie ich«, rief Amy. »Ihr müsst nicht mit fiesen Mädchen zur Schule gehen, die euch ärgern, wenn ihr was nicht wisst, und die euch wegen eurer Sachen auslachen, gegen euren Vater pökeln, weil er nicht reich ist, und euch beleidigen, weil eure Nase nicht schön ist.«
»Wenn du pöbeln meinst, solltest du’s sagen, nicht pökeln. Papa ist doch keine Einmachgurke«, sagte Jo lachend.
»Ich weiß schon, was ich meine, du brauchst dich gar nicht so über mich zu morkieren. Man soll schwierige Wörter benutzen, um sein Vokabellar zu verbessern«, gab Amy würdevoll zurück.
»Kinder, hört auf zu zanken. Wünschtest du dir nicht auch, wir hätten das Geld, das Papa damals verloren hat, als wir noch klein waren, Jo? Meine Güte, wie glücklich und wie brav wir wären, wenn wir keine Geldsorgen hätten«, sagte Meg, die sich noch an bessere Zeiten erinnern konnte.
»Neulich hast du gesagt, wir seien um Längen glücklicher als die Kinder der Kings, denn die lägen sich ständig in der Wolle, obwohl sie Geld haben.«
»Ja, Beth, das habe ich gesagt. Tja, es stimmt wohl wirklich. Wir müssen zwar arbeiten, aber wir haben immer Spaß zusammen und sind eine lustige Truppe, wie Jo sagen würde.«
»Ja, der Ausdruck klingt nach Jo«, stellte Amy fest und warf einen tadelnden Blick auf die lange Gestalt, die ausgestreckt auf dem Teppich lag. Jo setzte sich sofort auf, schob die Hände in die Taschen ihrer Schürze und begann zu pfeifen.
»Hör auf, Jo. Das machen nur Jungs.«
»Eben.«
»Ich mag keine flegelhaften Mädchen.«
»Ich mag keine affektierten Püppchen.«
»Die Vöglein im Nest sind sich gut«, sang Friedensstifterin Beth mit einem so lustigen Gesicht, dass die beiden Streithähne lachen mussten. Damit hatte das Zanken fürs Erste ein Ende.
»Also wirklich, Mädels, ihr seid beide schuld«, begann Meg, ganz die älteste Schwester. »Du bist alt genug, um dich nicht wie ein Junge zu benehmen, Josephine. Als du noch klein warst, war das nicht so schlimm, aber jetzt bist du groß, und du steckst dir die Haare hoch, du solltest also daran denken, dass du eine junge Dame bist.«
»Das bin ich nicht! Und wenn hochgesteckte Haare mich zu einer Dame machen, trag ich lieber Zöpfe, bis ich zwanzig bin«, rief Jo, zog ihr Haarnetz vom Kopf und schüttelte ihre rotbraune Mähne. »Ich mag gar nicht dran denken, irgendwann die erwachsene Miss March sein zu müssen, mit langen Röcken und aufgerüscht wie eine Sommeraster. Es ist so schon schlimm genug, ein Mädchen zu sein, wo mir Jungenspiele und Jungenarbeit viel lieber sind, und Jungen überhaupt. Ich komm einfach nicht drüber hinweg, dass ich kein Junge geworden bin, und im Moment ist es schlimmer als je zuvor, weil ich so gern mit Papa zusammen im Krieg kämpfen würde. Stattdessen kann ich nur zu Hause sitzen und Socken stricken – wie eine alte Oma.« Und Jo schüttelte den blauen Soldatenstrumpf, dass die Stricknadeln wie Kastagnetten klapperten und ihr Wollknäuel durchs Zimmer hüpfte.
»Arme Jo, wirklich schade! Aber es ist nicht zu ändern, also musst du dich wohl mit deinem jungenhaften Namen zufriedengeben und so tun, als wärst du unser Bruder«, sagte Beth und streichelte den zerzausten Kopf auf ihrem Schoß mit einer Hand, die alles Geschirrspülen und Staubwischen dieser Welt nicht weniger sanft hätte machen können.
»Und was dich betrifft, Amy«, fuhr Meg fort, »du bist so ein Snob geworden. Noch sind deine Marotten lustig, aber wenn du nicht aufpasst, wird aus dir noch eine alberne Gans. Ich mag deine guten Manieren und deine vornehme Ausdrucksweise, solange du dich dabei nicht verstellst. Deine Versprecher sind aber genauso schlimm wie Jos Gossensprache.«
»Wenn Jo ein halber Junge und Amy eine Gans ist, was bin dann ich?«, fragte Beth, die ebenfalls kritisiert werden wollte.
»Du bist ein Schatz, und sonst gar nichts«, entgegnete Meg herzlich. Und niemand widersprach ihr, denn die ›Maus‹ war der Liebling der Familie.
Da junge Leserinnen immer wissen wollen, ›wie die Leute aussehen‹, wollen wir jetzt kurz die vier Schwestern skizzieren, die an diesem Dezemberabend im Halbdunkel saßen und strickten, während draußen der Schnee zur Erde rieselte und drinnen ein munteres Kaminfeuer brannte. Es war ein behaglicher alter Raum, obwohl der Teppich verblichen und das Mobiliar sehr einfach war, denn an den Wänden hing das ein oder andere schöne Bild, es gab Bücher in Hülle und Fülle, Chrysanthemen und Christblumen blühten in den Fenstern und die Atmosphäre war friedlich und heimelig.
Margaret, die älteste der vier, war sechzehn, sehr hübsch und wohlgestaltet, mit heller Haut, großen Augen, reichlich weichem braunem Haar, schönen Lippen und weißen Händen, auf die sie ziemlich stolz war. Die fünfzehnjährige Jo war hochgewachsen, dünn und braungebrannt. Sie erinnerte an ein Fohlen, und ihre langen Arme und Beine schienen ihr ständig im Weg zu sein. Sie hatte einen entschlossenen Zug um den Mund, eine lustige Nase und durchdringende graue Augen, denen nichts zu entgehen schien und die mal grimmig, mal vergnügt, mal nachdenklich schauten. Ihr langes dickes Haar war das einzig wirklich Schöne an ihr, aber meist wurde es in ein Haarnetz gestopft. Runde Schultern hatte Jo, große Hände und Füße, einen etwas nachlässigen Kleidungsstil und das unbehagliche Aussehen eines Mädchens, das gerade sehr viel schneller zur Frau wurde, als ihr lieb war. Elizabeth – oder Beth, wie sie von allen genannt wurde –, war ein rosiges, blauäugiges, glatthaariges Mädchen von dreizehn Jahren mit einer scheuen Art, einer schüchternen Stimme und einem zu allermeist friedlichen Blick. Ihr Vater nannte sie ›stilles Wasser‹, und die Bezeichnung passte hervorragend; sie schien in ihrer eigenen glücklichen Welt zu leben, die sie nur für ein paar geliebte und vertraute Menschen verließ. Amy, obgleich die Jüngste, war eine äußerst wichtige Person, zumindest glaubte sie das. Sie war eine regelrechte kleine Schneekönigin mit blauen Augen und schulterlangen strohblonden Locken. Sie war blass und schlank und trug sich immer wie eine vornehme junge Dame. Wie die vier Schwestern vom Charakter her waren, werden wir später genauer erfahren.
Die Uhr schlug sechs. Nachdem sie vor dem Kamin gefegt hatte, stellte Beth ein Paar Hausschuhe zum Anwärmen vors Feuer. Irgendwie wirkte der Anblick der alten Schuhe beruhigend auf die Mädchen, denn Mutter würde bald zu Hause sein, worauf sich schon alle freuten. Meg ließ das Predigen und zündete die Lampe an, Amy stand ungefragt vom Sessel auf, und Jo vergaß ihre Müdigkeit, setzte sich auf und hielt die Hausschuhe dichter vor die Flammen.
»Die sind ganz schön zerschlissen. Marmee braucht neue.«
»Ich dachte, ich nehme meinen Dollar und kaufe ihr welche«, sagte Beth.
»Nein, ich!«, rief Amy.
»Ich bin die älteste«, begann Meg, doch Jo fuhr dazwischen und sagte bestimmt:
»Jetzt, wo Papa nicht da ist, bin ich der Mann im Haus, also besorge ich die Hausschuhe, denn ich soll besonders auf Mutter aufpassen, solange er weg ist, hat er gesagt.«
»Ich weiß, wie wir’s machen«, sagte Beth. »Jede besorgt ihr ein Weihnachtsgeschenk, und nichts für sich selbst.«
»Das ist ja eine süße Idee! Was kaufen wir denn?«, rief Jo.
Alle dachten einen Moment ernst darüber nach, dann verkündete Meg, als wenn ihr die Idee beim Anblick ihrer eigenen schönen Hände gekommen wäre:
»Ich schenke ihr ein hübsches Paar Handschuhe.«
»Stiefel, die besten, die’s gibt«, rief Jo.
»Taschentücher mit einer schönen Borte«, sagte Beth.
»Und ich kaufe ihr ein kleines Fläschchen Kölnischwasser. Das mag sie, und es wird nicht viel kosten, so bleibt noch etwas Geld für mich übrig«, fügte Amy hinzu.
»Wie sollen wir ihr die Sachen schenken?«
»Wir legen alles auf den Tisch, holen sie rein und sehen ihr beim Auspacken zu. So wie wir früher an unseren Geburtstagen, wisst ihr nicht mehr?«, erwiderte Jo.
»Ich hatte immer schreckliche Angst, wenn ich dran war und mich mit der Krone auf dem Kopf hinsetzen musste, und dann seid ihr mit euren Geschenken und euren Küsschen gekommen. Die Sachen und die Küsschen mochte ich, aber es war schrecklich, vor aller Welt meine Geschenke auspacken zu müssen«, sagte Beth, die das Brot fürs Abendessen und zugleich ihr Gesicht röstete.
»Marmee soll denken, wir würden uns selbst was kaufen, und dann überraschen wir sie! Wir müssen morgen Nachmittag einkaufen gehen, Meg. Es gibt noch einiges für unsere Weihnachtsaufführung zu tun«, sagte Jo, auf und ab marschierend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und die Nase in der Luft.
»Das wird das letzte Mal sein, dass ich mitmache. Allmählich bin ich aus dem Alter raus«, bemerkte Meg, die mit genauso kindlicher Begeisterung ›Verkleiden‹ spielte wie die anderen.
»Das stimmt nicht, das weiß ich, solange du im weißen Kleid mit offenen Haaren und Schmuck aus Goldpapier herumschweben kannst. Du bist die beste Schauspielerin, die wir haben, und wenn du hinschmeißt, ist alles vorbei«, sagte Jo. »Wir sollten heute Abend noch mal proben. Komm her, Amy, und spiel die Szene, in der du in Ohnmacht fällst, du bist dabei nämlich immer noch stocksteif.«
»Ich kann nichts dafür, ich hab noch nie jemanden in Ohnmacht fallen sehen. Und ich hab keine Lust, mir so wie du blaue Flecken zu holen. Wenn’s geht, lasse ich mich vorsichtig fallen. Ansonsten sinke ich auf einen Stuhl, ganz graziös – da kann mich Hugo noch so sehr mit seiner Pistole bedrohen«, entgegnete Amy, die keinerlei schauspielerisches Talent besaß und nur deshalb die Rolle bekommen hatte, weil sie klein genug war, um vom Schurken kreischend von der Bühne getragen zu werden.
»Mach es so: Du faltest die Hände, taumelst durchs Zimmer und rufst verzweifelt: ›Roderigo! Rette mich! Rette mich!‹« Und mit wahrhaft mitreißendem, melodramatischem Schrei trat Jo von der imaginären Bühne ab.
Amy folgte ihr, streckte aber steif die Arme von sich und zuckte beim Gehen wie ein Automat. Selbst ihr »Au!« klang weniger nach Angst und Verzweiflung und mehr danach, als würde sie mit Nadeln gepikst. Jo stöhnte, Meg lachte laut auf und Beth, die die Szene mit Interesse verfolgte, ließ das Brot anbrennen.
»Es ist sinnlos! Tu einfach dein Bestes, wenn’s soweit ist, und wenn du ausgebuht wirst, gib nicht mir die Schuld. Los, Meg.«
Danach lief alles glatt. Don Pedro trotzte der Welt mit einem zwei Seiten langen Monolog, und die Hexe Hagar saß an ihrem blubbernden Kessel voller Kröten und sprach einen schrecklichen Zauberspruch, der eine seltsame Wirkung hatte: Roderigo befreite sich mit männlich-kraftvoller Geste aus seinen Ketten, und Hugo starb unter furiosem Gelächter einen qualvollen Tod durch Arsen.
»So gut waren wir noch nie«, sagte Meg, während sich der tote Schurke aufsetzte und sich die Ellenbogen rieb.
»Ich verstehe gar nicht, wie man so großartige Sachen schreiben und spielen kann, Jo. Du bist ein richtiger Shakespeare!«, rief Beth in der festen Überzeugung, dass ihre Schwestern in allen Dingen außerordentlich begabt waren.
»Na ja«, entgegnete Jo bescheiden. »Ich finde zwar auch, dass Der Hexenfluch. Eine Operntragödie ganz nett geworden ist, aber ich würde mich gern mal an Macbeth versuchen – wenn wir für Banquo nur eine Falltür hätten. Die Sterbeszene wollte ich schon immer mal spielen. ›Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke?‹«, murmelte Jo, verdrehte die Augen und griff in die Luft, wie sie es einem großen Tragödienschauspieler abgeguckt hatte.
»Nein, es ist die Röstgabel, und zwar mit Mutters Schuh drauf statt des Brots. Du hast Beth die Sinne verwirrt!«, rief Meg, und die Probe endete in einem kollektiven Lachanfall.
»Na, das freut mich ja, dass meine Mädchen so fröhlich sind«, sagte eine muntere Stimme. Schauspielerinnen und Publikum drehten sich zur Tür, um eine rundliche, mütterliche Frau mit einer freundlichen, gütigen Miene zu begrüßen. Sie war keine sonderlich gutaussehende Frau, aber Kinder finden ihre Mütter immer schön, und auch die Mädchen waren der Meinung, dass sich unter dem grauen Umhang und der unmodernen Haube die wunderbarste Mutter auf Erden befand.
»Na, ihr Lieben, wie ist es euch heute ergangen? Es gab so viel zu tun beim Kistenpacken für morgen, dass ich es zum Mittagessen nicht nach Hause geschafft habe. Hatten wir Besuch, Beth? Wie geht’s deiner Erkältung, Meg? Jo, du siehst todmüde aus. Komm, Liebes, gib mir einen Kuss.«
Während sie diese typischen Fragen einer Mutter stellte, schälte sich Mrs March aus ihren nassen Sachen, schlüpfte in die warmen Pantoffeln und setzte sich in den Sessel. Sie zog Amy zu sich auf den Schoß und freute sich auf die schönste Stunde ihres arbeitsamen Tages. Die Mädchen rannten hin und her, um alles gemütlich herzurichten, jede auf ihre Art. Meg deckte den Abendbrottisch, Jo brachte Holz und rückte die Stühle zurecht, ließ hier etwas fallen, warf dort jenes um und klapperte mit allem, womit sie in Berührung kam. Beth trabte still und emsig zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her, während Amy mit gefalteten Händen dasaß und Anweisungen gab.
Als sie sich am Tisch versammelt hatten, sagte Mrs March mit von Glück erfüllter Miene: »Nach dem Essen habe ich was für euch.«
Ein schnelles, munteres Lächeln machte wie ein Sonnenstrahl die Runde. Beth klatschte mitsamt ihrem Cracker in die Hände. Jo warf ihre Serviette in die Luft und rief: »Ein Brief! Ein Brief von Vater! Hipp hipp hurra!«
»Ja, ein schöner langer Brief. Es geht ihm gut, und er geht davon aus, dass er die kalte Jahreszeit besser überstehen wird, als wir befürchtet hatten. Er wünscht uns von Herzen schöne Weihnachten, und euch Mädchen hat er etwas ganz Besonderes mitzuteilen«, sagte Mrs March und tätschelte ihre Tasche, als befände sich darin ein Schatz.
»Beeilt euch und seht zu, dass ihr fertig werdet! Amy, lass das mit dem abgespreizten kleinen Finger und diesem zimperlichen Gehabe«, rief Jo, verschluckte sich fast an ihrem Tee und ließ ihr Brot mit der gebutterten Seite auf den Teppich fallen, so eilig hatte sie es, an den versprochenen Schatz zu kommen.
Beth hörte auf zu essen und schlich sich davon, um in ihrer schummrigen Ecke auf die anderen zu warten und sich still und heimlich auf das kommende Vergnügen zu freuen.
»Ich finde es wunderbar von Vater, dass er sich freiwillig als Kaplan gemeldet hat, weil er zu alt war, um eingezogen zu werden, und nicht stark genug, um an der Front zu kämpfen«, sagte Meg herzlich.
»Ach, ich wär so gern Trommler, oder Marketender – heißt das so? Oder Krankenschwester, dann könnte ich in seiner Nähe sein und ihm helfen«, rief Jo ächzend.
»Es muss sehr unangenehm sein, in einem Zelt zu schlafen, alle möglichen unappetitlichen Sachen essen zu müssen und aus einer Blechtasse zu trinken«, sagte Amy seufzend.
»Wann kommt er wieder nach Hause, Marmee?«, fragte Beth mit einem kleinen Beben in der Stimme.
»Das wird noch Monate dauern, mein Schatz, es sei denn, er wird krank. Er wird bleiben und so lange wie möglich seine Pflicht tun, und wir werden ihn nicht eine Minute früher bitten, zurückzukommen, bis man ihn entbehren kann. Nun kommt und hört euch den Brief an.«
Alle setzten sich ans Feuer, Mutter in ihrem großen Sessel mit Beth zu Füßen, Meg und Amy zu beiden Seiten auf den Armlehnen und Jo über die Rückenlehne gebeugt, wo niemand ihre Rührung sehen würde, falls es ein bewegender Brief war. In den harten Zeiten damals gab es nur wenige Briefe, die nicht bewegend waren, vor allem vonseiten der Väter. Doch in diesem war kaum die Rede von Entbehrungen, Gefahren oder Heimweh; es war ein munterer, zuversichtlicher Brief voll lebhafter Schilderungen vom Lagerleben, von Märschen und Militärnachrichten. Und erst am Ende ging dem Verfasser das Herz über vor väterlicher Liebe und Sehnsucht nach den kleinen Mädchen daheim.
Richte ihnen liebe Grüße aus und gib jeder einen Kuss von mir. Sag ihnen, dass ich jeden Tag an sie denke, abends für sie bete und mich von ihrer Zuneigung am meisten getröstet fühle. Ein Jahr bis zu unserem Wiedersehen zu warten, kommt mir sehr lang vor, aber sie sollen sich immer wieder bewusst machen, dass wir währenddessen viel Sinnvolles schaffen können, damit diese schweren Tage nicht ungenutzt bleiben. Ich weiß, dass sie sich an alles, was ich gesagt habe, erinnern und dass sie Dir liebende Kinder sein werden, die ihre Pflicht erfüllen, ihre Widerstände überwinden und hart an sich arbeiten, damit ich bei meiner Rückkehr meine kleinen Frauen noch lieber haben und noch stolzer auf sie sein kann als je zuvor.
An dieser Stelle mussten alle schniefen. Jo schämte sich der großen Träne nicht, die von ihrer Nasenspitze tropfte, und Amy dachte nicht mehr an ihre sorgsam frisierten Locken, als sie das Gesicht in der Schulter ihrer Mutter verbarg und schluchzte: »Ich bin so egoistisch! Ich werde aber wirklich versuchen, mich zu bessern, damit er nie wieder von mir enttäuscht sein wird.«
»Das werden wir alle«, rief Meg. »Ich denke viel zu viel über mein Aussehen nach und mag nicht arbeiten, aber es soll nie wieder vorkommen, wenn ich es vermeiden kann.«
»Ich werde versuchen, nie wieder wild und stürmisch zu sein, sondern eine ›kleine Frau‹, wie er so gern zu mir sagt, und hier meine Pflicht tun, anstatt mich woandershin zu wünschen«, sagte Jo, wobei sie fand, dass es viel schwerer war, zu Hause sein Temperament zu zügeln, als sich unten im Süden dem einen oder anderen Rebellen entgegenzuwerfen.
Beth schwieg, trocknete sich aber mit dem blauen Armeestrumpf die Tränen und begann mit aller Macht zu stricken, um bloß keine Zeit zu verlieren und das zu tun, was am Nächsten lag, denn in ihrer stillen kleinen Seele hatte sie bereits den Entschluss gefasst, all das zu sein, worauf Vater hoffte, wenn das Jahr endlich seine glückliche Heimkehr brächte.
Mrs March unterbrach das Schweigen, das Jos Worten gefolgt war, indem sie mit ihrer fröhlichen Stimme sagte: »Erinnert ihr euch, wie ihr ›Pilgerreise‹ gespielt habt, als ihr noch ganz klein wart? Ich habe euch meinen Flickenbeutel auf den Rücken gebunden und euch Hüte, Stöcke und Papierrollen gegeben und euch vom Keller aus, der ›Stadt der Zerstörung‹, durchs ganze Haus reisen lassen, immer weiter hinauf bis aufs Dach, wo ihr all die schönen Dinge sammeln konntet, um eine ›Himmlische Stadt‹ zu bauen.«
»Das war so lustig, vor allem an den Löwen vorbeizugehen, gegen Apollyon zu kämpfen und das Tal mit den bösen Geistern zu durchqueren«, sagte Jo.
»Ich fand die Stelle immer schön, bei der die Bündel abgegangen und die Treppen runtergefallen sind«, sagte Meg.
»Ich mochte es am liebsten, wenn wir auf das flache Dach gestiegen sind, wo unsere Blumen, Lauben und die schönen Sachen waren, und alle dagestanden und da oben in der Sonne vor lauter Freude gesungen haben«, sagte Beth lächelnd, als erlebte sie im Geiste diesen schönen Moment nochmal neu.
»Ich erinnere mich kaum noch daran, außer, dass ich Angst vor dem Keller und dem dunklen Eingang hatte, und dass ich den Kuchen und die Milch mochte, die es oben gab. Wenn ich nicht schon zu alt für so was wäre, würde ich es gern nochmal spielen«, sagte Amy, die bereits im reifen Alter von zwölf begann, sich vom Kinderkram zu distanzieren.
»Dafür sind wir nie zu alt, mein Schatz, denn es ist ein Spiel, das wir auf die eine oder andere Weise die ganze Zeit spielen. Unsere Bündel sind hier, unser Weg liegt vor uns, und die Sehnsucht nach dem Guten und dem Glück ist das, was uns durch viele Schwierigkeiten und Irrtümer hindurch zum Frieden führt, der eine wahre Himmlische Stadt ist. Was haltet ihr davon, meine kleinen Pilgerinnen, wenn ihr damit nochmal anfangt, aber nicht als Spiel, sondern im Ernst, und schaut, wie weit ihr kommt, bevor Vater wieder hier ist?«
»Wirklich, Mutter? Wo sind denn unsere Bündel?«, fragte Amy, ganz die junge Dame, die alles sehr wörtlich nahm.
»Gerade habt ihr alle von euren Bündeln erzählt, außer Beth. Ich denke fast, sie hat gar keins«, sagte ihre Mutter.
»Doch, das habe ich. Meine sind Geschirr und Staubtücher, und mein Neid auf andere Mädchen mit schönen Klavieren, und vielleicht noch die Angst vor fremden Menschen.«
Beths Bündel waren so lustig, dass sie alle am liebsten gelacht hätten. Doch sie ließen es sein, da es Beth sehr gekränkt hätte.
»Lass es uns machen«, sagte Meg nachdenklich. »Es ist nur ein anderer Ausdruck für den Versuch, brav zu sein. Und die Geschichte könnte uns helfen, denn wir wollen zwar Gutes tun, aber es ist harte Arbeit, und manchmal vergessen wir es und geben nicht unser Bestes.«
»Heute Abend waren wir im Sumpf der Verzagtheit, und Mutter kam und zog uns raus, wie der Erlöser aus dem Buch. Wir bräuchten Anweisungen wie Christian. Wie kriegen wir das hin?«, fragte Jo, die begeistert von der Vorstellung war, den sehr langweiligen Pflichten ein wenig Romantik zu verleihen.
»Schaut an Weihnachten unter eure Kopfkissen, dort findet ihr euren Wegweiser«, entgegnete Mrs March.
Sie besprachen den neuen Plan, während die alte Hannah den Tisch abräumte. Anschließend wurden die vier kleinen Handarbeitskörbe hervorgeholt und die Nadeln flogen beim Nähen nur so über das Bettzeug für Tante March. Es war eine ermüdende Näharbeit, aber an diesem Abend beschwerte sich niemand. Sie übernahmen Jos Plan, die langen Säume zu vierteln und die Teile Europa, Asien, Afrika und Amerika zu nennen. Auf diese Weise kamen sie großartig voran, vor allem, wenn sich ihre Gespräche um die verschiedenen Länder drehten, durch die sie sich hindurchnähten.
Um neun ließen sie die Arbeit ruhen und sangen wie üblich, bevor sie zu Bett gingen. Niemand außer Beth war in der Lage, dem alten Klavier ein paar Töne zu entlocken. Beth schlug die vergilbten Tasten sanft an und konnte die einfachen Lieder wunderbar begleiten. Meg hatte eine Stimme so hell wie eine Flöte, und sie und ihre Mutter führten den kleinen Chor an. Amy zirpte wie eine Grille, und Jo spazierte nach Lust und Laune durch die Lieder und schien immer an der falschen Stelle ein Krächzen oder Quaken von sich zu geben, womit sie die besinnlichste Melodie ruinierte. Seit Kindesbeinen hatten sie gemeinsam Twinkle twinkle little star gesungen. Das Lied war im Hause March zu einem schönen Brauch geworden, denn die Mutter war eine geborene Sängerin. Ihre Stimme war morgens das Erste, was sie hörten, wenn sie singend wie eine Lerche durchs Haus ging; und auch abends war ihr munterer Gesang der letzte Laut, den sie vernahmen. Für dieses vertraute Schlaflied wurden die Mädchen nie zu alt.
Jo war die Erste, die an Weihnachten im grauen Morgenlicht erwachte. Es hingen keine Strümpfe am Kamin, und für einen Augenblick war sie genauso enttäuscht wie vor langer Zeit, als ihr kleiner Strumpf vor lauter Leckereien aus den Nähten platzte. Dann fiel ihr das Versprechen ihrer Mutter wieder ein. Sie griff unter ihr Kopfkissen und zog ein Buch in einem dunkelroten Einband hervor. Sie kannte es nur zu gut, denn es war die wunderbare alte Geschichte vom besten aller Leben, und Jo fand, dass es das beste Lehrbuch für jede Pilgerin auf ihrer langen Reise war. Sie weckte Meg, wünschte ihr fröhliche Weihnachten und bat sie, unter ihr Kopfkissen zu schauen. Ein grünes Buch kam zum Vorschein, darin dasselbe Bild und ein paar Zeilen in der Handschrift ihrer Mutter, wodurch ihnen ihr einziges Geschenk sehr kostbar erschien. Irgendwann wurden auch Beth und Amy wach, um ebenfalls ihre kleinen Bücher zu suchen und zu finden, das eine taubenblau, das andere dunkelblau. Alle saßen sie da, betrachteten die Bücher und sprachen über sie, während im Osten der neue Tag rosig heraufzog.
Trotz ihrer kleinen Eitelkeiten hatte Margaret ein gutmütiges und frommes Wesen, mit dem sie unbewusst auch ihre Schwestern beeinflusste, vor allem Jo, die ihre Schwester sehr lieb hatte und auf ihre sanftmütig erteilten Ratschläge gerne hörte.
»Mädchen«, sagte Meg ernst und ließ den Blick über den zerzausten Haarschopf an ihrer Seite und dann über die beiden haubenbedeckten Köpfe im angrenzenden Zimmer schweifen, »Mutter möchte, dass wir diese Bücher lesen und lieben und befolgen. Wir sollen sofort damit anfangen. Früher sind wir dem immer nachgekommen, aber seit Vater weg ist und dieser Krieg uns so aufwühlt, haben wir vieles vernachlässigt. Ihr könnt machen, was ihr wollt; ich jedenfalls werde mein Buch hier auf dem Tisch liegen lassen und jeden Morgen nach dem Aufwachen ein bisschen drin lesen. Ich weiß, es wird mir gut tun und mir durch den Tag helfen.«
Dann schlug sie ihr neues Buch auf und begann zu lesen. Jo legte ihr den Arm um die Schultern, beugte sich vor, Wange an Wange, und las ebenfalls mit einer ruhigen Miene, die ihr Gesicht so selten zeigte.
»Wie gut Meg ist! Los, Amy, das machen wir auch. Ich helfe dir mit den schwierigen Wörtern, und die beiden erklären uns alles, was wir nicht verstehen«, flüsterte Beth, beeindruckt von den hübschen Büchern und dem Vorbild ihrer Schwestern.
»Bin ich froh, dass ich ein blaues habe«, sagte Amy. Dann war es in den Zimmern sehr still, während leise geblättert wurde und die Wintersonne langsam hereinfiel, um die hellen Köpfe und ernsten Gesichter mit einem weihnachtlichen Gruß in ihr Licht zu tauchen.
»Wo ist Mutter?«, fragte Meg, als sie und Jo eine halbe Stunde später nach unten rannten, um ihr für die Geschenke zu danken.
»Weiß der Himmel. Irgendein armes Ding stand gerade vor der Tür und hat gebettelt, und eure Mama ist sofort los, um zu sehen, was fehlt. Noch nie hab ich eine Frau gesehen, die so schnell dabei ist, Essen und Trinken, Kleidung und Holz zu verschenken«, entgegnete Hannah, die seit Megs Geburt im Haus der Familie lebte und von allen eher als Vertraute denn als Angestellte angesehen wurde.
»Sie ist bestimmt gleich zurück, also fang ruhig schon an zu backen und alles vorzubereiten«, sagte Meg mit einem Blick auf die Geschenke im Korb unter dem Sofa, der im richtigen Moment hervorgezaubert werden sollte. »Aber – wo ist denn Amys Kölnischwasser?«, fügte sie hinzu, als sie kein Fläschchen sah.
»Sie hat es gerade genommen und ist damit weggelaufen, um eine Schleife drumzubinden oder so was«, entgegnete Jo durch den Raum tanzend, um die neuen Hausschuhe schon mal etwas einzulaufen.
»Sehen meine Taschentücher nicht schön aus? Hannah hat sie mir gewaschen und gebügelt, und ich hab sie ganz alleine bestickt«, sagte Beth und betrachtete stolz die etwas schief geratenen Buchstaben, die sie solche Mühe gekostet hatten.
»Ich lach mich tot, sie hat sie mit ›Mutter‹ bestickt statt mit ›M. March.‹ Wie lustig!«, rief Jo und nahm eins in die Hand.
»Ist das falsch? Ich dachte, es wäre besser so. M. M. sind doch Megs Initialen, und ich wollte, dass sie von niemandem benutzt werden außer Marmee«, sagte Beth mit sorgenvoller Miene.
»Alles gut, Süße, eine sehr schöne Idee, und gar nicht so dumm, denn so wird es sicher zu keiner Verwechslung kommen. Sie wird sich wahnsinnig freuen, da bin ich mir sicher«, sagte Meg mit einem kritischen Blick auf Jo und einem Lächeln für Beth.
»Mutter kommt. Versteckt den Korb, schnell!«, rief Jo, als eine Tür ins Schloss fiel und Schritte im Flur zu hören waren.
Amy stürzte herein und wirkte ziemlich betreten, als sie sah, dass die Schwestern schon auf sie warteten.
»Wo warst du, und was hast du da hinter deinem Rücken?«, fragte Meg, sich darüber wundernd, dass die bequeme Amy so früh schon unterwegs gewesen war, wie man unschwer an Mantel und Haube erkennen konnte.
»Lach mich nicht aus, Jo! Ich wollte nicht, dass es jemand mitbekam, bis es so weit war. Ich wollte nur die kleine Flasche gegen eine große umtauschen. Dafür hab ich mein ganzes Geld ausgegeben. Ich versuche ehrlich, nicht mehr so egoistisch zu sein.«
Und dabei zeigte Amy die hübsche Flasche herum, mit der sie die preiswerte ersetzt hatte. Bei ihrem kleinen Versuch, ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, sah sie so ernst und bescheiden aus, dass Meg sie spontan in die Arme schloss und Jo sie einen ›feinen Kerl‹ nannte, während Beth ans Fenster rannte und ihre schönste Rose pflückte, um die stattliche Flasche zu schmücken.
»Mein Geschenk war mir peinlich, nachdem wir heute Morgen davon gelesen und darüber geredet haben, ein guter Mensch zu sein, also bin ich als Allererstes ans Eck gelaufen und hab es umgetauscht, und ich bin so froh, weil ich jetzt das schönste Geschenk habe.«
Erneut fiel die Haustür ins Schloss, rasch landeten die Geschenke unter dem Sofa und die Mädchen am Tisch, begierig aufs Frühstück.
»Fröhliche Weihnachten, Marmee! Und noch viele mehr davon! Danke für die Bücher; wir haben schon angefangen und wollen jeden Tag ein bisschen drin lesen!«, riefen sie im Chor.
»Fröhliche Weihnachten, liebe Töchter! Das freut mich, und ich hoffe, ihr bleibt dabei. Eins will ich aber noch erzählen, bevor wir mit dem Frühstück beginnen. Ganz in der Nähe liegt eine arme Frau mit einem neugeborenen kleinen Baby. Sechs Kinder kauern in einem einzigen Bett, um nicht zu erfrieren, sie haben nämlich keinen Ofen. Die Leute haben nichts zu essen. Der älteste Junge war hier, um mir zu sagen, dass sie Hunger haben und frieren. Liebe Mädchen, wollt ihr ihnen nicht als Weihnachtsgeschenk euer Frühstück spenden?«
Da sie fast eine Stunde gewartet hatten, waren sie alle ungewöhnlich hungrig, und kurz sagte niemand etwas – aber nur ganz kurz, denn dann rief Jo stürmisch:
»Bin ich froh, dass wir noch nicht angefangen haben!«
»Darf ich mitkommen und helfen, die Sachen zu den armen kleinen Kindern rüberzutragen?«, fragte Beth eifrig.
»Ich nehm die Sahne und die Muffins«, fügte Amy hinzu und verzichtete heldenhaft auf das, was sie am liebsten aß.
Meg war schon dabei, den Buchweizen abzudecken und das Brot auf einen großen Teller zu häufen.
»Dachte ich’s mir doch, dass ihr einverstanden wärt«, sagte Mrs March und lächelte zufrieden. »Ihr dürft alle mitkommen und mir helfen, und wenn wir wieder hier sind, gibt es Brot und Milch, und beim Abendessen machen wir alles wieder gut.«
Bald waren sie so weit, und sie marschierten los. Zum Glück war es noch früh, so dass sie unbemerkt durch die kleinen Gassen gehen und niemand über die sonderbare Truppe lachen konnte.
Ein armes, kahles, elendes Zimmer erwartete sie, mit kaputten Fensterscheiben, ohne Herd, mit zerlumptem Bettzeug, einer kranken Mutter, einem weinenden Baby und einem Haufen blasser, hungriger Kinder, die sich unter einer einzigen Steppdecke aneinander gekuschelt hatten, um warm zu bleiben.
Was sie für große Augen machten und mit ihren blauen Lippen lächelten, als die Mädchen durch die Tür kamen!
»Ach, mein Gott! Es kommen Engel zu uns!«, rief die arme Mutter und weinte vor Freude.
»Komische Engel in Hauben und Handschuhen«, sagte Jo, womit sie alle zum Lachen brachte.
Doch wenige Minuten später wirkte es tatsächlich so, als wären gute Geister am Werk gewesen. Hannah, die das Holz getragen hatte, machte Feuer und verstopfte die kaputten Scheiben mit alten Mützen und ihrem eigenen Umhang. Mrs March gab der Mutter Tee und Haferschleim und beruhigte sie mit Hilfsversprechen, während sie das kleine Baby so zärtlich wickelte, als wäre es ihr eigenes. Unterdessen deckten die Mädchen den Tisch, setzten die Kinder vors Feuer und fütterten sie wie hungrige Vögel. Sie lachten, plauderten und versuchten, das lustige gebrochene Englisch zu verstehen.
»Schmeckt gut!« »Die Engelskinder!«, riefen die armen Dinger, und sie aßen und wärmten ihre blau gefrorenen Hände wohlig am Feuer. Die Mädchen waren noch nie als Engelskinder bezeichnet worden, doch es gefiel ihnen sehr, vor allem Jo, die seit ihrer Geburt als Kratzbürste galt. Es war ein glückliches Frühstück, auch wenn sie nichts davon abbekamen. Und als sie wieder gingen und ihren Trost zurückließen, gab es in der ganzen Stadt wohl keine fröhlicheren Menschen als die hungrigen kleinen Mädchen, die ihr Frühstück verschenkt und sich am Weihnachtsmorgen mit Brot und Milch zufriedengegeben hatten.
»Das bedeutet es also, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, und ich find’s schön«, sagte Meg, während sie ihre Geschenke auslegten und ihre Mutter oben war, um Kleidung für die armen Hummels zusammenzusuchen.
Sie machten zwar nicht viel her, doch es steckte sehr viel Liebe in den kleinen Päckchen. Und die große Vase mit den roten Rosen, weißen Chrysanthemen und grünen Ranken, die in der Mitte stand, verlieh dem Tisch etwas Elegantes.
»Sie kommt! Fang an, Beth. Mach die Tür auf, Amy! Ein Hoch auf Marmee!«, rief Jo und hüpfte vor Aufregung, während Meg ihre Mutter zu ihrem Ehrenplatz führte.
Beth spielte ihren fröhlichsten Marsch, Amy warf die Tür auf, und Meg gab mit großer Andacht die Eskorte. Mrs March war überrascht und gerührt. Sie lächelte unter Tränen, besah ihre Geschenke und las die kleinen beigelegten Briefchen. Die Hausschuhe wurden sofort angezogen, ein neues, mit Amys Parfüm großzügig benetztes Taschentuch wanderte in ihre Tasche, die Rose wurde an ihre Brust geheftet und die schönen Handschuhe wurden als ›perfekt‹ befunden.
Es wurde viel gelacht, geküsst und erläutert, und das auf jene einfache, liebevolle Art, die solche Feiertage so gemütlich macht und für so wunderbare Erinnerungen sorgt. Anschließend begaben sich alle an die Arbeit.
Die morgendliche Wohltätigkeitsaktion und die Zeremonie hatten so viel Zeit in Anspruch genommen, dass der Rest des Tages den Vorbereitungen für die abendlichen Feierlichkeiten gewidmet war. Da sie noch zu jung fürs Theater waren und nicht wohlhabend genug für aufwändige Privatvorführungen, hatten sich die Mädchen selbst etwas überlegt. Not macht bekanntlich erfinderisch, und so hatten sie alles, was sie brauchten, selbst hergestellt. Herausgekommen waren geschickte Bastelarbeiten: Gitarren aus Karton, antike Lampen in Form von altmodischen Butterdosen unter silbernem Papier, prächtige Roben aus altem Baumwollstoff verziert mit glitzernden Zinnpailletten aus der Gurkenfabrik sowie eine Ritterrüstung, ebenfalls mit Pailletten versehen, einem Abfallprodukt bei der Herstellung von Konservendosendeckeln. Die Möbel waren es gewohnt, auf den Kopf gedreht zu werden, und das Wohnzimmer hatte zuvor schon vielen unschuldigen Träumereien als Schauplatz gedient.
Herren waren nicht zugelassen, also spielte Jo nach Herzenslust die männlichen Rollen. Sie erfreute sich besonders an ihren rotbraunen Lederstiefeln, dem Geschenk einer Freundin, die eine Dame kannte, die einen Schauspieler kannte. Diese Stiefel, ein altes Florett und ein zerrissenes Wams, das irgendein Künstler für ein Gemälde verwendet hatte, waren Jos größten Schätze und kamen bei jeder Gelegenheit zum Einsatz. Da die Schauspieltruppe so klein war, mussten die beiden Hauptdarstellerinnen gleich mehrere Rollen spielen – und sie verdienten durchaus etwas Beifall für die harte Arbeit, die das Lernen von drei oder vier verschiedenen Rollen, das Wechseln von einem Kostüm ins andere und die Organisation des gesamten Bühnenablaufs mit sich brachte. Die Aufführungen waren ein ideales Gedächtnistraining, ein harmloser Zeitvertreib und füllten viele Stunden, die andernfalls müßig, einsam oder in weniger erbaulicher Gesellschaft verbracht worden wären.
Am Weihnachtsabend kletterte ein Dutzend Mädchen aufs Bett – in den ersten Rang – und saß in höchst schmeichelhafter gespannter Erwartung vor dem blau-gelben Chintzvorhang. Hinter dem Vorhang herrschte Geraschel und Geflüster, eine Spur Lampenrauch und das gelegentliche Kichern von Amy, die geneigt war, in der Hitze des Gefechts die Nerven zu verlieren. Schließlich läutete ein Glöckchen, der Vorhang schwang auf und die tragische Oper begann.
Der (laut dem einzigen Programmheft) ›düstere Wald‹ bestand aus eingetopftem Gebüsch, grünem Stoff auf dem Boden und einer Höhle in der Ferne. Die Höhle hatte einen Wäscheständer als Dach, Kommoden als Wände und beherbergte einen kleinen, kräftig lodernden Ofen sowie eine alte Hexe, die sich über einen schwarzen Kessel beugte. Die Bühne war dunkel, und das Glühen des Ofens hatte eine stimmungsvolle Wirkung, vor allem als beim Abnehmen des Deckels echter Rauch aus dem Kessel trat. Man ließ dem Publikum einen Moment Zeit, um den ersten Nervenkitzel zu verdauen, dann stapfte Hugo, der Schurke, mit rasselndem Schwert, Schlapphut, schwarzem Bart und geheimnisvollem Umhang auf die Bühne. Nachdem er sehr aufgewühlt hin und hergelaufen war, schlug er sich gegen die Stirn, schmetterte drauflos und sang von seinem Hass auf Roderigo, seiner Liebe für Zara und seinem festen Vorhaben, dem einen das Leben zu nehmen und die Liebe der anderen zu gewinnen. Hugos barsche Stimme, seine Schreie, wenn ihn hier und da die Gefühle übermannten, waren beeindruckend, und das Publikum applaudierte in dem Moment, als er innehielt, um Luft zu schnappen. Er verbeugte sich wie jemand, der öffentliches Lob gewohnt war, schlich sich nach hinten und beorderte Hagar aus ihrer Höhle, indem er rief: »He da, Gevatterin, ich brauche Euch!«
Auftritt Meg mit wildem schimmelgrauem Rosshaar auf dem Kopf, schwarzrotem Gewand, Stock und einem Umhang voller kabbalistischer Zeichen. Hugo verlangte von ihr einen Zaubertrank, um Zaras Liebe zu gewinnen, und einen zweiten, um Roderigo zu vernichten. Mit anmutig dramatischer Stimme versprach ihm Hagar beides und fuhr fort, den Geist heraufzubeschwören, der den Liebestrank liefern sollte:
Komm zu mir, aus deinem Reich
Geist der Lüfte, komm sogleich!
Rosenkind, mit Tau gelabt
Bist mit Zauberkraft begabt!
Bring mir rasch mit Elfenkuss
Den Trank, den ich jetzt haben muss.
Und mach ihn wirksam, süß und stramm,
Geist der Lüfte, hör mich an!
Eine zarte Melodie erklang, dann trat hinter der Höhle eine kleine Gestalt in wolkigem Weiß mit glitzernden Flügeln, goldenem Haar und einer Rosengirlande hervor. Die Gestalt wedelte mit ihrem Zauberstab und sang:
Hier komm ich aus
Meinem luftigen Haus
Im schimmernden Mondenlicht,
Nimm dieses Gebräue,
Gebrauch es mit Schläue,
Sonst wirkt es leider nicht!
Und nachdem sie der Hexe ein kleines vergoldetes Fläschchen vor die Füße geworfen hatte, löste sich die Gestalt in Luft auf. Ein zweiter Zauberspruch Hagars beschwor eine weitere Erscheinung herauf – jedoch keine schöne, denn mit einem Poltern und Krächzen erschien ein hässlicher schwarzer Kobold, der Hugo mit einer schwarzen Flasche bewarf, ehe er unter Hohngelächter entschwand. Hugo flötete seinen Dank, steckte sich die Fläschchen in die Stiefel und ging ab. Hagar teilte dem Publikum mit, dass sie einen Fluch über ihn ausgesprochen habe und sich mit der Absicht trage, seine Pläne zu durchkreuzen sowie Rache an ihm zu üben, da er einige ihrer Freundinnen auf dem Gewissen habe. Dann fiel der Vorhang und das Publikum erholte sich mit Süßigkeiten, während die Vorzüge des Stückes diskutiert wurden.
Bevor der Vorhang erneut aufging, war ein ausgiebiges Hämmern zu vernehmen. Und als klar wurde, welches Glanzstück von einem Bühnenbild geschaffen worden war, grollte niemand mehr der Verzögerung. Was für eine Pracht! Ein Turm erhob sich bis zur Decke, auf dessen halber Höhe ein Fenster mit einer Lampe war. Hinter dem weißen Vorhang erschien Zara, die in einem entzückenden blau-silbernen Kleid auf Rodrigo wartete. Er kam, herrlich anzusehen, mit einer Feder am Hut, rotem Umhang, rotbrauner Schmachtlocke, Gitarre und natürlich besagten Stiefeln. Er kniete sich vor den Turm und sang mit schmelzender Stimme eine Serenade. Zara antwortete, und nach einem musikalischen Dialog willigte sie in die gemeinsame Flucht ein. Dann kam der Clou. Roderigo zog eine fünfsprossige Strickleiter hervor, warf ein Ende hoch und forderte Zara auf, hinabzusteigen. Ängstlich kletterte sie daran hinunter, stützte sich auf Roderigos Schulter und wollte anmutig zu Boden springen, doch leider hatte die arme Zara nicht an ihre Schleppe gedacht – die sich im Fenster verfangen hatte. Der Turm wankte, kippte nach vorn, stürzte krachend zu Boden und begrub das unglückliche Paar unter den Trümmern.
Alles schrie auf, während die rotbraunen Stiefel sich unter dem Wrack hervorstrampelten, ein goldblonder Schopf auftauchte und rief: »Ich hab’s ja gesagt! Ich hab’s ja gesagt!« Mit grandioser Geistesgegenwart kam seine grausame Majestät Don Pedro herbeigeeilt, befreite seine Tochter und sprach hastig murmelnd zur Seite: »Nicht lachen! Tut so, als wär’s Absicht!« Er befahl Roderigo aufzustehen und verbannte ihn voller Zorn und Verachtung aus dem Königreich. Roderigo, vom Einsturz des Turmes sichtlich mitgenommen, trotzte dem älteren Herrn und rührte sich nicht vom Fleck. Diese Kühnheit befeuerte wiederum Zara. Auch sie trotzte ihrem Vater, der die beiden sodann in den tiefsten Kerker des Schlosses werfen ließ. Ein rundlicher kleiner Dienstbote kam mit Ketten und führte sie weg. Er hatte dabei aber äußerst ängstlich gewirkt und offenbar den Text vergessen, den er hätte sprechen sollen.
Der dritte Akt spielte in der Halle des Schlosses. Hagar erschien, um das Liebespaar zu befreien und Hugo den Garaus zu machen. Sie hört ihn kommen und versteckt sich. Sie sieht, wie er den Zaubertrank in zwei Weinkelche füllt und den verhuschten kleinen Lakaien bittet: »Bring den Gefangenen diese Kelche in ihre Zellen und sag ihnen, ich käme sogleich.« Der Diener nimmt Hugo zur Seite und raunt ihm etwas zu. Hagar ergreift die Kelche und tauscht sie gegen zwei neue mit harmlosem Inhalt aus. Der Diener Ferdinando trägt sie weg, und Hagar stellt den Giftkelch zurück, der eigentlich Roderigo gilt. Nach einem langen Tirilieren dürstet es Hugo, er trinkt, wird besinnungslos, und nach reichlichem Gestikulieren und Taumeln fällt er sterbend zu Boden, während Hagar ihn mit einem Lied von exquisiter Kraft und Melodiösität von ihrer Tat unterrichtet.
Dies war eine wirklich aufregende Szene gewesen – wobei man hätte einwenden können, dass das plötzliche Hervorquellen einer üppigen Haarmähne die Dramatik des sterbenden Schurken womöglich etwas geschmälert hatte. Er wurde vor den Vorhang gerufen und erschien sehr sittsam mit Hagar an der Hand, deren Gesang als wundervoller angesehen wurde als die ganze Aufführung zusammen.
Im vierten Akt steht der verzweifelte Roderigo kurz davor, sich den Dolch ins Herz zu jagen, denn man hat ihm mitgeteilt, dass Zara ihn verlassen habe. Gerade als die Dolchspitze sein Herz berührt, ertönt unter seinem Fenster ein lieblicher Gesang, der ihm mitteilt, dass Zara ihm treu, jedoch in Gefahr sei – aber er könne sie retten. Ein Schlüssel landet vor seinen Füßen, die Tür geht auf, er wirft verzückt seine Ketten ab und saust los, um seine Herzdame zu finden und zu erlösen.
Der fünfte Akt öffnet mit einer stürmischen Szene zwischen Zara und Don Pedro. Er will sie ins Kloster schicken, aber sie weigert sich. Nach einem rührenden Appell will sie gerade in Ohnmacht fallen, als Roderigo auf die Bühne stürmt und um ihre Hand anhält. Don Pedro verweigert sie ihm, da er ihm nicht reich genug ist. Sie schreien und gestikulieren wie wild, und Roderigo ist kurz davor, mit der erschöpften Zara zu entfliehen, als der ängstliche Diener mit einem Brief und einer Tasche von Hagar auftaucht, die mysteriöserweise verschwunden ist. Der Diener teilt der Gruppe mit, dass Hagar dem jungen Paar unsagbare Reichtümer schenke, Don Pedro dagegen ein schreckliches Schicksal, wenn er sie nicht glücklich mache. Die Tasche wird geöffnet, und mehrere Liter Blechgeld regnen auf die Bühne herab, die sich in ein einziges Glitzermeer verwandelt. Diese Aktion erweicht die strenge Majestät. Ohne zu murren willigt sie ein, gemeinsam stimmen sie einen Freudengesang an und der Vorhang fällt vor dem niederknieenden Liebespaar, das mit vollkommener romantischer Anmut Don Pedros Segen empfängt.
Was folgte, war tosender Applaus, der aber unerwartet unterbrochen wurde, denn die zum ersten Rang umgebaute Pritsche brach plötzlich zusammen und verschlang das begeisterte Publikum. Roderigo und Don Pedro eilten zu Hilfe, und alle konnten unverletzt geborgen werden, wobei es vielen vor Lachen die Sprache verschlagen hatte. Die Aufregung verebbte nur langsam, als Hannah auftauchte und sagte: »Mrs March lässt bitten, die Damen möchten jetzt nach unten kommen.«
Dies war eine Überraschung, selbst für die Schauspielerinnen. Und als sie den Tisch sahen, tauschten sie verzückte Blicke aus. Es sah Marmee ähnlich, ihnen eine kleine Freude zu machen, aber etwas so Feines hatten sie seit den längst vergangenen Tagen des Wohlstands nicht gesehen. Es gab Eiscreme, zwei Schüsseln sogar, einmal rosa, einmal weiß, und Kuchen und Früchte, und hinreißende französische Bonbons – und in der Tischmitte standen vier große Sträuße Treibhausblumen!
Es war ein atemberaubender Anblick. Sie starrten erst auf den Tisch und dann auf ihre Mutter, die sich köstlich zu amüsieren schien.
»Waren es Feen?«, fragte Amy.
»Der Weihnachtsmann«, sagte Beth.
»Das war Mutter«, sagte Meg und lächelte ihr süßestes Lächeln, trotz grauem Bart und weißen Brauen.
»Tante March hat einen Anfall von Freundlichkeit gehabt und das Essen geschickt«, rief Jo aus einer spontanen Eingebung heraus.
»Alles falsch. Der alte Mr Laurence hat es kommen lassen«, entgegnete Mrs March.
»Der Großvater des ›Laurence-Jungen‹! Wie in aller Welt kommt er auf so eine Idee? Wir kennen ihn doch gar nicht!«, rief Meg.
»Hannah hat einem seiner Dienstboten von eurer Frühstücksgesellschaft erzählt. Er ist ein alter Kauz, aber das hat ihm gefallen. Er kannte meinen Vater, vor vielen Jahren, und hat mir heute Nachmittag einen höflichen Brief geschickt und gefragt, ob ich ihm gestatte, meinen Kindern mit ein paar Leckereien seine Zuneigung zu bekunden, zur Feier des Tages. Ich konnte unmöglich ›Nein‹ sagen, und so habt ihr nun ein festliches kleines Nachtmahl – zum Ausgleich für unser einfaches Frühstück.«
»Dieser Junge hat ihm das in den Kopf gesetzt, ich weiß es genau! Der ist toll, ich wünschte, wir könnten uns anfreunden. Er sieht aus, als würde er uns gern kennenlernen. Aber er ist schüchtern, und Meg ist immer so etepetete und erlaubt mir nicht, ihn anzusprechen, wenn wir vorbeigehen«, sagte Jo, während die Teller herumgereicht wurden und sich die Eiscreme unter genüsslichen Ohs und Ahs in Wohlgefallen auflöste.
»Redet ihr von den Leuten, die nebenan in dem großen Haus wohnen?«, fragte eines der Mädchen. »Meine Mutter kennt den alten Mr Laurence, aber sie sagt, er sei sehr stolz und wolle mit seinen Nachbarn nichts zu tun haben. Er lässt seinen Enkel nie rausgehen, außer mit seinem Hauslehrer oder zum Reiten, und der Junge muss furchtbar viel lernen. Wir haben ihn zu einer Gesellschaft eingeladen, aber er ist nicht gekommen. Mutter meint, er sei sehr nett, auch wenn er nie mit uns Mädchen redete.«
»Einmal ist die Katze abgehauen, und er hat sie zurückgebracht. Wir haben uns am Gartenzaun unterhalten und sind wunderbar miteinander ausgekommen, es ging um Kricket, und dann hat er Meg kommen sehen und ist gegangen. Ich werde demnächst mit ihm Freundschaft schließen, da könnt ihr sicher sein«, sagte Jo bestimmt.
»Ich mag seine guten Manieren, er sieht aus wie ein kleiner Gentleman. Ihr könnt euch gern anfreunden, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Er hat die Blumen hergebracht, ich hätte ihn hereinbitten sollen, aber ich war mir nicht ganz sicher, was da oben los war. Er hörte den Krach und sah beim Gehen sehr wehmütig aus. Offenbar fehlt ihm ein bisschen Vergnügen.«
»Ein Glück, dass du’s nicht getan hast, Mutter!«, sagte Jo lachend und auf ihre Stiefel blickend. »Aber irgendwann werden wir ein neues Stück aufführen, das er sich ansehen kann. Vielleicht kann er sogar mitspielen. Wär das nicht witzig?«
»Ich habe noch nie einen so schönen Strauß bekommen – er ist einfach traumhaft!«, sagte Meg und inspizierte mit großem Interesse ihre Blumen.
»Sie sind wirklich wunderschön, aber Beths Rosen finde ich persönlich noch viel schöner«, sagte Mrs March und schnupperte an dem halbverwelkten Sträußchen an ihrem Gürtel.
Beth kuschelte sich an sie und flüsterte leise: »Ich wünschte, ich könnte meinen Strauß zu Vater schicken. Er hat bestimmt kein so fröhliches Weihnachten wie wir.«
»Jo! Jo! Wo bist du?«, rief Meg am Fuß der Dachbodentreppe.
»Hier«, entgegnete eine heisere Stimme von oben. Meg rannte hinauf und fand ihre Schwester in eine Decke gehüllt auf einem alten dreibeinigen Sofa am sonnigen Fenster apfelessend und weinend über dem Erben von Redclyffe. Dies war Jos bevorzugter Zufluchtsort, hierhin zog sie sich am liebsten mit einem halben Dutzend Renetten und einem guten Buch zurück, um die Ruhe zu genießen – einzig in der Gesellschaft einer zahmen Ratte, die dort oben wohnte und sich nicht im Geringsten stören ließ. Als Meg auftauchte, huschte Scrabble in sein Loch. Jo schüttelte sich die Tränen von den Wangen und wartete gespannt auf die Neuigkeiten.
»Was für ein Spaß! Siehst du das! Eine offizielle Einladung von Mrs Gardiner für morgen Abend!«, rief Meg, wedelte mit dem kostbaren Blatt Papier und las mit mädchenhaftem Entzücken weiter.
»›Mrs Gardiner gibt sich die Ehre, Miss March und Miss Josephine zu einer kleinen Silvesterfeier einzuladen.‹ Marmee hat gesagt, wir dürfen – aber was sollen wir nur anziehen?«
»Was soll die Frage, du weißt genau, dass wir unsere Popelinkleider anziehen werden. Wir haben ja nichts anderes«, erwiderte Jo mit vollem Mund.
»Hätte ich doch nur ein Seidenkleid!«, sagte Meg seufzend. »Mutter sagt, wenn ich achtzehn bin, bekomme ich eins, aber wie soll ich denn noch zwei Jahre warten?«
»Unsere Kleider sehen doch aus wie Seide, das reicht vollkommen. Deins ist so gut wie neu. Wobei – ich hab ganz vergessen, dass ich ein Brandloch in meinem hab, und einen Riss. Was nun? Das Brandloch ist nicht zu übersehen, und ich kann nichts mehr rauslassen.«
»Du musst so viel sitzen wie möglich und darfst niemandem deinen Rücken zeigen. Vorne ist das Kleid ja in Ordnung. Ich bekomme eine neue Schleife für meine Haare, und Marmee leiht mir ihre kleine Perlenbrosche. Meine neuen Schuhe sind ein Traum, und meine Handschuhe tun’s noch, auch wenn sie nicht so schön sind, wie ich es gern hätte.«
»Meine haben Limonadenflecken, aber ich kann mir keine neuen kaufen, also werde ich ohne gehen müssen«, sagte Jo, die sich um ihre Kleidung wenig Gedanken machte.
»Du musst aber Handschuhe haben, sonst geh ich nicht«, rief Meg bestimmt. »Handschuhe sind wichtiger als alles andere; ohne kannst du nicht tanzen. Und wenn du nicht tanzt, schäme ich mich in Grund in Boden.«
»Dann bleibe ich halt sitzen. Ich mach mir ohnehin nicht viel aus Gesellschaftstanz. Es macht keinen Spaß, so herumgewirbelt zu werden. Ich lauf lieber rum und treibe Unfug.«
»Du kannst Mutter nicht um neue bitten, sie sind so teuer, und du bist so schlampig. Als du deine ruiniert hast, hat sie gesagt, sie kauft dir diesen Winter keine neuen mehr. Kannst du sie denn nicht irgendwie herrichten?«
»Ich kann sie zusammengebauscht in der Hand halten, dann sieht man nicht, wie fleckig sie sind. Mehr ist nicht drin. Oder nein! Ich sag dir, was wir machen – wir ziehen beide einen guten an und nehmen einen schlechten in die Hand. Verstehst du?«
»Aber du hast viel größere Hände als ich und dehnst mir meine aus«, begann Meg – die eine besondere Schwäche für Handschuhe hatte.
»Dann geh ich halt ohne. Mir doch egal, was die Leute sagen!«, rief Jo und nahm wieder ihr Buch zur Hand.
»Du darfst einen haben, ja, gut, du darfst! Aber mach mir keine Flecken rein, und benimm dich. Nicht die Hände hinterm Rücken verschränken, und nicht glotzen oder ›heiliges Kanonenrohr!‹ sagen, hörst du?«
»Nur keine Sorge. Ich werde so damenhaft sein wie nur möglich und brenzlige Situationen nach Möglichkeit vermeiden. Jetzt lauf und schreib zurück, und lass mich diese grandiose Geschichte zu Ende lesen.«
Also ging Meg, um ›dankend zuzusagen‹, ihr Kleid in Augenschein zu nehmen und unbekümmert singend ihren einzigen echten Spitzenkragen zurechtzulegen, während Jo ihr Buch zu Ende las, ihre restlichen vier Äpfel aß und eine Weile mit Scrabble herumtollte.
Am Silvesterabend war das Wohnzimmer leer, denn die zwei jüngeren Mädchen spielten Kammerzofe und die zwei älteren waren in überaus wichtige ›Silvesterfeier-Vorbereitungen‹ vertieft. So schlicht ihre Aufmachung auch war, es gab jede Menge Treppauf-Treppab, Lachen und Plaudern, und einmal zog ein intensiver Geruch von verbrannten Haaren durchs Haus. Meg wollte ein paar Locken um ihr Gesicht haben, und Jo besorgte mit der Brennschere das Ondulieren der mit Papier umwickelten Strähnen.
»Müssen die so qualmen?«, fragte Beth von ihrem Bett aus.
»Die Feuchtigkeit muss trocknen«, entgegnete Jo.
»Komischer Geruch! Riecht nach verbrannten Federn«, meinte Amy und strich hochmütig die eigenen hübschen Locken glatt.
»Alles klar, jetzt nehme ich die Papierchen ab, und du wirst eine Wolke von Ringellöckchen haben«, sagte Jo und legte die Brennschere hin.
Ja, sie nahm die Papierchen ab, doch von einer Ringellöckchenwolke konnte keine Rede sein, denn zusammen mit den Papierchen lösten sich die Haare gleich mit vom Kopf, und die entsetzte Friseurin legte ihrem Opfer eine Reihe versengter Kringel auf den Tisch.
»Oh oh oh! Was hast du gemacht? Wie seh ich aus?! Meine Haare, oh nein, meine Haare!«, heulte Meg und betrachtete verzweifelt das ungleichmäßige Gekräusel über ihrer Stirn.
»Na, großartig! Du hättest mich nicht fragen dürfen. Ich schaffe es wirklich immer, alles zu versauen. Tut mir wahnsinnig leid, aber die Brennschere war einfach zu heiß«, stöhnte die arme Jo und betrachtete mit reumütigen Augen die kleinen schwarzen Häufchen.
»Sie sind nicht versaut. Bausch sie dir einfach auf und binde dir die Schleife so, dass die Enden über deiner Stirn zusammenkommen, dann sieht’s aus wie der letzte Schrei. Ich hab schon viele Mädchen mit sowas gesehen«, sagte Amy beschwichtigend.
»Geschieht mir recht, so auf Dame zu machen. Hätte ich meine Haare doch nur in Ruhe gelassen«, rief Meg verdrossen.
»Finde ich auch, sie waren so schön glatt und hübsch. Aber sie wachsen ja wieder«, sagte Beth und ging zu dem geschorenen Schaf, um es zu küssen und trösten.
Nach diversen weniger schlimmen Missgeschicken war Meg endlich fertig, und mit Hilfe der ganzen Familie war Jos Haar endlich hochgesteckt und ihr Kleid angezogen. Sie sahen wirklich gut in ihren einfachen Kostümen aus: Meg in einem silbrigen Wollstoff mit einem Haarnetz aus blauem Samt, ihrem Spitzenkragen und der Perlenbrosche; Jo ganz in Braun mit einem steifen Leinenkragen wie ein junger Gentleman und als einzigen Schmuck ein paar weiße Chrysanthemen. Jede zog einen hübschen hellen Handschuh an und trug den verschmutzten zweiten in der Hand. Die Aufmachung wurde von allen für ›schlicht und edel‹ befunden. Nur Megs hochhackige Schuhe waren viel zu eng, auch wenn sie es nicht zugeben wollte, und Jos neunzehn Haarnadeln schienen sich direkt in ihren Kopf zu bohren, was ebenfalls kein Spaß war – aber, nun ja, wer schön sein will, muss leiden.
»Amüsiert euch, meine Lieblinge!«, sagte Mrs March, während die Schwestern mit zierlichen Schritten den Pfad hinunter gingen. »Esst nicht zu viel, und um elf ist Schluss, dann schicke ich Hannah, um euch abzuholen.« Als das Tor hinter ihnen zufiel, hörten sie eine Stimme aus dem Fenster:
»Mädchen! Mädchen! Habt ihr auch beide ein frisches Taschentuch dabei?«
»Ja, ja, blitzsauber! Meg hat ihrs sogar mit Kölnischwasser benetzt«, rief Jo und fügte lachend hinzu: »Ich glaube wirklich, selbst bei einem Erdbeben würde uns Marmee diese Frage stellen.«
»Es ist eine ihrer aristokratischen Vorlieben und es gehört sich so, denn eine echte Dame erkennt man immer an sauberen Stiefeln, Handschuhen und einem Taschentuch«, entgegnete Meg, die selbst eine ganze Reihe von ›aristokratischen Vorlieben‹ besaß.
»Achte darauf, dass niemand deinen kaputten Rock sieht, Jo. Sitzt meine Schärpe richtig? Sehen meine Haare sehr schlimm aus?«, fragte Meg und wandte sich nach ausgiebigem Gezupfe vom Spiegel in Mrs Gardiners Ankleidezimmer ab.
»Ich weiß, irgendwas werde ich vergessen. Wenn du siehst, dass ich was falsch mache, dann zwinkerst du mir zu, ja?«, sagte Jo, rückte ihren Kragen zurecht und fuhr sich hastig mit der Bürste über den Kopf.
»Nein, Zwinkern gehört sich nicht für eine Dame. Ich ziehe die Augenbrauen hoch, wenn irgendwas nicht stimmt, und ich nicke, wenn alles in Ordnung ist. Jetzt halte dich gerade, mach kleine Schritte und gib niemandem die Hand, der dir vorgestellt wird. Das macht man nicht.«
»Woher weiß man bloß immer, was sich gehört und was nicht? Ich kann mir das nie merken. Oh, was für schöne Musik!«
Und dann gingen sie ein wenig schüchtern nach unten, denn sie waren nicht oft auf Feiern eingeladen, und so informell diese Versammlung auch sein mochte, für die beiden war sie ein großes Ereignis. Mrs Gardiner, eine stattliche ältere Dame, begrüßte sie freundlich und übergab sie der ältesten ihrer sechs Töchter. Meg kannte Sallie und legte sofort ihre Hemmungen ab, aber Jo, die sich wenig aus Mädchen und Mädchentratsch